Quantcast
Channel: Waldorfblog
Viewing all 119 articles
Browse latest View live

Inhalte überwinden: Was Peter Sloterdijk zu Steiner zu sagen hat

$
0
0

Über Anthropotechnik, Kulturkapitalismus und fliegende Reptilien. Eine Polemik

“Menschlich am Menschen ist in der Welt von Schrecken und Herrschaft bloß der Dämon.” (Theodor W. Adorno: Beethoven. Philosophie der Musik. Fragmente und Texte, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1993, 241)

Peter Sloterdijk, Philosoph, Fernsehmoderator und Essayist, war am 14. Oktober in Weil am Rhein zu Gast. Der freudige Grund: Eine Ausstellung über den Anthroposophen Rudolf Steiner (1861-1925) im rennomierten Vitra-Design-Museum. Es soll sich, so die Veranstalter, um die “erste Retrospektive auf den wohl einflussreichsten und zugleich umstrittensten Reformer des 20. Jahrhunderts”, also auf Steiner handeln und es gibt sicher Interessantes zu sehen (vgl. “Kreative Fundgrube”). Nachdem die Ausstellung in Stuttgart und Wien zu sehen war, kehrt sie nun zu ihrem Ausgangsstandpunkt Wolfsburg zurück. Sloterdijk diskutierte zu diesem Anlass über Steiner mit Matteo Kries (Museumskurator) und Walter Kugler vom Steiner-Archiv in Dornach. Einen genauen Bericht über den Abend und die Ausstellung hat Wolfgang Vögele vorgelegt, einen weiteren gab’s in der Badischen Zeitung. Auf Youtube ist auch ein 10-minütiger Videomitschnitt zu sehen.

Dem Vitra-Design-Museum wie dem Steiner-Archiv ist zu dieser Aktion in ökonomischer Hinsicht (und ohne Anflug von Ironie) nur zu gratulieren: Wer wäre zu diesem Anlass PR-tauglicher gewesen als Sloterdijk?

“In der ihm eigenen Weise sagt Sloterdijk zu jedem beliebigen Thema treffsicher genau das, was alle denken, aber es klingt immer irgendwie anders, ist in einer Weise metaphorisch verpackt, die der deutsche Durchschnittsintellektuelle für philosophisch, das heißt tiefsinnig hält.” (Manfred Dahlmann: Biedermann und Übermensch. Peter Sloterdijks deutsche Ideologie, in: Alex Gruber/ Philip Lenhard (Hg.): Gegenaufklärung. Der postmoderne Beitrag zur Barbarisierung der Gesellschaft, Freiburg 2011, 257)

Sehr hübsche metaphorische Verpackungen benutzte Sloterdijk auch in in Weil. Er erklärte beispielsweise, Steiner – den er als “größten mündlichen Philosophen des 20. Jahrhunderts” bezeichnete – sei kein Guru gewesen, sondern würde inzwischen als “ganz normales Genie” erkannt. Das ist zwar Konsens aller, die den “spirituellen” Dschungel des Steinerschen Weltanschauungskosmos’ heute mit postmodernen Motiven als Steinbruch benutzen  – frei nach dem Motto: Der habe alles irgendwie “ganz anders”, rein konstruktivistisch, heuristisch, kreativ gemeint. Sogar Bundespräsident Christian Wulff nannte Steiner kürzlich in einer Reihe mit Heinrich Schliemann, Joachim Gauck und Albert Einstein (es ging um wissenschaftliche Vorbilder aus der Stadt Rostock, vgl. “Sie werden gebraucht”). Aber: Wie angenehm, dass Sloterdijk das alles auch findet! Mein Kollege Jens Heisterkamp, Chefredakteur der Zeitschrift “Info3 – Anthroposophie im Dialog” und (damit schon von Berufs wegen) ein wacher Beobachter der anthroposophischen Szene, hat Aussagen und Stimmung des Abends in einem Bericht eingefangen dem ich die obigen Sloterdijkzitate verdanke. Im Folgenden kommentiere ich Sloterdijks Steiner-Vereinnahmungen nach dem Wortlaut dieses Berichts.

Anthropotechnik und “Schulungsweg”

“Besonders interessant”, so Jens Heisterkamp, “war Sloterdijks medientheoretische Deutung des Phänomens Steiner: Der Gründer der Anthroposophie habe mit seinem Ansatz »die Vertikalität neu definiert« und die menschliche Subjektivität an eine andere Sphäre gekoppelt. Steiners Übermittlung von Hinweisen aus einer »Geistigen Welt«, mit denen er die Pädagogik, die Landwirtschaft, die Medizin und viele andere Gebiete erneuerte, interpretierte Sloterdijk als quasi-mediale Durchgaben eines »Imperativs zur Veränderung« (Ein genialer Trandmitter)

Diese Sloterdijksche Steinerexegese ist so allgemein, dass man ihr tatsächlich zustimmen könnte. Zunächst: “Vertikalität” in Sloterdijks Welt bedeutet so viel wie Übung, Selbstdisziplin, Training, das einen über die profanen Niederungen der gesellschaftlichen “Horizontalität” hinausführen soll. Und tatsächlich: Auch Steiner wollte die menschliche Subjektivität zum “Geistigen im Weltenall” und über den “materialistischen” Zeitgeist emporheben. Dazu legte er einen meditativen “Schulungsweg” vor, der im finalen Punkt die vollbewusste, hellsichtige “Erforschung” einer übersinnlichen, “geistigen Welt” ermöglichen sollte. So grundsätzlich betrachtet passt das zu Sloterdijks Konstrukt der “Anthropotechnik”, die er so definiert:

“Ich verstehe hierunter die mentalen und physischen Übungsverfahren, mit denen die Menschen verschiedenster Kulturen versucht haben, ihren kosmischen und sozialen Immunstatus angesichts von vagen Lebensrisiken und akuten Todesgewissheiten zu optimieren.” (Sloterdijk: Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt 2009, 23)

Sloterdijk versucht also, die verschiedenen religiösen Traditionen zu entkernen und projiziert in sie alle ein urprotestantisches Arbeitsethos mit sinnstiftendem Endziel: Religiöse Praktiken und Rituale seien deren eigentlicher Zweck, einfach, weil sie praktisch sind. Es sei bloß nötig, diese “Übungsverfahren” von den religiösen Vorstellungen zu reinigen, um das eigene Leben in die “Vertikalität” zu heben und zuguterletzt als glücklicher Übermensch zu enden. Der ideale (post-)religiöse Mensch wäre nach diesem Ideal zwar irgendwie und erklärt inhaltslos, aber fit in verschiedenen “Übungs”techniken und -ideologien. Sloterdijks Versessenheit auf “Übung” bleibt, das nur nebenbei, nicht auf dem Gebiet verstümmelter Religion, es geht grundsätzlich und bis in eugenische Bereiche darum, den Menschen zu optimieren.

Steiner und Sloterdijk, treffen sich in der Tat darin, ehemals der Religion vorbehaltene Themen dem menschlichen Bewusstsein methodisch verfügbar machen zu wollen. Beide stehen hier im Traditionsfeld der westlichen Esoterik: Die Neuplatonismen der Rennaissance über die Spiritisten bis zu den LSD-Experimenten der Transpersonalen Psychologie enthalten trotz gewaltiger Differenzen das Grundmotiv, “Geistig-Göttliches” irgendwie technisch-methodisch zugänglich zu machen. Sloterdijks Weltbild kann vor diesem Hintergrund nicht nur als esoterisch bezeichnet werden, es bietet, wie man sagen könnte, geradezu Esoterik “auf der Höhe der Zeit”: “postmetaphysisch” und lifestyle-orientiert. Statt psychisch riskantem Tischerücken oder anstrengenden Meditationen winkt hier ein so weitgefasster wie übersichtlicher Begriff bienenfleißigen “Übens”.

So weit, so schlecht. Während es Sloterdijk also um die Abschaffung von Inhalten und den Aufbau einer Übungsmentalität, die Internalisierung des “unternehmerischen Selbstes” zu gehen scheint, sind bei Steiner jedoch gerade die Inhalte zentral: Die Aufgabe ist keine geringere als das (Wieder-)Aufschließen einer “objektiv” existenten “geistigen Welt”. Den Lehrplan seiner Waldorfpädagogik komponierte Steiner daher bis in Details mit kosmischen Diktaten aus (vgl. Gänzlich “ganzheitlich”?).

ausgefahrene Äther-Antennen

Von Allgemeinplätzen abgesehen, vereinnahmt Sloterdijk den “modernen Propheten” (Miriam Gebhardt) also zu Unrecht. Dafür wieder umso schöner: die von Sloterdijk verwendeten Metaphern – in der Wiedergabe von Jens:

“Im Blick auf die inzwischen in vielen Museen der Welt gezeigten Wandtafelzeichnungen, mit denen Steiner seine Vorträge illustriert hatte, meinte Sloterdijk, Steiner habe „die Powerpoint-Präsention mit Kreide“ erfunden. Die eigentliche „Power“ habe er dabei allerdings nicht wie heute aus einem auf Folien abgelegten Wissen bezogen, vielmehr habe er sich darauf verlassen, dass ihm im entscheidenden Moment die Evidenz selbst zur Hilfe kam. Steiner habe sich von der Inspiration überraschen lassen. Er sehe ihn deshalb als eine Art Medium, als einen „Antennenmenschen“. „Ich glaube Steiner ist und bleibt wichtig, weil er einer von denen war, die die Antennen ausgefahren haben schon bevor die Antennen erfunden waren“, sagte Sloterdijk abschließend. Seither horchten die Menschen ja tatsächlich in den Äther hinein und wollten erfahren, was zu tun ist.” (Ein genialer Transmitter)

Zwar ist es, wie oben gezeigt, scheinbar Sloterdijks Programm, Inhalte zu überwinden, und er liegt damit zweifellos im Trend der zeitgenössischen Selbstsatire (vgl. das gleichnamige Wahlplakat der PARTEI). Trotzdem wäre es sinnvoll, wenigstens Metaphern mit Inhalt in die Welt zu setzen. Die erste funktionstüchtige Antenne beispielsweise entstand 1886, Steiner entwickelte seine Anthroposophie jedoch erst ab 1900. Mir will sich auch nicht erschließen, was der “Äther” sein soll, in den “die Menschen” (alle?) “seither” (seit wann?) “tatsächlich” (oder nicht doch eher im übertragenen Sinne?) “hineinhorchen” sollen (wie?). Und ganz obendrein finde ich die Titulierung von Steiners Wandtafelzeichnungen als “Powerpoint-Präsentation”, gelinde gesagt, zusammenhanglos. Als Kostprobe sei eine Aussage Steiners über das sog. lemurische Zeitalter wiedergegeben, und dazu die entsprechende Wandtafelillustration:

“So würde sich einem Menschen … zurückwandernd in jene Zeit, die das lemurische Zeitalter mit dem atlantischen verbindet, ein besonderer Anblick darbieten: solche riesigen fliegenden Eidechsen mit einer Laterne auf dem Kopf, die leuchtet und wärmt; unten etwas wie eine weiche, morastartige Erde, die aber etwas außerordentlich Anheimelndes hat, weil sie dem Besucher von heute eine Art von Geruch darbieten würde, der zwischen Moderduft und dem Duft der grünenden Pflanzen mitten drinnen steht. Etwas Verführerisches auf der einen Seite und außerordentlich Sympathisches auf der anderen Seite würde dieser Schlamm der weichen Erde darbieten.” (Steiner, GA 232, S. 84)

Wandtafelzeichnung Rudolf Steiners: Fliegende Eidechse aus Lemurien. Peter Sloterdijk sieht in diesen Zeichnungen Steiners eine Vorwegnahme der Powerpoint-Präsentation

Um zu erklären, was das denn so für belauschbarer Äther sein könne, gebraucht Sloterdijk einen weiteren diffusen Ausdruck: “Meeresrauschen” und begibt sich damit wieder in mythische Gefilde:

“Sloterdijk bezog sich dabei auf den Satz von Robert Musil: „Wir horchen in uns hinein und wissen nicht, welches Meeresrauschen wir hören.“ „Die Sender [offenbar die der "Antennen" zum "Äther"-Hören - AM] waren noch nicht genau eingestellt“, erläuterte Sloterdijk. „Gleichzeitig hat bei Steiner ein viel intensiverer Empfang begonnen. Er wirkt wie unter einem Diktat und hört offenbar im Äther einen Auftrag für eine Lebensreform. Hundert Jahre später nach diesem verlorenen 20. Jahrhundert fahren die Menschen wieder ihre Antennen aus und wissen nicht genau, welches Meeresrauschen sie hören. Aber sie hören den neuen absoluten Imperativ: ‚Du musst Dein Leben ändern’. Es geht um den Auftrag eine Lebensreform zu entwickeln, die den Fortbestand der Menschheit auf dem gefährdeten Planeten sichert. Und Steiner ist ein genialer Transmitter für diese Botschaft.“” (Ein genialer Transmitter)

Zwar hielt Steiner den Planeten tatsächlich für gefährdet, aber nicht aufgrund von politischen, gar Umweltkrisen. Er sah eine Gefährdung durch kosmische Kräfte: Der prädestinierte Kalender der spirituellen Evolution sagte Steiner die baldige “Inkarnation Ahrimans” voraus. Ahriman – den Namen verdankt Steiner dem Zoroastrismus – stellt in der Anthroposophie den Anführer schrecklicher dämonischer Geister (der “ahrimanischen Wesenheiten”) dar. Deren Plan ist es, die Menschen mental an die Technik und die Vergötzung des Materiellen zu binden und letzten Endes die Erde in eine Art Roboterzustand verwandeln: den “Neuen Saturn”. Sloterdijk müsste erst belegen, wo er in Klima-, Umwelt-, Umwelt, Finanz- oder beliebiger anderer Krise die Handschrift Ahrimans ausfindig zu machen glaubt, um sich hier glaubwürdig auf Steiner berufen zu können. Die Feststellung, dass Steiner einen Lebenswandel forderte, ist so frappierend trivial, dass es wohl keinen Philosophen, Esoteriker oder religiösen Prediger des letzten Jahrhunderts gäbe, auf den Sloterdijk diese Charakteristik nicht beziehen könnte. Auf unverblümte Weise hat das ein Repräsentant orthodox-anthroposophischer Publizistik, Lorenzo Ravagli, demonstriert. Der berief sich in seinem Buch “Aufstieg zum Mythos”, das einmal mehr in enthusiastischen Prophezeiungen über die künftige Glorie der remythisierten Menschheit mündet, wohl auf name-dropping-Gründen, auf Sloterdijk, gestand aber in einer Fußnote diskret:

“Peter Sloterdijk kommt in seinem Buch ‘Du musst dein Leben ändern’ zu einer übereinstimmenden Zeitdiagnose. Seine Therapievorschläge weichen von den hier vorgetragenen ab.” (Lorenzo Ravagli: Aufstieg zum Mythos. Ein Weg zur Heilung der Seele in apokalyptischer Zeit, Stuttgart 2009, 11)

Gutes Karma für Reformer

Wie am Atomausstieg mit Grillparty-Atmosphäre oder Populismen um die Euro-Rettung zu sehen, ist man hierzulande aber mit “Wir ändern uns”-Slogans immer gut beraten. “So sehr man an Sloterdijks Denkbemühungen auch nicht ein gutes Haare lassen kann, eines ist ihm zuzugestehen: er hat ein untrügliches Gespür dafür, wie Deutsch-Denken (und -Fühlen) den aktuellen Umständen entsprechend zum Ausdruck zu bringen ist.” (Manfred Dahlmann, a.a.O.). Dazu noch einen Teil aus Jens Heisterkamps Bericht.

“Den Grund der neuen Offenheit für Steiner sah Sloterdijk in einer besonderen geistesgeschichtlichen Konstellation unserer Zeit. Der Ansatz der Lebensreform als Gegenentwurf zur politischen Revolution erscheine wieder hoch aktuell. Denn im Rückblick auf das „verlorene 20. Jahrhundert“ (Sloterdijk) zeige sich heute, dass die „Revolutionäre“ im Unrecht gewesen seien. Ansätze, die Welt durch Veränderung der Verhältnisse ändern zu wollen, haben nur Zerstörung hinterlassen. Die Lebensreform dagegen, die eine Erneuerung von Innen anstrebte, hätte sich als der richtige Weg erwiesen.” (Ein genialer Transmitter)

Peter Sloterdijk 2009 bei der Präsentation seiner Buches "Du musst dein Leben ändern", (Foto von Rainer Lück; Wikipedia-Commons)

Sloterdijk konstruiert also einen Gegensatz “Reform versus Revolution” und entscheidet sich für erstere. Hier zeigt sich ein weiterer Sloterdijkscher Standard: Der Hang zur “Provokation”, die “niemanden wirklich provoziert, weil alle insgeheim dasselbe denken” (Dahlmann, a.a.O). Dem linksspießbürgerlichen und liberalen Umfeld, zwischen dem sich das umfangreiche Milieu anthroposophischer SympathisantInnen aufspannen dürfte, kommt der Terminus der Revolution in der Tat eher ungelegen. Dagegen ist das Selbstverständnis, Träger eines neuen, bewussteren, nachhaltigen und zumindest auch ein bisschen spirituellen Trends zu sein, immer zu haben für “Reformen”. Insbesondere dann, wenn man selbst den reformerischen Geist ohnehin schon für sich gepachtet zu haben meint. Dazu einmal wieder Jens Heisterkamp, diesmal im Vorwort des von ihm herausgegebenen Buches “Kapital = Geist”:

“Es sind Marken wie Weleda, Voelkel und Stockmar, die bereits ökologisch, verantwortungsbewusst und im Sinne einer weltzentrischen Ethik wirtschafteten, als diese Begriffe noch gar nicht erfunden waren; es sind Firmen wie Alnatura, hessnatur oder die GLS-Bank, die an einen ökologisch-ethischen Breitenmarkt dachten, als erst eine kleine Subkultur von diesen Ideen überzeugt war. Es sind schließlich Firmen wie Wala oder Sonnett, die bereits vor Jahren mit einer Krise des Ego-Kapitalismus rechneten und bis in ihre Rechtsformen hinein entsprechende Konsequenzen zogen … Ihr Beispiel zeigt, wie die Ideen Rudolf Steiners heute bis in die wirtschaftliche Praxis hinein Wirkung haben.” (Heisterkamp: Pioniere der Nachhaltigkeit. Anthroposophie und neues Denken in der Wirtschaft, in: Ders. (Hg.): Kapital = Geist. Pioniere der Nachhaltigkeit. Anthroposophie in Unternehmen, Frankfurt a.M. 2009, 8f.)

Das ist, jedenfalls in den groben Umrissen, wohl wiederum inhaltsgleich mit Sloterdijks “Vertikalität” oder Anthropotechnik. Der Versuch eines “bewussten” Kapitalismus allerdings ändert nichts am Kapitalismus, sondern führt zu einer subtileren, verinnerlichten Form ehemals äußerlicher ideologischer Programme: zu den diffusen, “ätherischen” “Verändere dich”-Idealen.

“Im Zeitalter der liberalen Expansion lebte Amusement vom ungebrochenen Glauben an die Zukunft: es würde so bleiben und doch besser werden. Heute wird der Glaube noch einmal vergeistigt; er wird so fein, dass er jedes Ziel aus den Augen verliert und bloß noch im Goldgrund besteht, der hinters Wirkliche projiziert wird.” (Horkheimer/Adorno: Dialektik der Aufklärung (1945), Frankfurt a.M. 1969, 152)

Und damit ist der gesellschaftsverändernde Gehalt der Lebensreform auch bald ausgeschöpft. Im Glauben gefangen, “das Bewusstsein” sei momentan “endlich” bereit, sich zu einer weltzentrischen Verantwortungsbereitschaft zu “entwickeln”, bleibt das Luftholen zum Bewusstseins-Sprung, der dazu nötig wäre, aus. Stattdessen wird ein “Karmakapitalismus” produziert, der glücklich im eigenen guten Gewissen um sich selber kreist: Das Moment der Utopie bleibt aus, das “klassiche” kapitalistische Motiv des  finanziellen, irgendwie materiellen Gewinnes ist aber ebenfalls als Option verschwunden. Es wird ersetzt durch säkularisiert-religiöse Fitnessprogramme wie Sloterdijks übend-vertikale “Anthropotechnik”. Der populäre Philosoph und Lacanianer Slavoj Žižek erläuterte das 2009 am Beispiel einer neuen, ökologisch wertvollen Starbucks-Werbekampagne:

“Das nennt man «Kulturkapitalismus». Der kulturelle Mehrwert liegt hier auf Hand: der Kaffeepreis ist höher als nirgendwo [sic!] sonst, denn was Sie in Wirklichkeit kaufen, ist eine «Ethik des Kaffees»… mit Umweltbewusstsein, sozialer Verantwortung, an einem Ort, an dem Sie am öffentlichen und sozialen Leben teilnehmen können (schon von Anfang an hat Starbucks seine Cafés als Orte der Bürgerlichkeit inszeniert). … Indem wir sie kaufen, kaufen wir nicht nur ein Konsumprodukt, sondern wir tun zusätzlich noch etwas, nämlich etwas, was unseren Wunsch nach Verantwortung, unser Gewissen oder die Teilnahme an einem ehrgeizigen sozialen Projekt zeigen will… Eine neue Disziplin hat sich etabliert, die happiness studies. Wie aber kommt es, dass im selben Moment Angst und Depression trotzdem nicht abnehmen? Die Selbstsabotage des Glücks und der Lust zeigt mehr als alles andere die Wahrheit einer Freud’schen Erfahrung.
Der Protest der 60er Jahre fügte der Kritik der ökonomischen Ausbeutung eine Kulturkritik bei: Entfremdung am Alltagsleben, Verdinglichung des Konsums, Uneigentlichkeit der Massengesellschaften, sexuelle Unterdrückung. Der neue Geist des Kapitalismus hat im Triumph die egalitäre und antihierarchische Rhetorik von 1968 übernommen und präsentiert sich nun als gelungene libertäre Revolte gegen die gesellschaftlichen Unterdrückungssysteme (seien sie kapitalistisch oder sozialistisch) … Ein toleranter Hedonismus bleibt als Rest von der sexuellen Befreiung der 60er Jahre. Kürzlich habe ich Folgendes in einer Broschüre eines New Yorker Hotels gelesen: «Sehr geehrter Kunde, um Ihnen einen angenehmen Aufenthalt zu bieten, informieren wir Sie, dass dies ein komplett raucherfreies Hotel ist. Jeder Verstoß gegen diese Regel wird mit einer Geldbuße von 200 Dollar geahndet.» Diese Formel strotzt vor Schönheit: Sie werden bestraft, wenn Sie es wagen, ihren Aufenthalt in diesem Hotel nicht gut finden! … Willkommen in der besten aller Welten des hedonistischen Über-Ichs!”
(Willkommen im Kulturkapitalismus)

Unter absolutem Verzicht auf die hedonistische Komponente waren anthroposophische Unternehmen tatsächlich Vorreiter dieses ethisch-existentiell ambitionierten Kulturkapitalismus. Sloterdijk teilt mit diesen anthroposophischen Unternehmern und ihren glücklichen Kunden allerdings mehr, als beide mit Steiner teilen, wenn sie im LOHAS-Rad der fair gehandelten Wiedergeburten ihre ewigen Kreise ziehen:

Steiner arbeitete noch mit einer überschaubaren Zahl von AnhängerInnen, keiner globalen Modebewegung. Er denunzierte jede andere religiöse und politische Bewegung als überholt oder defizient. Er glaubte nicht daran, zog gar nicht in Erwägung, dass seine Waldorfschule einmal zum weltweiten Exportschlager werden würde, er erlebte nicht, wie Weledakosmetik Einzug in die Apothekenregale hielt, nicht, wie anthroposophische Banken oder AktivistInnen Ethikpreise abstaubten. Wenn er sich auch von den Praktiken der Lebensreformer oder Reformpädagogik Anregungen holte, plante er letztlich nur konsequent im Sinne seiner privaten “geistigen Welt”. Steiner hielt in einer penetrant dogmatischen Religiosität letztlich an der utopischen Idee der Revolution fest: Die Veränderung der Welt geschehe nicht einfach so, sondern nur – und zwar nur – durch die konsequente Verwirklichung der Anthroposophie, die folglich im Plan der höheren Mächte vorgesehen war. Auch wenn das paradox klingt, wäre den postmodernen “Reformern” für die Umsetzung ihrer Ideale zumindest ein Stück solcher Konsequenz zu wünschen: “Fair wirtschaften” nicht, weil alles irgendwie bunt, (post)modern und gutes Karma wäre, sondern trotzdem. Der “Kulturkapitalismus” bedient sich wohlklingender Schlagwörter und erreicht darin Dimensionen, die der “kalte” “Ego-Kapitalismus” nicht kannte (vgl. Generation Dümpel). Statt in diesem Strohm mitzuschwimmen, ist eine wirklich glaubwürdige Praxis nur möglich, wenn man beispielsweise den zitierten fairen Kaffeehandel wirklich betreibt, um Ausbeutung verhinden, Menschenwürde zu wahren, um konkreten menschlichen Schaden zu begrenzen… und nicht, weil es “ganzheitlich”, karmisch hilfreich oder Symptom bewusstseinsevolutionären Fortschritts sei. Diese glaubwürdige Praxis kann nur stattfinden, wenn die Intentionen hinter den postmodernistischen Idealen von Pluralismus, Solidarität und Selbstverwirklichung Selbstweck sind und nicht zu postmodernistischen Phrasen oder mentalem Fitnesstraining à la Sloterdijk werden. Letzteres steht aber der Anthroposophie bevor, so wie sie sich im Umfeld der Steinerausstellung im Vitra-Design-Museum präsentiert. Schließlich: Fans der Sloterdijkschen Steinerdeutung, und erst recht Peter Sloterdijk selbst, sollten einen konsequenteren Umgang mit Steiners Anthroposophie finden: Steiner derart liberal zu deuten, ist – davon bin jedenfalls ich überzeugt – nur nach einer historisch-kritischen Einordnung legitim.

—————————————————————————

Post scriptum

Wenn ich Sloterdijk als Esoteriker bezeichne, will ich damit nicht von der Verpflichtung entbinden, sich mit seinem Werk und seinen Aussagen auseinanderzusetzen. Das Thema ist sogar noch um einiges komplizierter: Sloterdijks esoterische Weltanschauungskonstrukte, die sich zum Beispiel im Postulat einer metahistorisch existenten “gnostischen” Denkform manifestieren (vgl. sein Vorwort “Die wahre Irrlehre” zu: Ders./Peter Macho (Hg.): Weltrevolution der Seele. Ein Lese- und Arbeitsbuch der Gnosis, Zürich 1993 – das Buch enthält auch einen Textauszug von Steiner) regen auch erklärte KritikerInnen der Gnosis oder der Esoterik an. Jüngst auf diesem Blog besprochen habe ich zum Beispiel die Dissertation von Jana Husmann. Die kritisiert zwar die schwarz-weiß-codierten Denkformen der spätantiken Gnosis, der aufklärerischen Philosophie oder den Wissenschaftsbegriff der Anthroposophie, beruft sich in geschichtlichen und religionsphilosophischen Belangen immer wieder unkritisch auf Sloterdijk. Husmann übernimmt etwa Sloterdijks Begriff des “demiurgischen Humanismus”, “des” neuzeitlichen Menschen, der als “Gott der zweiten Schöpfungswoche” agiere, wenngleich sie das sicher wesentlich kritischer meint als Sloterdijk (Jana Husmann, S. 124). Forschung und Forschungsgegenstand sind also auch im Falle von Esoterik und Esoterikforschung nicht nur offen für Synthesen, sondern begründen sich gegenseitig inhaltlich (vgl. zu diesen unbewussten Bündnissen Michael Bergunder: Was ist Esoterik? Religionswissenschaftliche Überlegungen zum Gegenstand der Esoterikforschung, in: Monika Neugebauer-Wölk (Hg.): Aufklärung und Esoterik. Rezeption – Integration – Konfrontation, Tübingen 2008, 477-507).


Einsortiert unter:Allgemein

“Die Wunderwaffe jedes Fundamentalisten”

$
0
0

Vorwort A.M. – Am 19. Dezember erscheint endlich die Lösung aller (anthroposophischen) Rätsel: Endstation Dornach, verfasst von Felix Hau, Christian Grauer, Christoph Kühn und meiner Wenigkeit. Christian Grauer hat mit einer eigenen Buchveröffentlichung bereits vorgegriffen: Im Herbst erschien im (seit Neustem) Baseler Futurum-Verlag sein Buch: Es gibt keinen Gott, und das bin ich! Anthroposophie im Nadelöhr. Darin beschreibt er die ideologischen Tücken (s)eines abgelegten anthroposophischen Fundamentalismus – und wie sich auch aus dessen Steinen doch noch etwas bauen lässt. Dem Futurum-Verlag danke ich für die “Abdruck”-Genehmigung.

(von Christian Grauer)

Der Ritter der Kokosnuss

“Fanatismus findet sich nur bei solchen, die einen inneren Zweifel zu übertönen suchen”
- Carl Gustav Jung

Ich weiß ehrlich gesagt nicht mehr, welches Buch ich von Steiner zuerst gelesen habe. Ich erinnere mich, dass ich viele Grundgedanken der Anthroposophie zunächst durch die Erzählungen meiner Mutter erfahren habe, insbesondere auch in mitgehörten Gesprächen. Ich erinnere mich aber, dass ich erst relativ spät, nach der Lektüre bereits einer ganzen Reihe von esoterischen Vorträgen, die “Philosophie der Freiheit” gelesen habe. Ich weiß nicht mehr, wie ich sie aufgenommen habe, weil ich sie später so oft gelesen habe, dass die Erinnerungen sich ineinander auflösen. Ich weiß aber, dass ich nicht besonders begeistert von der Lektüre war. Die Faszination, die ich von diesem sagenumwobenen Buch von Rudolf Steiner erwartet habe, stellte sich jedenfalls nicht ein. Ich vermute heute, dass ich die okkult-esoterische Aura vermisste, welche die Inhalte jener Anthroposophie umgaben, die ich durch meine Eltern und die Waldorfschule kannte, und dass ich irritiert war von der sachlichen und rein begrifflichen Darstellung, die es heute wiederum für mich zu einem der bekömmlichsten Werke Steiners macht.

In meiner Erinnerung ist das Thema, das mich in der Anthroposophie zunächst am meisten interessierte, alles, was mit dem Tod, dem Leben nach dem Tod und mit Reinkarnation zu tun hatte. Ich musste ja als Jugendlicher irgendwann lernen, dass es Menschen gab, die nicht an die Wiedergeburt glaubten! Wir hatten im christengemeinschaftlichen Religionsunterricht, den ich in der 10.Klasse besuchte, das Thema “Leben nach dem Tod” anhand des einschlägigen Buches von Raymond A. Moody behandelt. Dieses Buch faszinierte mich insofern, als mir hier von nichtanthroposophischer Seite der Beweis erbracht schien für die Richtigkeit der Überzeugung, dass es ein Leben nach dem Tod gebe, dass der physischen Existenz eine geistige folgen würde. Diese geistige Existenz, die auch schon vor dem Tod vorhanden, bloß versteckt war, schien mir dasjenige zu sein, worum es in der Anthroposophie ging. Ich hielt diese geistige Welt für die Lösung des Rätsels des Lebens und Rudolf Steiner für ihren Propheten. Und so begann ich mich mit den theosophisch-anthroposophischen Schriften Steiners auseinanderzusetzen, um immer mehr über diese Welt zu erfahren und wie sie die sinnlich wahrnehmbare Wirklichkeit beeinflusste. Insbesondere die “Geheimwissenschaft im Umriss” hinterließ eine nachhaltige Faszination und machte mich mit dem Entwicklungsgedanken von Steiner in aller Anschaulichkeit vertraut. Begleitet wurde diese Lektüre durch die Anthroposophie-Rezeption und den Austausch mit meiner Mutter, die ein besonderes Interesse für christologische und kunstgeschichtliche Themen hatte.

In meiner anthroposophischen Überzeugung formte sich die Welt zu einer kompakten, geschlossenen Veranstaltung, deren Herkunft in einem fraktalen, rhythmischen Prozess lag: von der reinen Geistigkeit zu einer immer tieferen Verkörperung im Physisch-Sinnlichen, mit dem Ziel, in verwandelter Weise wieder in diese Geistigkeit aufzusteigen. Der Protagonist dieses Wiederaufsteigens war der Mensch. Und der Führer durch die Dunkelheit der Geistesferne war kein Geringerer als Christus, der Sohn Gottes und als solcher höchstes geistiges Wesen, das mit seinem Durchgang durch den Tod nicht nur prototypisch das Los des Menschen auf sich genommen, sondern sich geistig-real in die Erde und damit in der Physis entäußert hat. Dieses Ereignis als das denkbar größte Mysterium fand vor 2000 Jahren in Palästina real historisch statt. Meine Aufgabe als Mensch war es also, jene geistige Welt wiederzuentdecken, zu welcher wieder aufzusteigen uns Christus die Möglichkeit geschaffen hatte. In dieser Wiederverbindung mit der geistigen Welt begriff ich den Inhalt des Wortes ‘Religion’ in einem tatsächlich konfessionsfreien, überreligiösen Sinne – mit der Einschränkung, dass Christus und das ‘Mysterium von Golgatha’ nicht zur Diskussion standen. Ob einer daran glaubte oder nicht, war für die Mission des Christusereignisses nicht von Bedeutung. Es vollzog sich unabhängig von Religion. Ich machte so mit der Anthroposophie letztlich alle Menschen zu Christen, nur dass die einen davon wussten, die anderen aber nicht. Der diskriminierende Charakter eines solchen Begriffs des Christentums fiel mir nicht auf. Anthroposophie war für mich auch keine Religion, sondern Wissenschaft; eine Wissenschaft mit anderen Mitteln, aber eine Wissenschaft. Ich glaubte nicht an Reinkarnation, sondern ich wusste, dass es die Wahrheit ist und dass letztlich jeder Religion, soweit sie authentisch ist, diese Wahrheit irgendwie zugrunde lag. Und ich erkannte nicht die Überheblichkeit, die in meinem Glauben lag, über ein Erklärungssytem zu verfügen, das anderen Weltanschauungen übergeordnet war und diese in ihrer Beschränktheit erklären konnte. Ich glaubte, alle Weltanschauungen und Religionen in die Anthroposophie integrieren zu können und sah darin das größtmögliche Maß an Toleranz und Verständigung, das überhaupt möglich ist.

(S. 28-30)

 

Mit dem Michaelsschwert im Hörsaal

“Die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung”
- Immanuel Kant

Nach dem Abitur, dem Zivildienst und einer etwas ungezielten Suche nach einem geeigneten Studium landete ich schließlich in Berlin und studierte Philosophie, Lingusitik und Italienisch. Es hatte einige Zeit gebraucht, bis ich mich zur Philosophie durchringen konnte. Einerseits betrachtete ich sie als die Krönung aller akademischen Wissenschaften und demjenigen am nächsten stehend, was für mich die Faszination an der Anthroposophie ausmachte. Auf der anderen Seite hatte ich auch eine gewisse Ehrfurcht vor ihr. Mir war, als könne man sich dafür nicht einfach einschreiben, sondern müsste irgendwie dazu berufen werden.

Diese Ehrfurcht hatte durchaus auch mit meiner anthroposophischen Weltanschauung zu tun, weil ich mir unter Philosophie im wesentlichen das weltliche Pendant zur Anthroposophie vorstellte. Eine voranthroposophische Anthroposophie, die nur noch nicht das Glück hatte, Steiner und die geistig erweiterte Erkenntnismethode kennenzulernen. Und so fand ich mich also irgendwann in philosophischen Vorlesungen wieder udn beschäftigte mich mit den großen Autoren der Geistesgeschichte. Und ich begegnete darin erneut den Fragen, die ich schon aus meiner Beschäftigung mit der Anthroposophie kannte. Aber es blieb zunächst bei den Fragen. Die Antworten, soweit es diese in der Philosophie überhaupt gibt, waren ganz anders als meine. Ich hatte ja auf all diese Fragen bereits Antworten. Und so fundamentalistisch wie mein Weltbild war, so sicher war ich mir bei diesen Antworten. Ich wusste im Grunde alles besser als alle Philosophen von Platon bis Popper. Zwar hatte ich dieses Wissen im Einzelnen nicht unbedingt zur Verfügung, aber ich war im Besitz der Wunderwaffe jedes Fundamentalisten: Ich wusste, das im Falle einer Differenz zwischen einem bestimmten Philosophen und der Anthroposophie auf jeden Fall die Anthroposophie recht hatte. In Rudolf Steiner hatte ich einen virtuellen Gewährsmann, der jede Philosophie überstieg und daher aus einer übergeordneten Sicht alles, was Philosophen je geschrieben hatten und je schreiben würden, bereits eingeordnet und bewertet und es mit seiner übermenschlichen Fähigkeit zur Emphase durchdrungen, aufgehoben und in die richtige Form gebracht hatte. Mit dieser Haltung ging ich also in die ersten Semester.

Mas muss sich das einmal vorstellen! Natürlich trug ich das nicht offen aus, aber untergründig war es meine Überzeugung. Ich kam mir fast vor wie ein Agent der höheren Wahrheit, der dieser zurückgebliebenen Philosophie auf die Sprünge helfen wollte und der studierte, als ginge es darum, den Feind zu zersetzen.

Nun war das aber auch nur eine von mehreren Stimmen in mir. Es gab durchaus auch eine andere Stimme in mir, welche die Anthroposophie vergessen und sich ganz in der Bewunderung der Philosophie verlieren konnte. Und die Philosophie hat ja nun einen ganz außerordentlichen Vorteil: Sie zwingt zur Reflexion. Trotz meiners Bollwerks an Weltanschauung, das ich jeden Morgen mit ins Institut schleppte, brachte sie mich auch ins Grübeln. Zum einen beschäftigte mich natürlich schon die naheliegende Frage, ob es wirklich wahrscheinlich ist, dass ein einzelner Mensch den totalen Überblick hat, während eine ganze Hundertschaft an Philosophen, die erkennbar mit überdurchschnittlicher Intelligenz gesegnet waren, nur im Nebel herum tappen sollte? Als Anthroposoph beantwortet man sich diese Frage mit der Floskel “sie waren an etwas dran”, was bedeuten soll, dass sie im Rahmen dessen, was eben ohne Anthroposophie möglich ist, durchaus Beachtliches leisteten. Sie hatten eine Ahnung der Wahrheit, sie waren im Grunde auf dem richtigen Weg, und vieles, was sie schreiben, ist auch keineswegs falsch. Ihnen fehlt aber, quasi unverschuldet, die letzte Stufe, um wirkliche Erkenntnis zu haben: der Zugang zur Anthroposophie Rudolf Steiners. Aus diesem logischen Widerspruch konnte ich mich also mit der nötigen Portion hermetischer Argumentation, wie sie fundamentalistischen Überzeugungen eigen ist, durchaus noch herausschlängeln.

Doch es gab einen anderen Widerspruch, dem ich nach und nach begegnete und der letztlich so existenziell war, dass er die eigentliche Krise hervorrief, den eigentlichen Wendepunkt in meinem Weltbild. Dieser Widerspruch war keineswegs ein logischer, er war im Grunde sogar unlogisch. Er fand nicht auf der Ebene diskursiver Reflexion, sondern im Untergrund einer existenziellen und emotionalen Sinnkrise statt.

(S. 55ff.)

Lieber schizophren als ganz allein

Dieser Glaube, den Quell zu kennen, aus dem sich jede andere philosophische, wissenschaftliche, aber auch religiöse und künstlerische, ja überhaupt jede Betätigung des Menschen beurteilen ließ, lähmte jegliches Interesse an allem, was nicht unmittelbar mit diesem Quell in Verbindung stand. Ein Hegel, ein Kant, ein Platon, ein Aristoteles, Thomas und Fichte – sie mochten viele vernünftige Dinge geschrieben haben, die wohl immer auch als Vorbereitungen und Antizipationen der Anthroposophie werden, nie aber das große Tor zur “eigentlichen” Wahrheit aufstoßen konnten, wie es die Anthroposophie in meiner Vorstellung tat. Und noch viel weniger konnten das all jene Philosophen, die nach Steiner lebten und an ihm vorbeigegangen waren. Wie also sollte ich von diesen nur vorläufigen, von Steiners Anthroposophie immer schon übertroffenen Philosophen etwas erwarten, was mir mit der Anthroposophie nicht prinzipiell schon gegeben war? Wie konnte ich überhaupt noch etwas erwarten, wenn ich schon des Rätsels Lösung in Händen hielt?

Diese Erkenntnis verursachte einen nicht unerheblichen Schock bei mir, durch den mein anthroposophisches Weltbild zu erodieren begann. Denn Forschergeist und Idealismus, die romantische Suche nach der blauen Blume, wenn man so will, das war ein unbedingter und wesentlicher Bestandteil meiner Ideologie. Welcher Ernüchterung aber sah ich mich plötzlich gegenübergestellt, als ich erkannte, dass ich bereits im Besitz der blauen Blume sein sollte. Mein Erkenntnis-Idealismus war mit dieser Einsicht auf einen Schlag aller Kraft beraubt. Ich fiel in ein schwarzes Loch, als hätte man mir mein Todesurteil überbracht: Ich sollte am Ende der Suche sein. Es sollte nichts mehr zu entdecken geben. Die Welt: Das war sie! All die Euphorie, die mit dem Entdecken der Welt gerade für einen jungen Menschen verbunden ist, die Begeisterung, mit der man philosophische Richtungen prüfte, verfolgte und wieder verwarf, um nach besseren Anworten zu suchen, um sich und seinen Standpunkt in der Welt zu finden – die ganze existenzielle Fragehaltung eines wahrhaft Suchenden verpufft in der Gewissheit, dass Anthroposophie des Rätsels Lösung sei. Der Zauber der Zukunft und die Erwartung des Unbekannten, das Lebenselixier des jungen Menschen, gerann an meiner Anthroposophie zu einer schalen und wertlosen Brühe.

Und nun geschah etwas Verblüffendes. Ein Student der Philosophie, Wahrheitssucher von Steiners Gnaden, Systematiker und logisch-semantischer Korinthenkacker, einer, der dem Denken die absolute Priorität einräumte und der – so schwer das selbst für mich im Rückblick zu glauben ist – tatsächlich von der Unanzweifelbarkeit seiner Anthroposophie überzeugt war, sagte sich nun Folgendes: Selbst wenn ich mir sicher bin, in der Anthroposophie die letzte Wahrheit gefunden zu haben, so erscheint mir nach allem die Suche nach ihr erstrebenswerter als ihr Besitz. Und ich würde unter allen Umständen lieber auf die Anthroposophie verzichten, wenn mich dies in die Lage versetzte, wieder suchen zu können, Türen zu öffnen, Neues zu finden!

(S. 68-71)

Vgl. Übersinnliche Wellness pur, Endstation Dornach – das sechste Evangelium.


Einsortiert unter:Allgemein

Steiner individuell: “Innere Gegner”* unter sich

$
0
0

(von Karin Rohrer)

Vorwort A.M. – Auf diesem Blog wurden im vergangenen Jahr die Bücher von Taja Gut, Andreas Laudert und (ganz zuletzt) Christian Grauer vorgestellt. Die drei stehen für eine interessante Entwicklung in der anthroposophischen Szene, indem sie, alle biographisch eng mit derselben verbunden, für eine Abkehr vom missionarischen Anspruch auf „höhere Wahrheiten“ und paranoidem Personenkult plädieren. Die Folge dieser emanzipatorischen Absichten waren (wie zu erwarten) relativ weitgehende Ächtungen in der anthroposophischen Szene. Alle drei trafen sich am 10. November im Philosophicum Basel auf einer Podiumsdiskussion. Karin Rohrer berichtet.

Ich bin super pünktlich und eine ganze Viertelstunde vor Veranstaltungsbeginn im Ackermannshof, einem geschichtsträchtigen Basler Haus ganz in der Nähe des Rheins. Alles hier scheint vornehm, extravagant konzipiert und stilgerecht renoviert. Erst kürzlich fand die Vernissage zur Eröffnung statt: ein Kulturzentrum für gehobenere Ansprüche.

Auf dem Terminplan steht eine außerordentliche Veranstaltung, deshalb komme ich gleich zum Wichtigsten: Als Erstes suche ich die Toilette. Und finde sie ein paar Meter vom Eingangstor entfernt in einem schmalen Gang, der von der Eingangshalle wegführt. Die erste Überraschung hat mich auch schon gefunden: Die Türe zum stillen Örtchen ist nicht wie gewohnt gestaltet, sondern eine Bunkertüre. Richtig klar, was dies bedeutet, wird mir jedoch erst, als ich den Raum wieder verlassen will. Da ist keine Klinke! Ich suche zuerst gelassen nach dem rechten Griff, um das Teil zu bewegen, das mir den Weg frei geben sollte für den Gang in den Festsaal, indem zwei meiner Facebookfreunde, ein Autor, dessen kürzlich erschienenes Büchlein mich begeisterte und ein weiterer, mir bis dahin unbekannter Autor sich unterhalten würden über ihre Buchveröffentlichungen. Wie um Himmels Willen komm’ ich aber da wieder raus, frage ich mich – je länger desto nervöser? Da sehe ich eine Hinweistafel mit einer Hand, die scheinbar darauf hindeutet, wo der Türrahmen endet und die Türe beginnt. Ich versuche auf verschiedene Weise, die Tür in Bewegung zu bekommen, jedoch ohne Erfolg. Schon will ich einen Schritt zurücktreten und “Sesam öffne Dich” meditieren, da hat zum guten Glück noch jemand anderes das Bedürfnis nach diesen Räumlichkeiten und ich kann, sichtlich erleichtert und mit großem Verständnis der Eintretenden, mich doch noch auf die Suche nach dem Festsaal begeben.

Die nächste Verwunderung trifft mich im Treppenhaus: eine Bekannte. „Frau H, sie hier?“ Sie: „Was machst Du denn hier? … (Sie duzt mich, offenbar in Verwunderung, mich hier vorzufinden). Wir gucken uns andächtig um, während wir die samtig dezent glänzend geschliffene Holztreppe hochsteigen … Du meine Güte, denke ich, das kann ja heiter werden für die Jungs, die hier in aller Öffentlichkeit persönlich ihr innerstes Verhältnis zu Rudi preisgeben wollen! Aber ich weiss, sie haben Jens Heisterkamp dabei, der wird die Lage sicher managen. Die kurze Zeit vor Veranstaltungsbeginn nutze ich dazu, die sich nach und nach einfindenden, im anthroposophischen Rahmen durchaus illustren Gäste zur Kenntnis zu nehmen. Und ehrlich gesagt, die meisten kenne ich aus Dornach, der Anthroposophenkolonie, sogenannte „Kapazitäten“, die bestimmt keine offenen Fragen mehr haben bezüglich dem, was Anthroposophie ist oder zumindest sein soll, so meine Vorstellung jedenfalls.

Andreas Laudert, Taja Gut, Jens Heisterkamp (Foto: Karin Rohrer)

Und jetzt nehmen sie vorne im Rampenlicht und unter imaginärem Trommelwirbel Platz, die drei Autoren Christian Grauer, Taja Gut, Andreas Laudert und der Moderator Jens Heisterkamp von der Zeitschrift Info3, dem sogenannten Boulevardblatt, wie sie in den eigenen Reihen oft genannt wird, einerseits, weil die Autoren recht unkonventionelle Steinerdeutungen vertreten und andererseits sich die Zeitschrift auch spirituellen Strömungen außerhalb der Anthroposophie zuwendet.

Nachdem Heisterkamp die Anwesenden begrüßt hat, dankt er gebührlich dem Basler Futurum Verlag, solch undogmatische Bücher zu verlegen. Mit der Anknüpfung der Hoffnung, solch ein Wagnis möge der Weiterentwicklung der Anthroposophie dienen, wendet er sich als erstes Taja Gut zu und stellt ihn kurz vor: Er war u.a. einige Jahre tätig im Rudolf Steiner Archiv in Dornach, in dem er an der Edition des Rudolf Steiner Gesamtwerkes mitarbeitete. Wie ich bei einer Recherche anlässlich dieser Veranstaltung bemerkte, nutzt er diese Tatsache jedoch nicht unbedingt zur vollen Zufriedenheit der ehemaligen Arbeitgeber aus (vgl. die “Stellungnahme” von Walter Kugler). Heisterkamp bezeichnet denn Guts Buch auch als radikal. Dieser schilderte nämlich 2010, wie ihn die Diskrepanzen und Widersprüche bei Steiner bis heute umtreiben: z. B. dessen Absolutheitsanspruch im Gegensatz zu seiner hochgelobten Freiheit und Individualismus oder dem Aufruf, alles selber zu finden bis zu dem, immer an Bestehendes anschließen zu müssen. Auch sei Steiner kein Systematiker gewesen. Umso erstaunlicher sei es, dass aus seinen vagen Angaben so etwas wie eine anthroposophische Medizin und biologisch- dynamische Landwirtschaft habe entstehen können.

Mit der Bemerkung, dass die anwesenden drei Autoren Schwächen der Anthroposophie thematisierten, aber keiner von ihnen ihr in den Rücken falle, jeder sich mit ihr auf seine eigene Weise identifiziere, wendet sich Jens Heisterkamp Andreas Laudert zu. Laudert arbeitet als Deutschlehrer, schrieb Lyrik und Theaterstücke. Eine zeitlang war er als Priester in der anthroposophienahen „Christengemeinschaft“ tätig – einige Anekdoten gibt er in seinem einschlägigen Buch „Abschied von der Gemeinde“ zum Besten. In der anthroposophischen Künstlerszene stieß er auf eine bemerkenswerte Verschlossenheit, die er aus anderen Künstlerkreisen so nicht kannte.

Über Christian Grauer erfahren wir, dass er einem klassisch anthroposophischen Elternhaus entsprungen ist – nach einer langen und leidvollen Ehe mit der Anthroposophie als seiner persönlichen „Einmannsekte“ interessiert ihn heute vor allem Steiners –„konstruktivistische“ Erkenntnistheorie. In seinem Buch „Es gibt keinen Gott, und das bin ich“ betreibt Grauer eine radikale Befragung seiner bisherigen Anthroposophie. Das Buch ist humorvoll zu lesen, nahe an einem Kabarett, jedoch nie, um andere zu verunglimpfen, immer auf sich selbst gerichtet. Heisterkamp zu Grauer: „Sag, was ist eine Einmannsekte?“ Grauer: „Ich war eine Einmannsekte!“. Er schildert, dass seine frühere Vorstellung von Anthroposophie nicht weniger als die Überzeugung war, er habe mit Steiner den Schlüssel zur Lösung des Welträtsels in den Händen und könne hiermit das Leben in den Griff bekommen. Und: Nur Steiner habe diesen Schlüssel. Also hier wieder der Absolutheitsanspruch, der auch Gut zu schaffen macht.

Der Moderator fragt die drei nun, was bei ihnen nach dieser existentiellen Befragung noch von Steiner übrigbleibt. Taja Gut antwortete, ihn interessiere Steiner „nur“ als Mensch. Als ein Mensch, dem gegenüber für gewöhnlich drei Extrempositionen eingenommen würden:
1. Steiner ist ein Schwindler
2. Er ist ein Psychopath
3. Alles ist wahr, was er sagte
Alle drei Varianten gehen für Gut nicht auf. Vielmehr gehe es vielen Anthroposophen gar nicht um Steiner, sondern um einen unfehlbaren Zeugen ihres eigenen Glaubens. Es wird das Eigene auf ihn gespiegelt. So resultieren Grabenkämpfe.

Laudert äußert, ihm gehe es nicht nur um Steiner, sondern vor allem um einen Draht zu authentischer Spiritualität. Steiner wollte anstossen, den eigenen Weg zu gehen und ging selber als leibhaftiges Beispiel voran. Seine zentralen Fragen lauteten, so Laudert: Was bedeutet Steiner für die Gemeinschaft und wie weit hat Steiner die Menschen an sich gefesselt? Wie befreit man sich aus diesem Bildernetz wieder? Grauer spricht sich dafür aus, Steiner soweit zu relativieren, dass man sich nicht mehr jeder seiner Aussagen fügen müsse.

Heisterkamp hakt weiter nach: Anthroposophen würden, zumindest von außen, als homogene Gruppe wahrgenommen. Sei es ratsam, sich von diesem Gemeinschaftsleben zu verabschieden, von den „Zweigen“ zum Beispiel? Laudert verweist auf die Vergangenheit: Anthroposophen brauchten den Absolutheitsanspruch als gemeinsamen Zement an Überzeugungen, nur so konnten sie ein so breites Netz von Organisationen unter einem Dach aufziehen. Die Gemeinschaftsmöglichkeit sei immer vorhanden, auch wenn die alten Formen wegbrächen, fraglich allerdings, was dann genau passiere. Grauer betonte, diese neue Gemeinschaft müsse um der Gemeinschaft willen da sein und nicht, um der Anthroposophie zu dienen, den Vorstellungen, die jeder davon habe.

Taja Gut, Jens Heisterkamp, Christian Grauer (Foto: Karin Rohrer)

Zum Ende hin stellt dann Heisterkamp die obligatorische Schlussfrage: Wie weiter mit der Anthroposophie? Er fragt, wofür sich die drei Autoren mit Blick auf Steiners Werk in Zukunft einsetzen wollten. Laudert plädiert für den altbekannten Begriff der Übernahme von humaner und ökologischer Verantwortung – als persönlicher Verantwortung, die nicht zu delegieren sei. Seine persönliche Baustelle sei vor allem die gegenwärtige Theaterszene. Gut bezeichnete Steiner als genialen Dilettanten im positiven Sinne, einen Anreger. Grauer: Für ihn spielt der philosophisch-konstruktivistische Ansatz Luhmanns eine zentrale Rolle bei der Betrachtung des steinerschen Werkes; die ganz starke Konstruktivismuskritik bei ihm. Nur diese Ideen haben Bestand, die er auch erleben kann.

Jens Heisterkamp beschloss mit Grauers Ausführungen das Gespräch und übergab das Wort dem Publikum. Und tatsächlich, aus den wenigen Wortmeldungen hoben sich zwei besonders hervor, die augenscheinlich bloße Kritik anbringen wollten. Auf die Nachfrage, wo konkret die Unterstellung denn zu verorten sei, war aber auch direkt Schluss bei der einen Person, weil sie sich angeblich nicht schnell genug erinnern konnte an die Stellen in Taja Guts Buch, die sie so brüskierend fand. Ein Herr äußerte, er könne nicht verstehen, wie es möglich ist, dass Taja Gut im Rudolf Steiner Verlag, dessen Hauptaufgabe es ist, Steiners Werk zu verlegen, quasi eine Gegnerschrift veröffentlicht habe. Da er selbst ehemaliger Steiner- Herausgeber sei, liege hier eindeutig ein Missbrauch vor. Gut wie auch Heisterkamp vertraten die Ansicht, dass diese Möglichkeit auf die Offenheit des Verlags, auch Autoren jenseits der Gefälligkeit eine Plattform zu bieten, hinweise. Aus dem Publikum kam wie zu erwarten keine Reaktion auf die beiden Wortmeldungen.

Karin Rohrer, geboren 1962, wohnt und arbeitet seit 20 Jahren in Basel und Dornach

——————————————————————————-

* so die Betitelung Taja Guts nach dem Erscheinen seines Buchs “Wie hast du’s mit der Anthroposophie?” in der rechtsanthroposophischen Zeitschrift “Der Europäer”


Einsortiert unter:Andreas Laudert, Christian Grauer, Karin Rohrer, Taja Gut

Philosophie und Anthroposophie – zu Hartmut Traubs Steiner-Exegese

$
0
0
“Erst im Raume dieses Gesprächs konstituiert sich das Angesprochene, versammelt sich um das es ansprechende und nennende Ich. Aber in dieser Gegenwart bringt das Angesprochene und durch Nennung gleichsam zum Du Gewordene auch sein Anderssein mit. Noch im Hier und Jetzt des Gedichts …, noch in dieser Unmittelbarkeit und Nähe lässt es das ihm, dem Anderen, eigenste mitsprechen: dessen Zeit.”
– Paul Celan: Der Meridian. Rede anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises, 22.11.1960.

———————

Mehr oder minder explizites Dauerthema auf diesem Blog ist der Sozialreformer, Okkultist und Guru Rudolf Steiner (1861-1925), Vater der “Anthroposophie”, Gründer der Waldorfschulen, Inspiration für zahlreiche Ökounternehmen von Alnatura bis dm und – nicht zu vergessen – “Bäcker des ersten vollreinkarnierten Vollkornbrotes” (Titanic). Zumindest von dessen RezipientInnen wird bis heute gern betont, dass derselbe Steiner vor seiner Zeit als Esoteriker als Philosoph in Berlin und Weimar unterwegs war, gar in Rostock zum Dr. phil promovierte (was jüngst sogar Bundespräsident Christain Wulff lobend erwähnte). Bis heute ist deshalb der Anspruch, auf einer voraussetzungslosen, philosophischen Erkenntnistheorie aufzubauen, fester Bestandteil der anthroposophischen Dogmatik. Hartmut Traub, Vorsitzender einer zugegeben eher minder bekannten “Internationalen Johann-Gottlieb-Fichte-Gesellschaft”, hat jetzt eine wissenschaftliche Analyse von Steiners philosophischer Weltanschauung von nicht-anthroposophischer Seite vorgelegt – und bringt die kritische Steiner-Forschung damit aus dem Stand auf ein neues Niveau.

Demaskierung

Die KritikerInnen der Anthroposophie haben meist allzu schnell den anthroposophischen Anspruch bestritten, Steiner sei Philosoph und Wissenschaftler gewesen. Der große Waldorfkritiker Klaus Prange ging gar Steiners späterer anthroposophischer Selbstdeutung auf den Leim, er habe sich in seinen frühen Jahren nur deshalb als Philosoph geriert, um “den Materialismus” zu überwinden und eine umso überzeugendere Esoterik aufbauen zu können (GA 262). Prange sprang auf denselben Zug: “Steiner schlüpft in viele Häute und bleibt doch immer Geisterseher eigener Provenienz” (Prange, Erziehung zur Anthroposophie, Bad Heilbrunn 2000, 53). Selbst einer der findigsten und schärfsten Anthrogegner, NWA, brachte es nur dazu, Steiner als inkompetenten Philosophen zurückzuweisen. Er schrieb im Sommer 2007: “Über den kleinen Kreis seiner glühenden Anhänger hinaus, ist Steiners Versuch, sich als Philosoph zu profilieren, in Ermangelung jeglicher Relevanz, kein Erfolg beschieden.”  Eine Wahrnehmung, die zumindest zu Steiners Lebzeiten nicht zutraf. So beschrieb der Religionswissenschaftler Helmut Zander in seiner Habilitationsschrift zur Geschichte der “Anthroposophie in Deutschland”, dass Steiner “von Zeitgenossen im Winter 1900 / 1901 als »führender Philosoph« wahrgenommen wurde” und verwies dafür auf den Briefwechsel zwischen Arthur Drews und Eduard von Hartmann (Zander 2007, 124). Immerhin war Steiner nicht nur zeitweise Herausgeber der Nachlässe Goethes, Schopenhauers und Nietzsches gewesen, hatte in Bohèmezirkeln verkehrt, an einer sozialistischen Arbeiterbildungsschule gelehrt und das “Magazin für Litteratur” herausgegeben. Erst mit seiner Wende zur Esoterik sei Steiners Ruf, so Zander, endgültig ins Negative gekippt.

Traub nun lässt zunächst Spekulationen über Steiners zeitgenössische Bedeutung außen vor. Er diskutiert Steiners philosophische Frühschriften, vor allem seine Dissertation über “Die Grundfragen der Erkenntnistheorie mit besonderer Rücksicht auf Fichtes Wissenschaftslehre” (1891) und “Die Philosophie der Freiheit. Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode” (1893/94) durch.

“Der Vorteil der philosophischen Schwerpunktsetzung ist zum einen, dass durch sie der klare, zumindest zeitweise dominant vertretene Anspruch Rudolf Steiners deutlich wird, als Philosoph im klassischen Sinne verstanden zu werden …  Die ‘Philosophie der Freiheit’ ist kein philosophisches ‘Erstlingswerk’ und sie verdankt sich auch nicht ‘höherer Einsichten’, wie dies gelegentlich behauptet wird. Auch sind die in ihr behandelten Probleme und angebotenen Lösungen nicht allein im Zeitraum der Abfassung des Buches selbst entstanden. Manches hat einen ideengeschichtlichen Vorlauf, der bis in Steiners Schul- und Studienzeit oder bis in seine Kindheit zurückreicht: etwa seine prägenden Erfahrungen mit dem niederösterreichischen Katholizismus oder seine frühen und nachhaltigen Begegnungen mit der Philosophie Immanuel Kants und insbesondere mit der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes.” (Traub, S. 29ff.).

Dabei nimmt er einige überfällige Demaskierungen und Mythen auseinander, die sich bis heute auch in der kritischen Anthroposophie-Forschung aufrecht erhalten haben. Zum Beispiel die (Selbst-)Etikettierung Steiners als “Goetheanisten”. Noch Heiner Ullrich behandelte in seiner 2011 erschienenen kritischen Steiner-Biographie die Weltanschauung des frühen philosophischen Individualisten Steiner unter dem Titel “Goetheanismus: Das erkenntnistheoretische Frühwerk” (Ullrich, Rudolf Steiner – Leben und Lehre, 97-110). Traub dagegen erklärt:

“Sicherlich ist der Einfluss der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes, und damit auch der implizite Einfluss Spinozas, auf den Aufbau und die Entwicklung der Weltanschauung Rudolf Steiners unbestreitbar. Gleichwohl spielt Goethe für Steiners philosophische Weltanschauung, insbesondere für deren Grundlegung, eine weitaus bescheidenere Rolle, als dies bisher angenommen wurde … Fichte und Kant sind Steiner vor seiner Begegnung mit anderen Geistesgrößen, etwa Nietzsche, Stirner, Schopenhauer, von Hartmann und eben auch Goethe, bekannt gewesen. Sie sind es, die – wenn auch auf gegensätzliche Weise – sein philosophisches Urteil nachhaltig geprägt haben.” (Traub., 31)

Johann Wolfgang von Goethe: Nur "bescheidener" Einfluss auf Steiners philosophische Weltanschauung?

Allerdings zeigt Traub auch die Berechtigung vieler altbekannter Kritikpunkte mit einer schlagenden Menge an Belegen auf. Etwa Steiners Abgrenzungsversuche zu DenkerInnen, deren Ideen er letztlich selbst teilte. So heißt es zu Steiners historischer Einordnung von Hegel, Fichte, Schelling und Kant im Zeitraum seiner Promotion:

“Geistesgeschichte, so könnte man sagen, wird hier zur Verschleierungsgeschichte im Dienst intellektueller Selbstbehauptung; ein philosophisch höchst zweifelhaftes Unterfangen, das auch die folgende ‘Philosophie der Freiheit’ im großen Stil fortsetzen wird.” (S. 215)

… und das, könnte man hinzufügen, auch die Genese seiner esoterischen Weltanschauung begleiten wird (vgl. Zander, aber auch Prange, a.a.O.). Insgesamt sieht Traub in Steiners Philosophie jedoch eine konsequente Weitererntwicklung von Johann Gottlieb Fichtes Programm, Wissen in “Weisheit” zu transformieren und mittels einer totalen Erkenntnistheorie (“genetische Philosophie”) auch die Handlungsgrundlagen der praktischen Philosophie zu bestimmen. Beide, Fichte und Steiner, habe dieser Ansatz am Ende “in die praktische Erziehung”, in Steiners Fall: Die Waldorfpädagogik, geführt (Traub, S. 1007).

Analyse

Wo gehobelt wird, fallen Späne. Und so zeigt auch Traub die Späne, Schnitzer und ideengeschichtlichen Konturen von Steiners philosophischer Biographie. Einige zentrale Ergebnisse von Traubs Steiner-Exegese seien im Folgenden kurz aufgelistet:

- Katholisch-christliche Einflüsse.

Für das Verständnis von Steiners Weltsicht sei seine frühe Erfahrung mit den Riten der katholischen Kirche ausschlaggebend gewesen: “Dass sich bei Steiner gerade in seiner Abgrenzung gegenüber der Katholischen Kirche, so wie er sie erfahren hat, nicht nur deren Einfluss in der Gestalt der ‘feierlichen Gefühle und Ahnungen einer übersinnlichen Welt’ erhalten, sondern sich auch Elemente ihres inquisitorischen Dogmatismus und Unfehlbarkeitsglaubens in seine eigene philosophische und spirituelle Weltanschauung herübergerettet haben”, lasse sich “kaum bestreiten.” (S. 802f.)
Traub stützt sich für diese sicherlich fruchtbare These aber ausschließlich auf Steiners Selbstapologie “Mein Lebensgang”. Deren Authenzität in Sachfragen kann allerdings stark angezweifelt werden: Steiner versuchte in diesem Buch gegen Ende seines Lebens eine einheitliche Interpretation seiner Biographie zu kanonisieren. Das Buch lässt sich daher als biographische Quelle “allenfalls für die Position und Sichtweise [heranziehen], die Steiner retrospektiv, d.h. zur Zeit der Abfassung von ‘Mein Lebensgang’ auf sein früheres Leben hatte” (David Marc Hoffmann: Rudolf Steiners Hadesfahrt und Damaskuserlebnis, in: Rahel Uhlenhoff: Anthroposophie in Geschichte und Gegenwart, Berlin 2011, 90). Ich halte  Traubs Hypothese für schlüssig, und vor allem: für aufschlussreich, was die Interpretation von Steiners religiöser Biographie angeht, aber ob sich noch unerwartete Quellen für Steiners Kindheitsgeschichte auftun, muss man wohl bedauerlicherweise bezweifeln (ein glücklicher Fund gelang kürzlich Wolfgang Vögele: “Ich bin der Herr Staberl …”. Das Bilderbuch, an dem Rudolf Steiner lesen lernte, in: Die Drei, 12/2011, 7-21, vgl. NNA). Allerdings stößt man gelegentlich auch auf Äußerungen Steiners im engen Kreis, die Traubs Postulat unterstreichen. So behauptete Steiner im Juli 1924, er wäre, hätte sein Vater ihn nicht auf die Realschule in Wiener-Neustadt, sondern das benachbarte Gymnasium geschickt, sicherlich katholischer Ordenspriester geworden:
“Wäre ich aber damals in jener Stadt in das Gymnasium gekommen, so wäre ich Zisterzienser-Ordenspriester geworden. Das ist ganz zweifellos. Denn es war dies ein Gymnasium, an dem nur Zisterzienser lehrten. Ich hatte gar einen tiefen Hang zu allen diesen Patres, die auch zum großen Teile außerordentlich gelehrte Menschen waren. Ich las vieles, was diese Patres schrieben, es berührte mich außerordentlich tief; ich liebte diese Patres. Und eigentlich bin ich nur dadurch sozusagen neben dem Zisterzienser- Orden vorbeigegangen, daß ich gar nicht in das Gymnasium gekommen bin.” (GA 240, Dornach 1992, 158)

- “Je früher, desto klarer”.

Steiners philosophische Ausführungen seien von seinen ersten philosophisch-philologischen Fingerübungen in den “Grundlinien einer Erkenntnistheorie” (GA 2) bis zur “Philosophie der Freiheit”, immer unpräziser geworden. Habe er etwa  drei für seine philosophischen Ausführungen zentrale Erkenntnismodi – Gesetzeserkenntins, Intuition und Selbstbetrachtung – doch bereits in den “Grundlinien” ausführlich erläutert. In Anbetracht dessen sei es “geradezu unverzeihlich …, dass Steiners vermeintliches philosophisches Hauptwerk [die Philosophie der Freiheit] diese, für das Verständnis seiner zentralen Thesen wertvollen, ja unverzichtbaren erkenntnistheoretischen Differenzierungen völlig übergeht oder sich ihrer bloß implizit bedient.” (S. 449)

- “Im Mittelpunkt von Steiners [philosophischer] Anthropologie steht … die Idee des Menschen als ‘thätigen Mitschöpfer des Weltprozesses’” (S. 200)

- Missverständnisse als Ausgangsbasis.

Zum Thema: Steiners Umgang mit anderen Philosophen – “Es bleibt das stete ‘Weh und ach’ von Steiners Versuchen, die eigene Position in der Auseinandersetzung mit der Geschichte der Philosophie auszuschärfen … Wie Don Quichotte, der Ritter von der traurigen Gestalt, rennt Steiner mit seiner Polemik gegen die Windmühlen der eigenen Phantasie an. Die zu besiegende feindliche Armee geistiger Ungeheuer ist im Grunde nichts weiter als eine Fata Morgana, die die Steinersche Einbildung aus Schlagworten und Negativ-Etiketten zusammengesponnen hat – Gespenster eines intellektuellen Fiebertraums.” (S. 574)
Letztlich und paradoxerweise habe Steiner in seinen Versuchen, sich gegen die von ihm großenteils polemisch missverstandenen Philosophen abzugrenzen, oft genau deren Projekte wiederholt. So erweise sich Steiners ‘ethischer Individualismus’ keineswegs als Gegenmodell der Kantischen Ethik, sondern vielmehr als eine Paraphrase derselben (S. 172). Ebenso bei Fichte, dessen Ich-Konzept Steiner in seiner Dissertation mit Argumenten kritisierte, die es eigentlich stützten. Darin letztlich liege die Pointe von Steiners Philosophie: In der abwertend gemeinten Kritik an den “Windmühlen seiner eigenen Philosophie” habe Steiner die großen Thesen seiner eigenen Weltanschauung gebildet.
Ein zentraler und problematischer Zug von Steiners philosophischen Auseinandersetzungen sei die Etikettierung anderer Weltanschauungsgebäude als “krank”. Etwa im berühmten Einleitungssatz seiner Dissertation, dass ‘Die Philosophie der Gegenwart’ vom einem “ungesunden Kant-Glaube” befallen sei. Traub vermutet hier nietzscheanische Einflüsse und problematisiert: “Dass sich Steiner mit der Übernahme eines solchen Bewertungsstandpunktes, der die Qualifizierung philosophischer Positionen maßgeblich nach pathologischen Kriterien vornimmt, in die Gesellschaft einer geschichtlich unheilvollen Demagogie begibt, die lange vor ihm und Nietzsche einsetzt und insbesondere nach ihnen zu katastrophalen Folgen führte, muss wohl nicht weiter erläutert werden. (S. 167).

- Missverständnis von Fichtes Ich-Begriff.

Auftakt und thematischer Aufhänger von Steiners Dissertation war die “Wissenschaftslehre” von Johann Gottlieb Fichte. “Will man den Stein des Anstoßes benennen, über den Steiner zeit seines Lebens bei Fichte gestolpert ist, dann ist es der, den er sich … selbst in den Weg gelegt hat: dass ihm die materiale Dimension der Transzendental Fichtes verborgen geblieben ist. (S. 122). Fichte betonte, dass das ‘Ich’ sich selbst und seine Umwelt (‘Nicht-Ich’) setze, d.h. erst konstituiere. Steiner kritisierte, dass diese erste und alles bestimmende “Thathandlung” des quasi konstruktivistisch gedachten Ich, bei Fichte unbestimmt bleibe, dass sich davon keine Brücke zur praktischen Vernunft oder anderen Bewusstseinsinhalten schlagen lasse. Dieses Fichte’sche ‘Ich bin Ich’ bleibe folglich unbestimmt, “grau und leer.” Traub führt dagegen an, die Selbst-Setzung des Ich sei bereits bei Fichte Ausdruck einer Tathandlung. Bei Fichte nachgelesen, bestätigt sich dieses Argument. Schreibt dieser doch in seiner ‘Grundlegung des gesamten Wissenschaftslehre:
“Dieses Ich ist, und es setzt sein Sein, vermöge seines bloßen Seins. – es ist zugleich das Handelnde, und das Produkt der Handlung; das Tätige, und das, was durch die Tätigkeit hervorgebracht wird; Handlung und Tat sind Eins und ebendasselbe; und daher ist das: Ich bin Ausdruck einer Tathandlung; aber auch der einzigen möglichen …” (Fichte, a.a.O., I, 96).
Dennoch bleibt m. E. eine Berechtigung von Steiners Fichte-Kritik. Keine Frage, dass Fichte die Selbst-Setzung des Ich als Tathandlung begriff. Ebenfalls keine Frage, dass Fichte “durch die Unterscheidung zwischen apriorischem und historisch-empirischem Wissen weit davon entfernt war, die geschichtliche und gesellschaftliche Wirklichkeit ‘aus dem Ich herauszuspinnen’ [so Steiners Vorwurf - A.M.].” (Traub, S. 137). Diese Unterscheidung bringt Steiners Anliegen allerdings auch nicht weiter, im basalsten Urgrund der Erkenntnistheorie einen gemeinsamen Urgrund theoretischer wie praktischer Vernunft zu suchen. Hier mündet Traubs Steiner-Kritik in Fichte-Apologie. Dass Steiner trotzdem auf weiten Strecken und in zentralen Argumenten seiner eigenen Philosophie Fichte rezipiert und bis in seiner theosophische Esoterik auf Fichtes Wissenschaftsbegriff zurückgegriffen hat – diese wichtige und ausführlich belegte Erkenntnis Traubs bleibt damit unbestritten.

- Steiner, ein unfreiwilliger Kantianer.

“Unter dem Einfluss Nietzsches wiederholt Steiner dessen kardinalen Interpretationsfehler hinsichtlich der Moralphilosophie Kants, insbesondere im Hinblick auf den Kategorischen Imperativ … Der Kategorische Imperativ ist kein ‘Ding an sich’, das der freien Persönlichkeit von außen her seine Pflichten und handlungsleitenden Ideen und Begriffe vorgibt. Nach Kant erweist sich das ‘moralische Selbstbewusstsein’ als ‘Ding an sich’, das den Willen als Handlungsgrund in der Spannung zwischen der Objektivität eines allgemeinen Gesetzes und den partikularen Ansprüchen individueller Neigungen ‘kausal’ – aus Freiheit – bestimmt. Das aber entspricht, wie wir sogleich sehen werden, ziemlich exakt dem, was auch Steiner unter dem Begriff der ‘freien Persönlichkeit’ versteht … Auch von Kant wird [wie bei Steiner - A.M.] … die ‘moralisch-ethische’ Bestimmung des Menschen durch irgendeine jenseitige Macht kategorisch abgelehnt … Und: Insofern auch für Kants Grundlegung der Ethik der Mensch als Verstandeswesen und damit die Erkenntnis der das Handeln bestimmenden Gesetze im Zentrum seiner Moralphilosophie steht, bleibt auch [sic] von Steiners vielfach betonten Originalitätsanspruch, Praktische Philosophie als einen Sonderfall der Erkenntnistheorie anzusehen, nicht viel übrig. Hier liegt Steiner , was ihm vermutlich nicht ganz angenehm wäre, viel näher bei Kant als bei Nietzsche.” (S. 170ff.)

Beim späten Steiner, dem Esoteriker, sei die Annäherung an Kant noch stärker mit den Händen zu greifen. Allerdings:

“Ob sich Steiner mit seiner neuen Theorie vom Willen der Tatsache bewusst war, dass die Wand, die ihn von Kant trennt, sehr dünn geworden ist … bleibt eine spekulative Frage. Weniger spekulativ aber ist der Hinweis an die Steinerapologeten, diese strukturelle Annäherung Steiners an Kants Moralphilosophie im Interesse ihres ‘Meisters’ selbt ernst zu nehmen und die unfruchtbare Konfrontation zwischen Kant und Steiner zu Gunsten einer differenzierteren Betrachtung aufzugeben.” (S. 791)

Diese Erkenntnis Traubs ist allerdings nicht neu. Bereits Helmut Zander hatte 2007 festgestellt: “Steiner scheint sich nicht darüber im Klaren gewesen zu sein, in welchem Ausmaß er trotz seiner Gegnerschaft zu Kant Neukantianier [sic] war.” (Zander, a.a.O., 487). In einer literarisch kurzweiligen Polemik bezeichnete übrigens der Anthroposoph Karen Swassjan diese Feststellung Zanders als “gekonnten Unsinn” und “dadaistischen Satz”, freilich, ohne inhaltliche Kritikpunkte gegen Zanders Untersuchung anzuführen (Swassjan: Aufgearbeitete Anthroposophie. Bilanz einer Geisterfahrt, Dornach 2008, 37).

Scheuklappen

- Dagegen: Geringer Einfluss Nietzsches und Goethes

Traub hält es grundsätzlich für problematisch, Steiners “philosophische Weltanschauung mit der Philosophie Friedrich Nietzsches in Verbindung zu bringen” (Traub, S. 896), und dasselbe gelte auch für Goethe (s.o., ebd, 29ff.). Bei Betrachtung von Steiners philosophischen Grundannahmen werde “offensichtlich, dass sich deren prägende gedankliche Motive nicht Nietzsche, sondern der Auseinandersetzung mit den Klassikern des Deutschen Idealismus verdanken. Das gilt sowohl für die erkenntnistheoretischern Prinzipien seiner Philosophie des ‘Ich-denke’ als auch für die Theorie der ‘moralischen Intuition’ auf dem Gebiet seiner ‘praktischen Philosophie’ und ebenso für das Thema ‘Interpersonalität’ … Bedeutend näher als bei Nietzsche ist Steiners interpersonalitätstheoretischer Ansatz dagegen an der Anerkennungstheorie Hegels und insbesondere Fichtes…” (ebd.). Umso seltsamer, dass später Traub versucht, Steiners Missverständnisse der Kritischen Philosophie Kants durch den Einfluss Nietzsches zu erklären  – wenn Kant im Unterschied zu Nietzsche für Steiner so prägend ist, wie Traub darlegt, wäre diese Konstellation reichlich unverständlich. Dabei stellt sich, mit Verlaub, die Frage, ob Traub als Vorsitzender der Fichte-Gesellschaft nicht durch eine sehr fichteanische Brille blickt und ein Vorsitzender einer Nietzsche-Gesellschaft genau das Gegenteil schriebe. Auf jeden Fall liegt Steiners intensive Nietzsche-Phase gegen Ende der 1890er, während Traubs Analyse chronologisch mit der “Philosophie der Freiheit” zu Beginn der 1890er abschließt.

- Max Stirner: ein sekundäres Vorbild.

Zumindest ab der Mitte der 1890er trat Steiner als individualistischer Anarchist auf. Über einen Freund, John Henry Mackay, Literaten und Vorreiter der Schwulen-Bewegung, war er mit dem Linkshegelianer Max Stirner in Berührung gekommen. Dessen dezidiert “egoistische” Philosophie kritisierte jede allgemeine Bestimmung des Menschen, jede Unterstellung eines menschlichen Wesens: “Das Göttliche ist Gottes Sache, das Menschliche Sache ‘des Menschen’. Meine Sache ist weder das Göttliche noch das Menschliche, ist nicht das Wahre, Schöne, Gute, Rechte, Freie usw., sondern allein das Meinige, und sie ist keine allgemeine, sondern ist – einzig, wie Ich einzig bin.” (Stirner: Der Einzige und sein Eigentum (1844), Stuttgart 1972, 5). Wie schon im Falle Nietzsches und Goethes bestreitet Traub, dass diese Einflüsse Stirners auf Steiner aber tatsächlich hoch zu veranschlagen seien. Anders als bei Goethe oder Nietzsche fehlt hierfür in seiner Analyse aber praktisch jeder Nachweis. Steiners explizite Stirner-Bekenntnisse werden zwar erwähnt, aber nicht untersucht, seine eigene anarchistische Philosophie bleibt außen vor, auch so wichtige Aufsätze wie Der Egoismus in der Philosophie. Hier wäre von einem Buch mit dem Titel “Philosophie und Anthroposophie” mehr zu erwarten gewesen. Wolfgang Vögele hat in seinem oben erwähnten Aufsatz über “das Buch, an dem Rudolf Steiner lesen lernte” (s.o.), überdies jüngst auf eine sehr frühe Konfrontation Steiners mit anarchistischem Gedankengut nahegelegt, die die Rolle Stirners für seine intellektuelle Biographie noch interessanter machen.

- Zu Steiners früher Religionsphilosophie

Unter der Überschrift “Die letzten Fragen” wandte Steiner sich 1893 in seiner “Philosophie der Freiheit” auch der Frage nach Gott zu. Traub analysiert diese dankenswerterweise ausführlich, denn zu dieser religiösen Sicht des frühen Steiner gibt es kaum Untersuchungen, gerade von anthroposophischer Seite. In Anknüpfung erneut an Fichte (“Ihr habt nicht, wie ihr wolltet, Gott gedacht, sondern lediglich euch selbst im Denken vervielfacht”) bekräftigte Steiner zunächst religionskritische Projektionstheorien: Dass eine personale Gottesvorstellung letztlich nur die Selbst-Projektion in ein fiktives “Jenseits” sei. Er selbst positionierte sich in 1893 als Pantheist und schrieb: “Die Welt ist Gott”. Traub zitiert mehrere Äußerungen Steiners über das “göttliche Urwesen”, “das absolut Wirkliche”, das “Urwesen der Welt” und den “Urgrund des Daseins”. Steiner wehrte Vorstellungen von “Gott der Philosophen”, der durch Gottesbeweise erschlossen werden sollte, ab. Aber er stellte ihr seinen eigenen, pantheistisch-immanenten Gottesbegriff gegenüber:
“Jeder Mensch umspannt mit seinem Denken nur einen Teil der gesamten Ideenwelt, und insofern unterscheiden sich die Individuen auch durch den thatsächlichen Inhalt ihres Denkens. Aber diese Inhalte sind in einem in sich geschlossenen Ganzen, das die Denkinhalte aller Menschen umfasst. Das gemeinsame Urwesen, das alle Menschen durchdringt, ergreift somit der Mensch in seinem Denken. Das mit dem Gedankeninhalt erfüllte Leben in der Wirklichkeit ist zugleich das Leben in Gott. Die Welt ist Gott.” (GA 4a, Dornach 1994, 350f.)
In der zweiten Auflage des Buches (1918) versuchte Steiner, inzwischen zum esoterischen Christen geworden, die religionsphilosophischen Pointen dieses frühen Buches zu eliminieren und durch seine inzwischen gewonnenen “spirituellen” An- und Einsichten zu ersetzen.

Mit diesem Punkt, Steiners vor-theosophischer Religionsphilosophie, wären wir bei einer, wenn nicht der großen Frage jeder apologetischen wie kritischen Steinerforschung: Wie fand der umstrittene, aber akzeptierte Philologie, Philosoph und Literat Rudolf Steiner um 1900 wie über Nacht zur Esoterik der Theosophie? Welche Motive führten ihn zu dieser esoterischen Konversion? Traubs Antwort ist zumindest diskutierenswert. Zunächst aber sei ein anderer Teil seiner Argumentation nachgezeichnet: Seine Einschätzung seiner thematischen VorläuferInnen.

Johann Gottlieb Fichte – für Hartmut Traubs wichtigster philosophischer Stichwortgeber Steiners

Forscher-Massaker

Fundiert und umsichtig gibt Traub die historischen Quellen, v.a. Fichte und Steiner wieder. Bemerkenswert gnadenlos ist jedoch sein Umgang mit jeder vorherigen Steinerrezeption. Herbert Witzenmann, den namhaften anthroposophischen Philosophen, rechnet er beispielsweise en passant “zu den Kuriositäten der sogenannten Steiner-Forschung” (S. 253). Die Ausführungen vieler Vorgänger werden von Traub weniger argumentativ kritisiert als vielmehr substanziell liquidiert. Das wirkt umso vernichtender, als er an keiner Stelle davor zurückscheut, ihnen Anerkennung zu zollen.  So geht es Steiners großem Biographen Christoph Lindenberg an den Kragen, der die von Traub überzeugend aufgezeigte Bedeutung Immanuel Herman Fichtes für Steiners Weltanschauungskosmos anscheinend schlicht übersehen hat:

“In Lindenbergs über tausend Seiten starker, zweibändiger Steinerbiographie wird der von Steiner selbst über Seiten zitierte Immanuel Hermann Fichte nicht einmal namentlich erwähnt. Wie kann es sein, dass der Steinerbiographie und dem Steinerbiographen eine geistige und weltanschauliche Prägung Steiners entgehen konnte, zu deren Anthroposophie sich Steiner selbst, nicht etwa im Verborgenen, sondern ausführlich, über sein Gesamtwerk verteilt, mehrfach zustimmend, aber auch kritisch geäußert hat.” (Traub, S. 901f.)

Auch Karl-Martin Dietz, Mitarbeiter des Heidelberger Friedrich-von-Hardenberg-Instituts und Autor durchaus zahlreicher Publikationen über Steiner als Philosophen, ergeht es nicht besser. Dessen Buch “Rudolf Steiners Philosophie der Freiheit” ist nach Traub zwar “die vielleicht ausgewogenste, weil textnahe Interpretation zum Thema moralische Phnatasie” in Steiners früher Philosophie (S. 781). Im Detail masakriert er dann allerdings Dietz’ Interpretation von Steiners Theorem der “moralischen Intuition”:

“Trotz seiner in der Sache durchaus erhellenden und empfehlenswerten Analyse des Intuitionsbegriffs unterlaufen auch Dietz für apologetische Steinerinterpreten nahezu klassische Interpretationsfehler, die sich aus der meist unkritisch übernommenen anthroposophischen Reinterpretation des Buches  durch Rudolf Steiner selbst erklären … Dass … Dietz ohne weiteres mit dem Terminus des Erlebens an die Interpretation zentraler Textstellen der ‘Philosophie der Freiheit’ eingeht oder auf das Erleben mit Textstellen verweist, in denen es überhaupt nicht erwähnt wird, zeugt weniger von einer textkritischen Analyseleistung als vielmehr von einer starken Identifikation des Autors mit Steiners problematischen Reinterpretationsbemühungen.” (S. 640).

Marcello da Veiga, Rektor der anthroposophischen Alanus-Hochschule, hat immerhin über J.G. Fichtes Einfluss auf Steiner promoviert. Traub zitiert ihn auch seitenweise, hebt ihn heraus als “bemerkenswerte Ausnahme” in der “weitreichenden Ignoranz gegenüber den geistesgeschichtlichen Quellen, aus denen Steiner geschöpft hat” im anthroposophischen Milieu (S. 253), aber…

“Da Veiga Greuels Versuch, das Verhältnis zwischen der intellektuellen Anschauung und den Begriffen als realen Entitäten dadurch zu erklären, dass ‘diese für die intellektuelle Anschauung genauso Erfahrungsinhalt sind wie es die Wahrnehmung für die Beobachtung ist’, löst eigentlich nicht das Problem, sondern vermehrt die Unklarheit dieses Ansatzes.” (336f.)

Ähnlich geht er mit Wolf Ulrich-Klünker  (Traub: “die fachliche Ignoranz dieses Ansatzes ist schon bemerkenswert”, S. 862) und Günter Röschert, einem der besonnensten Steiner-Interpreten (Traub: )ins Gericht, und schließlich auch mit Helmut Zander:

“Den bisher wenig erforschten Fragen danach, wie und durch welche Einflüsse sich Steiners Weg vom “seriösen Goethe-Deuter und Philosoph’ in den ‘okkulten Sumpf der Theosophie’ vollzoogen hat, ist H. Zander im ersten Band seiner Geschichte der ‘Anthroposophie in Deutschland’ nachgegangen. Ohne seine historiographische Kärrnerarbeit’ auch nur im Geringsten schmälern zu wollen, muss aber noch einmal darauf hingewiesen werden, das sich Steiners Weg in die Theosophie nicht aus der Bekanntschaft mit den Schriften Blavatskys, Leadbeaters oder Besants erklären lässt … hier erweist sich Zanders ‘Chronologie’ der ‘theosophischen Publikationen und Aktivitäten Rudolf Steiners’ als unbefriedigend und ergänzungsbedürftig.” (S. 976)

Freundlicherweise nimmt Traub Zander, dem er fast überall widerspricht, wo er ihn erwähnt, allerdings auch vor den eifernden Vorwürfen seiner KritikerInnen in Schutz. So schließt Traub, nachdem er auf wenigen Seiten die katholisch-christliche Sozialisation des Gurus ausgeführt hat:

“Von Anthroposophen wurde Helmut Zander als Motiv für seine kritische Geschichte der Anthroposophie in Deutschland zu Unrecht ein ‘gefesselter katholischer Dogmatismus’ (Rahel Uhlenhoff) vorgeworfen. Wer hier mit Steinen nach dem Katholizismus seiner Kritiker wirft, sollte sich vergewissern, dass seine eigene geistige Heimat nicht ein altkatholisches Glashaus in Niederösterreich ist.” (Traub, S. 803)

Vor den Toren der Theosophie?

Für die orthodox-anthroposophische Rache an seinem Werk sollte Traub sich jetzt schon warm anziehen – oder wahlweise kontemplative Entspannungsmeditationen ausprobieren. Dabei bietet das letzte Kapitel seines Buches eine bemerkenswerte Analyse, die selbst konservative AnthroposophInnen nicht kalt lassen wird: Traub beansprucht, einen kontinuierlichen Weg von Steiners Fichteanischem Idealismus zu seiner esoterischen Theosophie aufzeigen zu können.

Hier sind wir im Intimbereich des Steinerschen Weltanschauungskosmos angelangt: Beansprucht dieser doch, das Geistesgut “Mitteleuropas” in eine esoterische “Geistesforschung” zu transformieren, ohne auf jegliches fernöstliche oder bereits vorhandene okkulte ‘Wissen’ zurückzugreifen. Steiners KritikerInnen monierten dagegen früh, dass Steiner sein esoterisches Denkgebäude in den wesentlichen Grundlagen der Theosophie Helena Blavatsky verdanke – eine naheliegende These, da Steiner immerhin bis 1913 Vorsitzender der Theosophischen Gesellschaft in Deutschland war. Und es liegt wohl nahe, dass er als Funktionär der Theosophen auch deren Gedankengut vertrat.

Nein, sagt Traub. Er sieht die esoterischen Überzeugungen Steiners schon bei dessen philosophischen Lektüren vorgebildet: Der Reinkarnationsgedanke bei Lessing, die Bevorzugung des ‘mytischen’ Johannesevangeliums bei Johann Gottlieb Fichte – und eigentlich auch sonst alles bei Fichte. Traub arbeitet sich hier zunächst stellvertretend an Helmut Zander ab: Steiners Wandel vom Philosophen zum Funktionär der Theosophischen Gesellschaft sei auf Basis seiner idealistisch-religionsphilosophischen Überzeugungen erfolgt und stelle keinen simplen Bruch dar. Unnötig zu sagen, dass Traub hier bei Zander offene Türen einrennt: Der hob in seiner 2011 erschienenen Steiner-Biographie eigens hervor, dessen “Weg in die Theosophie sollte man nicht antagonistisch als Bruch oder Kontinuität beschreiben, sondern als komplexen Transformationsprozess…” (Zander 2011, 478). Aber er betonte eben, dass die von Steiner artikulierten “höheren Erkenntnisse” denen der Theosophen beinahe eins zu eins glichen. Die von Traub gezeigten Parallelen zwischen “Steiners anthroposophische[r] Entwicklungsgeschichte des Geistes und Fichtes genetische[r] Theorie der Weltanschauungen” (S. 933-949) sind dagegen doch eher oberflächlicher Art. So kommt auch Traub selbst nicht umhin, zuzugestehen:
“Wir wollen mit dieser Rekapitulation von Fichtes genetischer Theorie sich auseinander entfaltender Formen möglicher Weltanschauungen und Lebensgefühle nicht behaupten, dass Steiner sie explizit als Vorlage für seine Entwicklungslehre esoterischer Erkenntnis verwendet hat. Dazu sind die Unterschiede zwischen Steiners Theosophie etwa und Fichtes Religionslehre doch zu groß. Gleichwohl sind doch auch die vielleicht unbeabsichtigten Anleihen oder tiefgründigen Nachwirkungen des Buches, das Steiner 1890 mit so großem Interesse gelesen hat, unübersehbar.” (S. 948)
Angesichts der eher partiellen inhaltlichen Parallelen von Steiner und Fichte bei doch auffällig gleicher Themenwahl kann man vielleicht Traubs Thesen modifizieren: Bei den idealistischen Philosophien, die Steiner vor seiner Wende zur Theosophie kannte, handelt es sich nicht um Vorbilder, sehr wohl aber Wegbereiter von Steiners esoterischer Weltanschauung. Die strukturgleichen Gedankengänge, die Steiner aus dem Deutschen Idealismus kannte, konnten eine Brücke zu und einen Boden für seine eigene Rezeption der theosophischen Esoterik Blavatskys, Leadbeaters oder Besants bereiten. Dass Traub die jüngste anthroposophische Literatur offenbar nur wenig ausgewertet hat, ist misslich, sonst hätte er auf Robin Schmidts “Rudolf Steiner und die Anfänge der Theosophie” (vgl. Bilder und Sachen) stoßen müssen. In diesem Buch wird versucht, Steiners Esoterik-Bild vor 1900, also vor seiner Wende zur Theosophie zu beschreiben, ohne auf apologetische Begründungsmuster zurückzugreifen.
Einen wichtigen Einfluss auf Steiners Anthroposophie, der bisher zu wenig beachtet wurde, benennt Traub in der Person Imannuel Hermann Fichtes – Sohn des oben immer wieder erwähnten Johann Gottlieb. Fichte junior entwickelte nämlich selbst ein Weltanschauungssystem, das er als “Anthroposophie” bezeichnete. Nachdem er noch ein paar Hiebe in Richtung Lindenberg und Zander ausgeteilt hat, macht sich Traub daran, Steiners eigene Lektüre und Auswertung I. H. Fichtes nachzugehen. Ganz besonders hebt er hervor, Steiners triadisches Körper-Seele-Geist-Konzept stamme von I.H. Fichte (S. 983). Auch hier ließe sich einwenden, dass Steiners drei-, bis neungliedrige anthropologische Theorien wohl eher denen im Gravitationsfeld der Theosophischen Gesellschaft ähneln – und dasselbe Fazit ziehen: Vielleicht akzeptierte er die theosophischen Anthropologien, weil er ähnlich Strukturiertes von Immanuel Hermann Fichte kannte. Traubs Beharren darauf, Steiner habe ‘nur’ eine “indische” “Eskapade” bzw. eine “‘morgenländische’ Phase” durchgemacht (S. 973), ist letztlich nicht aufrechtzuerhalten. Schon deshalb, weil Steiner bei den Theosophen auf alles mögliche stieß, aber sicher nichts genuin “Indisches” – vielmehr stammt auch das Geistesgut der Theosophischen Gesellschaft aus dem philosophischen Fundus des Abendlandes (vgl. Karl Baier)! Es führt zu nichts, wenn man die philosophischen Grundlagen von Steiners Theosophie nachzeichnet, aber die seines theosophischen Umfeldes weglässt und letzteres anschließend zur indischen Eskapade erklärt. Das Indienbild Steiners und der Theosophen hatte mit buddhistisch-hinduistischer Geistigkeit so viel zu tun wie ein Zitrone-Lotusblüte-Tee Marke Pfanner mit einer japanischen Teezeremonie. Insofern muss man Traubs Empfehlung an die religionswissenschaftliche Esoterikforschung, über Schillers “Der Geisterseher”, Schopenhauers “Versuch über das Geistersehen” usw., die gesamte “Traditionslinie der philosophischen Geschichte der Esoterik im Blick zu behalten” (S. 993), ebenso an ihn zurückgeben.

Umso erstaunlicher, dass Traub einen prominenten Zug von Steiners erst philosophischer und schließlich auch esoterischer Fichte-Rezeption fast völlig auslässt, der zugleich eine wichtige Kontinuität zwischen Steiners Früh- und Spätwerk bildet: Die Vorstellung vom “Deutschen Volksgeist”.

Am Deutschen Wesen

Steiners völkerspsychologisch-pangermanische Vereinnahmung Fichtes hat sogar Christoph Lindenberg in seiner zweibändigen Steinerbiographie ausführlich thematisiert (Lindenberg: Rudolf Steiner. Eine Biographie, Stuttgart 1997,  577-581). Zu Unrecht behauptete Lindenberg jedoch apologetisch, dass Steiner in seinem letzten Kriegsvortrag über Fichte – der pathetische Titel: “Fichtes Geist mitten unter uns” – die politisch-deutschnationale Dimension fallen gelassen und bloß noch “episch breite Schilderungen” betrieben, so dass die ZuhörerInnen sich “aus reinen Tatsachen ihre eigenen Impulse bilden” konnten (ebd., 581).

Diesem ganzen Thema widmet Traub lediglich eine Fußnote, in der es auch weniger um Steiners Kulturchauvinismus als vielmehr seine politische Vereinnahmung Fichtes geht:

“In diesen Kontext, der insbesondere auf die empirisch-personale Adaption der Fichteschen Freiheits- und Tathandlungsthematik zielt, gehört auch Steiners bis in seine späten Jahre reichender Enthusiasmus für Fichte als politischen Philosophen. Hier ist vor allem auf Steiners nicht unproblematisches Urteil über Fichte als “unittelbarsten Ausdruck des deutschen Volkstums” zu verweisen.” (Traub, S. 105, Fußn. 30)

Der Rückgriff auf Fichtes Reden brachte Steiner zur Zeit des Ersten Weltkriegs sogar Aufmerksamkeit und Publikationsforen auf stramm deutschnationaler Seite ein. 1916 konnte er so in Alexander von Bernus’ Zeitschrift “Das Reich” schreiben. Bernus offenbarte Steiner in einem privaten Brief:

“Zuerst wollte ich jedesmal einen besonderen und in die Zukunft weisenden Aufsatz eines im Fichte’schen Sinne Deutschen Autors der Vergangenheit zum Ausdruck bringen.” (Brief an Steiner vom 11.1.1916, Nachlass Alexander v. Bernus, zit. n. Zander: Anthroposophie in Deutschland, Göttingen 2007, 1274)

Der Volksgeist blickt dich an (ungefähr 4 Uhr morgens). Bild von Clarissa Heisterkamp.

Ein Vergleich von Steiners Völkerpsychologie steht weiterhin aus. Nur um zu demonstrieren, wie aufschlussreich sie sein könnte, beider Konstruktion des ‘ichlosen’ ‘Franzosen’:

Fichte führte im Zusammenhang mit der (von ihm übrigens herzlich begrüßten) Französischen Revolution: “Die Französische Nation … war im Ringen nach dem Reiche der Freiheit und des Rechts begriffen … Aber diese Nation war der Freiheit unfähig.” (Über den Begriff des wahren Krieges, Leipzig 1914, 65). Erreicht werden könne diese nämlich freilich “nur von den Deutschen, die seit Jahrtausenden für diesen großen Zweck da sind, und langsam demselben entgegen reifen.” (ebd., 52)

Das hätte Steiner wohl unterschrieben. Unmittelbar nach der französischen Besetzung des Ruhrgebiets im Jahr 1923 führte er vor Stuttgarter Waldorflehrern und im Beisein seiner verzückten Ehefrau Marie Theorien über die französische Niedrigkeit aus:

“Was die französische Sprache aufrecht erhält, ist der Furor, das Blut der Franzosen. Die Sprache ist eigentlich tot, und sie wird als Leichnam fortgesprochen. Das ist am allerstärksten an der französischen Poesie des 19. Jahrhunderts hervorgetreten. Korrumpiert wird die Seele ganz sicher durch den Gebrauch der französischen Sprache. Sie gewinnt nichts als die Möglichkeit einer gewissen Phraseologie. Das wird auch übertragen auf andere Sprachen bei denjenigen, die das Französische mit Enthusiasmus sprechen. Es liegt dies vor, daß gegenwärtig die Franzosen dasjenige, was ihre Sprache als Leichnamssprache aufrechterhalten hat, das Blut, auch noch selbst verderben. Die schreckliche Kulturbrutalität der Verpflanzung der schwarzen Menschen nach Europa, es ist eine furchtbare Tat, die der Franzose an anderen tut. Sie wirkt in noch schlimmerer Weise auf Frankreich selbst zurück. Auf das Blut, auf die Rasse wirkt das unglaublich stark zurück. Das wird wesentlich die französische Dekadenz fördern. Das französische Volk als Rasse wird zurückgebracht.” (GA 300b, 282).

Ob es sich bei Steiners germanophiler Völkerpsychologie wiederum nur um eine Verlängerung der theosophischen Evolutions- und Rassenlehre oder tatsächlich um eine Anregung aus dem Deutschen Idealismus handelt, wäre Stoff für weitere Untersuchungen. Fest steht, dass Steiner derartige Phrasen über eine besondere “deutsche Kulturmission” auch schon in seiner Wiener Studentenzeit mit sich herum schleppte.

Was Hartmut Traubs neues Buch angeht, wird zunächst die Rezensionsphase abzuwarten sein. Auf jeden Fall hat Traubs mutige und sicher arbeitsaufwändige Wort-für-Wort-Analyse der philosophischen Frühschriften Steiners alle Achtung verdient. Während mir seine allzu schnelle Abweisung anderer philosophischer Einflüsse auf Steiner als diejenigen J.G. Fichtes voreilig erscheinen, ist doch seine Demaskierung Steiners als fichteanischen Idealisten überaus fruchtbar. Besonderer Dank gebührt Traub für seine empathische Analyse von philosophisch-philologischen Fehlern und Irrtümern Steiners, die beim Lesen der Texte allein kaum auffallen. Steiner selbst ist, kann man ohne Übertreibung sagen, durch Traubs Analyse im philosophischen Diskurs der akademischen Welt angekommen.


Einsortiert unter:Anthroposophie & Philosophie, Hartmut Traub

Was hat man dir, du armes Kind, getan? Zu “Zander zitiert”

$
0
0

Lorenzo Ravagli vergleicht Helmut Zander mit Karl-Theodor zu Guttenberg. Doch seine anhaltenden Versuche, Zanders Bücher zu “zertrümmern”, werden zu interpretativen Ablenkungsmanövern im (Un-)Geist der frühesten anthroposophischen Apologeten.

Das ist der Punkt des stärksten Missverständnisses aller historisch-psychologischen Herleitung idealer Werte … – als ob das Begreifen des Werdens den Wert des Gewordenen in Frage stellte, als ob die Niedrigkeit des Ausgangspunktes die erreichte Höhe des Zieles herabzöge, und als ob die reizlose Einfachheit der einzelnen Elemente die Bedeutsamkeit des Produktes zerstörte, die in dem Zusammenwirken, der Formung und Verwebung dieser Elemente besteht.
Die innere Festigkeit und Gefühlstiefe desselben kann nur eine geringe sein, wenn es sich durch die Erkenntnis seines Werdeganges gefährdet, ja überhaupt nur berührt glauben kann.
- Georg Simmel: Zur Soziologie der Religion (1898)

—————————————————

Nachtrag: Die hier kritisierte Seite wurde inzwischen von “Zanders Zitate-Zauber” umbenannt in “Zander zitiert”. Die unten angeführten Texte und Denunziationen sind unter dieser neuen Adresse zu finden: http://www.zander-zitiert.de/startseite.html.

—————————————————

Die “anthroposophische Bewegung” unterteilt sich in zahlreiche Lager. Von liberalen Rezipienten ist bis hin zu ultra-orthodoxen Kreuzrittern alles zu haben. Erstere bemühen sich zunehmend um einen reflektierten, durchaus emanzipierten Umgang mit der eigenen Geschichte und dem eigenen Gedankengut. Letztere versuchen so ziemlich alles, um diesen Umgang als Nestbeschmutzung und geistigen Verrat zu boykottieren. Der Publizist Lorenzo Ravagli, seit einem Jahrzehnt u.a. für seine Versuche berüchtigt, Steiners rassistische Ausfälle gegen “Neger” und Juden zu rehabilitieren (gelegentlich auch unter Pseudonym) hat jetzt zusammen mit Wolfgang Schad (emeritierter Professor für Evolutionsbiologie in Witten-Herdecke), die Internetplattform “Zanders Zitate-Zauber” eingerichtet. Im Visier der Seite: Der Religionswissenschaftler Helmut Zander.

Intro: Ravagli versus Zander

Zander hatte sich’s spätestens 2007 mit der anthroposophischen Szene verdorben. In diesem Jahr nämlich veröffentlichte er ein zweibändiges Werk über die Geschichte der “Anthroposophie in Deutschland”, in dem er die Entstehung der anthroposophischen Ideen innerhalb der weltanschaulichen Deutungsangebote um 1900 darlegte. Sein Fazit nach über 1700 Seiten:

“… es ging mir nicht um eine Hinrichtung Steiners, sondern um den Versuch, zu verstehen, wie sein Werk zu einer kulturellen Potenz im alternativen Milieu aufstieg … Viele Anthroposophen empfinden auch die historische Kontextualisierung als Ignoranz gegenüber den geistigen oder praktischen Impulsen Steiners, aber ich bin weiterhin der Meinung, dass man Steiners Grenzen und eben auch Leistungen nur im gesellschaftlichen Kontext versteht. Dahinter steht meine Überzeugung, daß man historisch-kritische Forschung nicht gegen spirituelle Weisheit ausspielen darf. Wer im intellektuellen Diskurs westlicher Gesellschaften ernstgenommen werden will, muß sich dieser radikal kritischen – und das heißt im Wortsinn weiterhin: prüfenden – Analyse stellen.” (Zander: Anthroposophie in Deutschland, Göttingen 2007, 1719)

Auf diesen Beitrag antwortete Ravagli mit einer 400-seitigen Streitschrift, die auf dem Klappentext die “Zertrümmerung” Zanders ankündigte (vgl. Leitmotiv Zertrümmerung). Darin konnte er ein paar dutzend für die Sache eher unbedeutende Zitatfehler des Historikers nachweisen und auch einige Quellen zeigen, die Zander in seinem ‘Mammutwerk’ übersehen hatte (Ravagli: Zanders Erzählungen, Berlin 2009, vgl. etwa S. 296). Doch diese berechtigten Kritikpunkte stilisierte Ravagli wie unter paranoidem Glaubenseifer und mit sensationslüsterner Sprache als Enthüllung einer dämonischen Absicht Zanders: “Man könnte dieses [Zanders] Forschungsprogramm, das der Entmythologisierung verpflichtet ist … als Versuch formulieren, dem Heiligen die Maske herunterzureißen und die unter ihr verborgene Bestie zum Vorschein zu bringen.” (ebd., 45). Zander beschrieb den Guru der Anthroposophie und seine MitarbeiterInnen freilich nicht als ‘Bestien’, sondern als Kinder ihrer Epoche, als Menschen, die in den theosophischen und alternativkulturellen, künstlerischen und pädagogischen Diskursen ihrer Tage “ganz nah am Puls der Zeit” waren (Zander, a.a.O., 1177). Ein solch dialogisches Potenzial muss Ravagli bekämpfen: Der Steiner, den er selbst präsentiert, war auf keinerlei ZeitgenossInnen angewiesen, sondern ihnen allen um Meilen voraus, durch ‘höhere’ Erkenntnis erschloss er sich absolutes Wissen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und formte es zu einer Neo-Mythologie, die die Menschheit zu ihrer ‘wahren’ Bestimmung zurückführen solle. Einer ‘göttlichen’ Bestimmung, die schließlich in der Vernichtung der Erde und der Transmutation der Menschen zu kosmischen Geistern führen soll (vgl. Aufstieg zum Mythos).

Am Pranger (mal wieder): Religionswissenschaftler Helmut Zander

Die ‘geistigen’ Hintergründe des Zitatezaubers

Der erhoffte Effekt von Ravaglis Polemik auf “Zanders Erzählungen” blieb aus: Zanders Buch wurde keineswegs “zertrümmert”, sondern etablierte sich als Standardwerk, mit dessen Erkenntnissen anthroposophische (Robin Schmidt) und nichtanthroposophische (Hartmut Traub) AutorInnen fruchtbar weiterforschen konnten. Wer gehofft hatte, solche Schmalspurpolemik würde sich im Sand verlaufen, wurde Ende 2011 eines Besseren belehrt. Nun ging die erwähnte Seite “Zanders Zitate-Zauber” online. Ihr Anspruch: Zanders Irrtümer, Fehlleistungen und gemeinen Unterstellungen aufdecken –

“Bisher wurden all diese handwerklichen Mängel … noch nie systematisch untersucht oder nachgewiesen. Diese Webseite dient diesem Nachweis. Ihre Aufgabe lässt sich mit jener vergleichen, die von den in den letzten Jahren entstandenen Plagiats-Wikis (»Guttenplag«, »Vroniplag«) wahrgenommen wurde. Sie decouvrierten durch penible Textarbeit den von manchen Trägern akademischer Weihen erschlichenen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit.” (Zanders Zitate-Zauber, Startseite)

Wem es unfair scheint, Zanders Werk mit der kompilierten Doktorarbeit Guttenbergs zu vergleichen, hätte wohl Ravaglis volle Zustimmung: Zander sei nämlich viel, viel schlimmer als Guttenberg. Letzterer habe lediglich plagiiert, Zander jede Wissenschaftlichkeit fallengelassen:

“Allerdings ist der Vorwurf, der sich durch diese Untersuchung untermauern lässt, nicht der des Plagiats. Vielmehr geht es um den Nachweis einer geradezu systematischen Verdrehung, Verfälschung und Entstellung von Texten Rudolf Steiners, auf die Zander sich bei seinen weitreichenden Deutungen und Umdeutungen spezialisiert hat. Man kann geradezu von einer »Methode Zander« sprechen. “ (ebd.)

Diese Unterstellung ist albern. In Ravaglis Buch “Zanders Erklärungen” dienten, wie oben leider nur kurz ausgeführt, die “handwerklichen” Fehler Zanders nur als Aufhänger, um das sakrosankte eigene Steinerbild zu propagandieren. So überrascht es wenig, dass die tatsächliche Motivation für die neue Seite in keiner Weise wissenschaftliche Redlichkeit ist. Im Gegenteil geht es darum, der Weiter-Verbreitung von Zanders Werk Sand in die Mühlen zu streuen. Das formulierte Ravagli etwa auf Facebook:

“Angesichts der Tatsache, dass dessen [Zanders] Hauptwerk »Anthroposophie in Deutschland« derzeit mit Unterstützung durch eine namhafte deutsche Stiftung ins Englische übersetzt wird, ist damit zu rechnen, dass der Autor bald auch im englischen Sprachraum als »unabhängiger Experte« für Anthroposophie gelten wird. Damit wird einer Art Monopolstellung Zanders als Autorität der akademischen Steinerinterpretation Vorschub geleistet.” (Lorenzo Ravagli am 30.12.2011 auf Facebook- ähnlich ehrlich war er auf seinem privaten Anthroblog)

Das ist sicherlich richtig, als Reaktion auf diese Übersetzung kommt die Seite aber reichlich spät: Zanders Buch (übrigens in einer Reihe mit Werken Dan Diners und Jürgen Osterhammels) wurde bereits Anfang 2009 für einen Übersetzer-Preis ausgewählt (vgl. das Börsenblatt vom 28.4.2009).

Aber besser zu spät als nie: In einem zweijährigen Forschungsprojekt sollen nun. wie’s scheint unter dem akademischen Schutzmantel Schads und aus der Feder Lorenzo Ravaglis (sowie freiwilliger HelferInnen) möglichst viele Fehler Zanders oder was man so alles dafür halten mag, auf “Zanders Zitate-Zauber” zusammengetragen werden. Dass sein fast 2000-seitiges Werk Lücken lässt und keinesfalls Irrtumsfreiheit beansprucht, hat Zander selbst in der Einleitung seines Buches und auch im Dialog mit AnthroposophInnen zweifelsfrei festgestellt:

“Trotz des Umfangs der vorliegenden Darstellung ist klar, daß in sehr vielen Fragen weiterhin Diskussions- und Forschungsbedarf besteht. Mit diesen beiden Bänden liegt eine Zwischensumme vor, die, wie jede wissenschaftliche Publikation, keine ‘höhere’ Einsicht beansprucht und darauf angelegt ist, weitere Untersuchungen zu ermöglichen, die sie eines guten Tages ersetzen werden.” (Zander: Anthroposophie, a.a.O., 8).

Da es freilich sehr unspannend wäre, zuzugeben, dass man bei Zander offene Türen einrennt, tarnen Schad und Ravagli ihr Projekt anscheinend trotz allem lieber als sensationelle Enthüllung. In einer eigenen Rubrik auf “Zanders Zitatezauber” sammeln sie noch weitere zauberhafte Zitate von AutorInnen, die Zander unstatthafte Motive andichten (Zanders Zitate Zauber, Nachrichten).

Fiktive “Widerlegungen”

Was Ravagli als Widerlegungen Zanders verkauft, sind dann aber oft nicht mehr als langschweifige Erläuterungen dessen, was auch Zander selbst sagt. Wenn Zander über Steiners Vorstellung vom Kosmos als Emanation “des Geistes” schreibt: “Auch in Steiners vortheosophischem Idealismus finden sich ähnliche Vorstellungen” (S. 653). Kommentiert Ravagli unter (vielem, vielem) anderem: “In Steiners »vortheosophischem Idealismus« liegt in der Tat das erkenntniswissenschaftliche Fundament, das die Kosmogonie Steiners nach der Jahrhundertwende begründet. Die »Herkunft« des Grundgedankens ist das Denken Steiners. Bereits in den »Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften« erscheint der empirische Idealismus als Grundlage aller Wirklichkeitserkenntnis.” (Zanders Zitatezauber, Kategorie: “Falsche Behauptungen”). Ravagli nimmt das zum Anlass, seitenweise Steiners frühe Schriften zu diesem Thema zu zitieren. Das ist zwar sehr nett von ihm, aber es fragt sich doch, wo die falsche Behauptung Zanders sein soll.

Prangert an: Lorenzo Ravagli (Bild: Verlag Freies Geistesleben)

Der nächste von Ravagli präsentierte Fall: Zander beschreibt, Steiner habe seine spirituelle Evolutionstheorie gegen “Materialismus” und “Kreationismus” positioniert. Ravagli stimmt zu, führt dann aber aus: “Andererseits bedeutet dies nicht, dass die materielle Welt und die Gesetze dieser Welt für Steiner keine Realität bzw. Gültigkeit besäßen.” (ebd.) Das hatte Zander aber auch nicht behauptet. Anschließend folgen wieder lange Passagen der Steiner-Exegese, bevor Ravagli sich wieder zu seinem profanen Anlass, Zanders Buch herablässt. Was Steiners Ablehnung des Kreationismus anginge, sei die “Wahrheit” “viel komplexer”. Zwar stimme dies für die Weltanschauung des frühen Steiner, aber nach dessen Wende zur Esoterik (die für Ravagli keine ist), könne “nur oberflächliche Lektüre dazu verleiten, ihre kreationistischen Aspekte zu verkennen.” Statt dann aber Aussagen Steiners über einen kosmischen Demiurgen aus dem Hut zu zaubern, deutet er lediglich auf Steiners Konzept der Engelhierarchien. Scheinbar religiös verzückt, beschreibt Ravagli die “Opfer” dieser Hierarchien, ohne jedoch zu leugnen, dass Steiner die Engel selbst nicht als statische Welt-Designer, sondern als selbst in Entwicklung befindliche Geister konzipierte.

Ravaglis Probleme mit Zander sind offensichtlich Fragen der Interpretation. Was die zu schildernden Themenbereiche angeht, hat er im Einzelfall oft nur zu kritisieren, dass Zander sie nicht ausführlich genug (oder: Ravaglis eigener Deutung gemäß) wiedergibt. Dieser Umgang mit Zanders Werk scheint im anthroposophischen Milieu zum Normalfall zu werden: Auch in einem kürzlich erschienenen Sammelband von Rahel Uhlenhoff versuchten sich namhafte AutorInnen an einer “Widerlegung” Zanders. Diese angeblichen Widerlegungen enthielten dann aber meist genau das, was Zander auch schon gesagt hatte (vgl. dazu ausführlich Anthroposophische Geschichtsschreibung). Da besagte AutorInnen sicher weder dumm sind noch ihre LeserInnen dafür halten, haben wir es eventuell mit einem interessanten religionssoziologischen Muster zu tun: Ähnlich war Steiner selbst mit seinen theosophischen Quellen umgegangen. Damit will ich natürlich nicht behaupten, dass Ravagli nicht zurecht auf einige Zitatfehler Zanders hinweist – allerdings betreffen diese in meiner Wahrnehmung eher Details.

Wenn es darum geht, Zander die Berufung auf “dubiose Quellen” zu unterstellen, wird Ravagli anscheinend besonders emsig. Viel Fließ und Mühe verwendet er darauf, zu zeigen, dass einer der frühen, auch von Zander rezipierten, Anthroposophiekritiker, Jakob Wilhelm Hauer, ein überaus umtriebiger Nationalsozialist war. Das hat Zander aber auch schon ausgeführt (vgl. etwa S. 213, 547), der Hauer ebenfalls dafür kritisierte, dass er in der Theosophie “asiatisches” Gedankengut erblickte (S. 602). Auf Hauers rassenideologische Glaubensbekenntnisse beruft Zander sich freilich nicht. Ravaglis Einwand, dass Quellen wie Hauer “von einer seriösen Historiographie nicht herangezogen werden sollten”, fällt aber in voller Breite auf ihn selbst zurück: So stützte er mindestens eines seiner früheren Bücher auf Karl Heyer, der im Namen der Steinerapologie Fakten verdrehte und in einem (von Ravagli zustimmend zitierten) Buch die Verbrechen des Nationalsozialismus auf dessen Beeinflussung durch niederes, “asiatisches” “Rassentum” zurückführte. Belege dafür habe ich in zwei Exkursen unter diesem Kapitel zusammengetragen.

An anderen Stellen hat Ravagli Zander einfach missverstanden. Ein Beispiel: Zander schildert Steiners “hellseherische Erforschung” der menschlichen “Aura” und stellt fest, dass Steiner a) in vielen Details Aussagen des Theosophen W. Leadbeater wiederholte, aber auch b) auf dessen einschlägiges Buch verwies, um seine eigenen “Forschungen” überprüfbar zu machen. Zander folgert: “Die Offenlegung dieser Quelle kann ein Indiz sein, dass Steiner den Umgang mit theosophischer Literatur als Forschungsprozess analog zum universitären Verfahren darzustellen versuchte, mit Grundlagenliteratur, die diskutiert werden und als Basis weiterer Forschungen dienen sollte.” (Zander, 564). Ravagli dazu: “Steiner will sich also nicht von Kennern einer Literatur korrigieren lassen, sondern von Beobachtern derselben Forschungsgebiete … Die Überprüfung und Korrektur, von der Steiner hier spricht, ist nicht textgeschichtlichen oder hermeneutischen Interpretationsverfahren analog, sondern einem naturwissenschaftlichen Beobachtungsverfahren.” (Zanders Zitatezauber, Kategorie: “Falsche Behauptungen”). Nichts anderes aber schreibt Zander, wenn er meint, dass nach Steiner die Literatur “als Basis weiterer Forschungen dienen sollte.”, wie eben zitiert.

Wenn Ravagli beabsichtigt, eine vollständige Widerlegung von Zanders Werk auf die Beine zu stellen, braucht es für meinen Geschmack etwas überzeugendere Argumente. Dieser Aufstand um interpretative Detailfragen rechtfertigt seinen Aufwand und Enthüllungspathos jedenfalls nicht.

Wolfgang Schad und Helmut Zander

Während Ravaglis spitze Feder in allen Beiträgen auf “Zanders Zitatezauber” unübersehbar ist, liegen für mich die Motive Prof. Wolfgang Schads vorerst im Dunkeln, sich diesem denunziatorischen “Enthüllungs”-Projekt zur Verfügung zu stellen (Zanders Zitatezauber, Impressum). In “Anthroposophie in Deutschland” hat Zander Schad nirgends erwähnt, sehr wohlwollend allerdings dessen Arbeitsplatz (S. 1448). Im September 2011 noch war Schad bei der Ottersberger Tagung Anthroposophie im Hochschulkontext u.a. neben Zander als Vortragsredner angetreten. Zander hielt einen Vortrag über “Das anthroposophische Wissenschaftsverständnis” und Schad unmittelbar danach einen mit dem Titel “Die historische Interferenz im Umgang mit der Anthroposophie – Erfahrungen in Schule, Hochschule und Universität”, in dem er seinen Vorredner bedächtig seine Berechtigung zugestand, allerdings meinte, Anthroposophie sei vor allem “das Werdende” und nicht aus ihrem Entstehungskontext zu verstehen. Nach meinen zweifelsohne subjektiven Eindrücken saßen beide auch mindestens einmal zusammen. Dabei war Schad der Redner, Zander vor allem stiller Zuhörer. Der einzige mir bekannte Text, in dem Schad bisher m.W. zu Zander Stellung bezog, wiederholte letztlich Unterstellungen, wie sie auch Ravagli formuliert:

“Nach dem Motto: ‘Ihr seid gut, aber ihr seid noch besser, wenn ihr den Überbau weglasst’. Sogar Helmut Zander ist von dieser Hilfsbereitschaft ergriffen und möchte expressis verbis die Anthroposophen von ihrer Anthroposophie erlösen, indem er in einem großen Fleißwerk letztlich nur eine von ihm erfundene These vertritt: Steiner war von Machtgier über andere besessen und gab deshalb fälschlich vor, übersinnliche Erfahrungen zu besitzen.” (Schad: Rudolf Steiners Verhältnis zur Naturwissenschaft. Eine Lagebestimmung, in: Uhlenhoff 2011, 176).

Mit von der Partie: Wolfgang Schad, Bild: Wikipedia-Commons (verlinkt)

Zunächst: Hätte Zander diese These artikuliert, so hätte er sie zumindest nicht erfunden. Derartiges wurde nämlich schon zu Steiners Lebzeiten unterstellt (etwa bei Hans Leisegang). Ebensowenig fordert Zander von AnthroposophInnen ein, sie möchten in Zukunft weniger anthroposophisch sein. Er fordert aber tatsächlich den Durchgang durch eine historisch-kritische Perspektive, die die christliche Religionsgeschichte bereits hinter sich habe. Zander:

“Aber dies hat nicht dazu geführt, daß Gotteserfahrung oder Mystik keine Themen der Theologie mehr wären, sondern nur zu einer Klarstellung – um die schon die mittelalterlichen Theologen wussten: Es gibt religiöse Erfahrung nur in kulturellen Kontexten, nicht ‘unmittelbar’, nur eingebettet in unsere Lebenswelt. Unter dieser Voraussetzung hätten auch Anthroposophen respektive die Anthroposophie Steiners Werk neu zu deuten, was allerdings angesichts der von der christlichen Tradition teilweise massiv abweichenden weltanschaulichen Positionen auf eigenen Wegen geschehen müßte. Zu dieser Akzeptanz von Kontextualität gibt es meines Erachtens keine Alternative, wenn man in der europäischen Reflexionskultur Gesprächspartner finden will. Die Anthroposophie muß zwar diese Kontextualisierung nicht wollen, darf aber bei einer Verweigerung nicht klagen, wenn man sich im intellektuellen Getto wiederfindet.” (Zander: Rudolf Steiners Rassenlehre. Plädoyer, über die Regeln der Deutung von Steiners Werk zu reden, in: Puschner/Großmann (Hg.): Völkisch und national. Zur Aktualität alter Denkmuster im 21. Jahrhundert, Darmstadt 2009, 151f.)

Also keine Negation jeder spirituellen Erfahrung, nur die Betonung, dass solche Erfahrung niemals ahistorisch, sondern nur innerhalb kultureller Kontexte möglich sei. Dass Zander einen besonderen Fokus auf die Machtkonflikte in Steiners intellektueller Biographie legt, heißt in keiner Weise, dass er ihm niedere Motive unterstellt. (Post-)Moderne Wissens- und Wissenschaftstheorien haben im anthroposophischen Kontext scheinbar noch zu wenige LeserInnen gehabt. Sonst hätte man etwa von Michel Foucault lernen können, dass die Generierung von Wissen oder Meinung niemals ohne Machtverhältnisse abläuft:

“Unter Macht scheint mir, ist zu verstehen: die Vielfältigkeit von Kraftverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren; das Spiel, das in unaufhörlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen diese Kraftverhältnisse verwandelt, verstärkt, verkehrt; die die Stützen, die diese Kraftverhältnisse aneinander finden, indem sie sich zu Systemen verketten – oder die Verschiebungen und Widersprüche, die sie gegeneinander isolieren; und schließlich die Strategien, in denen sie zur Wirkung gelangen und deren große Linien und institutionelle Kristallisierungen sich in den Staatsapparaten, in der Gesetzgebung und in den gesellschaftlichen Hegemonien verkörpern.” (Foucault: Mikrophysik der Macht, Berlin 1976, 112)

In diesem Sinne sind natürlich auch Zanders, Ravaglis, Schads (oder meine) Stellungnahmen in dieser Debatte um eine historisch-kritische Deutung Rudolf Steiners als Positionen in einem Machtdiskurs zu verstehen: Es geht letzten Endes und wie am Beispiel Ravaglis oben ausführlich gezeigt, um Deutungsfragen. Wenn Schad es vorziehen mag, Machtstrukturen auszublenden (als Biologe kommt er für seine Forschungsarbeiten sicher auch ohne aus), heißt das nicht, dass jeder, der sie beachtet, böse Absichten gegenüber seinem Analysegegenstand hegt. Schads angekündigtes Buch “Zanders Interpretation der Naturwissenschaft versus Wiederverkörperung” befindet sich wohl noch im Druck und wird seine Vorwürfe hoffentlich fundierter untermauern können.

“Aber noch entscheidender wird die Ringparabel im ‘Nathan der Weise’ von Lessing sein, denn sie lässt das Leben sprechen und entscheiden.” (Schad, a.a.O.)

Sofern “das Leben” hier nicht der erlösende Schoß einer anthroposophischen Una Ecclesia Sancta sein soll, in den es irrende Schäfchen und Religionswissenschaftler zurückzutreiben gilt: Amen.

Mögliche Motive: Was nicht sein darf

Es bleibt die Frage, die 2001 Ute Siebert in einem Offenen Brief in der taz an Ravagli richtete:

“Was ist so schlimm daran, Rudolf Steiner nach sozialwissenschaftlicher Manier in den Kontext seiner Zeit zu setzen? Warum fällt es Anthroposophen so schwer, den gesellschaftlichen Hintergrund, vor dem Rudolf Steiner gelebt und gedacht hat, mitzulesen, wie bei jedem anderen Philosophen auch? Warum kann man als Anthroposoph nicht sagen: Auch bei Steiner gab es Widersprüche und dunkle Seiten?”

Weil, so würde wohl nicht Ravagli antworten, aber so scheint es mir aus seinen Schriften förmlich herauszuschreien, nicht sein kann, was nicht sein darf. Anthroposophie darf nicht rückführbar sein auf irgendeinen historischen Kontext, irgendeinem relativen Zusammenhang, weil sie die absolute Manifestation des Weltgeistes darstellt. Die “Geheimwissenschaft” Steiners sei aus dem Geist geschöpft, der in den Formen und Strukturen des Weltalls wirke:

“Die »Geheimwissenschaft« ist ein gewaltiger Mythos. In ihm wird die Philosophie mythisch, weil sie zur Anschauung des schaffenden Geistes wird, der sich in Bildern offenbart. Wissenschaftlich ist dieser Mythos deshalb, weil der ihn erzeugende Geist genauso gesetzmäßig wirkt, wie die Bildekräfte der Natur.” (Ravagli: Philosophie wird zum Mythos)

Das lässt sich als religiöse Position durchaus vertreten. Als Argument in einer historischen Diskussion ist es aber schlicht irrelevant. Genau wie auf “Zanders Zitate-Zauber” versuchte Ravagli auch in früheren Projekten, historische Biographien von AnthroposophInnen so zurechtzupflücken, dass sie progressiv und irrtumsfrei erschienen. So hatte Uwe Werner 2011 neben AnthroposophInnen mit anti-nazistischen Positionen (Ita Wegman oder Albert Steffen) auf solche hingewiesen, die MitläuferInnen der Nazis waren und in ihnen Erfüllungshelfer “übersinnlicher” Notwendigkeiten sahen. Daraus wurde in Ravaglis Interpretation: “Werner verschweigt nicht die wenigen Einzelnen, die dem Irrtum erlagen, das nationalsozialisitische Regime könne auf Dauer den renitenten Individualismus und Kosmopolitismus der Anthroposophen dulden, aber er zeigt auch, dass auf beiden Seiten das klare Bewusstsein eines unüberwindbaren Antagonismus vorhanden war.” (Ravagli, Rezension zu Werner: Rudolf Steiner zu Individuum und Rasse). Auch gegenüber dem bekannten anthroposophischen Nationalsozialisten Friedrich Benesch legte Ravagli einen regelrechten “salto mortale” hin, um dessen nationalsozialistische Überzeugungen zur bloßen “Fassade” zu interpretieren (vgl. dazu kritisch Michael Eggert). Steiners eigene Rassismen ernannte Ravagli mit einem Co-Autoren, Hans-Jürgen Bader, flugs zu einer “erstaunlichen” Vorwegnahme der “Erkenntnisse” des Human-Genom-Projektes (Bader/Ravagli: Rassenideale sind der Niedergang der Menschheit, Stuttgart 2002, 69).

Das sind keine Un- oder Einzelfälle. Ravagli bewegt sich im geistigen Strom der frühesten anthroposophischen Apologeten, wie Louis Werbeck und Karl Heyer, denen er beispielsweise sein Buch “Unter Hammer und Hakenkreuz” (Stuttgart 2004, vgl. Ravagli, die Rassen und die Rechten) ganz explizit widmete (vgl. ebd., S. 4). Heyer beispielsweise versuchte bereits 1932 in seinem Buch “Wie man gegen Rudolf Steiner kämpft. Materialien und Gesichtspunkte zum sachgemäßen Umgang mit Gegnern Rudolf Steiners und der Anthroposophie” (im Folgenden zitiert nach der Neuauflage von 2008 im Basler Perseusverlag), Anthroposophiekritiker weniger zu widerlegen als vielmehr, Steiners Lebenslauf so präsentieren, dass er jeder Kritik enthoben war.

————————————————

ExkursI: Zander, Ravagli und ‘völkische’ Quellen

Eine von vier zentralen Kritikpunkten, die “Zanders Zitate-Zauber” gegen Zanders Buch “Anthroposophie in Deutschland” aufführt, ist dessen Einbezug von “explizite[r] »Gegnerliteratur«, die von Autoren aus dem völkischen oder theologischen Lager stammt, die teilweise systematisch Unwahrheiten über Steiner in die Welt setzten.” (Zanders Zitate-Zauber). Ravagli selbst aber macht sich mit einem Apologetischen und, wie sogleich zu zeigen sein wird, nicht minder ‘völkischen’ Rassisten wie Heyer gemein: In einem weiteren Buch (über Wesen und Wollen des Nationalsozialismus) schrieb der Jurist Heyer, “dass der Hitlerismus mit dem eigentlichen Wesen des Abendlandes innerlich nichts zu tun hat” (Heyer: Wenn die Götter den Tempel verlassen. Wesen und Wollen des Nationalsozialismus und das Schicksal des deutschen Volkes, Freiburg 1947, S. 81). Vielmehr seien die Konzentrationslager “als … Begehungsorte der wohl scheußlichsten Verbrechen, welche die Menschheit je geschändet haben” (S. 51) , sei die gesamte Ideologie des rassistischen Regimes aus einer Unterwanderung reinen ‘Deutschtums’ durch den Ungeist niederen “Rassentums” entstanden:

“Von alledem fällt nun auch hellstes Licht auf das Verhältnis des nationalsozialistischen Deutschland zu derjenigen ostasiatischen Macht, in der mongolisches (bzw. mongolisch-malayisches) Rassentum als Träger alter asiatischer individualitätsloser Geistigkeit mit moderner Technik und vor allem militärischem Rüstzeug eine einzigartige kriegerische Verbindung eingegangen ist … Das ist, von dieser Seite her betrachtet, das erschütternde Phänomen des Nationalsozialismus: die innere ‘Mongolisierung’ des deutschen Volkes.” (S. 88)

Heyers makaberer Versuch, den Nationalsozialismus mit rassistischen Argumenten zu kritisieren, war für Ravagli keinerlei Anlass für Distanz: Er stellt bedauernd dar, dass der berühmte Hitler-Biograph Joachim Fest die massenpsychologischen Dimensionen des Nationalsozialismus “nicht weiter” “verfolgt” habe (Unter Hammer und Hakenkreuz, a.a.O., S. 339. Das dürfte Fest anders sehen, vgl. sein Buch Hitler. Die Biographie, Berlin 1993, etwa S. 448-463, 513-529, 581-590, 610-612, 710-714). Doch Ravagli findet diese vermeintliche Selbsteinschränkung Fests verständlich, denn die Massenpsychologie sei ein unbewusst ‘magischer’ ‘Aspekt’ des Nationalsozialismus, der nach Ravagli durch…

“…eine geisteswissenschaftliche [d.h. anthroposophische] Analyse erst wirklich verstanden werden kann. Diese liegt in Umrissen bereits seit 1947 vor. Karl Heyer hat in seiner Studie über Wesen und Wollen des Nationalsozialismus den psychopathologischen Charakter  dieser geistig-politischen Bewegung … eingehend untersucht.” (ebd., 340).

Ravagli zitiert zustimmend Heyers Auffassung, dass Hitler, “der gefeierte Träger des ‘Führerprinzips’ … keinerlei Organ für das menschliche Ich” gehabt habe (Heyer, Wenn die Götter …, 28; zit. bei Ravagli, Unter Hammer und Hakenkreuz, 340). Dass Heyer darin aber die Einflüsse “alter asiatischer individualitätsloser Geistigkeit” erblickte (a.a.O.), verschweigt er. Daraus darf man sicherlich schließen, dass Ravagli diese rassistische Meinung Heyers nicht teilt. Die Berufung auf Heyers Buch ohne eingehende Distanzierung von dessen aggressiv rassistischen Inhalten desavouiert ihn nichtsdestominder – jedenfalls nach den Maßstäben, die er an Zander anlegt. Wer so arbeitet, sollte sich um den “Dreck” vor seiner eigenen publizistischen Haustür kümmern, statt anderen die Berufung auf ‘völkische’ ‘Gegnerliteratur’ anzukreiden.

Exkurs II: Ravagli, Karl Heyer und die Freimaurerei

Im zweiten Exkurs noch ein weiteres Beispiel für ‘dubiose Quellen’. Karl Heyers apologetische Vertuschung von Steiners maurerischen Aktivitäten, die im selben Stil auftritt wie Ravaglis Argumentation.

Um 1904 waren Steiner und seine Lebensgefährtin Marie von Sivers zu renommierten Personen der deutschsprachigen Theosophie aufgestiegen. Jener esoterischen Bewegung, von der Steiners seine “Anthroposophische Gesellschaft” 1913 abspalten sollte. Davon aber noch keine Spur: Vielmehr suchten Steiner und seine Muse Marie weitere esoterische Betätigungen und interessierten sich etwa für Freimaurerei. Brieflich suchte er Kontakt zu Theodor Reuß, einer dubiosen Gestalt der maurerischen Szene, auf dessen formale Anerkennung er angewiesen war, um in dieser “Szene” wirken zu können, obwohl er an der Person Reuß starke Zweifel hatte (vgl. den Brief  an A. Sellin, GA 265). Bis 1914 waren Sivers und Steiner in diversen maurerischen Logen unterwegs. “Als ‘Großmeister’ der ‘Mystica Aeterna’ trat Steiner nicht mehr als ‘Geistesforscher’ vor seine Zuhörerschaft, sondern als autoritativer Mystagoge vor seine Adepten.” (Ullrich 2011, 61). 1914 brach der Erste Weltkrieg aus und Steiner geriet in ein ganz anderes Fahrwasser: Hinter dem Krieg vermutete er Weltherrschaftspläne der “anglo-amerikanischen Welt” und vermutete die Pläne herrschsüchtiger Freimaurerlogen (“westlicher Bruderschaften”), mit denen er plötzlich überhaupt nichts mehr zu tun haben wollte (vgl. GA 163a-c).

“Das Kapitel in seiner Autobiographie, in dem sich Steiner über die gesamte Problematik ausspricht, klingt merkwürdig gequält, und er räumt schließlich mit umständlichen Worten ein, dass er [in der Person Theodor Reuß - AM] einem Schwindler aufgesessen ist.” (Lindenberg, Rudolf Steiner, Stuttgart 1997, 397).

Aus Steiners Freimaurerepisode versuchten ihm zahlreiche Gegner und Kritiker aus dem völkischen Milieu einen Strick zu drehen: Sie alle waren, wie Steiner nach 1914 ja ebenfalls, von einer bösartigen Weltverschwörung ‘der’ oder jedenfalls bestimmter Freimaurer gegen soziemlich alles (freilich vor allem “Deutschland”) überzeugt. Grund genug für Steiner, in seiner apologetisch gestimmten Autobiographie (“Mein Lebensgang”) die Zusammenhänge entsprechend zu glätten: Angeblich habe nicht er sich für Freimaurerei interessiert, sondern die Freimaurer für ihn:

“Einige Jahre nach dem Beginne der Tätigkeit in der Theosophischen Gesellschaft trug man von einer gewissen Seite her Marie von Sivers und mir die Leitung einer Gesellschaft von der Art an, wie sie sich erhalten haben mit Bewahrung der alten Symbolik und kultischen Veranstaltungen, in welchen die ‘alte Weisheit’ verkörpert war.” (GA 28, 446)

Der Name Theodor Reuß fällt in dem gesamten Dokument nicht, auch wenn (siehe das Zitat von Lindenberg) deutlich wird, dass Steiner sich zwischen den Zeilen noch einmal “gequält” von ihm lossagte.

Die Episode hat wenig Einfluss auf die heutige Anthroposophie und ist dennoch erzählenswert: In der Auseinandersetzung mit den frühen Kritikern und Gegnern Steiners taten anthroposophische Apologeten nämlich sehr früh alles, um jede Verbindung seiner Person mit der Freimaurerei unter den Teppich zu kehren:

“Wahr ist in dieser Hinsicht nur, was Rudolf Steiner in aller Klarheit in seinem Lebensgang darüber ausgeführt hat.”, phantasierte 1932 der Steiner-Schüler Karl Heyer in seinem oben erwähnten Pamphlet “Wie man gegen Rudolf Steiner kämpft”.

Bildquelle: amazon

Die Behauptung Heyers, “wahr” sei nur, was Steiner in seiner Autobiographie geschrieben habe, ist eine dogmatische Setzung. Er vermag dieser Darstellung nicht einen einzigen evidenten Beleg hinzuzufügen, und der Grund, aus dem er Steiners Selbstapologie für unfehlbar hält ist reichlich zirkulär: Weil aus seiner anthroposophischen Perspektive heraus Steiner als vollendeten, unfehlbaren Menschen erfährt, muss es auch jede seiner Darstellungen sein. Wer Steiners “Mein Lebensgang” lese, so Heyer, werde “sachlich-persönliche Aufklärung in reichster Fülle finden, und … sich bereichert fühlen durch  das Erlebnis eines größten Menschentums.” (Heyer: Wie man gegen Rudolf Steiner kämpft, a.a.O., 18). Was das Freimaurer-Thema angeht, geht Heyer nach seiner Paraphrase von Steiners Selbstapologie anschließend selbst zu einer doch recht ekelhaften Anti-Freimaurer-Hetze über:

“Gerade Rudolf Steiner war es, der schon während des [Ersten] Weltkrieges  und seither warnend auf die wirkliche westlich-politische Freimaurerei und ihre großgestreckten, Mitteleuropa bedrohenden Ziele auch ihre großgesteckten, Mitteleuropa bedrohenden Ziele, auch ihren Anteil am Weltkrieg auf das Nachdrücklichste hinwies, und zwar aus tiefer Erkenntnis ganz großer weltgeschichtlicher Zusammenhänge heraus…” (Heyer: Wie man gegen Rudolf Steiner kämpft, a.a.O., 112)

Zanders Kapitel zur Freimaurerthematik (S. 961-1015) hat Ravagli m.W. bisher nicht kommentiert. Doch auch er hält Steiners Aussagen in “Mein Lebensgang” für kanonisch. AutorInnen, die diese hinterfragen, bezeichnete er wiederholt als pathologisch. Das behauptete er etwa über Taja Gut (vgl. Bilder und Sachen). Und das schrieb er jüngst wieder in einer Rezension zu Rahel Uhlenhoffs kürzlich erschienenem Sammelband “Anthroposophie in Geschichte und Gegenwart“, den Ravagli nicht ganz zu Unrecht als “Antwort auf Zander” verstand. In diesem Sammelband hatte es David Marc Hoffman gewagt, Steiners apologetischen Lebensrückblick auch als solchen zu verstehen und nicht als gesicherte historische Quelle. Ravagli konterte:

“Diese Haltung führt ihn zu der aus unserer Sicht problematischen Zustimmung zu Zanders Entscheidung, Steiners Selbstdeutung in seiner Autobiographie »Mein Lebensgang« zu ignorieren bzw. sie als »ideologischen Überbau« abzutun. Diesem Größenwahn der Interpreten kann entgegengehalten werden, dass sie ohne ihre Autoren nichts sind und nichts hätten, das sie interpretieren könnten. Wenn sie sich so wenig für das interessieren, was ein Autor zu sagen hat, warum beschäftigen sie sich dann überhaupt mit ihm? Warum teilen sie uns dann nicht ihre eigene Botschaft mit, ohne sich hinter der angeblichen Deutung anderer zu verstecken?”

Wenn Ravagli Nichtzustimmung für Desinteresse hielte oder sich unter “Beschäftigung” nur kritiklosen Glauben vorstellen könnte, wäre das, milde gesagt, grandios lachhaft. Sein eigener Umgang mit Hoffman und Zander zeigt aber doch, dass auch er selbst “mehr” ist als die von ihm gelesenen Autoren (und trotzdem frei von Größenwahn). Das stimmt doch hoffnungsvoll. Jetzt wäre nurnoch zu lernen, dass AutorInnen, die Diskrepanzen mit Steiner haben, weder böse Absichten noch geistige Krankheiten haben müssen. Ihm als Ex-Herausgeber eines “Jahrbuchs für anthroposophische Kritik” sollte das nicht allzu schwer fallen.


Einsortiert unter:Anthroposophie & Rassismus

Steiner “spirituell”

$
0
0

“In jedem Fall will man ausrufen: Kinder, Kinder –
wozu der ganze Aufwand des Verfälschens und
falschen Verteidigens! Es finden sich doch mittlerweile
genügend Wegweiser für eine Politik des kritischen Erinnerns.
Das Jubiläumsjahr wäre ein guter Anlass gewesen.
– Jana Husmann: 150 Jahre Rudolf Steiner, MIZ, 4/11, 41.

Das sog. “Steiner-Jahr” 2011 war für AnthroposophInnen eine Zeit hoch offiziöser Würdigungen, aber auch kritischer Publikationen und Binnendiskussionen. Anfang 2012 nun zieht der orthodoxe Kern der Steiner-Gemeinde nach: Mieke Mosmuller und Peter Selg legen zwei erklärt “spirituelle” Biographien des Anthroposophie-Gründers Rudolf Steiner vor. Hier ein Kommentar zur Steiner-Apotheose Mieke Mosmullers.

————————————-

“Was Steiner sagt, ist so”

Für die Entwicklung des europäischen Christentums wie der neuzeitlichen Philosophie war die Tradition einer apologetisch ausgerichteten Religionsphilosophie seit den Kirchenvätern von zentraler Bedeutung. Kontra-intuitive Dogmen wie die Drei-Einigkeit Gottes oder die Doppelnatur Christi erforderten einen philosophischen Rechtfertigungs- und Deutungsaufwand, der über seine theologische Funktion hinaus das Fundament für die weitere Entwicklung (fast) jeder folgenden abendländischen Philosophie abgab. Als religiöse Bewegung mit Anspruch auf eine ‘wissenschaftliche’ Erkenntnis “der Höheren Welten” steht auch die Anthroposophie auf philosophisch schwankendem Boden. Die Entwicklung einer anthroposophischen Theologie steht vor der Herausforderung, die reichlich irdischen Umstände ihrer Entstehung mit den hoch geistigen Verästelungen ihres Credos auf einen Nenner zu bringen. Das weiß auch Mieke Mosmuller, die Ende 2011 in eben dieser Absicht eine “spirituelle” Biographie Rudolf Steiners auf den Markt geworfen hat:

“So wie man die Erinnerungen an seine eigene Kindheit immer wieder ‘verfälscht’, weil man sie durch seine erwachsene Bewusstseinsform färbt … so verfälscht man auch eine Biografie unvermeidlich, betrachtet das Leben der zu beschreibenden Person mit dem heutigen Kontext – Meinungen und Urteile, gebildet mit der heutigen Bewusstseinsform: der des 21. Jahrhunderts … man [muss] sich doch zumindest einige Mühe geben, sich eine Vorstellung von der Zeit zu machen, in der sich dieses Leben abspielte.” (Mosmuller, a.a.O., 13).

Der gespannte Leser wird schon auf der nächsten Seite enttäuscht, wenn sich Mosmullers “Mühe” in einer zusammenhanglosen Aneinanderreihung oberflächlicher Details erschöpft:

“In der Wissenschaft entdeckt man zum Beispiel in der Medizin die Mikroorganismen, das Phänomen der Infektion und die Bedeutung der Hygiene. In der Politik entwickelt sich eine neue Art von Nationalismus. 1848 war das Kommunistische Manifest von Karl Marx erschienen. Die Frauenemanzipation kam einige Jahrzehnte später ebenfalls stark auf.” (S. 15)

Nach der Feststellung, die Theosophie Helena Blavatskys habe Europa “das Prinzip von Religion und Karma” zurückgegeben, beendet Mosmuller ihr Datenstaccato und schließt ohne die geringste argumentative Rechtfertigung:

“Wir müssen also eine Frucht von Rudolf Steiners Leben – die christliche Reinkarnations-Idee – zur Verfügung haben, wenn wir mit diesem außergewöhnlichen Mann, mit diesem außergewöhnlichen Leben wirklich mitleben, mitleiden, mittun wollen. In den folgenden Kapiteln werde ich von dieser Idee von Reinkarnation und Karma ausgehen.” (S. 16)

Mieke Mosmullers "spirituelle" Steiner-Biographie

Die lange Aufzählung von Ereignissen dient also gerade nicht dazu, Steiners historischen Lebenshintergrund zu erhellen, sondern um durch die Hintertür jene Theoreme einzuführen und als unumstößlich zu setzen, die Steiner davon ausgehend eigentlich erst entwickeln sollte. Weil Steiner an Reinkarnation glaubte (bzw. sie “erkannte”) müsse man dies ebenfalls, um ihn zu verstehen – dieser Zirkelschluss begibt sich jeglicher Nachvollziehbarkeit..

Zur Verteidigung Mosmullers muss man sagen: Anscheinend kann sie nicht hinter diese Position zurück. Sie muss anscheinend alles als wahr voraussetzen, was Steiner sagt und muss sich in die paradoxe Situation begeben, dass sie Steiners Entwicklung mit esoterischen Begriffen beschreibt, die eigentlich erst aus Steiners Entwicklung heraus verständlich würden. Denn:

“Was Rudolf Steiner sagt, ist so; dahinter kommt man umso mehr, je mehr man sich mit seinem Werk beschäftigt.” (S. 173)

Das verstehe, wer kann. Die Konsequenzen dieser Einstellung jedenfalls schlagen sich natürlich überall im Buch nieder. Es geht immer darum, dass Steiner irgendeine unfehlbare Theorie entwickelte, die sich nicht verwirklichen ließ – was natürlich an allen lag, nur nicht an Steiner. Zwar habe dieser seinen Mitarbeitern teilweise freie Hand gelassen, “die Dinge so einzurichten, wie sie das wollten, aber sie taten dies nicht in der richtigen Weise.” (S. 455). Zwar sei das Ziel von Steiners Handeln immer “der individuelle Mensch” gewesen, aber dieser könne zur Selbsterkenntnis nur kommen, wenn er Steiners “Grundstein”-Meditation als Ausgangspunkt betrachte (S. 471). Zwar verlange der gute Erzengel Michael keine Gefolgschaft, sondern befürworte freie Entscheidung, aber jeder, der sich nicht für Michael entscheide, werde von seinem bösen Opponenten, dem Dämon Ahriman “gezwungen” (S. 510). Individualität wird hier, so scheint es, nur solange zugelassen, wie sie freiwillig mit Steiner konform ist – das heißt aber, nur so lange, wie sie eben noch nicht individuell ist. Auch Steiner selbst, in Mosmullers Diktion der Fortgeschrittenste aller Menschen, war keineswegs indivdiuell, sondern vielmehr ein Gefäß: “Es ist Christus in ihm, der ihm alle Geisteswissenschaft schenkt … Und dieser ‘moderne Mensch’, in dem durch den Christus in ihm alle Wesen sprechen, zeigt, wie Sie und ich auch werden können.” (S. 176f.).

Handle stets so, dass die Maxime Deines Handelns auch diejenige Rudolf Steiners wäre – diese Botschaft scheint der Kategorische Imperativ von Mosmullers Buch zu sein. Interessant dabei auch: die gesinnungsethische Orientierung. Mosmullers zweifellos sehr orthodoxe Anthroposophie ist weniger Buchstabenglaube als der Versuch, über den Geist des Stifters zu verfügen.

“Meister des Abendlandes”

Ein Mensch, dessen Unfehlbarkeit schon in seiner puren Existenz begründet ist, braucht auch einen ihm gebührenden Titel. Mosmuller hat deswegen auch einen schönen für Steiner. Er sei der “Meister des Abendlandes”.

“Das Phänomen der östlichen spirituellen Meister hat sich eingebürgert, jeder kennt es. Der Dalai Lama ist hierfür ein Beispiel … Baghwan, Maharishi, Krishnamurti, Sri Aurobindo und zum Beispiel der ‘abendländischen Morgenländer’ Ken Wilber. Im Abendland selbst ist nur in der Vergangenheit spirituelle Meisterschaft zu finden … Augustinus, Mani, Christian Rosencreutz, Jakob Böhme. In der modernen Zeit hat das Abendland scheinbar keinen eigenen spirituellen Meister. Es hat aber Rudolf Steiner. Er ist ein moderner, europäischer, originärer spiritueller Meister, er ist der einzige, er ist der Meister des Abendlandes.” (S. 278)

Wer Mani (der in Persien lebte und dessen gnostische Weltreligion sich entlang der Seidenstraße, also maßgeblich in Asien, zum Teil bis ins 16. Jahrhundert erhielt) als “westlichen Meister” etikettiert, sollte keine Probleme haben, Krishnamurti und Wilber ebenfalls für “westlich” zu halten. Wilbers Programm zumindest kommt aus der Humanistischen Psychologie Abraham Maslows, dem ätiologischen Bewusstseinsstrukturmodell Jean Gebsers und der evolutionären Philosophie Alfred North Whiteheads – eher ‘westlichem’ Denken also. Aber selbst wenn Mosmuller diese beiden nicht gelten lässt, gibt es genügend Gestalten aus dem ‘spirituellen’ Milieu, deren alternativreligiöse Bedeutung gleichauf mit der Steiners ist und die nicht selten auch als ‘Meister’ betitelt werden: C.G. Jung, Roberto Assgioli, G. I. Gurdjieff, René Guenon, Leopold Ziegler, Karlfried Graf Dürckheim, Valentin Tomberg, Henry Corbin, Gershom Scholem, Martin Buber, Rudolf Otto und Mircea Eliade wären etwa zu behandeln. Einem hermeneutischen Vergleich jedoch sperrt sich Mosmuller. Nur und nur, was Steiner sagte – oder was er anderen Denkern von Thomas bis Hegel in den Mund legte, scheint relevant.

So sehr man an Mosmullers Elaboraten auch nicht ein gutes Haar lassen kann, eines ist ihr dabei zuzugestehen: Konsequenz. Die charismatischen Führergestalten in der gegenwärtigen Anthroszene lassen sich an zwei Händen abzählen, und Mosmuller gehört nicht nur dazu, sondern verfolgt ihren Weg überlegt und passioniert. Was als persönliche ‘Spiritualität’ absolut legitim ist, führt sie aber zu aus meiner Sicht völlig unhaltbaren Fehleinschätzungen und Halbwahrheiten, sobald sie auf seiner Grundlage historische Tatsachen beurteilt. Um das eigene Steinerbild aufrecht zu erhalten, werden, wie gerade gezeigt, Personen und Fakten verschwiegen oder vielleicht nicht einmal wahrgenommen.

Auch bei Steiners Austritt aus der Theosophischen Gesellschaft verschweigt Mosmuller hartnäckig Details. Dass dort Jiddu Krishnamurti als künftiger “Weltenlehrer” aufgebaut wurde, Steiner opponierte und schließlich seine Sektion der Theosophischen Gesellschaft unter dem Label ‘Anthroposophie’ neugründete, akzeptiert sie nicht. Auch nicht, dass Besant oder Leadbeater tatsächlich an Krishnamurtis angebliche Auserwähltheit glaubten. Im Gegenteil sei Krishnamurti ausgewählt worden, um Steiner die Sprossen seiner übersinnlichen Karriereleiter zu blockieren: Da der erleuchtete Rudolf Steiner ja schon da war und immer recht hatte, muss für Mosmuller jede andere theosophische Lehrmeinung eine böswillige Intrige sein.

“Es muss wohl die unauslotbare Tiefe der ‘Missgunst’ sein, der Neid der theosophischen Führer auf die reale Begabung und Gnade dieses Eingeweihten Rudolf Steiner, der dann zu dieser Gegenbewegung führt: der Auserwählung Krishnamurtis als künftiger Weltenlehrer … Man wollte Steiner sein Thema, dem in Europa ein wachsender Enthusiasmus entgegengetragen wurde, nehmen, indem man es in Krishnamurti ‘verkörperte’.” (S. 251)

Damit aber nicht genug. Die galaktische Bedeutung Steiners malt Mosmuller noch in ganz anderen Farben und mit ganz anderen Behauptungen aus. Im Gegensatz zum parataktischen Stil ihrer historischen Eskapaden rund um Steiners Lebenszeit ist Mosmullers Sschreibstil in den hagiographischen Passagen über Steiners sakralen Status geradezu ästhetisch, jedenfalls poetisch-mythisch:

“Kein Gott ist Rudolf Steiner, aber ein Mensch, der im Reiche der Himel lebt.”

“Schulen wir unseren Blick so, dass wie ihn geeignet machen , mit Bewusstsein in der Ätherwelt und den höheren Welten weilen zu können. Dort wartet auf uns ein Mensch, der liebste, der weiseste, der kräftigste … Rudolf Steiner, der lebendige; dort wartet auf uns ein Erzengel, Michael, ernst, der uns zu dem allerhöchsten Wesen führen will; dort wartet auf uns Gott selbst, der uns in ätherischer Gestalt erwartet, Christus.” (S. 577)

Bedauerlicherweise lässt Mosmuller die Leser über ihre eigenen Stelldicheins bei Steiner, Michael und Gott im Unklaren. Ob sie selbst diese “Schulung” schon hinter sich haben und “Schauungen” haben will, erläutert sie nicht.

Collage aus Zitaten

Die Struktur von Mosmullers Text ist durchgängig dieselbe: Sie nennt ein paar Jahreszahlen und beschreibt, welchem Abschnitt von Steiners Biographie sie sich widmen möchte. Darauf folgen seitenweise Steiner-Zitate, die sie selten interpretiert, erläutert, in einen Kontext stellt oder auch nur kommentiert. Im Gegenteil geht sie dann zum nächsten Thema über, das in derselben Manier behandelt wird und folglich hauptsächlich aus ungekürzten Steiner-Aussprüchen besteht. Wenn eine von Steiners Ideen scheiterte, weiß Mosmuller sofort die Antwort. Da Steiner sich nie irrte (und, wo dies so scheint, nur missverstanden wurde), handelte es sich immer um tragische Fehler der Geschichte. Im Grunde ist ihre “Biographie”, scheint mir, nicht mehr als eine Collage chronologisch angeordneter Steiner-Zitate. Ausgenommen: Steiners vortheosophisches Leben. Hier lässt Mosmuller nur in den seltensten Fällen Steiners einschlägige Texte sprechen, sondern zitiert allenfalls Steiners spätere esoterische Reinterpretation derselben oder schlängelt sich durch mystische Ausführungen beispielsweise über Orpheus und Euridike. Auch die Auswahl der Themen, nach denen sie die Zitate chronologisch sortiert, kommt oft nicht von ihr: Ausführungen über die Dreigliederung “des Menschen” und anschließend “des Sozialen Organismus” etwa verdankt sie in der Reihenfolge den weitaus sensibleren Darstellungen in der Steinerbiographie Christoph Lindenbergs (Stuttgart 1997). Natürlich darf man nicht jede von Mosmullers Behauptungen (etwa, dass Steiner vergiftet wurde, S. 524) dem armen und durchaus gewissenhaften Lindenberg anlasten.

Holger Niederhausen (der übrigens glaubt, dass ich zur ewigen Höllenglut verdammt bin) hat Mosmullers Buch aus dem Niederländischen ins Deutsche übersetzt. Natürlich ist er anderer Ansicht, was Tiefe und Originalität dieses Buches angeht: “Jedes Kapitel gibt neue Vertiefungen und ergänzt die anderen” und alle seien “tief berührend”, schrieb er in einer Rezension.

Comis von Michael Eggert

Die anthroposophische Hölle

Mosmuller und Niederhausen sind am Besten mit Sebastian Gronbach zu verstehen, jenem liberalen Steiner-Exegeten, den beide zutiefst ablehnen, und der doch bereits 2008 genau die Argumente scherzhaft zusammenfasste, mit denen Mosmuller ununterbrochen hantiert:

  • Niemand kann uns und unsere Weltanschauung beurteilen, der nicht zu uns gehört.
  • Wir können jeden Menschen in eine Weltanschauungsschublade einordnen, sobald er nur den Mund aufmacht.
  • Wer uns kritisiert, hat sich nur noch nicht richtig mit Anthroposophie befasst.
  • Selbstverständlich ist vernünftige Kritik an Steiner gerechtfertigt – man wird aber, wenn man vorurteilslos und vernünftig an die Sache herangeht, nichts Kritikwürdiges finden können.
    (Sebastian Gronbach: Missionen, Stuttgart 2008, 68)

Einsortiert unter:Allgemein

In eigener Sache…

$
0
0

Liebe Leserinnen und Leser, Verächter und Fans aus Frankfurt (M) und Umgebung,

Hier eine Notiz in eigener Sache. Am 7. und 14. März werde ich zwei Vorträge im Frankfurter Institut für Vergleichende Irrelevanz zum Thema dieses Blogs halten: Anthroposophie und Waldorfpädagogik. Ich freue mich über zahlreiches Erscheinen und im Anschluss auf kontroverse Diskussion.

——————————————————————————————-


Einsortiert unter:Identität

Hitler, Steiner, Mussolini – Andreas Lichte, Faschismus und das leidige “Differenzieren”

$
0
0

“Der Gedanke, der den Wunsch, seinen Vater, tötet,
wird durch die Rache der Dummheit ereilt.”
– T.W. Adorno: Minima Moralia.

Dem zuletzt nurnoch sachlich schwachen Waldorfgegner Andreas Lichte ist unerwartet jüngst die Rückkehr auf die Bühne geistreicher Anthroposophiekritik geglückt. In einem guten Artikel zeigte er am Beispiel des italienischen Anthroposophen und überzeugten Faschisten Massimo Scaligero die fatalen Formen, die die Steinersche Rassenlehre in faschistischen Kontexten annehmen kann. Weiter problematisierte Andreas die bis heute währende Verdrängung von Scaligeros aggressiven Rassismen. Leider unterschlägt er das prominente politische Vorbild Scaligeros: Den “Edelfaschisten” Julius Evola. Trotzdem wirft sein Artikel eine zentrale Frage auf: Die nach dem ‘wahren’ politischen Kern der anthroposophischen Weltanschauung. Ich verfolge diese Frage am Beispiel der Waldorfschulen im NS-Staat und wende mich dann Andreas Lichtes Beispielen zu.

“Die vor rund 70 Jahren von Rudolf Steiner vorgestellte Idee einer funktionalen Gliederung der Gesellschaft in die drei Bereiche der Kultur, des Staates und der Wirtschaft könnte ein Entwurf für die Gesellschaft der Zukunft sein … (Beifall bei den GRÜNEN) … Eine konstruktive Aufnahme seiner Ideen in den 20er Jahren hätte jedenfalls – diese Behauptung kann in der historischen Rückschau gewagt werden – die Katastrophe der Terrorherrschaft der Nazis und des Zweiten Weltkrieges vermeiden helfen (Zustimmung bei den GRÜNEN). Die schwere Schuld, die frühere Generationen mit ihrer Blindheit auf sich geladen haben, sollte uns mahnen, eine freie, ökologische, soziale, demokratische und friedliche Gesellschaft für unsere Kinder und mit unseren Kindern aufzubauen. (Lebhafter Beifall bei den GRÜNEN)”

Diese Worte richtete der damalige GRÜNEN-Politiker und spätere SPD-Innenminister Otto Schily am 13. März 1986 an den deutschen Bundestag (vgl. zu seinem anthroposophischen Hintergrund Rüdiger Sünner). AnthroposophInnen wie Schily betonten und betonen in der Bundesrepublik ihre Pionierleistungen für “eine freie, ökologische, soziale und friedliche Gesellschaft”. Wären diese früher erkannt und nicht “auch [durch] sektiererisches Verhalten von Anthroposophen” (so Schily ebd.) überlagert worden, so ihre Überzeugung, hätten durch den ‘Freiheitsgedanken’ der Anthroposophie gar Nationalsozialismus und 2. Weltkrieg verhindert werden können. Soweit die heutige Position.

Otto Schily: Rudolf Steiners Dreigliederungstheorie hätte den Nationalsozialismus "vermeiden helfen" können (Wiki-Commons, Bundesarchiv)

Anders im Nationalsozialismus selbst: AnthroposophInnen versicherten, mit wenigen Ausnahmen wie dem Widerständler Karl Rössel-Majdan oder der Ärztin Ita Wegman, öffentlich ihre Systemtreue. Friedrich Rittelmeyer, prominentes Gründungsmitglied der anthroposophienahen Christengemeinschaft, nahm die Machtergreifung zum Anlass, um in seinem Buch “Deutschtum” (Stuttgart 1934) einen grauenhaften Antijudaismus auszubreiten: „Über Nacht ist die Judenfrage in den Mittelpunkt des Weltinteresses gerückt. Als Geistesfrage, nicht als politische Frage, nicht als wirtschaftliche Frage, soll sie hier betrachtet werden.“ (ebd., 99). Zwar meine er “nicht jeden einzelnen Juden … sondern das Judentum als Gesamterscheinung”, aber letzteres sei „entartet“ „zur zersetzenden Kritik und unfruchtbaren Dialektik“. „Die bösen Geister Materialismus, Egoismus, Intellektualismus”, plapperte Rittelmeyer, “wohnen keineswegs bloß in Judenhäuptern. Sie haben dort nur besonders fähige Vertreter.“ (ebd., 103).

Hier erkor ein spezifisch anthroposophischer Antijudaismus den politischen Antisemitismus der Nazis zum Trittbrett. Der Unterschied zwischen beiden: Der nazistische Rassismus war radikal eliminatorisch, der anthroposophische paternalistisch: Sein chauvinistisches Zerrbild des Judentums beendete Rittelmeyer nicht mit dem Programm eines Genozids, sondern mit der Feststellung, er habe „vom Judentum geredet“, aber letztlich auch „für den Juden. Er kann einsehen, was wir gesagt haben … Die Rassenfrage ist für uns zur Geistesfrage geworden.“ Und bei Annahme dieses Angebots winke gar die Befreiung ‘des’ Juden vom Jüdischen: „…der Einzelne kann aus der Kraft seines Ich, sich herausheben aus den Mängeln seiner Rasse.“ (ebd., 120).

Andreas Lichte und die Waldorfschulen im Nationalsozialismus

In den 1930ern verkündeten viele Anthroposophen ihre Lehre als ‘spirituelle’ Ergänzung zur nationalsozialistischen Ideologie. Nach 1945 sehen sich ebensoviele als ‘spirituelle’ Bereicherung des demokratischen Rechtsstaates. Heutige Anthroposophiekritiker betonen allerdings, “dass das autoritäre Potential unter Anthroposoph_innen strukturell dem nationalsozialistischen nahestand.” (Stephan Geuenich: Die Waldorfpädagogik, 131). Wie am Beispiel Rittelmeyer gezeigt lässt sich die anthroposophische Weltanschauung sowohl der Rassedoktrin der Nazis anbiedern, als auch mit Betonung “der Kraft des Ich” die Überwindung des ‘Rassischen’ durch die Anthroposophie verkünden. GegnerInnen der Anthroposophie würden ersteres zum ‘wahren’ Programm der Anthroposophie erklären, ihre VertreterInnen den gegenläufigen Part betonen. Dritte neigen zu einem realistischeren Portrait. Der Historiker und Dornacher Archivar Uwe Werner etwa stellte 1999 klar, dass das politische Verhalten von Anthroposophen schlicht und simpel meist vom jeweiligen zeitgeschichtlichen Kontext abhing:

“Die Anthroposophen stammten aus sehr verschiedenen sozialen Schichten der Bevölkerung. Es gab unter ihnen Arbeiter, Adlige, Handwerker und aus dem Bürgertum kommende Wissenschaftler. Dementsprechend waren sie politisch unterschiedlich sozialisiert worden. Es gab Anthroposophen, die der Sozialdemokratie und dem linken Liberalismus nahestanden und denen die Demokratie etwas bedeutete. Andere kamen aus konservativen Kreisen oder waren von einer militärischen Tradition geprägt … So erzogen, nahmen diese Menschen an undemokratischen Strukturen weniger Anstoß. Das gewichtigste Indiz für die überwiegende Mehrzahl der der Anthroposophen in der NS-Zeit kann nur derjenige richtig einschätzen, der die damaligen Verhältnisse kennt. Es ist das Schweigen der führenden Anthroposophen zum neuen Staat.” (Uwe Werner: Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus (1933-1945), München 1999, 14f.)

Andreas Lichte hat sich in der Vergangenheit so unmissverständlich wie dilettantisch gegen eine wissenschaftliche Historisierung der Anthroposophie ausgesprochen: “Ich möchte Sachverhalte DINGFEST machen, das endlose Gelaber, das sich als ‘differenzieren’ tarnt, führt zu nichts.” (2.9.2011), oder: “‘historisch-wissenschaftlichen Anspruch’ im Zusammenhang mit Rudolf Steiner klingt wie ein Blondinen-Witz” (8.9.2011). Erfreulicherweise hat er diese Meinung anscheinend inzwischen abgelegt. Sein neuer Artikel beginnt mit einer Situierung der Waldorfschulen im Nationalsozialismus:

“Waldorfschulen und Anthroposophie versuchten, mit den Nationalsozialisten zusammenzuarbeiten, wie es in einem Memorandum der Vereinigung der Waldorfschulen an Rudolf Hess offenbar wird: Man erklärte, dass Waldorfschulen „in kleinem Maßstab das verwirklichten, was die Volksgemeinschaft im nationalsozialistischem Staat im Großen anstrebt“.1 Wurde die Anthroposophie von den Machthabern in Deutschland letztlich als weltanschauliche Konkurrenz wahrgenommen, so war sie in Italien eine willkommene „spirituelle“ Ergänzung des Faschismus. Hier konnten Anthroposophen ihren Traum von der „überlegenen arischen Rasse“2 ausleben, und daran arbeiten, Rudolf Steiners programmatische Aussage „Die weiße Rasse ist die zukünftige, ist die am Geiste schaffende Rasse“3 zu verwirklichen.”

Leider hapert es hier gleich mehrfach mit dem wichtigsten geschichtswissenschaftlichen Gut: den Quellen. Seine vorausgesetzte Prämisse, ‘Waldorfschulen und Anthroposophie’ als Ganze hätten mit den Nazis kollaboriert, stützt er auf einen einzigen Beleg:

“Man” habe die Waldorfschulen zu politischen Pionierstätten des Nationalsozialismus erklärt. Frage: Welche Personen sind konkret mit “Waldorfschulen und Anthroposophie” gemeint und: wer ist “man”?

Eine Fußnote gibt als Quelle des Zitats an: “Memorandum vom März 1935, Titel: ‘Natur und Aufgaben der Waldorfschulen’, zitiert nach: Peter Staudenmaier, ‘Der ursprüngliche politische Kontext der Waldorf-Bewegung‘”. Hinter “man” steckt also ein “Memorandum”. In der Tat heißt es bei Staudenmaier: “Im März 1935 schickte die Vereinigung der Waldorfschulen ein langatmiges Memorandum an Rudolf Hess, einen der wichtigsten Fürsprecher der Waldorf-Bewegung in der Nazihierarchie.” “Vereinigung” der Freien Waldorfschulen ist eine Fehlübersetzung von Englisch “League” – die gemeinte Organisation heißt eigentlich “Bund der Freien Waldorfschulen”. Um die eben gestellte Frage zu beantworten, muss die Gründung dieses bis heute offiziellen Waldorf-Dachverbands betrachtet werden.

Staudenmaier, inzwischen Professor an der Marquette University, hat im August 2010 eine Dissertation u.a. über Anthroposophie im Nationalsozialismus vorgelegt (ein deutsches Resumée findet sich 2012 im neuen Sammelband von Puschner/Vollnhals). In seiner Dissertation skizzierte Staudenmaier den Hintergrund der Gründung des Waldorf-”Bundes”: eine innere Spaltung der Waldorfbewegung gegenüber dem Nationalsozialismus.

“While the Nazi-affiliated Waldorf advocates did not all share the same vision for how to integrate Waldorf education into the National Socialist project, they did consider anthroposophy and Waldorf compatible with and congruent with Nazi ideals. Their efforts were only partly in line with those of the larger competing faction within the Waldorf movement, which generally looked askance at Nazi excesses but was willing to cooperate with Nazi officials in order to maintain Waldorf schools within the new Germany. This second tendency comprised most of the major figures within the Waldorf movement in the 1930s…” (Peter Staudenmaier: Between occultism and fascism: Anthroposophy and the politics of race and nation in Germany and Italy, 1900-1945, Connell University 2010, 315)

Auf dem Blog des kritischen Anthroposophen Michael Eggert (zu ihm unten mehr) schrieb Staudenmaier über dieselbe Situation:

“Die meisten Nazis standen wahrscheinlich eher interesselos zur Anthroposophie und deren Verzweigungen. Innerhalb der Waldorfbewegung ergab sich inzwischen eine Spaltung in zwei Parteien: einerseits die Waldorflehrer und Eltern, die sich den Nazis dedizierten und die sich mit Anthroposophie und Waldorf kompatibel erklärten, sich aber entsprechend den Nazi Idealen anpassten; auf der anderen Seite waren die, die gegenüber dem Nazismus keinen Kompromiss eingingen so lange es ihnen erlaubt war, um ihr eigenes Streben fortzusetzen zu können. In den meisten Fällen scheint die zweite Gruppe größer zu sein als die erste. “ (Staudenmaier: Waldorfschulen in Nazideutschland)

Statt enthusiastischer Kooperation, wie sie Andreas darstellt, war der Opportunismus der Waldorfschulen in Staudenmaiers Darstellung also eher pragmatische Anpassung, “in order to maintain Waldorf schools within the new Germany”.  Die innere Spaltung bereitet AnthroposophInnen bis heute Kopfschmerzen: “Es gehört zu den tragischen Zügen unserer Schulgeschichte, dass in den Jahren, als die braune Macht sich formte, auch die innere Geschlossenheit in Gefahr geriet.” (Georg Kniebe:Bewährungsprobe in der Praxis, in: Erziehungskunst, Jg. 53, Nr. 8/9, 1989, 682). In dieser widersprüchlichen Situation kam es denn auch zur Gründung des “Bundes der Freien Waldorfschulen” für gemeinsame Lobbyarbeit.

Der “Bund der Freien Waldorfschulen” und René Maikowski

Die Idee dazu kam von der Dresdner Anthroposophin und Waldorfmutter Elisabeth Klein, wichtig wurde ein Waldorflehrer aus Hannover, René Maikowski – beiden sagte man gute Beziehungen zu den Nazibehörden nach.

“Im Hinblick auf die zu erwartende Zentralisierung der Unterrichtsverwaltung schlug Elisabeth Klein Ende März [1933] eine zentrale Verwaltung der Waldorfschulen vor, die bei den Behörden, über die Paragraphen hinweg, Beziehung von Mensch zu Mensch knüpfen sollte. Diese Aufgabe solle der Stuttgarter Waldorfschule übertragen werden. Das Hannoversche Kollegium schloss sich trotz einer beunruhigenden Auskunft aus dem preußischen Kultusministerium dem Dresdner Gedanken an und schlug vor, Maikowski auch an den Verhandlungen zu beteiligen, da dieser angeblich über seinen verstorbenen Bruder einen Kontakt zu Joseph Goebbels hatte … Als Bruder des ‘gefallenen Sturmbannführers’ [Eberhard Maikowski, 1908-1933] öffneten sich René Maikowski manche Türen.” (Uwe Werner, a.a.O., 100)

Der Historiker Helmut Zander, den Andreas in seinem Artikel ausführlich zitiert, schätzte die so in Gang gebrachte Gründung eines Waldorf-Dachverbands wie folgt ein:

“Die Gründung des ‘Bundes Freier Waldorfschulen’ war – unter Integration loyaler NS-Parteigänger in den Vorstand – ein erster Versuch, der drohenden ‘Gleichschaltung’ zu entgehen. … Im Hintergrund dieser Entscheidungen standen Auseinandersetzungen innerhalb der Waldorflehrerschaft über die Einschätzung des nationalsozialistischen Staates und der Möglichkeit einer Fortexistenz, aber auch unterschiedliche Bewertungen dieser Schulen in der NSDAP. Es kam in Waldorfkreisen sowohl zu Strategien der Anpassung wie zur Verweigerung, über die in den letzten Jahren heftig gestritten wurde. Viele Waldorflehrer emigrierten und spielten eine nicht unwichtige Rolle bei der Ausbreitung der Waldorfpädagogik in Europa und Amerika.” (Zander: Anthroposophie in Deutschland, Göttingen 2007, 1380)

Demnach wäre Andreas’ These eines Kollaborationsversuchs zumindest mit einem Fragezeichen zu versehen: Die Integration “loyaler NS-Parteigänger” aus Schutzgründen spricht nicht gerade für eine leidenschaftlich pronazistische Haltung. Diese Vermutung bestätigt sich, wenn man die weiteren Ereignisse verfolgt: Die mit der Gründung eines “Bundes” erzielte Einigkeit hielt nicht lange. Ein Jahr später, 1934, wurde die Stuttgarter Waldorfschule abgestoßen.

Am “6. Mai wurde die Leitung des Bundes René Maikowski von der Hannoverschen Schule übertragen … Der Verlag der Freien Waldorfschule, in welchem das Stuttgarter Kollegium die Zweimonatszeitschrift ‘Erziehungskunst’ herausgab, sollte nicht mehr Repräsentant der Rudolf Steiner Schulbewegung in Deutschland sein … Dieser bundesinterne Konflikt … führte zu einer Isolierung der Stuttgarter Schule” (Werner, a.a.O., 116)

Maikowski als neuer Vorsitzender des Bundes war es, der das von Andreas zitierte ‘Memorandum’ verfasste: “Under the title ‘Nature and Tasks of the Waldorf Schools’, the memorandum declared unequivocally: ‘Waldorf schools educate for the national community.’” (Staudenmaier, a.a.O., 319).

Doch auch die neue Einigung war bald vorbei: Die Berliner Waldorfschule distanzierte sich 1936 von Maikowski und Elisabeth Klein als Vermittlern zwischen Behörden und Waldorfschule. Im Dezember dieses Jahres löste sich auch das Stuttgarter Kollegium “von der Vertretung durch Maikowski und Klein … Von den acht Schulen hatten sich zu diesem Zeitpunkt drei eindeutig von der bisherigen Verhandlungsführung gelöst: Altona, Berlin und Stuttgart. Zwei weitere, Kassel und Breslau, hatten sich Stuttgart angeschlossen. Hannover hatte von den Behörden eine klare Absage erhalten. Blieben noch Wandsbek und Dresden.” (Werner a.a.O., 210f.). Die Berliner Schule “decided to shut down the school in 1938 rather than accept further compromises with Nazi authorities … The Hannover school was still a leading candidate for ‘experimental school’ status in October 1938…”. 1941 wurde die von Klein geführte Waldorfschule in Dresden als letzte geschlossen (Staudenmaier a.a.O., 325).

Andreas Lichtes Statement, dass “man” versuchte, mit den Nazis zusammenzuarbeiten, lässt sich also durch das von ihm zitierte Memorandum nur sehr bedingt belegen. Das Verhalten von Anthroposophen und hier insbesondere Waldorfschulen im Nationalsozialismus zeugt kaum von weltanschaulich motivierter Kollaboration und vielmehr Versuchen der Anpassung, wenngleich es durchaus pronazistische Waldorflehrer gab. Peter Staudenmaier hat hierzu mit Recht herausgestellt, dass bei allen Details der Auseinandersetzung im Glauben an “Rasse” und “Volk” ideologische Gemeinsamkeiten lagen – dafür zitiert er v.a. Maikowski, Klein und Richard Karutz (ebd., 351). Dass die Berliner Waldorfschule allerdings ihre Türen just dann schloss, als die Lehrer aufgefordert worden waren, sich einzeln auf den “Führer und Reichskanzler” Hitler zu vereidigen (Werner a.a.O., 137) zeigt, dass diese Gemeinsamkeit allein keinesfalls hinreichend war, um AnthroposophInnen die nationalsozialistische Doktrin schmackhaft zu machen.

Über das Innenleben der einzelnen Schulen und damit die reale Ausprägung nazistischen Denkens in der Waldorfszene fördern weder Staudenmaier noch Werner viele Dokumente zutage. Ersterer sammelt vor allem Stimmen, die die nationalistische Gesinnung der Waldorferziehung untermauern sollen, letzterer rekonstruiert schwerpunktmäßig organisatorische und behördliche Schritte. Doch aus vereinzelt publizierten Memoiren wird v.a. bei Werner deutlich, was Andreas für heutige Waldorfschulen zweifellos unterschrieben würde: Es wird deutlich, wie krass Außendarstellung und Unterrichtspraxis voneinander abweichen konnten, selbst in der Waldorfschule Dresden unter Leitung der nazi-affinen Elisabeth Klein:

“Die älteren Schüler aber wussten, worum es ging, sie erlebten, dass ‘ihre’ Schule im Gegensatz zur NS-Gesellschaft stand. Sie wussten, dass darüber nicht geredet werden konnte und dass man sich der Umwelt gegenüber tarnen musste. Wenn der Lehrer zum Beispiel sagte: ‘Diese Aufsätze, die ihr jetzt schreibt, gehen nach Berlin’, so verstanden die Schüler sehr wohl, was gemeint war, und schrieben in diesem Sinne.” (Werner a.a.O., 237)

Auch der nationalsozialistisch verordnete Rassenkundeunterricht verlief anscheinend teilweise erträglich, wie Werner einen Zeitzeugen zitiert:

“‘Nach Einführung in die Merkmale der ‘arischen’ Typen …. wurden mit dem Gerät, wie man es sonst für phrenologische Zwecke benutzt, von der Lehrerin unsere Schädel vermessen und der Befund an der Tafel festgehalten. Für alle ablesbar stand dort, wer dem nordischen Ideal – langer und schmaler Schädel – entsprach. Na, wer schon? Ich, der Judenjunge! Den Rassenkundeunterricht in unserer Klasse beendete lautes Lachen.’ Der Bericht Herzbergs, von 1935 bis 1938 Schüler der Waldorfschule Hannover, hebt hervor, dass jüdische Schüler nicht diskrimiert wurden …” (ebd., 227)

Lehrer und Schulleiter bekannten sich derweil zur nationalsozialistischen Führung. “In a 1934 letter to a Nazi party liaison office complaining about [Kultusminister] Mergenthaler’s actions against the Stuttgart Waldorf school, a party member and parent from the school declared that Waldorf education from the beginning had pursued ‘exactly what we National Socialists strive for’, and insisted that the Führer himself would surely intercede on behalf of the school if he were made aware of the situation.” (Staudenmaier a.a.O., 334).

Jenseits von “Widerstand” und Hitler-Euphorie

Versuch einer Bewertung

In Berichten, wie sie Werner zitiert, sieht der Anthroposoph Detlev Hardorp (im Vorstand des European Council for Steiner Waldorf Education undBildungspolitischer Sprecher der Waldorfschulen in Berlin-Brandenburg) Dokumente für einen anthroposophischen “Widerstandsgeist” und Zeichen für “die grundsätzliche Unvereinbarkeit von Nationalsozialismus und Anthroposophie” (Hardorp: Die deutsche Waldorfschulbewegung in der Zeit des Nationalsozialismus). Ich halte dieses Urteil für ebenso überzogen wie das von Andreas Lichte, Anthroposophen seien im (hauptsächlich: italienischen) Faschismus so richtig aufgeblüht – wenngleich im Glauben an die Existenz von ‘Rassen’ oder im ‘Anti-Intellektualismus’ Schnittstellen vorlagen.

Die Wahrheit liegt aber auch nicht irgendwo in der Mitte.

Sie ist erneut im historischen Kontext zu suchen: dem Verhalten von Privatschulen gegenüber der nationalsozialistischen Gleichschaltungspolitik. 1936 – also ein Jahr nach der Gründung des “Bundes der Freien Waldorfschulen – wurden offiziell alle privaten Volksschulen aufgelöst, doch zogen sich viele Einzelfälle bis in die Vierziger Jahre hin. Gerade viele Landerziehungsheime bekannten sich schnell und öffentlich zum Nazistaat. Der Anthroposoph Uwe Werner hält sie darin für “vergleichbar” mit den Waldorfschulen (Werner a.a.O., 95). An einigen Einrichtung wie der zuletzt negativ in die Schlagzeilen gekommenen Odenwaldschule, konnte die herkömmliche Arbeit hinter dieser Fassade allerdings fast bruchlos weitergehen. Ähnliches legen die oben zitierten, wenigen Berichte aus der Innenwelt von Waldorfschulen zwischen 1933 und 1941 nahe. Programmatisch mag zumindest für die zweite von Staudenmaier genannte Gruppe eine Anweisung von Ita Wegman (Steiners späte Geliebte und Mitglied im Vorstand der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft) an die heilpädagogischen anthroposophischen Einrichtung sein:

“Diejenigen, die noch gute Urteilskraft bewahrt haben, dürfen gar nicht sprechen, wollen sie nicht eines Tages die Polizei in ihre Wohnung bekommen und selbst in ein Konzentrationslager gesteckt werden. So bleibt wirklich nichts anderes übrig, als dass viele herausgehen aus Deutschland, um sich im Ausland neu zu organisieren und später vielleicht wieder Einfluss zu haben in Deutschland, und dass die Anderen, die da bleiben, so gut es geht, die vorgenommenen Arbeiten, die mit Anthroposophie zusammenhängen, in Stille und vorsichtig weiter fortsetzen, damit der Faden nicht abreißt.” (Ita Wegman, Brief vom 28.4.1933, zit. n. Peter Selg: Geistiger Widerstand und Überwindung. Ita Wegman 1933-1935, Dornach 2005, 22-26)

Ita Wegman: Anthroposophische Arbeit "still" fortsetzen

Dass der spezifische Geist der so versteckt fortgeführten einzelnen Reformpädagogiken unabhängig vom Nationalsozialismus seine ideologischen Tücken hat, zeigt allein das Beispiel Odenwaldschule – aber auch die Waldorfpädagogik in ihren typologischen oder entwicklungspsychologischen Grundlagen. Davon unabhängig ist die Tatsache zu problematisieren, dass ein rassistisch-autoritäres Regime AnthroposophInnen ermunterte, auf den rassentheoretischen Fundus in Steiners Werk zurückzugreifen. Stärker als im nationalsozialistischen Deutschland geschah dies im faschistischen Italien.

Anthroposophie im italienischen Faschismus

Andreas’ Artikel titelt: “Anthroposophie und Faschismus, gestern und heute”:

“Wurde die Anthroposophie von den Machthabern in Deutschland letztlich als weltanschauliche Konkurrenz wahrgenommen [und ganz nebenbei auch verboten - AM], so war sie in Italien eine willkommene „spirituelle“ Ergänzung des Faschismus. Hier konnten Anthroposophen ihren Traum von der ‘überlegenen arischen Rasse’2 ausleben, und daran arbeiten, Rudolf Steiners programmatische Aussage ‘Die weiße Rasse ist die zukünftige, ist die am Geiste schaffende Rasse’3 zu verwirklichen.” (Hitler, Steiner, Mussolini)

Steiners eurozentrische Verklärung der “weißen Rasse” als “programmatisch” darzustellen, ist unrichtig. Steiners politische Absichten in Form der sozialen Dreigliederung haben sich mit ‘rassischen’ Themen vielmehr in keiner Weise befasst – seine Rassentheorie war Teil eines verquasten theosophischen Geschichtsverständnisses. Richtig ist aber, dass die italienischen Faschisten anthroposophische Einrichtungen weitgehend unbehelligt ließen. Andreas Lichte beruft sich als Quelle für seine Schilderung der Anthroposophie in Italien auf den oben zitierten Peter Staudenmaier, der seinen Artikel sogar “durchgesehen” hat. Seinen eigenen Artikel versteht Andreas als “Kurzzusammenfassung” von dessen Dissertation (ebd.). Da er sich aber lediglich zwei exemplarische Gestalten (Ettore Martinoli und Massimo Scaligero) aussucht und es kaum publizierte Texte über diese Zeit gibt, zitiere ich im Folgenden Staudenmaiers Original. Der beschreibt, dass es zwar organisatorische Probleme gab, AnthroposophInnen aber weitgehend freie Hand hatten:

“The Fascist race laws entailed a number of complications for anthroposophical activities. In 1939 zealous antisemites in the Fascist cultural bureaucracy mistook Steiner for a Jewish author and tried to have his works banned. Steiner’s chief publisher at the time, Laterza, pointed out that Steiner was not in fact Jewish. Anthroposophist Rinaldo Küfferle had already submitted a copy of Steiner’s Aryan certificate to the Ministry of Popular Culture in autumn 1938. The Ministry did not place Steiner on the list of prohibited authors until mid-1942, after pressure from their German colleagues, and declined to authorize re-printing of previously published works. Nonetheless, a wide variety of Steiner’s publications was available throughout the Fascist period, including more than thirty books.” (Staudenmaier a.a.O., 425)

Rudolf Steiners "Ariernachweis"

Das galt aber, zumindest in Teilen, auch für jüdische AnthroposophInnen, die trotz der antisemitischen Rassegesetze weiterarbeiten konnten:

“Several leading Italian anthroposophists were of Jewish descent, most importantly Lina Schwarz in Milan and Maria Gentilli Kassapian in Trieste. Their positions may reflect mainstream anthroposophist attitudes toward assimilation, which were not shared by all anthroposophists … While the Fascist authorities categorically affirmed their good political conduct, the presence of Jews in anthroposophical ranks in Trieste does seem to have played a role in the Trieste group’s dissolution in September 1938, in the immediate aftermath of the enactment of the racial laws.” (ebd., 426)

Staudenmaier zeigt sogar Präsenz von Anthroposophie und Anthroposophen im antifaschistischen Widerstand auf – ein Thema, das für die Geschichtsschreibung der Anthroposophen in der Naziära noch aussteht:

“Violet Gibson, the eccentric Anglo-Irish aristocrat who tried to assassinate Mussolini in 1926, traveled in theosophical and anthroposophical circles. Antifascist author and literary figure Armando Cavalli was an anthroposophist, and Eugenio Curiel, a prominent figure in the antifascist resistance, was for a time drawn to anthroposophy as well. Curiel (1912-1945), a physicist from a Jewish family in Trieste, played an important role in Resistance groups in the late 1930s and 1940s. He was murdered by Fascist soldiers in February 1945. In the early 1930s Curiel was deeply influenced by anthroposophical ideas. His commitment to anthroposophy, lasting approximately three years, was part of a turbulent ideological and political development … Alongside Colonna di Cesarò, Curiel’s ideological trajectory indicates the political volatility of anthroposophical engagement in the Fascist era.” (ebd., 417f.)

Politischer Antifaschismus, und das ist entscheidend, bedeutete aber nicht, dass die entsprechenden Personen der anthroposophischen Rassenlehre abschworen (ebd., 429f.).

Massimo Scaligeros eliminatorischer Rassismus

Im Gegenteil fiel letztere hier auf den Boden des italienischen Faschismus. Die wohl aktivste Figur in diesem Umfeld war Massimo Scaligero. Andreas zitiert seine missionarischen Artikel über “Rasse”-Bewusstsein und eine “arische Einheitsfront”, die zur Weltherrschaft auserkoren sei:

“Viele von Scaligeros annähernd 100 rassistischen Artikeln erschienen 1938–1943 bei ‘La Difesa della Razza’, 1941–1942 war Scaligero einer ihrer häufigsten Autoren, in etlichen Ausgaben Leitartikler. Welche ‘Rasse’ verteidigt Scaligero? Und welches ‘bereits existierende Modell’ benutzt er dazu? … Wie alle Rassisten erklärt Scaligero die eigene ‘Rasse’ für überlegen. Dazu entwickelt Scaligero in seinem frühen Hauptwerk von 1939, einem Buch von 275 Seiten mit dem Titel ‘Die Rasse von Rom’9, den Mythos einer ‘Römischen Rasse’, einer ‘Rasse’, die, so Scaligero, ‘zum Sieg vorherbestimmt ist’. Scaligeros breites Panorama der Entwicklung der ‘Römischen Rasse’ stellt die rassistische ‘Wurzelrassenlehre’ 10, ‘hyperboreische’ rassische Ursprünge und den Aufstieg und Fall von ‘Atlantis’ vor – Elemente, die sich in der ‘Menschheitsentwickelung’ Rudolf Steiners finden.” (Hitler, Steiner, Mussolini)

"Viele von Scaligeros annähernd 100 rassistischen Artikeln erschienen 1938–1943 bei 'La Difesa della Razza'"

Das tun sie in der Tat. Andreas erläutert in einer Fußnote: “In der ‘Theosophie’, einer esoterischen Lehre, werden Entwicklungs-Epochen der menschheitlichen Entwicklung als ‘Wurzelrassen’ bezeichnet. Rudolf Steiner übernahm das Konzept der Wurzelrassen von der Theosophin Helena Petrovna Blavatsky.” (ebd.) und fährt fort, Scaligeros Version der Wurzelrassenlehre zu schildern:

“In prähistorischen Zeiten begründete ‘die weisse arische Rasse’ den Westen und ‘die grossen mediterranen Zivilisationen’. Nordische und mediterrane rassische Gruppen kamen in der ‘Rasse von Rom’ zusammen, sie ist als ‘Italisch-Nordische Rasse’ die Synthese der besten Eigenschaften beider Gruppen. … Wenn der Faschismus authentische Werte, die ‘anti-modern, anti-egalitär, aristokratisch’ sind, wieder herstellen kann, dann wird er ‘die Wiedergeburt einer überlegenen Rasse, die einmal mehr Römisch ist’ erreichen.11 Schon in Scaligeros Buch ‘Die Rasse von Rom’ von 1939 werden 2 Charakteristika von Scaligeros Rassismus genannt, die später für ihn bestimmend werden: ‘Spiritualität’ und ‘Blut’.” (ebd.)

Den nächsten Punkt sieht Andreas in Scaligeros Antisemitismus. Das Judentum betitelte dieser mit anthroposophischen Termini als “ahrimanisch”:

“‘Die Eliminierung des jüdischen Virus und die biologische Reintegration der arischen, ethnischen Werte’14, lautet Scaligeros ‘Lösung des jüdischen Problems’. Dieser zentrale Satz von 1939 findet sich in vielen späteren Texten Scaligeros wieder. … 1941 zeichnet Scaligero das Bild eines apokalyptischen Kampfes zwischen ‘arischem Geist’ und ‘jüdischem Geist’ und sagt, dass Nationalsozialismus und Faschismus die Mittel bereitgestellt hätten, diesen Kampf zu gewinnen. Scaligero befürwortet Hitlers Ruf nach einer ‘vereinigten arischen Front gegen das Judentum’.” (ebd.).

Solche Sätze gehen über die Lästereien gegen “dekadente Indianer” und triebgesteuerte “Neger” eines Rudolf Steiner hinaus und machen ihren Autor Scaligero, wie Andreas ausführt, bis heute für italienische Neurechte attraktiv. Doch die Fragestellung des Artikels geht weiter. Wie zitiert schreibt Andreas Lichte: “Welche ‘Rasse’ verteidigt Scaligero? Und welches ‘bereits existierende Modell’ benutzt er dazu?” Die Frage ist entscheidend, aber bei ihm rhetorisch. Die Antwort folgt Absätze später und zeigt die ihrerseits politische Absicht hinter dem Artikel: “Scaligeros Rolle im Faschismus liesse nichts anderes zu, als sich vollständig, unmissverständlich, und endgültig von ihm zu distanzieren. Dann bestünde aber die Gefahr eines ‘Domino-Effekts’, denn Scaligero führt ‘nur’ das Werk seines Vorbilds, des Rassisten Rudolf Steiner, fort. Wenn Scaligero stürzt, fällt dann auch Rudolf Steiner?” (ebd.)

Welches “Modell” benutzt Scaligero?

Diese ihrerseits rhetorische Frage wäre diskutabel, wenn Scaligero tatsächlich Steiners Werk fortgeführt hätte. Das ist aber mitnichten der Fall. Scaligero war kein Anthroposoph, den seine anthroposophischen Überzeugungen zum Faschismus führten, sondern ein Faschist, der sich mit dem esoterischen ‘Traditionalisten’ Julius Evola anfreundete und in dessen Umfeld gegen Ende der 1930er Jahre die Anthroposophie kennenlernte. Wie der zweite von Andreas thematisierte anthroposophische Faschist, Martinoli – dessen Rassismus politisch viel weitere Wellen schlug – bewegte sich Scaligero im weltanschaulichen Gravitationsfeld des ‘Magiers’ Julius Evola (Staudenmaier a.a.O., 428).

“Scaligero’s mentor for much of the Fascist period was the established esoteric author Evola, whom he first met in 1930  … In the 1920s and 1930s Evola was at times quite critical of anthroposophy as a rival form of esotericism, but maintained good relationships with various Italian anthroposophists. In the eyes of Fascist authorities, such distinctions sometimes seemed trivial, and Evola was occasionally classified as an anthroposophist himself. The course of Scaligero’s dual affiliation with Evola and anthroposophy is thus difficult to trace with precision. One plausible hypothesis is that Scaligero developed from an acolyte of Evola into an anthroposophist from the mid-1930s to the early 1940s. This analysis is consistent with Scaligero’s published work during the period in question, and is supported by several retrospective anthroposophical sources.” (ebd., 432f.)

Scaligeros Mentor: Der "Traditionalist" Julius Evola

Weitere Forschungen hat der Esoterikforscher Hans Thomas Hakl angestellt. Dieser schreibt, dass Scaligero Evola nahezu sakrale Züge andichtete:

“Evolas zeitweiliger magischer und intellektueller Weggefährte Massimo Scaligero (ps. Antonio Massimo Sgabelloni, 1906-1980), der bisheute eine ansehnliche Zahl von Anhängern um sich schart, meinte in seiner esoterischen Lebensgeschichte Dallo Yoga alla Rosacroce … , dass bei Evola eben „die ursprüngliche innere Qualität, die imaginative Magie, die für den modernen Sucher der Zielpunkt ist“, bereits von Natur aus gegeben war … Dafür wurde er später einer der besten Freunde Evolas und war sogar Teil der Schutzgarde, die Evola gegen faschistische Schlägertruppen verteidigte. Später hat er sich unter dem Einfluss von Giovanni Colazza, den er über Evola kennengelernt hatte, der Anthroposophie angenähert.” (Hakl: Julius Evola and the Group of Ur, Manuskript, S. 7-13, inzwischen veröffentlicht in: Gnostika 12/2011).

Die erste Erwähnung Steiners in Scaligeros Werk findet sich laut Staudenmaier im Jahr 1941 (Staudenmaier a.a.O., 459). Andreas zitiert aber lang und breit sein Buch “Die Rasse von Rom” von 1939. Mit der Anthroposophie muss er zu diesem Zeitpunkt jedoch bereits in Berührung gekommen sein, denn in dem Buch findet sich die Etikettierung des Judentums als “ahrimanisch” – und Ahriman ist ein Dämon in der anthroposophischen Mythenwelt. Die zentralen politischen Forderungen Scaligeros, soweit Andres sie wiedergibt, finden sich aber nicht bei Steiner, sondern dem schon erwähnten Julius Evola:

1. Die Wurzelrassenlehre. Steiner transformierte die Vorstellung der Okkultistin Helena Blavatsky, dass sieben aufeinanderfolgende “Wurzelrassen” Vollstrecker der Weltgeschichte seien und einander evolutiv beerbten. “‘Hyperboräische’ rassische Ursprünge” (Lichte a.a.O.) gab es bei Steiner allerdings nicht: Die erste Wurzelrasse hieß bei Steiner die “polarische”. Bevor Scaligero (um 1938) außerdem Steiners Lehre kennenlernte, hatte bereits sein Mentor Evola eine eigene Form der Wurzelrassenhypothese ausgearbeitet: 1923 war Evola der Theosophie Blavatskys begegnet (Goodrick-Clarke: Im Schatten der Schwarzen Sonne, Wiesbaden 2009, 118). Spätestens 1934 hatte er in seinem Buch “Rivolta contro il Mondo Moderno” (Revolte gegen die moderne Welt) eine Version der Blavatskyschen Theosophie formuliert, die mit “Hyperboräern” und Atlantiern hantierte und derjenigen Scaligeros wie die Faust aufs Auge glich (ebd.). Evolas “work drew on a wide range of occult teachings, including significant elements adapted from theosophy.” (Staudenmaier a.a.O., 455)

2. Die Apotheose der “italienischen Rasse” zur Speerspitze der Evolution. Dieser Gedanke findet sich bei Steiner nirgends, der vielmehr in den Deutschen die “Avantgarde der Entwicklung” sah. Auch diesen Gedanken hatte Scaligero bereits in der Esoterik Evolas kennengelernt. “Was die aberndländische Geschichte … betrifft, so feiert Evola das Römische Imperium als großartigen Versuch, den Weg in den Verfall abzuwenden, ja umzukehren … Im August 1943 erörterte Evola mit dem abgesetzten Mussolini in Hitlers ostpreußischem Führerhauptquartier Möglichkeiten zur Rettung des faschistischen Italiens…” (Goodrick-Clarke a.a.O., 131)

3. Die “Rasse von Rom” sei Synthese zwischen “nordischem” und “mediterranem” Blut und habe damit die Vorteile von beiden. Auch diese Vorstellung kommt bei Steiner nicht vor, bei dem es überhaupt keine “Rasse von Rom” gibt, wenn auch eine griechisch-römische “Kulturepoche”, die der Blüte einer “nordischen” (germanisch-angelsächsichen) Kulturepoche vorausging (vgl. GA 121, Dornach 1982, 170).

4. Die Forderung nach Wiederherstellung “authentische[r] Werte, die ‘anti-modern, anti-egalitär, aristokratisch’ sind” (Lichte, a.a.O.). Als antimodern betrachtete Steiner sich ebenfalls nicht, vielmehr als Pionier eines “spirituellen Wissenschaft”. Dagegen stellen diese Werte erneut und sehr präzise die Ideale Evolas dar: “Der unpolitisch sein wollende Aristokrat, der Magus und radikalkonservative Esoteriker” Evola (Gerhard Wehr: Spirituelle Meister, Kreuzlingen/München 2007, 176) sah die Basis der “arischen Rasse” in einer uralten, in der “Tradition”. “Evola predigte eine Lehre des Elitismus und Antimodernismus in arisch-nordischer Tradition, die durch eine Sonnenmythologie und die Betonung des männlich-aristokratischen Prinzips im Gegensatz zum weiblich-demokratischen gekennzeichnet war. Diese Ideen kamen in seinen Büchern über Rassismus, Gralsmythos und archaische Traditionen zum Ausdruck.” (Goodrick-Clarke: Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus, Wiesbaden 2004, 165). Vorlage dabei war “die Hierarchie einer indischen Kastengesellschaft” (Ditfurth: Feuer in die Herzen, Hamburg 1996, 279f) “Sein Vorbild war die indo-arische Tradition, in der Hierarchie, Kastenwesen, Autorität und Staat das Höchste bedeuteten” (Goodrick-Clarke: Im Schatten der Schwarzen Sonne, a.a.O., 116). Hier wehte auch der paternalistische Geist Platons, der Übermensch Nietzsches und das Werk des Kulturpessimisten Oswald Spenglers, das er ins Italienische übersetzte (ebd., 121) – “womit nicht gesagt sein soll, dass allein sie die Genealogie eines René Guenon oder eines Evola bestimmen können.” (Wehr a.a.O., 177).

5. Die Aufforderung zur Vernichtung der jüdischen ‘Gegen’-”Rasse”. Während Steiner an das Judentum eine kulturchauvinistische Assimilationserwartung herantrug (das Judentum habe seine Aufgabe in der Welt, die Hervorbringung Christi, erfüllt, und solle sich nun bitte autonom auflösen, vgl. Ralf Sonnenberg), forderte Scaligero „Die Eliminierung des jüdischen Virus und die biologische Reintegration der arischen, ethnischen Werte“ (zit. n. Lichte a.a.O.). Das gleicht ebenfalls den Gedanken Evolas. “Als dem Antisemitismus noch nicht die Ächtung begegnete, die er heutzutage erfährt, hatte Evola wenig Hemmungen, die in der rechten Szene gängigen judenfeindlichen Ressentiments zu bedienen, wobei er kaum ein Klischee ausließ und sich sehr wohl zu erheblicher Gehässigkeit steigern konnte, namentlich, wenn er gezielt bestimmte Juden oder Judengruppen attackierte … Juden, meint Evola, zersetzten traditionale Substanz, wo sie könnten; hinter sämtlichen unerfreulichen Phänomenen der neueren Zeit steckten Juden.” (Goodrick Clarke 2009, a.a.O., 140, vgl. Staudenmaier a.a.O., 456). Sehr wohl aber bot dieser radikale Antisemitismus Scaligero eine Materialgrundlage, auf der er Steiners Antijudaismus aufnehmen und mit der anthroposophischen Theorie des Dämonen “Ahriman” kombinieren konnte. Denn der übernimmt als metaphysisches Prinzip bei Steiner in etwa die ‘materialistische’ Rolle, die bei Evola und Scaligero die Juden spielten. Zurecht betont Lichte: “Die Identifikation der Juden mit Ahriman gleicht einem Todesurteil.” (Lichte a.a.O.).

Zwischen Okkultismus und Faschismus

Die von Andreas gestellte Frage, “welches ‘bereits existierende Modell’” (ebd.) Scaligero benutze ist damit beantwortet. Seine These, “Scaligero führt ‘nur’ das Werk seines Vorbilds, des Rassisten Rudolf Steiner, fort” (ebd.), hinkt: Scaligero interpretierte und rezipierte Steiner letztlich auf Basis seines Evola’schen Weltbildes. Steiner lässt sich daher nur sehr bedingt mit Scaligeros Rassenideologie belasten. Die nächste Frage, ob, wenn Scaligero stürze, auch Steiner falle, ist aufgrunddessen zu verneinen (Konsequent auf sich selbst angewandt, wäre sie ohnehin nicht haltbar: Was, wenn nun die antifaschistischen Überzeugungen einer Traute Lafrenz, eines Rössel-Majdan oder des anthroposophischen Mussolini-Attentäters Violet Gibson die ‘echte’ “Fortführung” von Steiners Werk wären? Analog zu Andreas Lichtes rhetorischer Frage, ob mit Scaligero auch Steiner “falle” müsste es auch heißen: Wenn z.B. Traute Lafrenz steht – und das tut sie, vgl. Katrin Seybold – bleibt Steiner dann stehen?). Nichtsdestominder darf und muss Scaligero insbesondere in seinen späten Jahren als Anthroposoph bezeichnet werden – die Vebreitungen, Grenzen und Strömungen religiöser, philosophischer, esoterischer Gruppierungen lassen sich nicht einfach voneinander abgrenzen.

“Traditionen lassen sich nicht auf bestimmte Diskurse begrenzen. Vielmehr entwickeln sie sich aus gemeinsamen Fragestellungen und zeitgenössischen Interessenlagen. Mehr noch: Diskursfelder verändern religiöse Identitäten und führen mitunter zu erstaunlichen Allianzen und Parallelen zwischen vermeintlich getrennten religiösen Traditionen … Die Forschungen zur religiösen Sozialisation haben ergeben, dass im 20. Jahrhundert von einer geschlossenen religiösen Identität, die nach dem Motto verfährt ‘Eine Person = eine Religion’, keine Rede sein kann.” (Kocku von Stuckrad: Was ist Esoterik?, München 2004, 17)

Dieser wissenschaftliche Zwang zur Uneindeutigkeit scheint unbefriedigend und dürfte zu Andreas’ Ausspruch geführt haben ”Ich möchte Sachverhalte DINGFEST machen, das endlose Gelaber, das sich als ‘differenzieren’ tarnt, führt zu nichts.” (2.9.2011). Das ist verständlich, aber daran ist nicht der ‘differenzierende’ Zugang schuld, sondern die Polyvalenz der weltanschaulichen Diskurse, die nur durch differenzierte Betrachtung erfasst werden kann. Nur so ist es erklärlich, dass ein Evola zwar bis “heute eine prominente Ikone der Edelfaschisten” ist (Goodrick-Clarke 2009, a.a.O., 116, vgl. Ritt auf dem Tiger), aber trotzdem wissenschaftshistorisch die Wiederentdeckung Johann Bachofens beförderte und die Analytische Psychologie inspirierte (James Webb: The Occult Establishment, La Salle 1967, 421). So ist es möglich, dass ein ebenfalls von Kopf bis Fuß faschistischer Heidegger (Faye: Heidegger. Die Einführung des Nationalsoziasozialismus in die Philosophie, Berlin 2009) ausgerechnet mit seinem oft problematisierten rassistischen Frühwerk Gestalten wie Arendt und Sartre inspirierte. Und so ist es auch möglich, dass ein Scaligero in der Neuen Rechten zitiert wird, während anthroposophische Wikipedianer sein faschistisches Engagement verschweigen und die Anthroposophische Gesellschaft Italiens ihm 2006 ihre Jahrestagung widmete – “und das obwohl es eine breite Forschungsarbeit zur Geschichte der faschistischen Rassenpolitik gibt, die Scaligeros Rolle in der rassistischen Kampagne diskutiert.” (Lichte, a.a.O.). Zurecht spricht Staudenmaier von einem “left-right crossover that has marked anthroposophical politics from the beginning.” (Staudenmaier a.a.O., 509).

Lichte, Staudenmaier und Michael Eggert

Der anthroposophische Blogger Michael Eggert ist selbst ein Fan von Massimo Scaligeros Meditationstexten, hat aber auch Scaligeros Verbindung zu Julius Evola realisiert. Er plädierte in einem Essay vom 4.8.2009 für eine historisch-kritische Herangehensweise:

“In Deutschland war es vor allem Georg Kühlewind, der immer wieder auf Scaligero hinwies. Dagegen ist auch nichts einzuwenden, wenn die faschistische Ära Scaligeros, sein Bezug zum Tantrismus und zum Magier Evola offen einbezogen und nicht unter den Tisch gekehrt werden. Anders als mit disziplinierter kritischer Distanz kann man Scaligero nicht lesen, dafür sind seine Abgründe einfach zu virulent.” (Scaligero und Evola)

Einen Monat zuvor, am 19. Juli, hatte er erstmals einen Text über Scaligero auf seiner Seite veröffentlicht. Dieser stammte aus der Feder des oben zitierten Historikers Peter Staudenmaier (Staudenmaier: Über Massimo Scaligero), dessen Dissertation Andreas Lichte in seinem Artikel kurz zusammenzufassen beansprucht.

Die m.W. erste deutschsprachige Plattform für Peter Staudenmaiers Kritik an Scaligeros Rassismus bot Michael Eggert auf seiner Seite "Die Egoisten". Heute wirft Andreas Lichte Eggert fäschlich vor, er habe Staudenmaiers Kritik ignoriert.

Andreas Lichte stellt in seinem hier zugrundeliegenden Artikel Hitler Steiner Mussolini Eggert trotzdem als Verharmloser und Vertuscher von Scaligeros Rassismen dar, ohne diese kritischen Schritte auch nur zu erwähnen:

“Vollends privat wird die Verehrung Rudolf Steiners und Massimo Scaligeros bei Michael Eggert, der meines Wissens keine offizielle Funktion in der Anthroposophie hat, und auch nicht in einer anthroposophischen Einrichtung arbeitet. Eggert soll hier für die Haltung des normalen Durchschnittsanthroposophen stehen. Michael Eggert wurde von Peter Staudenmaier – dem dieser Artikel zu verdanken ist, siehe ‘Credits’, unten – und mir über Massimo Scaligeros Faschismus, Rassismus und Antisemitismus umfassend informiert. Michael Eggert hatte also nicht mehr die deutsche Standardausrede „Aber ich hab’ doch nichts davon gewusst!“, als er Massimo Scaligero auf seinem Blog ‘Egoisten’ als spirituellen Lehrer vorstellte, siehe: ‘Die Kraft des Lebens‘. Kein bedauerlicher Einzelfall, zuletzt gab es im Januar 2012 einen weiteren Blogeintrag Eggerts zu Scaligero: ‘Unbewegt‘ … Warum tut Eggert das?” (ebd.)

Diese Frage ist berechtigt: Man muss schon sehr überzeugt von Scaligeros Meditationstexten sein, damit sie einem durch dessen faschistisches Engagement nicht ungenießbar werden. Nichtsdestominder hat Eggert sich von diesem Faschismus glaubhaft distanziert, “diszipliniert kritische Distanz” gefordert und überdies (mehrfach) einschlägige Texte von Staudenmaier publiziert (darunter btw. auch ein sehr guter zu Martinoli und Waldorf im NS). Warum – könnte man die Frage umdrehen – verschweigt Andreas das?

Ein sehr faires Fazit zur Auseinandersetzung Lichte – Eggert fand Peter Staudenmaier in der yahoo-group “Waldorfcritics”. Darin schrieb er, Eggerts Umgang mit Scaligero sei seine Privatangelegenheit, solange er sich der Diskussion seiner faschistischen Theoreme nicht verwehre:

“I think that Lichte does very good work, and very important work, and in many cases I think his perspective is fairly close to my own … But my own appraisal of Eggert is different from Lichte’s … What would be troubling — and what is otherwise very common among other anthroposophists today — would be if Eggert denied that Scaligero’s earlier works existed, or denied that they were racist or fascist, etc. But Eggert does not deny this, in fact so far he has taken a leading role withint anthroposophical circles in bringing Scaligero’s earlier works to attention. It seems to me that how he relates to Scaligero’s other works is his own business. I appreciate his willingness to confront the underside of anthroposophy’s history straightforwardly, and I think his work along those lines is one of the few currently encouraging signs from within the anthroposophist movement.” (Peter Staudenmaier, 11.8.2009)

Am selben Tag veröffentlichte er auf Bitten von Andreas Lichte eine Mail desselben, die die Frage beantwortet, weshalb er Eggerts Scaligero-Kritik verschwieg- Andreas schrieb Staudenmaier:

“I do not distinguish between fascist Massimo Scaligero and ‘spiritual master’ Massimo Scaligero. For me it’s the same person, the same elitist ideas. I do not distinguish between racist Rudolf Steiner and ‘spiritual master’ Rudolf Steiner. For me it’s the same person, the same elitist ideas. Anthroposophists deliberately try to split the personality of their spiritual leaders: When Steiner is racist he’s just a typical ‘Kind der Zeit’, a child of the times. He’s just as racist as everyone else was then. When Steiner says something that is approved he’s the spiritual master … if you accept this attidude nothing will ever change.” (Andreas Lichte, 11.8.2009)

Das scheint einleuchtend: Wer rassistisch denkt, dessen sonstige Positionen mögen auch von dieser Denkstruktur geprägt sein. Sich auf Scaligero, Steiner oder sonstwen zu beziehen, wäre illegitim, sobald eine rassistische Überzeugung o.ä. nachgewiesen wäre. Scheint aber nur.

“Kritische Distanz”

Das Problem: Diese Position würde buchstäblich das Kind mit dem Bade ausschütten: Freud wäre infolgedessen etwa aufgrund seiner Sympathien für Mussolini zu verurteilen (vgl. Micha Brumlik: Sigmund Freud, Weinheim/Basel 2006, 204ff., Michel Onfray: Anti-Freud. Die Psychoanalyse wird entzaubert, München 2011,  438-449) – Foucault für seinen Enthusiasmus für die iranische Revolution (vgl. Florian Ruttner: Der Mythos des Radikalen, in: Alex Gruber, Philipp Lenhard: Gegenaufklärung. Der Beitrag der Postmoderne zur Barbarisierung der Gesellschaft, Freiburg 2011, 87-123) – Kant, Voltaire, Wagner für ihren Rassismus (vgl. Christian Geulen: Die Geschichte des Rassismus, Düsseldorf/Zürich 2005, 125-158) – desgleichen Montesquieu und Darwin (vgl. Christian Geulen: Geschichte des Rassismus, München 2007, 51, 68), von allen Philosophen des Mittelalters und der Antike gar nicht zu reden. Auch Andreas Lichte (dem ich keinen Rassismus unterstellen möchte) hielte sich dann nicht konsequent an diese eigene Regel: Hat er sich doch gelegentlich für pessimistische Aphorismen Arthur Schopenhauers begeistert (vgl. hier und hier). Schopenhauer aber war nicht nur auf enthusiastische Weise mysogyn, sondern hat sich auch verschiedentlich antisemitisch betätigt (vgl. Andreas Hansert: Schopenhauer im 20. Jahrhundert, Wien u.a. 2010, 54) und hielt Kant und Hegel für die größten Schwätzer der Philosophiegeschichte. Auch er dürfte deshalb nicht rezipiert werden.

Konsequent durchgehalten, bliebe bei dieser Hinrichtung der Geistes- und Ideengeschichte nur eine Option, um überhaupt an jemanden anzuknüpfen: Apologie. Tatsächlich versucht etwa der ansonsten brilliante Juniorprofessor für Neuere Geschichte in Koblenz-Landau, Christian Geulen, Kants Rassentheorie entschuldigend abzumildern (Geulen a.a.O., 59f.). Aus Angst vor diesem “Dominoeffekt” verweigern AnthroposophInnen bis heute großenteils eine Kritik der Steinerschen Rassenlehre.

Das Gedankenexperiment führt sich selbst ad absurdum, sein Resultat wäre nämlich die Entsorgung der westlichen Geistesgeschichte, beraubte sich damit seiner eigenen Grundlage und führte damit selbst zur Gegenaufklärung. Mutmaßlich würde Andreas Lichte es auch gar nicht derart ausweiten wollen, sondern auf Scaligero, Steiner und andere Esoteriker eingrenzen (wobei das inkonsequent wäre). Aber auch die Esoterik lässt sich nicht auf ihren anti-aufklärerischen Fundus beschränken:

“Es gibt keine ‘Große Erzählung’ der Esoterikgeschichte der Neuzeit − etwa unter der Überschrift “Vom Humanismus zu Hitler”. Stattdessen gibt es viele Geschichten, die mindestens so voneinander unterschieden sind, wie wir es bei der Geschichte des Christentums aufgrund seiner Schismen und Konfessionalisierungen von vornherein als selbstverständlich annehmen. Man könnte die Geschichte esoterischer Religiosität aus denselben Anfängen schreiben, wie es hier geschehen ist, und zu einem gänzlich anderen Schluss kommen. Die Entwicklung von Toleranz und Religionsfreiheit im europäischen Denken ist esoterisch grundiert, ebenso wie die Ausbildung eines universalen Menschheitsbegriffs mit der Möglichkeit der Formulierung von Menschenrechten − das genaue Gegenteil also dessen, was im Nationalsozialismus herrschend wurde. Die Entwicklung in der Kunst ist eine solche Linie, von der Literatur über die Malerei bis zur Musik; Kunst- und Ästhetikgeschichte der Moderne sind ohne Esoterik undenkbar. [179] … Es geht hier nur darum anzudeuten, dass die Bruchlinien innerhalb der europäischen Religionsgeschichte nicht mit den Bruchlinien zwischen Gut und Böse identisch sind.” (Monika Neugebauer-Wölk: Überlegungen zur historischen Tiefenstruktur religiösen Denkens im Nationalsozialismus, 56)

Die eingangs aufgeworfene Frage nach dem “wahren” politischen Kern der Anthroposophie lässt sich angesichts ihrer jeweiligen zeitgeschichtlichen Neukonstruktion und -auslegung durch AnthroposophInnen nicht eindeutig beantworten: Fest steht, es gibt rassistisches Potential. Aber fest steht ebenso, dass dieses nur in wenigen Fällen politisches Programm ist (z.B. bei Bernhard Schaub, der Mainstreamanthroposophen für “linksalternatives kryptomarxistisches Pack” hält). Andreas’ Urteil über Scaligero ist und bleibt aber bei aller Kritik und allen suggestiven Lücken seiner Darstellung ein richtiges Urteil. Als Argument gegen die heutige Anthroposophie (Andreas zitiert: „Nehmen Sie einem Durchschnittsmenschen die Lebenslüge, und Sie nehmen ihm zu gleicher Zeit das Glück“ – Henrik Ibsen) taugt es mitnichten, da das Beispiel falsch gewählt ist: Michael Eggerts Vorschlag zu einer Scaligero-Rezeption aus “disziplinierter kritischer Distanz” (a.a.O.) ist völlig richtig, solange er diese Distanz auch wirklich durchhält.

Kritische Distanz ist aber nichtsdestominder das Wort der Stunde. Solange der anthroposophische Alltag unreflektiert mit diesen Figuren umgeht und das rassistische Potential nicht klar verneint wird, braucht es weiter kritische Aufmerksamkeit von außen.


Einsortiert unter:Anthroposophie & Rassismus

Die unendliche Geschichte

$
0
0

Neues Zur (Nicht-)Aufarbeitung des Anthroposophischen Rassismus am Beispiel Massimo Scaligero

“Die dümmsten Schlächter wählen ihre Schafe …
nee … dis ging anders. Die dümmsten Schafe
wählen ihre Kälber … Die dümmsten Schafe
sterben im Schlafe … nee … Ach, egal.”
– Marc-Uwe Kling

—————————————————————————–

I. Stand der Debatte

Die Anthroposophie (“Weisheit vom Menschen”) hat ein Kernthema: Weiter- und Höherentwicklung. Der Mensch stammt in ihrer Konzeption aus „höheren Welten, und er wird zu diesen höheren Welten wieder hinaufsteigen.“ (Rudolf Steiner, GA 101, 1987, S. 187). Bei der selbstevozierten evolutionären Eile bleibt für ein so aufwendiges Thema wie “Vergangenheitsbewältigung” nicht immer Zeit und Muße. Der Anthroposoph Sebastian Gronbach stand deutlich für den libertären Flügel der Bewegung, als er kommentierte: “Wenn Anthroposophen nicht selber zur wissenschaftlichen Kontextualisierung und historischen Einordnung in der Lage sind, dann müssen das eben andere übernehmen. Dann soll man sich bitte auch nicht beschweren.”

Tut “man” aber leider trotzdem. Ein besonders emotionaler Gegenstand der “historischen Einordnung” ist die Geschichte der Anthroposophie im deutschen und italienischen Faschismus: Heute sehen Anthroposophen sich meist als spirituell motivierte Vorreiter von Menschenrechten, Individualismus und Demokratie. In den rassistischen Diktaturen starteten dagegen nicht wenige erfolgreiche Karrieren und präsentierten ihr esoterisches Programm als spirituellen Boden für faschistisches Engagement. Einer davon war Massimo Scaligero. Dessen erklärten Aristokratismus, eliminatorischen Antisemitismus und messianischen Wahn für die “Rasse von Rom” hat der Anthroposophiekritiker Peter Staudenmaier 2010 in seiner Dissertation herausgearbeitet. In Anschluss an diese bisher unveröffentlichte Arbeit hat Andreas Lichte u.a. den Rassismus Scaligeros im Februar noch einmal  herausgestellt. Er stieß damit eine umfangreiche Diskussion an.

Auf seinen Artikel antwortete ich mit umfangreichen Ausführungen über die Ambivalenz der Waldorfszene gegenüber dem NS-Staat sowie dem Hinweis darauf, dass Scaligero nicht von der Anthroposophie zum Faschismus kam, sondern umgekehrt vom rassistisch-”magischen” “Traditionalismus” Julius Evolas ausging, auf dessen Basis er die Anthroposophie interpretierte: Welcher Okkultist mit welchem anderen sympathisierte, war weniger Ausdruck eines faschistischen Kerns der Esoterik als vielmehr ein Ausdruck von deren für jeden Zweck instrumentalisierbaren “geistigen” Überbau. In diesem Sinne feierte und präsentierte Scaligero etwa Rudolf Steiner als esoterischen Gewährsmann seiner gleichfalls esoterischen Rassenideologie (vgl. Peter Staudenmaier). Wenig später übernahm der “Humanistische Pressedienst” (hpd) Andreas Lichtes Ausführungen mit der Bemerkung, dass sie “ein helles Licht auf Implikationen der Anthroposophie werfen.” Staudenmaier selbst hielt diplomatisch fest, dass sowohl Lichtes als auch meine Darstellung berechtigt seien. Der anthroposophische Blogger Michael Eggert, der sich schon früher für die kritische Aufarbeitung des vermeintlich unbescholtenen Scaligero eingesetzt hatte (was Lichte unerwähnt ließ), verwies auf meinen Kommentar zu Lichtes Artikel. Jens Heisterkamp, Chefredakteur der anthroposophischen Zeitschrift Info3, griff ebenfalls meinen Artikel auf, vor allem zur Relativierung von Lichtes Vorwürfen, hielt aber fest:

“Bei allen Vorbehalten kann man den Ruhrbaronen und Andreas Lichte für eines dankbar sein: Sie schärfen das Bewusstsein dafür, dass sich Anthroposophen heute kritisch mit manchen Schatten in ihrem Erbe auseinandersetzen müssen. Genau das funktioniert aber nicht ohne das „leidige Differenzieren“, zu dem Ansgar Martins beide Seiten, sowohl Anthroposophen wie ihre Kritiker bzw. Gegner, augenzwinkernd ermahnt.”

II. Neuigkeiten

Konsequenzen wurden allerdings nur schleichend gezogen: Im deutschen Wikipedia-Artikel zu Massimo Scaligero wurden erst kürzlich Hinweise auf die kritischen Arbeiten von Staudenmaier und Lichte platziert. Die Dornacher “Forschungsstelle Kulturimpuls”, die Biographien prominenter Anthroposophen dokumentiert, löschte den bisherigen Eintrag zu Scaligero. Die Seite verkündet nun: “Dieser Beitrag ist in Überarbeitung”, im Hintergrund stehen fraglos die genannten Faschismusvorwürfe. Eine notwendige Revidierung: Im nun gelöschten Eintrag waren diese einfach verschwiegen bzw. geleugnet worden. Dort war zu lesen:

“…er [Scaligero] war von Amerikanern im Juni 1944 inhaftiert worden, obgleich er nie politisch und schon gar nicht faschistisch engagiert war.”

So peinlich der frühere Text, so begrüßenswert ist die angekündigte Überarbeitung. Einen weiteren Aggregatzustand von Peinlichkeit erreichte allerdings Michael Mentzel, der die Diskussion am 16.3.2012 auf seiner Seite “Themen der Zeit” aufgriff. Mentzel distanzierte sich, um das klarzustellen, durchaus von Scaligero:

“Als der Stein des Anstoßes zu rollen begann, hatte er noch einen Namen, nämlich Massimo Scaligero, ein italienischer Anthroposoph, der – wenn die Fakten stimmen, die Andreas Lichte zusammengetragen hat – zumindest bis 1945 keinen Hehl machte aus seiner Sympathie für den Nationalsozialismus deutscher Prägung und den damit verbundenen Antisemitismus. In der Tat gibt der Artikel bei den Ruhrbaronen im Hinblick auf Scaligero einiges her, um die Verwicklungen italienischer Anthroposophen mit dem damaligen faschistischen Regime deutlicher zu erkennen …  Unwillkürlich fühlt man sich bei Scaligero an die unrühmliche Vergangenheit des Pfarrers Benesch erinnert und möchte mit Erich Kästner auf die Frage: “was wäre, wenn wir den Krieg gewonnen hätten?”, nur noch antworten: “zum Glück gewannen wir ihn nicht!”… Es ist also zu hoffen, dass der Teil der Biographie Scaligeros, der bisher nicht oder zuwenig beachtetet wurde, jetzt auch von der offiziellen anthroposophischen “Geschichtsschreibung” berücksichtigt wird.”

Darin ist Mentzel durchweg zuzustimmen. Doch liest man immer Artikel auch: “wenn die Fakten stimmen, die Andreas Lichte zusammengetragen hat” und ein zweites Mal “Die Fakten aber sprechen, wenn sie stimmen, eine andere Sprache.” Offen lässt Mentzel, welche Zweifel er an diesen Fakten hat, denn diese liegen bereits seit Jahren und in verschiedensten Publikationen auf dem Tisch. Hätten Anthroposophen den von Mentzel für gescheitert erklärten Dialog mit Kritikern früher gesucht, hätte man auch früher und aus anderen Quellen von Scaligeros Faschismus erfahren und beispielsweise den biographischen Eintrag der “Forschungsstelle Kulturimpuls” auch vor 2012 korrigieren können. Bereits der Klassiker der Anthroposophiekritik, Peter Bierl, hat seit langem unmissverständlich auf Scaligeros Rassenlehre hingewiesen und auch den Beitrag in der Biographischen Dokumentation der “Forschungsstelle” kritisiert:

“In Platos Biographien-Sammlung wird Scaligero als bedeutender Journalist, dem die Gabe der Dichtung seit seiner Jugend eigen war, verklärt. Über seine journalistische Aktivität während des Faschismus erfährt der Leser nichts.” (Bierl: Wurzelrassen, Erzengel und Volksgeister, Hamburg 2005, 177)

Wer anthroposophischerseits Bierls nicht immer unpolemische Darstellung verschmähte, hätte auch in der einschlägigen wissenschaftlichen Forschungsliteratur fündig werden können:

“Überdies bedienten sich die jungen Neofaschisten einer idealistischen Esoterik, die an die antidemokratisch-aristokratischen Ideen von Julius Evola und Massimo Scaligero anknüpften. Für diese beiden umstrittenen Intellektuellen, die sich der RSI angeschlossen und zu den wichtigsten Fürsprechern eines rassistischen Antisemitismus in Italien gezählt hatten, war mit der Demokratie das Maximum der Dekadenz erreicht, während sie – nach mittelalterlichem Vorbild – für ein streng hierarchisch organisiertes und von einer aristokratischen Leistungselite autoritär geführtes Gemeinwesen als politisches Ideal eintraten.” (Guerrazi: Rezension zu Antonio Carioti: Gli orfani di Salò)

Spätestens seit 2009 war durch das Engagement Michael Eggerts Scaligeros Rassismus auch in der anthroposophischen Szene bekannt (was wiederum Lichte ignoriert, der Eggert unberechtigterweise die Nichtbeachtung der Faschismusvorwürfe unterstellte). Warum das Gros der Anthroposophen (mit allerdings bedeutenden Ausnahmen), diese Vergangenheitsbewältigung unterlässt oder gar verweigert, will sich mir nicht erschließen. Es hätte jedenfalls genung Informationen und Quellen gegeben, das Thema anzugehen – dass der entscheidende Schlag Andreas Lichte vorbehalten blieb, liegt einzig am zu langen Schweigen der Verantwortlichen an den entsprechenden anthroposophischen Stellen. Duchaus bemerkenswert ist allerdings, dass im Fall Scaligero jetzt endlich mit (selbst-?)kritischer Einsicht vorgangen wird und nicht, wie so oft zuvor, mit Apologie.

Die Vorzeichen sehen derzeit günstig aus: Der von Bierl (s.o.) geschmähte Bodo von Plato hat sich bereits im letzten Jahr mit der mutigen Äußerung hervorgetan, dass das “apodiktische Verhältnis zur Wahrheit” in der Anthroposophie zu einer besonderen Empfänglichkeit der Anthroposophinnen und Anthroposophen für totalitäre Regimes führen könne. Zuvor hat der verdienstvolle anthroposophische Historiker Uwe Werner noch einmal (auch unter Anknüpfung an Peter Staudenmaier), die Rolle der Anthroposophie im Nationalsozialismus thematisiert. Staudenmaier selbst hat vor Kurzem noch einmal alle Beteiligten zum fairen Streit gemahnt:

“In der Dialektik von Annäherung und Abgrenzung spielten verschiedene Gesichtspunkte hinein, und eine vereinfachende Deutung verkennt leicht die Spannung zwischen beiden Polen. Für ein historisch fundiertes und umfassendes Verständnis der komplizierten Beziehung zwischen Anthroposophie und Nationalsozialismus sind beide Tendenzen, sind Distanz wie Resonanz von Bedeutung.” (Peter Staudenmaier: Der deutsche Geist am Scheideweg, in: Puschner/Vollnhals: Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus. Eine Beziehungs- und Konfliktgeschichte, Göttingen 2012, 490)

III. Gegenläufige Tendenzen

Doch es gibt auch triftige Gründe, an einer künftig fundierteren Debatte zu zweifeln. Sie werden von Michael Mentzel bei seiner an sich begrüßenswerten Kritik Scaligeros gleich mitgeliefert. Er wiederholt erneut das Märchen von der in ‘Wahrheit’ antirassistischen Anthroposophie:

“Der 1925 verstorbene Rudolf Steiner hat Massimio Scaligero nicht gekannt. In einem Aufsatz, den er im Magazin für Literatur veröffentlichte, hatte Steiner allerdings unmißverständlich festgestellt: “Mein Entwicklungsgang war auch ein solcher, dass damals, als ein Teil der nationalen Studentenschaft Österreichs antisemitisch wurde, mir das als eine Verhöhnung aller Bildungserrungenschaften der neuen Zeit erschien. Ich habe den Menschen nie nach etwas anderem beurteilen können als nach den individuellen, persönlichen Charaktereigenschaften, die ich an ihm kennenlerne. Ob einer Jude war oder nicht: das war mir immer ganz gleichgültig. … Und ich habe im Antisemitismus nie etwas anderes sehen können als eine Anschauung, die bei ihren Trägern auf Inferiorität des Geistes, auf mangelhaftes ethisches Urteilsvermögen und auf Abgeschmacktheit deutet … ” Möglicherweise hätte Steiner diese seine Auffassung wiederholt und modifiziert, wenn er noch gelebt und Kenntnis von den faschistischen und antisemitischen Auffassungen des Herrn Scaligero erhalten hätte.” (Auslassungen im Zitat von mir)

Mentzel verfällt in ein bekanntes Muster der Steiner-Hagiographie: Der Meister wird zum Gegner des Rassismus stilisiert, selektiv zitiert und damit die rassistische Überzeugung von Steiner-Anhängern zum Ausnahmefall erklärt. Die ‘wahre’ Anthroposophie sei antirassistisch und eine rassistische Deutung bloßes Missverständnis. Eine Selbsttäuschung, der bereits Steiner unterlag. Der jüdische Anthroposoph Hans Büchenbacher (der in der Naziära aus dem Vorstand der deutschen Anthroposophischen Gesellschaft zurücktreten musste) hatte den Esoteriker mit dem Antisemitismus in der anthroposophischen Bewegung konfrontiert:

“Über das Problem des Antisemitismus hatte ich schon in einem intimen Gespräch mit Herrn Dr. Steiner im Mai 1920, in welchem ich sein persönlicher esoterischer Schüler werden durfte, gesprochen. Ich wurde damals von anthroposophischen Freunden eingeladen, über die Dreigliederung [die Gesellschaftsutopie der Anthroposophie - AM] große öffentliche Vorträge zu halten. Ich teilte dies Dr. Steiner mit und äußerte Bedenken, weil schon in unserer [der Anthroposophischen] Gesellschaft mir Antisemitismus begegnet sei, wie es diesen ja auch in der Außenwelt gab. Dr. Steiner, sehr streng und energisch: ‘Das gibt es nicht in der Anthroposophischen Gesellschaft’ Ich: ‘Aber ich habe doch entsprechende Erfahrungen gemacht.’ Herr Doktor: ‘Aber ich muss Ihnen sagen, dass Progrome in Würzburg vorbereitet werden, und das kann gefährlich für sie werden; Sie müssen selbst entscheiden, ob sie das riskieren wollen.” (Büchenbacher: Teilauszug seiner Erinnerungen in: Info3, 4/1999, 19)

Steiner war blind für Antisemitismus unter seinen Epigonen (der in den Köpfen von Friedrich Rittelmeyer, Richard Karutz oder Marie Steiner-von Sivers nach 1933 noch ganz andere Formen annehmen sollte), vor allem, da die Probleme hausgemacht waren: Steiner selbst schätzte Moses als “Eingeweihten” und Jahwe als hochstehenden Engel – doch deren ‘spirituelle’ Leistungen seien erbracht. So stufte er das Judentum als überholte Vorgängerreligion des Christentums ein und forderte die gänzliche und restlose Assimilation der Juden. In der Logik von Steiners geschichtsevolutionärem Weltbild konnten sich zwar alle Jüdinnen und Juden über ihre Religion “hinausentwickeln”, von ihr “freimachen”, doch diese Religion selbst habe seit der Inkarnation “des” Christus nichts mehr zu bieten. Dass er selbst dem Judentum die Existenzberechtigung absprach, übersehen AnthroposophInnen wie Mentzel ebenso konsequent wie das, was man zu Steiners Lebzeiten unter Antisemitismus verstand:

“Unter diesen Begriff gehörten im damaligen Sprachgebrauch nicht die … christlichen Stereotype über das angeblich normative alttestamentarische jüdische Volk oder Ressentiments gegen den jüdischen Nationalismus, die Steiner im Grunde nur anthroposophisch umgedeutet hat, sondern als Antisemitismus wurden in erster Linie auf Biologie rekurrierende und mit Gewalt drohende Argumente gewertet, von denen man sich damals noch leicht distanzieren konnte. Deshalb konnte Steiner damals trotz seiner unübersehbaren Vorurteile als Feind des Antisemitismus gelten.” (Miriam Gebhardt: Rudolf Steiner, 73)

Auch diese schlichte Tatsache ist seit langem bekannt. Spätestens mit den Arbeiten von Ralf Sonnenberg gibt es auch überzeugende anthroposophische Versuche, diese antijüdischen Implikationen des anthroposophischen Geschichtsmodells ein für alle mal abzuwenden. Wenn anthroposophische Apologeten allerdings immer wieder hinter den Stand der Debatte zurückfallen, dürfen sie sich im Sinne des oben zitierten Ausspruchs von Sebastian Gronbach, nicht wundern, wenn “andere” das übernehmen: Die Kritiker und Gegner der Anthroposophie.

So wenig Andreas Lichte recht hat, wenn er behauptet, Scaligero habe Steiner lediglich konsequent weitergedacht und die Anthroposophie sei im Kern faschistisch, so wenig ist Michael Mentzel zuzustimmen, wenn er auf eine prinzipielle Distanz beider hinweist. Unzutreffende Unterstellungen und unhaltbare Entlastungsargumente provozieren sich gegenseitig und übersehen beide die Polyvalenz der Rezeptionsmöglichkeiten. Dass Steiners evolutionäres Rassendenken bis heute Faschisten anzieht, ist leicht verständlich. Dass seine Anthroposophie auch den in Auschwitz ermordeten Komponisten Viktor Ullmann oder den zionistischen Prager Salon Berta Fantas mit Exponenten wie Ernst Müller und Schmuel Hugo Bergmann inspirierte (letzterer organisierte gar an der Jerusalemer Universität eine Feier zu Steiners 100. Geburtstags), wundert ebensowenig: Steiner hatte für jeden von links bis rechts etwas im Angebot. Das übersehen viele Kritiker und noch mehr Anthroposophen bis heute. Einen Esoteriker, der mit “Wurzelrassen” und “Volksseelen” hantiert, auch wenn er anderswo die (“geistige”) Egalität und Unersetzlichkeit aller Menschen propagiert, kann niemand erfolgreich vom Rassismusvorwurf freiwaschen. Eine glaubhaft antirassistische Anthroposophie müssten heutige Anthroposophen selbst schaffen. Vorbedingung dafür wäre, die ständig wiederholte Geschichte von der ‘Unvereinbarkeit’ anthroposophischer und faschistischer Überzeugungen endlich fallenzulassen.


Einsortiert unter:Anthroposophie & Rassismus

Anthroposophie im Widerstand

$
0
0

“Aus der vehementen Ablehnung der Anthroposophen durch Dietrich Eckart [einen Mentor Hitlers] können wir viel lernen. Wenn er so stark auf sie reagierte – und er war nicht der einzige völkische Denker, der das tat –, dann muss er sie sehr ernst genommen haben. Damit hatte er Recht, denn Deutschland schien bereit, jede mögliche Alternative zu seinem alten unglückseligen System auszuprobieren. Doch in gewisser Hinsicht stellte die völkische Reaktion das Zugeständnis dar, dass beide Lager auf derselben Ebene operierten. Ein Teil der völkischen Wut wuchs aus der Erkenntnis, dass es hier eine andere Vision des Universums gab, die ‘geistig’ zu sein beanspruchte. Hatten nicht die Propheten des ‘Volkes’ das Monopol auf die geistige Politik, waren nicht sie allein wirklich ‘geistreich’?”
– James Webb: Das Zeitalter des Irrationalen.

————————————————————————————————-

Die jüngst wieder ausgebrochene und auch auf diesem Blog geführte Debatte zum Thema Anthroposophie und Faschismus blubbert munter. Zufällig zum genau passenden Zeitpunkt ist nun weiteres Material verfügbar, das einen ganz anderen Aspekt hervorspielt: Anthroposophinnen und Anthroposophen im antifaschistischen Widerstand. Das für April angekündigte Buch “‘Es lebe die Freiheit!’ Traute Lafrenz und die Weiße Rose” (Peter Norman Waage) ist unerwartet früher erschienen. Ich nehme das zum Anlass, hier ein weiteres, weitgehend unbekanntes Kapitel der verzweigten und widersprüchlichen Rezeptionsgeschichte der Anthroposophie zu schildern: Die Einflüsse anthroposophischen Gedankenguts auf ‘den’ Widerstand gegen den Nationalsozialismus.

Traute Lafrenz

So unbefleckt wie die namengebende Blüte ist die Weste der Widerstandsgruppe “Weiße Rose” wohl nicht gewesen: Der Historiker Sönke Zankel hat mit dem bundesdeutschen Mythos der lauteren demokratischen Studenten mit antinazistischen Ambitionen aufgeräumt und zeigte etwa elitäre Selbstverständnisse in der Widerstandsgruppe oder die antijüdischen Ressentiments bei Hans Scholl auf. Respekt gebührt der engagierten Gruppe nichtsdestominder. Die zeitweilige Freundin Scholls, Traute Lafrenz, hat es in einem SZ-Interview vom 3.05.2002 infolgedessen als “peinlich” bezeichnet, dass die Flugblätter der “Weißen Rose” keine direktere Position zur “Judenfrage” bezogen (vgl. Zankel: Mit Flugblättern gegen Hitler, Köln u.a. 2008, 510 – das Buch wurde auch stark kritisiert). “Insgesamt”, so Zankel, “kann für Traute Lafrenz konstatiert werden, dass für sie die Worte Inge Scholls noch am ehesten zutreffend sind: der ‘große Wettkampf um das Leben der Freunde’.” (ebd., 448). “Ihre Aktivitäten waren von entscheidender Bedeutung, wurden von der Nachwelt jedoch wenig beachtet. Sie selbst zieht es vor, sich als Zeitzeugin zu bezeichnen. Sie weist konsequent jede Art von Ehrbezeugung ab, aus Respekt vor all denjenigen, die so viel mehr taten als sie.” (Waage: “Es lebe die Freiheit!” Traute Lafrenz und die Weiße Rose, Stuttgart 2012, 9 – das 2010 mit dem norwegischen Riksmalfortbundets litteraturpris ausgezeichnete Buch wurde vom anthroposophischen Urachausverlag ins deutsche übersetzt).

Lafrenz ist vor allem als Verbindung zwischen der Hamburger und der Münchener Gruppe der Weißen Rose bekannt, sie sorgte für die Weiterverbreitung von Informationen und Flugblättern und bemühte sich nach der Verhaftung der Geschwister Scholl u.a. um die Vernichtung von Beweismaterial, wurde inhaftiert, frei gelassen, erneut inhaftiert – eine genaue Dokumentation bietet das Archiv der “Weiße Rose Stiftung” (und eben das kürzlich erschienene Buch von Waage). Lafrenz wanderte nach dem Krieg in die USA aus, wo sie Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft und der “Ersten Klasse” der Dornacher “Hochschule für Geisteswissenschaft” wurde. Bis 1992 war sie Leiterin der “Esperanza School”, einer heilpädagogischen Einrichtung auf anthroposophischer Grundlage. Heute hat Lafrenz vier Kinder und sieben Enkel und lebt in South Carolina. Als “Weiße Rose der Anthroposophie” wurde sie in einem Newsletter der ortsansässigen Anthroposophischen Gesellschaft bezeichnet, Ausstellungen widmen sich auch ihrer Person, 2009 erhielt sie die Herbert-Weichmann-Medaille von der jüdischen Gemeinde Hamburg (vgl. Kathleene Wright (?): Anthroposophy’s ‘White Rose’, in: Sophia Sun – Newsletter of the Anthroposophical Society in North Carolina, June 2008, I, 3, 30). Wie kam Traute Lafrenz zur Anthroposophie?

In die Aktionen der “Weißen Rose” war Traute Lafrenz nicht zufällig und nur durch den Kontakt zu den zentralen Figuren der Weißen Rose, Scholl,  Kucharsky und Schmorell, involviert. Eine wichtige Rolle für die Motivation von Kucharsky und Lafrenz spielte die Lehrerin Erna Stahl (1900-1980). Sie hatte Deutsch, Geschichte und Kunstgeschichte in Wien studiert, bevor sie nach dem zweiten Staatsexamen eine Klasse in der reformpädagogischen Lichtwark-Schule übernahm (Vgl. Zankel a.a.O., 531). In dieser Klasse war neben Kucharsky und Lafrenz auch Margareta Rothe, die ebenfalls im Kreis der “Weißen Rose” tätig war und dafür hingerichtet wurde. Die Lichtwarkschule, deren von Alfred Lichtwark konzipiertes Programm übrigens von Steiner nur ein einziges Mal, aber zustimmend zitiert wurde (Steiner: GA 298, 53), war mit der Waldorfpädagogik zumindest im ästhetischen und “naturnahen” Anspruch vergleichbar (vgl. Zander: Anthroposophie in Deutschland, Göttingen 2007, 1388, 1422).

Erna Stahl

Peter Norman Waage zitiert die Erinnerungen von Lafrenz über die spezifische Prägung von Erna Stahls Unterricht:

“‘Unsere war ihre erste Klasse’, berichtet Traute. ‘Ich stieß im sechsten Schuljahr dazu. Die Lehrer konnten ihren Unterricht mehr oder weniger so gestalten, wie sie es selbst wollten. Erna Stahl war von der Waldorfpädagogik inspiriert. Sie hatte einen guten Freund, der Waldorflehrer war, und bediente sich einer ganzen Reihe entsprechender Methoden. Sie hatte offensichtlich auch Steiner gelesen, das begriff ich im Nachhinein. Ich bin die einzige unter ihren Schülern, die später mit der Anthroposophie weitergemacht hat; tatsächlich habe ich kurz nach Abschluss der Schule angefangen, ‘Die Philosophie der Freiheit’ [GA 4] zu lesen. Ich habe auch versucht, Hans [Scholl] dafür zu interessieren, aber das funktionierte überhaupt nicht.” (Lafrenz zit. in: Waage a.a.O., 29)

“Die Literatur, die Hans zu dieser Zeit las, strahlte eine ethisch-moralische Kraft aus’, erzählt Traute. ‘Es waren einige sogenannte neokatholische Schriften, aber es handelt sich nicht nur um religiöse Literatur. In der ersten Zeit nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten waren alle politisch Oppositionellen verhaftet worden. Die Opposition, die übrig blieb, gründete sich auf Ethik und auf ein spirituelles Erleben der Welt [eine Perspektive, die scheinbar den kommunistischen Widerstand vollständig ausblendet – AM] … Doch mein Interesse galt der Anthroposophie, die mir trotz allem näher stand als der Katholizismus. Ich traf mich in dieser Zeit auch mit anderen Leuten; wir lasen Rudolf Steiners ‘Philosophie der Freiheit’. Hans stand Steiner völlig fremd gegenüber.” (zit. n. ebd., 58, vgl. auch Katrin Seybold: Katz und Maus).

“Dabei fällt mir ein, dass das, was uns als Einzelne während dieser Zeit am tiefsten anging, nämlich, wie jeder von uns ein aufrichtiges Verhältnis zum Christentum zu bekommen anfing, selten oder nie besprochen wurde.” (Traute Lafrenz in: Inge Scholl: Die Weiße Rose (1982), Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1992, 170 – ihr Bericht wird als einer der zuverlässigsten in der Literatur zur Weißen Rose gerechnet, vgl. Zankel a.a.O., 543)

Traute Lafrenz Erinnerungen an Stahls Unterricht werden aus anderen Quellen bestätigt. Verschiedene ehemalige Schüler haben v.a. die Betonung der Werte “Freiheit und Gewissen” auf Grundlage eines patriotischen Geschichtsbewusstseins als charakteristisch für diesen Unterricht empfunden. Da war die Rede von einer “Erziehung zum Menschen, der sich selbst erkennt und sich selbst überwindet nach dem Vorbild des Georgsritters, der für das Gute streitet und das Böse besiegt” (Belege bei Zankel a.a.O., 533). Diese etwas pathetischen Erinnerungen wurzeln in Stahls wohl deutlich artikulierter Abneigung von Personenkult, Uniformierung und Militarisierung (ebd.) und zeigten sich konkret etwa darin, dass Stahl ihre Schüler nach der Machtübernahme weiterhin mit “Guten Morgen, Herrschaften” (statt “Heil Hitler”) begrüßte. Auf eine Ausstellung der Nazis zur “Entarteten Kunst” reagierte die Kunsthistorikerin, indem sie mit ihren Schülern die Künstler der “Brücke” und des “Blauen Reiters” behandelte. Als sie für die Osterferien 1935 eine Klassenfahrt nach Berlin organisierte, um die Originalbilder dieser Künstler anzusehen, führte das zu ihrem Rausschmiss.

Die Lichtwarkschule, bei den Nazis als das “rote Mistbeet von Winterhude” bekannt (vgl. Maria Krebs, Michael Verhohen: Die Weiße Rose. Der Widerstand gegen Hitler, Frankfurt 1982, 63), wurde 1937 “gesäubert”: Die Lehrer wurden entlassen und versetzt – Erna Stahl, wie erwähnt, schon zwei Jahre vorher –, die Schule selbst wurde aufgelöst. Stahl hielt aber Kontakt zu einigen ihrer ehemaligen Schüler. Schon vor 1935, aber von da ab über ein Jahr regelmäßig, fanden bei ihr wöchentlich private Treffen statt, die die Beschäftigung mit den angedeuteten Personen und Werken fortsetzten und erweiterten.

“Dort herrscht eine literarisch-philosophische Atmosphäre mit stark religiösen Akzenten und anthroposophischem Hintergrund. So liest man Texte der Bibel, die Gralssage, Dantes ‘Göttliche Komödie’, Dichtungen der Romantiker oder des Expressionismus. Man befasst sich zugleich mit den Malern, die inzwischen zur ‘entarteten Kunst’ gerechnet werden (Marc, Kandinsky).” (Krebs/Verhohen a.a.O., S. 64 – Hervorhebung AM)

Vielleicht waren die dominanten anthroposophischen Elemente z.T. der Anthroposophin Hilde Meyer-Froebe zu verdanken, die 1924/25 in Wien mit Stahl studiert hatte, sie nach dem 2. Weltkrieg unterstützte und die Waldorfschule Rendsburg gründete. Stahl wurde aufgrund ihrer Verwicklungen mit den antinazistischen Tätigkeiten der Weißen Rose am 4.12.1943 von der Gestapo verhaftet. Wegen Vorbereitung zum Hochverrat, Feindbegünstigung, Wehrkraftzersetzung, Rundfunkverbrechen und “planmäßiger Verseuchung der Jugend” wurde ihr der Prozess gemacht. Im April 1945 wurde sie mit einer Mitangeklagten von amerikanischen Truppen befreit. Auch Lafrenz war im März 1943 verhaftet worden. “Öde gleichförmige Tage, lange Nächte, jedes Klagen verbot sich von selber angesichts des Schicksals der sechs anderen.” (so Lafrenz im Erfahrungsbericht für Inge Scholl: Die Weiße Rose, a.a.O., 176).

Stahls heute bekannteste Hinterlassenschaft ist allerdings die zusammen mit Meyer-Froebe und Hilde Ahlgrimm gegründete Albert-Schweitzer-Schule Hamburg. Insbesondere im Rahmen dieses Blogs ist die Einrichtung bemerkenswert: Sie ist die einzige Schule, die explizit Waldorfpädagogik ohne Anthroposophie macht – und dadurch die einzige öffentliche Schule, die auf waldorfpädagogischen Grundlagen steht: Kein Sitzenbleiben bis Klasse 10, starke musisch-kreative Ausrichtung, Lernen mit “Kopf, Herz und Hand”. Dass es eine solche Schule gibt, wird in den affirmativen wie kritischen Publikationen zur Waldorfpädagogik gern übersehen. Waldorfkritiker, die sich das kritisierte Modell als ideologische Kaderschmiede imaginieren, halten Waldorfpädagogik ohne Anthroposophie für ebenso unmöglich wie viele Anthroposophen sie für karikiert und schädlich halten. In ihrer (unfreiwillig) prästabilisierten Harmonie haben diese einander so entgegengesetzten Diskutanten offenbar beide ihre Scheuklappen.

Karl Rössel-Majdan

Wie für Erna Stahl (vgl. Zankel a.a.O., 533) war auch für den österreichischen Anthroposophen in zweiter Generation, Karl Rössel-Majdan, das Motiv des Drachentöters St. Georg wichtig. Der Deckname Rössel-Majdans im politisch konservativen Widerstandskreis “Großösterreichische Freiheitsbewegung” lautete Georg Michael, und unter diesem Pseudonym sollte er später Gedichte veröffentlichen. Im Hintergrund stand die anthroposophische Angelogie Rudolf Steiners, die den Erzengel Michael neben allerlei kosmologischen Spekulationen als Verteidiger des menschlichen “Ich” deutete: “Wenn der Mensch die Freiheit sucht ohne Anwandlung zum Egoismus, wenn ihm Freiheit wird reine Liebe zur auszuführenden Handlung, dann hat er die Möglichkeit, sich Michael zu nahen…” (Steiner: GA 26, 117). Schon im Elternhaus kam der Sohn eines in der Österreichischen Anthroposophischen Gesellschaft engagierten Sängers mit dem Steinerschen Gedankengut in Berührung. In einem (im Ganzen kritischen) Bericht der Zeitschrift Profil fasste Hubertus Czernin zusammen:

“Rössel war vom ersten Anschlusstag im Widerstand, er verweigerte den Hitlergruß, beschädigte eine Gedenktafel für die Dollfuß-Mörder, war dann in der legendären Gruppe Dr. Kastelic aktiv, wurde verhaftet, vom Volksgerichtshof zu zehn Jahren verurteilt. Sein Bruder wurde von SSlern totgeprügelt. Er selbst floh im Frühjahr 1945, kurz vor dem Einzug der Roten Armee, aus dem Lager Lohau – und dennoch fällt etwa dem früheren Leiter des Dokumentationsarchivs des Widerstandes, Herbert Steiner, zu Rössel nicht mehr ein als: ‘Er war eine positive Figur im Widerstand.’” (Profil 47/1985)

Dasselbe Dokumentationsarchiv stellt online drei sehr detaillierte autobiographische Berichte zu den eben zitierten Tätigkeiten zur Verfügung, die ich hier aus Platzgründen nicht wiedergebe. Die idealistischen Motive Rössel-Majdans lassen sich dort (mit allen Tücken autobiographischer Memoirenliteratur) gut nachlesen. Hier seien vor allem organisatorische Details aufgelistet: Die “Großösterreichische Friedensbewegung” gruppierte sich um drei Personen: den christlichsozialen Jacob Kastelic, den sozialistischen Journalisten Hans Schwendenwein und eben den “parteilosen Schriftsteller” Rössel-Majdan. An der Universität hatten sich “unabhängige Studenten” getroffen, es bildete sich eine Gruppe, die zu dem nach London emigrierten Juden “Dr. Hecht” Kontakt hielt, 1938 fand im Hietzinger Café Wunderer ein Treffen des eben aufgezählten Trios statt. Decknamen wurden verabredet, Strukturen eingerichtet, in denen jeder Beteiligte nur zwei andere kennen durfte.

“Um diesen größeren Kreis bildete sich schon bald eine größere Gruppe, der unter anderem der Schriftsteller Günther Loch und als militärischer Berater Oberst Buchinger und Oberstleutnant Dr. Hans Blumental angehörten. Über den Ottakringer Arbeiter Rudolf Zetsche, den Rössel-Majdan kannte, wird die Verbindung zum sozialistischen Kreis um den alten Arbeiterführer Sever hergestellt.” (Otto Molden: Der Ruf des Gewissens, München 1958, 76)

Weitere Aktivitäten folgten, vor allem aber begeisterte man sich für Vorstellungen einer vermeintlichen politischen Reorganisation Österreich-Ungarns nach dem Ende der Nazi-Diktatur. Im Sinne einer parlamentarischen Monarchie sollte der ‘Vielvölkerstaat Habsburg’ reanimiert und nationalstaatliche Abgrenzung verschiedener ‘Ethnien’ verhindert werden. Rössel-Majdan: “Wir waren der Ansicht, dass der Donauraum wieder eine Familie werden muss.” (zit. in Erich Witzmann: Charakter zeigen (Salzburger Nachrichten, 26.10.1988), in: Anton Kimpfler (Hg.): Aufstand des Geistes gegen den Ungeist der Zeit. Zur Lebensarbeit von Karl Rössel-Majdan, Kiel 2002/3, 10). Unübersehbar waren die anthroposophischen Einflüsse: “Das neue, nach sachlichen Gesichtspunkten gegliederte Parlament sollte anstelle der einzelnen Parteien aus einem Staatsrat, einem Wirtschaftsrat und einem Kulturrat bestehen.” (Witzmann ebd.), diese Entflechtung von Staat, Wirtschaft und Kultur ist der organisatorische Nucleus von Steiners Politentwurf für eine “Dreigliederung des Sozialen Organismus”.

So romantisch-regressiv man diese Vorstellung von der Überwindung des Nationalstaats finden kann, so tollkühn war doch Rössel-Majdans Aktionismus: 1940 wurde er eingezogen und an die Westfront geschickt und landete, von einem Granatensplitter verwundet, im Lazarett. Dort schlich er sich nachts nach draußen, um Truppenbewegungen zu registrieren und Bekannten zu vermitteln. Die Briefe wurden abgefangen und Rössel-Majdan vom Lazarettbett weg von der Gestapo verhaftet. Das Leben retteten ihm seine Notizen von einem Treffen verschiedener Widerstandsgruppen in der Hietzinger Prinz-Eugen-Straße. “Rössel-Majdan verzeichnete das Treffen in seinem Kalender, aber er schrieb bewusst das Gegenteil dessen auf, was tatsächlich gesprochen und verabredet wurde.” (ebd., 11). Dieses Treffen war bereits aufgedeckt worden und der Volksgerichtshof wertete seine Berichte als unglaubwürdig, was ihm die Todesstrafe ersparte.

Nach 1945 bemühte sich Rössel-Majdans Vater zusammen mit Julius Breitenstein um den Wiederaufbau einer Anthroposophischen Gesellschaft in Österreich. Die Episode ist erwähnenswert, da ihm hier unerwartet Hürden in den Weg gelegt wurden. Ehemalige Mitglieder der AG zeigten sich “ängstlich”, und auch nachdem Rössel-Majdan junior vor der russischen Geheimpolizei vorgesprochen hatte, blieben sie der Anthroposophischen Gesellschaft fern. “Später erwies sich, dass manche von ihnen Mitglieder der NSDAP oder Mitläufer waren.” (Wolfgang Peter: Falsche oder echte Freunde, in Kimpfler a.a.O, 42). Bald darauf wurde in Graz (englische Besatzungszone) eine neue, vom Dornacher Anthroposophenvatikan anerkannte Anthroposophische Gesellschaft gegründet, was zur Spaltung der österreichischen Anthroposophen führte. Rössel-Majdans Aktivitäten wurden systematisch zurückgedrängt, so dass er in der Anthroposophischen Geschichtsschreibung anscheinend einfach vergessen wurde – der Dornacher Archivar Uwe Werner soll sich noch zu Lebzeiten Rössel-Majdans bei diesem entschuldigt haben, dass er ihn in seiner Studie über “Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus” (München 1999) kein einziges Mal erwähnt hatte. Auch an anderer Stelle geriet Rössel-Majdan in Konflikt mit der organisierten Anthroposophie. So begleitete er die Gründung mehrerer Waldorfschulen in seiner Heimatregion und handelte sich deshalb juristische Streitigkeiten mit dem “Bund der Freien Waldorfschulen” ein, der die Namensrechte an “Waldorf” innehat. Die Auseinandersetzung bezeichnete er ungnädig als “Sektenkrieg”: “Wir werden schauen, dass wir dieses Kartell auch in Deutschland abwürgen.”

Rössel-Majdans umfangreiche anthroposophische Aktivitäten waren aber nur eine Seite seines politischen Engagements. Neben Reisen nach Israel und in die USA legte er insgesamt drei Dissertationen vor (Dr. jur. 1939, Dr. phil. 1949, Dr. rer. pol. 1951), arbeitete beim Rundfunk und wurde vor allem durch seine Tätigkeit bei der “Gewerkschaft für Kunst, Medien und freie Berufe” bekannt. Dort setzte er sich unter dem Motto “Kultur als dritte Kraft” (neben Wirtschaft und Politik) weiterhin für die anthroposophische Dreigliederung ein. Wie Erna Stahl kommt Rössel-Majdan in der anthroposophischen Geschichtsschreibung praktisch nicht vor. Ob das auch daran liegt, dass sie eben nicht nur gegenüber dem Nationalsozialismus, sondern auch der anthroposophischen Orthodoxie opponierten, bleibt eine Spekulation, aber eine naheliegende.

Valentin Tomberg

Bei Tomberg trifft diese Spekulation allerdings in Schwarze. Während zu dessen Fans etwa Hans Urs von Balthasar oder Robert Spaemann zählen, rechnen ihn breite anthroposophische Kreise zu “jesuitisch” motivierten Feinden der Anthroposophie, denn Tomberg, aus der Anthroposophischen Gesellschaft herausgeekelt, wandte sich schließlich der Katholischen Kirche zu. Im Alter von 25 Jahren und noch zu Lebzeiten Steiners war er Vorsitzender der Anthroposophischen Gesellschaft in Estland geworden. 1938, nach dem Verbot der deutschen Anthroposophischen Gesellschaft durch die Nazis, übersiedelte Tomberg mit seiner Familie in die Niederlande. Dort kam es zum Konflikt mit der Anthroposophischen Zentrale in Dornach. Im chaotischen Zustand der anthroposophischen Szene nach Steiners Tod konnte es nicht ausbleiben, dass der in religiösen Fragen umtriebige und keinesfalls linientreu anthroposophische Tomberg

“…bei Anthroposophen alsbald den Eindruck einer zu großen geistigen Selbstständigkeit erweckte. Dergleichen pflegt meist nicht ohne Spannungen und Missverständnisse abzugehen. Sollte dieser Mann spirituelle Ansprüche erheben und damit das Tun der von Steiner selbst ernanten ’esoterischen’ Vorstandsmitglieder [der Anthroposophischen Gesellschaft - AM] in den Schatten stellen wollen? … Für einen aus eigener spiritueller Erfahrung Schöpfenden, für einen (durchaus im Sinne Steiners) aktiven Selbstdenker schien in einer desolaten Anthroposophischen Gesellschaft kein Platz zu sein.” (Wehr: Spirituelle Meister, Kreuzlingen 2007, 242)

“In Tomberg und seinem Werk war eine spirituelle Autorität entstanden, die Steiners de facto monokratischen Geltungsanspruch als Hellseher in Frage stellte. Im Dezember 1933 wurde ihm im ‘Goetheanum’ die Kompetenz als authentischer Interpret Steiners abgesprochen, Marie Steiner blies 1936 zum ‘unvermeidlichen Kampf’ gegen den ‘wahnbefangenen okkulten Lehrer’ und betrieb seinen Ausschluss aus der Anthroposophischen Gesellschaft. Nach dem Zweiten Weltkrieg soll es, so Martin Kriele, ein Verbot gegeben haben, Tombergs Bücher in den Zimmern der Studenten im Priesterseminar der Christengemeinschaft aufzubewahren, und noch 1995 wurde dem inzwischen Verstorbenen vorgehalten, er habe ‘Schmeichelei und Dolchstich mit jesuitischer Raffinesse’ gehandhabt und sei ‘in das Lager [der] unerbittlichsten Erzfeinde der Anthroposophie, also der katholischen Kirche, gewechselt, so dass sein Verhalten ‘nicht anders denn als geistiger Verrat bezeichnet werden’ könne. Diese Position wird heute längst nicht mehr von allen Anthroposophen geteilt [Tombergs Werk steht zB in der Bibliothek am Goetheanum direkt bei den anthroposophischen Periodika, vor allem im ehemals Schaffhausener Novalis-Verlag werden viele "Tombergianer" vermutet - AM]. Aber diese Polemik legt das Konfliktpotential in dem Anspruch offen, Steiner gleich in die verborgene ‘übersinnliche’ Welt einzutreten.” (Zander a.a.O., S. 727)

Bis zur deutschen Besatzung der Niederlande arbeitete Tomberg im estnischen Vize-Konsulat in Amsterdam, danach hielt er sich mit Sprachunterricht über Wasser. Bekannt ist sein Austausch mit Ita Wegman und Elisabeth Vreede, zwei der wenigen Anthroposophinnen, deren unzweideutige Ablehnung des Nationalsozialismus leidlich sicher dokumentiert ist. Die genauen Tätigkeiten Tombergs im Widerstand sind dagegen leider nur spärlich überliefert, weder in der positiven noch ablehnenden Literatur sind Einzelheiten zu finden, wenn auch nirgendwo bestritten wird, dass es diese gab. Exemplarisch für diese relativ vage Literatur sei Gerhard Wehr zitiert, “…dass er den Nationalsozialismus kompromisslos ablehnte und er dies während der deutschen Besatzung in den Niederlanden auf der Seite des Widerstandes auch durch die Tat bewies.” (Wehr a.a.O., 242f.). Die einzige Ausnahme ist Wolfgang Garvelmann, selbst nicht unumstrittener Anthroposoph, der Tomberg 1944/45 kennenlernte. Nach Garvelmann half Tomberg, abgeschossene englische Flieger zu verstecken und zum Ärmelkanal zu schleusen  (Wolfgang Garvelmann: Valentin Tomberg – ein Versuch, ihm gerecht zu werden, in: info3, 5/1988, S. 6, vgl. Elisabeth Heckmann: Valentin Tomberg. Leben – Werk – Wirkung: Eine Biografie, Schaffhausen 2001, 380f., die ebenfalls Garvelmann zitiert).

Spärlich sind auch die Informationen über den Einfluss von Tombergs im Widerstand geknüpften Kontakten auf seine “innere” Biographie, seine weltanschauliche Entwicklung. Fest steht, dass es Freundschaften mit katholisch gläubigen Widerständlern gab, von denen einige mit dem Leben für ihre Tätigkeit bezahlten (Heckmann a.a.O., 377). Hatte Tomberg der Katholischen Kirche nach anthroposophischem Konsens anfangs sehr kritisch gegenüber gestanden, äußerte er sich 1942/43 fast kryptisch in seinem “Vater-Unser-Kurs”, in dem er sich auch unmissverständlich gegen den Nationalsozialismus als verstandesvernebelnde “Überschwemmung” und Verlust humaner Werte geäußert hatte, positiv über die Rolle der Katholischen Kirche. Tomberg beschwor, die natioanlsozialistische “Überschwemmung” der “Seelen” könne nur durch inneren, persönlichen Widerstand, überstanden werden, durch

“das Bauen einer Arche … alle Kulturwerke und Wahrheiten im Extrakt sammeln und bewahren. Unausgelöschte Erinnerung an alles Wesentliche des Wahren und Guten. Das ist das Schwimmzeug, um nicht zu ertrinken.” (zit. n. ebd., 375),

In diesem Zusammenhang sprach Tomberg neben einem “esoterischen”, “johanneischen”, verborgen wirkenden “innerlichen” Christentum anerkennend von der “in der Gegenwart gegen das Böse kämpfende[n] katholische[n] Kirche” – wohinter sich weniger eine Wertschätzung römischer Ideenpolitik als vielmehr sein Kontakt zu aufrichtig antinazistischen Katholiken spiegelt (ebd., 377). Nach seinem unsanften Rausschmiss aus der Anthroposophischen Gesellschaft trat er schließlich 1942 nach sorgfältiger Überlegung in die Katholische Kirche ein, von deren spiritueller Kraft er seit dieser Zeit überzeugt war. Die Nachwirkungen seiner Rettungsversuche abgeschossener englischer Piloten zeigten sich erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs:

“Als ausländischer Akademiker in Diensten der britischen Streitkräfte erhielt Tomberg den Rang eines Offiziers sowie eine entsprechende Uniform. Beides kennzeichnete ihn nach außen hin als Engländer, auch wenn er eigentlich Este und nach der sowjetischen Annexion seines Heimatlandes staatenlos war. Von den Mülheimern wurde er jedoch als britischer Offizier wahrgenommen und dementsprechend mit respektvoller Distanz behandelt … Da Tomberg neben Russisch auch schon früh die deutsche Sprache erlernt hatte und diese hervorragend beherrschte, übernahm er für den stellvertretenden Mülheimer Stadtkommandanten William (“Billy”) Reynolds Dolmetscheraufgaben. Zudem sollte Tomberg auf Wunsch von Reynolds in die Umerziehungsmaßnahmen der Engländer, die sogenannte “reeducation”, miteinbezogen werden. Diese Maßnahmen zielten auf die demokratische Neuorientierung (“reorientation”) der deutschen Bevölkerung und bezogen sich somit im Wesentlichen auf das Schul- und Bildungswesen … Tombergs Wirken in Mülheim machte ihn über die Stadtgrenzen hinaus bekannt und brachte ihm zunehmend Vortragsanfragen aus anderen Städten ein. Die Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule (RWTH) in Aachen bot ihm im Herbst 1946 sogar einen Lehrauftrag für “Ethik und Recht” an.” (Jens Roepstorf: Valentin Tomberg)

Deutschtum und Deutschtum

Tombergs Einbindung in Entnazifizierungskommissionen allein ist allerdings kein politischer Persilschein: Einer seiner Bekannten, der Anthroposoph Ernst von Hippel, widmete sich als Juraprofessor in der Naziära leidenschaftlich der “Entjudung” der Universitäten (vgl. Peter Bierl: Wurzelrasen, Erzengel und Volksgeister (1999), Hamburg 2005, 186f., 198f., Peter Staudenmaier: Between occultism and fascism: Anthroposophy and the politics of race and nation in Germany and Italy, 1900-1945, Connell University 2010, 268ff.) auch wenn seine eigenen Bücher teilweise auf den Verbotslisten der Nazis standen (Uwe Werner a.a.O., 249). Später gehörte Hippel ironischerweise zum Entnazifizierungsausschuss der Universität Köln (Bierl a.a.O., 198). Zu seinem 70. Geburtstag erhielt er das Bundesverdienstkreuz (ebd., 199). Genau wie der Jurist Rössel-Majdan beschuldigte Hippel vor allem den Rechtspositivismus und namentlich Hans Kelsen, durch seine “geistlose” Rechtsphilosophie dem Nationalsozialismus Tür und Tor geöffnet zu haben. Der jüdische Jurist Kelsen wurde von den Nazis natürlich in keiner Weise hofiert, 1934 in den “Ruhestand” versetzt und musste emigrieren.

Tomberg selbst, vor allem an Steiners christologischen Entwürfen interessiert, entkam den antijudaistischen Implikationen der anthroposophischen Geschichtstheorie weitgehend und bezog sich etwa positiv auf die Idee des Volkes Israel.

“Sie haben 7000000 Juden ermordet. Das Ergebnis? Ein neues Volk Israel ist entstanden. Das sind wir, wir alle – Sie und ich und unsere Kinder und Sasche Benckendorf und Popescu und Anghelatos und jene Polen mit abweisenden Gesichtern – wir alle sind ein einziges Volk. Unser Land ist unsichtbar und unser Weg ist ohne Wegweiser und ohne Spuren von Menschenfüßen, denn niemand ist uns voraus gegangen. … Wir stehen äußerlich unter dem zufälligen Gesetz dieses oder jenes Landes, aber unser wahres Gesetz ist, dass wir alle eins sind, ohne Worte, ohne Vorträge, ohne Konferenzen. Jeder allein für sich – wir gehen durch die Wüste. Denn wir haben keine Heimat…” (zit. n. Heckmann a.a.O., S. 312f.)

Und doch schlug das anthroposophische Rassedenken auch bei ihm zu: Die Mutter des in St. Petersburg geborenen Tomberg wurde in den Wirren der Oktoberrevolution 1918 erschossen, Tomberg ging daraufhin nach Estland. Eine ähnliche Biographie hatte auch dem zeitweiligen Anthroposophen und nachherigen (bekennend nationalsozialistischen) Steinergegner Gregor Schwartz-Bostunitsch zum Befürworter antibolschewistischer Argumentationen gemacht (vgl. Goodrick-Clarke: Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus, Wiesbaden 2004, 149). Auch Tomberg war überzeugt, im Kommunismus dämonische Kräfte zu erkennen. In mehreren Aufsätzen aus dem Jahr 1931 wandte er sich in der Zeitschrift “Anthroposophie” gegen böse geistige Mächte, die in seiner Phantasie an der Unterwanderung Osteuropas durch antichristliche Gedanken aus Fernost arbeiteten (vgl. Tomberg: Das Chinesentum und der europäische Osten, in: Anthroposophie 2/1931, 49-51).

Aus dem Denken von Traute Lafrenz, Karl Rössel-Majdan und Erna Stahl sind mir solche völkerpsychologischen Abwertungen nicht bekannt. Bei den letzten beiden findet sich allerdings ein affirmativer Bezug auf Deutschland. So begründete Erna Stahl ihre antinazistischen Ambitionen u.a.:

“Hinzu kommt, dass ich zutiefst überzeugt war von der verheerenden, nie wieder zu reparierenden, dämonischen Vernichtung aller eigentlich menschlichen und besonders der Deutschen Seelenkräfte [im Nationalsozialismus - AM]. Ich machte mir zur Pflicht, in den Kreis, in den ich gestellt war, zu jeder Minute und mit allen mir zu Gebote stehenden Mitteln zu wirken, dass innere Gegengewichte in den Schülern gegen jene verheerenden Wirkungen entwickelt würden.” (Erna Stahl zit. n. Zankel a.a.O., 532)

Und Rössel-Majdan berichtete:

“Im Gestapo-Verhör die Frage: ‘Sie waren nicht Marxist, sie sind arisch, warum sind Sie gegen uns?’ Meine Antwort kam prompt: ‘Aus meinem Deutschtum, weil Goethe und Schiller und der deutsche Humanismus gerade das Gegenteil von dem ist, was Hitler vertritt.’” (zit. n. Witzmann a.a.O., 8)

Diese Erzählung mag stimmen oder nicht, sie entspricht recht exakt dem “Deutschtum”, das in anthroposophischen Kreisen gern gegen das nationalsozialistische abgehoben wird:

“Nicht jener gefährliche Nationalstolz der Nazis war damit gemeint, der die Welt in Flammen gesetzt hatte, sondern das gerade Gegenteil, die geistige Wiege genialer Geister wie Schiller, Goethe und Fichte … und nicht zuletzt Rudolf Steiners. Jedes Volk, und sei es noch so klein und politisch unbedeutend, hat seinen Beitrag zur Menschheitskultur zu leisten.” (Wolfgang Peter, ebd., 3)

In dieser Verflechtung von Völkerpsychologie und Universalismus liegt der Schlüssel, um das Verhalten von Anthroposophen im Nationalsozialismus zu verstehen. An Steiners esoterische “Mission” Deutschlands ließ sich sowohl im pronazistischen Sinne anknüpfen als auch die Bekämpfung des Faschismus fordern. In vielleicht noch stärkerer Weise war dies im italienischen Faschismus möglich, wo AnthroposophInnen lange Zeit unbehelligt blieben: Hier gediehen üble Rassismen und waren politische Anthroposophen an der Judenverfolgung beteiligt  – und doch gleichzeitig Steiner im Widerstand präsent, wie Peter Staudenmaier enthüllte:

“Fascist anti-esoteric measures were a potential danger to anthroposophy, not least because several anthroposophists were involved in antifascist activities. Violet Gibson, the eccentric Anglo-Irish aristocrat who tried to assassinate Mussolini in 1926, traveled in theosophical and anthroposophical circles. Antifascist author and literary figure Armando Cavalli was an anthroposophist, and Eugenio Curiel, a prominent figure in the antifascist resistance, was for a time drawn to anthroposophy as well. Curiel (1912-1945), a physicist from a Jewish family in Trieste, played an important role in Resistance groups in the late 1930s and 1940s. He was murdered by Fascist soldiers in February 1945. In the early 1930s Curiel was deeply influenced by anthroposophical ideas. His commitment to anthroposophy, lasting approximately three years, was part of a turbulent ideological and political development … Alongside Colonna di Cesarò, Curiel’s ideological trajectory indicates the political volatility of anthroposophical engagement in the Fascist era … Briamonte argues that Curiel’s early dedication to Steiner left significant traces in his later thought. Though Curiel’s adherence to anthroposophy was transitory, it was not an anomaly in antifascist circles; Briamonte, 126 quotes a 1944 correspondence between two young antifascists interested in anthroposophy.” (Staudenmaier: Between  S. 417f.)

Mein Artikel beansprucht kein abschließendes Urteil zu diesem Thema. Die Darstellung zu den Aktivitäten der Weißen Rose ist beispielsweise unzulässig verkürzt und Valentin Tombergs weltanschauliche Kehren wären ein völlig eigenes Kapitel. Hier ging es darum, die bisher publizierten Fakten zum Thema zusammenzutragen und dabei hoffentlich Fragen aufzuwerfen. Welche Rolle spielte zum Beispiel die erwähnte Anthroposophin Hilde Meyer-Froebe für Erna Stahl? Wie begründete Stahl ihre Rezeption anthroposophischer Praxis bei gleichzeitiger Umgehung der ideologischen Grundlagen? In welchem Personenkreis las Traute Lafrenz Steiners “Philosophie der Freiheit”? Wie kam Valentin Tomberg in Kontakt mit dem Widerstand? Spielte Steiners Dreigliederungskonzept wirklich eine Rolle in der für gewöhnlich katholisch eingestuften Großösterreichischen Friedensbewegung oder liebäugelte allein Rössel-Majdan damit? Warum sind die vier hier vorgestellten Personen in der anthroposophischen Literatur zum Thema fast durchweg unauffindbar?

Die Geschichte der Anthroposophie im Nationalsozialismus muss nicht umgeschrieben werden. In keinem Fall dürfen diese (wenigen) Figuren im Umfeld des Widerstands als Ablenkung vom Verhalten vieler profaschistischer Anthroposophen instrumentalisiert werden. Interessant sind sie vielleicht vor allem, um die beträchtlichen Differenzen im “Deutschland”-Bild esoterischer Strömungen des 20. Jahrhunderts aufzuzeigen, und auch den deutschen Pathos bei vielen Widerständlern (Stichwort: Stauffenberg). Die Steinersche Version davon machte viele Anthroposophen zu “nützlichen Idioten” der NS-Ideologie, konnte sich aber auch zu einer Konkurrenz und Bedrohung derselben auswachsen, nicht nur im Falle der anthroposophisch motivierten Widerständler:

“[Steiner] hatte es bereits geschafft, sich bei den Unterstützern eines organischen Nationalismus unbeliebt zu machen, indem er in der Frühzeit des Ersten Weltkrieges eine Lehre der ‘Volksseele’ vorgetragen hatte. Die britische Volksseele sei – natürlich – ein Ausdruck des puren Materialismus, die deutsche allein kommuniziere unmittelbar mit dem Geist. Das war ein weiteres unbefugtes Eindringen in die geheiligten Gefilde der völkischen Orthodoxie. Eckart sah Steiner als Internationalisten und Kommunisten an – und daher als einen verschwörerischen Juden, der mit dem Hass der ‘Erleuchteten’ auf seine zurückgewiesenen Genossen übergossen werden musste.” (James Webb: Das Zeitalter des Irrationalen (1976), Wiesbaden 2008, 340)


Einsortiert unter:Anthroposophie & Rassismus, Hintergründe

Nazi-UFOs, Schamballah und der Longinus-Speer

$
0
0

Anthroposophie und UFO-Gläubigkeit im Diskurs der rechten Esoterik

“Flugkreisel”

Seit dem 5. April 2012 können deutsche Kinozuschauer den Film “Iron Sky” bewundern, eine so platte wie verdrehte Science-Fiction-Komödie des finnischen Regisseurs Timo Vuorensola. “Iron Sky” handelt von einer versteckten Nazi-Kolonie auf der dunklen Seite des Mondes. Dorthin 1945 evakuiert, planen die mit fliegenden Untertassen und dem Raumschlachtschiff “Götterdämmerung” bewehrten Nazi-Exilanten eine Invasion auf der Erde. Der Film, voll von Andeutungen und Zitaten, lässt kein antiamerikanisches, deutsches oder Naziklischee aus, erteilt Seitenhiebe auf Tea-Party-Fanatikerin Sarah Palin und bringt dabei nach Ansicht des SPIEGEL-Rezensenten Wolfgang Höbel “selbst die verstocktesten Cineasten und die nüchternsten Moralprediger zum Lachen”, ja er vermöge “selbst jene vollkommen anachronistischen Menschen zu begeistern, denen es in diesem Leben nie und nimmer einfallen wird, sich zur Spezies der Nerds zählen zu wollen.” (Nazis im Weltall).

"Iron Sky" (Pressefoto)

Materialvorlage für den Streifen ist eine der prosaischsten Verschwörungstheorien der Nachkriegszeit: Die Nazis hätten die Konstruktion UFO-förmiger Flugzeuge betrieben, sogenannter “Reichsflugschreiben”. Je nach Variante wurde Hitler damit zum (natürlich in Wahrheit subtropisch temperierten) Südpol evakuiert, habe außerirdische Hilfe vom Aldebaran bestellt – oder sich eben auf den Mond zurückgezogen. Was der SPIEGEL sich nicht auf die Fahnen schrieb: In genau dieser Zeitschrift hatte der Verschwörungsmythos seinen Anfang genommen. Im März 1950 publizierte der SPIEGEL ein Interview mit dem Flugkapitän Rudolf Schriever, der in der Naziära als Aeronautikingenieur gearbeitet hatte. Titel: “Untertassen – sie fliegen aber doch” (vgl. Der Spiegel, 30. März 1950, 33-35). Schriever erzählte, er habe 1942 an einem senkrecht startenden Flugzeug gearbeitet, das nicht länglich, sondern rund sein sollte. Um eine zentrale “Gondel” sollte eine “Schaufelblattscheibe” von 15 m Durchmesser angeordnet sein, die wie bei einem Hubschrauber rotierte. “Flugkreisel” nannte Schriever diese Erfindung. Die Originalpläne waren ihm selbstredend auf mysteriöse Weise entwendet worden und inzwischen in der Hand fieser tschechischer Ingenieure.

Auf elegante Weise bediente diese Geschichte zwei damals kursierende Mythen: Der Sportpilot Kenneth Arnold wollte am 24. Juni 1947 neun untertassenförmige Flugobjekte gesehen haben. Und in der internationalen Presse kursierte seit Juli 1945 das Gerücht, Hitler habe möglicherweise den Zweiten Weltkrieg überlebt und sei in die Antarktis (1938/39 Ziel einer deutschen Expedition) oder nach Südamerika geflohen – und warum nicht gleich auch noch in einem “Flugkreisel”? Nach Schrievers Bericht (wenn der denn stimmt) war zwar nicht ein einziges Modell gebaut worden. Aber verschwörungstheoretisch Interessierten stehen Fakten ja grundsätzlich nicht im Wege. Umgehend wurde der Mythos in genau dieser Hinsicht fortgeschrieben: Hitler & Co seien nun in Fliegenden Untertassen unterwegs. Erich Halik, Anhänger des Wiener Esoterikers und üblen Rassisten Wilhelm Landig, verkündete, die UFO-Sichtungen seien “keine Invasion aus dem Weltraum” (vgl. Mensch und Schicksal, Nr. 9/1954, 3-5). Sie legten vielmehr davon Zeugnis ab, dass die Nazis weiter aktiv seien. In den folgenden Jahrzehnten trieb die Verschwörungstheorie munter weitere Blüten. Jim Keith schließlich stellte 1994 die “Iron Sky” zugrundeliegende Theorie auf, die Nazis hätten sich von der Erde zurückgezogen, “by constructing bases on Mars or the Moon to carry the ancient Grail of Aryan racial purity away from what they conceive as a cataclysm-doomed Earth.” (Keith: Casebook on Alternative 3. UFOs, Secret Societys and World Control, Lilburn 1994, 153).

Luzifer und Ahriman – Schamballah und Agartha

UFOs gehören spätestens seit der “Prä-Astronautik” Erich von Dänikens zu den großen Themen in der Esoterikszene des 20. Jahrhunderts. Das klingt, milde gesagt, abstrus, ist aber keine überraschende Konstellation, wenn man die Geschichte der jüngeren Esoterik betrachtet: Hatten die Spiritisten versucht, die Geister von Verstorbenen mit “modernen” Mitteln zu “beweisen”, hatten Helena Blavatsky oder Rudolf Steiner eine spirituelle Alternative zur Evolutionstheorie des 19. Jahrhunderts entworfen, hatte Ken Wilber einen postmodernen Ekklektizismus zur post-postmodernen “integralen Landkarte” stilisiert, so selbstverständlich integrierten jüngere esoterische Ansätze eben die Möglichkeiten moderner Technik und die Fantasien der Science-Fiction-Literatur. Der erwähnte Erich Halik hielt die Nazi-UFOs für Manifestationen eines uralten “Archetyps”, des Heiligen Gral. In Wahrheit seien sie von “ätherischer” Beschaffenheit gewesen (vgl. Halik: Das Phänomen der Fliegenden Untertassen, in: Mensch und Schicksal, Nr. 19/1951, 4-7).

Nach Haliks Auffassung hatten die Nazis am Nord- und Südpol Kolonien aufgebaut, und zwar unter den Zeichen der “Goldenen Sonne” und der “Schwarzen Sonne” – sie stünden einander dualistisch entgegen: Der eine Pol verkörpere mit der Goldenen Sonne eine “luziferische” Erleuchtung, die in Zusammenhang mit dem tragischen Katharerforscher und zeitweiligen Himmler-Günstling Otto Rahn stehe, der andere stehe mit der Schwarzen Sonne unter dem Einfluss “saturnischer, satanischer Logen der SS” (vgl. Nicholas Goodrick-Clarke: Im Schatten der Schwarzen Sonne, Wiesbaden 2009, 277). Haliks Intimus Wilhelm Landig brachte den Glauben an die Existenz dieser dämonischen Weltmächte in Zusammenhang mit dem prominenten völkischen Mythos von Agartha und Schamballah. Landig ist der Autor einer Romantrilogie über den Mythos von Thule (einer Art völkischen Variante des theosophischen Atlantis). Die Helden der Trilogie reisen munter mit Nazi-UFOs über den Planeten, begegnen freimaurerischen Verschwörungen und einer esoterisch-nationalsozialistischen Internationale, zu denen chinesische Weise ebenso zählen wie tibetische Lamas. Die Legende der beiden unterirdischen Städte Schamballah und Agartha ist in Landigs Geschichte omnipräsent. Schamballah ist der Sitz der “Herrn der Furcht”, Zentrum okkulter Logen und politischer Mächte des Westens. Agartha dagegen ist das unterirdische Reich des Geistes und der Besinnung, hier regiert der gute König der Welt. Beide Mächte konstituierten als Pole die spirituelle Energie unseres blauen Planeten. Sie müssten sich stets in Ausgleich befinden. Am Scheitern des Nazismus sei ein zu großes Überwicht der Macht von Schamballah schuld gewesen (vgl. Wilhelm Landig: Wolfszeit um Thule, Wien 1980, 629ff.).

Die beiden Städte hat Landig allerdings nicht erfunden. Als “böse Zwillinge” werden die “Weltmächte Agarthi und Schamballah” in einem zehn Jahre älteren Werk behandelt: Im “Speer des Schicksals” des Anthroposophen Trevor Ravenscroft (1921-1989). Nach Ravenscrofts Auffassung repräsentierten die beiden unterirdischen Städte die irdischen Wirkungspunkte der anthroposophischen Dämonen Ahriman und Luzifer:

“Das Luziferorakel wurde ‘Agarthi’ genannt und für ein Meditationszentrum gehalten, das ‘die Mächte’ unterstützte. Das Ahrimanorakel wurde ‘Schamballah’ genannt und galt als ein Zentrum, in dem Rituale durchgeführt wurden, mit denen die den Elementen innewohnenden Kräfte unter Kontrolle gehalten werden sollten. Die Eingeweihten von Agarthi beschäftigten sich vornehmlich mit Astralprojektion und versuchten, alle Zivilisationen der Welt mit falschen Führern zu versorgen. Schamballahs Adepten dagegen versuchten die Illusion des Materialismus aufrechtzuerhalten und jedwede menschliche Tätigkeit im Abgrund enden zu lassen” (vgl. Ravanscroft: Der Speer des Schicksals, Zug 1974, 262).

Nach Ravenscrofts ‘Forschungen’ waren die Nazis mit Agarthi verbündet, die Alliierten dagegen mit Schamballah:

“Drei Jahre nach dem ersten Kontakt mit den Eingeweihten von Agarthi und Schamballah wurde eine tibetische Gemeinde mit Zweigniederlassungen in Berlin, München und Nürnberg in Deutschland gegründet. Aber nur die Adepten Agarthis, die Luzifer dienten, waren bereit, die Sache der Nazis zu unterstützen. Schamballahs Eingeweihte, die den Materialismus und das Maschinenzeitalter fördern wollten, verweigerten ganz einfach die Zusammenarbeit. Durch ihren Dienst für Ahriman waren sie bereits mit der abendländischen Welt in Verbindung getreten und arbeiteten mit bestimmten Logen in England und Amerika zusammen!” (ebd., 263)

Walter Johannes Stein und Adolf Hitler

Ravenscroft beanspruchte, persönlicher Schüler von Walter Johannes Stein zu sein. Stein war Lehrer an der ersten (Stuttgarter) Waldorfschule und sehr vertraut mit dem Gründer der Anthroposophie, Rudolf Steiner.

“Bei Dr. Stein”, so Ravenscroft, “hatte ich annähernd sieben Jahre studiert, seine Vorlesungen besucht und direkten individuellen Anschauungsunterricht in den Meditationsdisziplinen, in der Entwicklung geistiger Fähigkeiten und in der Erlangung höherer Bewusstseinsstufen erhalten. Ein[e] Schulung, die er ‘das Lernen des ABC des Grals ohne die Kunst der schwarzen Magie’ zu nennen pflegte.” (Ravenscroft: Der Kelch des Schicksals, Basel 1981, 7f.)

Der Anthroposoph Walter Johannes Stein (1891-1957): Waldorflehrer der ersten Stunde und Teil von Ravenscrofts Hitlermystifizierung

Ravenscroft wollte Stein in den 50ern kennengelernt haben, 1960 wurde er Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft, 12 Jahre später erschien sein eben zitierter Bestseller “Der Speer des Schicksals”. Mit dem “Speer” ist der Speer des Longinus gemeint, jene heilige Lanze, die der gleichnamige römische Legionär dem gekreuzigten Christus in die Seite gestoßen haben soll. Genau wie sein Gegenstück, der Heilige Gral Joseph von Arimathias, ist der Speer mit der Legende von König Artus und der ritterlichen Gralssuche verknüpft. “Vielfältig sind die Verästelungen der Gralsgeschichten, deren fast jede auf eine weitere, ursprünglichere zurückzuführen ist, so, wie in russischen Spielzeugpuppen immer eine und nochmals eine in der anderen steckt.” (Franz Baumer: König Artus und sein Zauberreich, München 1991, 243).

Es konnte nicht ausbleiben, dass im Zuge einer steigenden Heidentums- und Artusnostalgie auch die Anthroposophen die Gralslegende ausbauten. Selbstverständlich spielte dabei das deutsche Kaisertum eine besondere Rolle: “Das sind die Fakta, aus denen die Sagengestalt Friedrisch Barbarossas entstanden ist. Durch Blutsfolge hat er seine Lebensaufgabe als Kaiser angetreten. Zur freien Individualität hat er sich als Mensch durchgerungen. Durch Schicksalsfügung ist er als Gralssucher durch den Tod gegangen.” (Ernst Uehli: Die drei großen Stauffer (1959), Wiesbaden 2010, 143). Das ist, wie Franz Baumer zurecht meint, “etwas viel ‘Volksgeist’-Esoterik und von Steiner geschaute geschichtsphilosophische Sinnzuschreibung. Aber auch ohne einem Gralsmystizismus sektiererischer Färbung zu huldigen, dürfen wir im Aufkommen der Gralsromane (und in Übereinstimmung mit der Anthroposophie) den Ausdruck einer religiösen Strömung erkennen, die am Rande der kirchlich reglementierten Glaubenswelt angesiedelt und auf ein esoterisches Christentum gerichtet war.” (Baumer: König Artus…, a.a.O., 236)

Christus, der Gral, Longinus und vor allem dessen Lanze haben nach Ravenscrofts Meinung natürlich alle existiert, und der “Speer des Schicksals”, mit einer ganzen Reihe von übersinnlichen Kräften versehen, landete nach einer ereignisreichen Geschichte in der Wiener Hofburg. Dort wurde er, behauptet Ravenscroft, 1912 von niemand geringerem als Adolf Hitler entdeckt. Hitler war natürlich im Bilde über Schamballah, Luzifer und ihre spaßigen Freunde und sich voll bewusst, dass er am Ringen der okkulten Mächte auf Seiten Luzifers teilnahm.

“Aber Hitler haßte Christus und empfand nur Spott und Verachtung für alle christlichen Bestrebungen und Ideale. Und diese Hingabe an das Böse erklärt, warum der Speer des Longinus solch einzigartige Anziehungskraft auf ihn ausübte. In seinen Augen war der Speer ein apokalyptisches Symbol für einen manichäischen Krieg der Welten, eine mächtige kosmische Auseinandersetzung zwischen den Hierarchien des Lichtes und der Dunkelheit, die sich auf Erden im Ringen der guten und bösen Mächte um das Schicksal der Menschheit widerspiegelte.” (Ravenscroft, Speer, 268)

Kreuzigungsszene mit der Heiligen Lanze

Ravenscroft berichtet: Im selben Jahr hatte Hitler Walter Johannes Stein kennengelernt. Der Anthroposoph Stein erfuhr mit einer gewissen Angstlust von Hitlers okkulten Interessen. Dazu gehörte selbstverständlich die Weltherrschaft, die durch den Besitz des Longinusspeers abgesichert werden sollte. In Rudolf Steiner, “der Prophet des kosmischen Christus unserer Zeit war”, sah Hitler seinen größten Gegner. In letzter Sekunde wusste Stein, ein Nazi-Attentat auf Steiner zu verhindern (ebd., 269ff.). Natürlich steckten die Nazis (diesmal Hitlers Mentor Dietrich Eckart) auch hinter dem Brandanschlag auf Steiners Erstes Goetheanum, einen Jugendstilbau in Dornach bei Basel, der Zentrum der anthroposophischen Bewegung werden sollte. Ravenscroft stilisierte Steiner zur galaktischen Potenz und zum einzigen Warner vor der “luziferischen Hierarchie”, die “von Adolf Hitlers Seele Besitz ergreifen konnte” sowie vor dem “globalen Anti-Menschen im ich-losen Körper des Reichsführer SS Heinrich Himmler, der wohl schrecklichsten Verkörperung von Terror und Inquisition in der gesamten Geschichte der Menschheit.” (ebd., 295).

Tatsächlich gab es einige Krawalle bei Vorträgen Steiners, die als Attentatversuch gewertet werden können. Doch ob dahinter die spätere Leitung der NSDAP steckte, darf man getrost bezweifeln. Tatsächlich wurde das Dornacher Goetheanum niedergebrannt und tatsächlich gab es Drohungen von völkischer Seite, doch die Frage nach der Brandursache des Ersten Goetheanums ist bisher letztlich ungeklärt. Tatsächlich hat Hitler die Anthroposophie unter die “jüdischen Methoden zur Zerstörung der normalen Geistesverfassung der Völker” eingereiht (Hitler: Staatsmänner oder Nationalverbrecher?, in: Völkischer Beobachter, 15.3.1921, 1), doch aus dieser (einzigen) Erwähnung zu schließen, Steiner sei Hitlers größter Gegner gewesen, ist gewaltig übertrieben. Tatsächlich hetzte Dietrich Eckart gegen systematisch gegen Steiner (vgl. Anthroposophie im Widerstand). Eine Begegnung zwischen Stein und Hitler hat es ebensowenig gegeben wie ein Wiener Antiquariat Pretzsche. Behauptungen über Hitlers Beeinflussung durch rechts-theosophische Kreise sind inzwischen als sensationslüsterne Legenden überführt. Christoph Lindenberg hat Ravenscrofts Suggestionen bereits 1974 als Erfindungen entlarvt (Lindenberg: Jenseits von Wirklichkeit und Wahrheit, in: Die Drei, Jg. 1974, 631ff.).

Dennoch wurde der “Speer des Schicksals” als “Geheimtipp” über die okkulten Inspirationen des Nationalsozialismus in anthroposophischen Zirkeln herumgereicht (so Uwe Werner: Rudolf Steiner zu Individuum und Rasse, 57ff.). Für viele anthroposophisch gebildete erzeugten die Ausführungen Ravenscrofts sicher bestimmte Evidenzerfahrungen: Hatte nicht schon Albert Steffen den frisch verstorbenen Steiner im Jahr 1925 mit der Gralslegende in Verbindung gebracht und als “den Erfüller Parzivals” bezeichnet (zit. n. Rudolf Meyer: Zum Raum wird hier die Zeit. Die Gralsgeschichte, Frankfurt a.M. 1983, 240)? 1996 übernahm sogar der inzwischen prominenteste Anthroposophiekritiker Helmut Zander Ravenscrofts Begegnungskonstrukte, als er schrieb: “Hitler selbst soll durch den Anthroposophen Walter Johannes Stein mit Vorstellungen Steiners bekannt gemacht worden sein und eine Vorliebe Hitlers für biodynamische Produkte wird kolportiert; Steiners politische Vorstellungen hat Hitler allerdings explizit abgelehnt.” (Sozialdarwinistische Rassentheorien). AnthroposophInnen wie Amnon Reuveni, Sergej Prokofieff oder Lorenzo Ravagli haben auch nach der Widerlegung und Diskreditierung Ravenscrofts die Geschichte von Adolf Hitlers dämonischer Beeinflussung (allerdings: ohne explizite Anknüpfung an Ravenscroft) fortgeschrieben.

“Die Schwarze Sonne von Tashi Lunpo”

Die realen Verbrechen des Naziregimes kommen bei Verschwörungstheoretikern wie Ravenscroft allenfalls am Rande vor. Dennoch hielt dieser Autor die Nazis immerhin für schlecht und für die Repräsentanten des Bösen. Doch es war ein Leichtes, sich in der Folge und unter Berufung auf dieselbe Geschichte auf die Seite der Nazis und “Agarthas” zu schlagen. Ravenscrofts Mythos über den Heiligen Speer, vermischt mit den Annahmen Landigs und Haliks wurden 1991 in dem deutschen Roman “Die Schwarze Sonne von Tashi Lunpo” auf beunruhigende Weise fortgeschrieben (ich danke Hans-Jürgen Bracker und Arfst Wagner für wertvolle Hinweise). Hier erscheinen Hitler und die seinen als gewaltfreie, attackierte Untergrundorganisation unter dem Segen von Agartha, während die UNO, diverse Freimaurer und westliche Regierungen vor keinem Verbrechen zurückschrecken, um die Nazi-Krieger des Lichts zu stoppen. Natürlich stehen diese westlichen Mächte unter dem Einfluss des finsteren Schamballah. Das Buch erschien im rechtslastigen “Arun-Verlag”, als Autor steht auf dem Cover ein Russel McCloud. Doch der ist ein Pseudonym, das sich ein “Pressebüro Globe” ausgedacht hat. Die Organisation informiert in ihrer Onlinepräsenz: “Wir realisieren für Sie als Herausgeber, Co-Autoren oder Ghostwriter Ihre Buchprojekte.” (Pressebüro Globe) und wirbt:

“Im Bereich des Ghostwriting hat Globe beispielsweise für den Arun Verlag das Buch „Die Schwarze Sonne von Tashi Lhunpo“ (ISBN 3-927940-04-6) unter dem Autorenpseudonym Russell McCloud realisiert. Der Hauptautor wollte bei diesem Thriller um die Wiederkehr des SS-Ordens im Kampf mit dem fiktiven UNO-Geheimdienst lieber nicht namentlich genannt werden. Der Clou des Autorennamens war „to cloud something with a ruse“; d.h. etwas mit einer List (Pseudonym) zu umwölken.” (ebd.)

Als Kontanktperson wird auf der Webseite ein “Herr Mögle-Stadel” angegeben. Stephan Mögle-Stadel, vor allem bekannt durch sein Engagement im Umfeld der UN sowie seine “spirituelle” Dag Hammarskjöld-Biographie, ist auch als Vortragsredner in der anthroposophischen Welt unterwegs (vgl. Paracelsus-Zweig Basel), ohne mir bekannte Begründungen wurde auch über Verbindungen zu Scientology spekuliert. Mögle-Stadel hat in anthroposophischen Zeitschriften wie “Das Goetheanum”, den Flensburger Heften oder Info3 publiziert. Von Info3 grenzt er sich inzwischen ab:

“Bemerkenswert dürfte sein, dass Stefan Mögle-Stadel, ehemals selbst Autor für ‚Info3’, zuletzt mit Kontakten zu Peter Ustinov und Yehudi Menuhin im Rahmen der Vereinten Nationen wirkend, und weltweit bekannt als Verfasser der anerkannten Biographie über den ermordeten UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld, mir via Email am 11. Juli die Einschätzung gab: ‚Ich hatte ja früher einmal für die (andere) Info3 als Mitarbeiter viel geschrieben. Diese ‚alte’ Info3 erscheint mir Lichtjahre von dem entfernt, was heute daraus geworden ist…’” (Steiert: Positive Resonanz zur Info3-Kritik)

Wenn man nähere Angaben zur Person sucht, die hinter dem Autorenpseudonym Russel McCloud steckt, stößt man (wenig überraschend) erneut auf Mögle-Stadel: “Hinter dem angelsächsischen Pseudonym verbirgt sich ein Autorenteam unter der Leitung des deutschen Wissenschaftsjournalisten Stephan Mögle-Stadel.” (Goodrick Clarke: Im Schatten, a.a.O., 252). Auch im neuen Sammelband von Uwe Puschner und Clemens Vollnhals zur “völkisch-religiösen Bewegung im Nationalsozialismus” (Göttingen 2012, 532) wird McCloud als Pseudonym für Mögle-Stadel angeführt. Ich wurde darauf hingewiesen, dass Mögle-Stafel sich nicht als Anthroposoph bezeichnet,  seine Ideen stehen aber deutlich in der Tradition eines Ravenscroft: Auch bei ihm ist vom tausenjährigen Kampf der Mächte von Agartha und Schamballah die Rede, beide sollen die Nachfahren von Göttern aus Atlantis (bzw. Thule) sein. Dabei kommt Schamballah als dämonische Macht vor, die Geheimdienste, die EU und allerlei anderes kontrolliert, während Agartha in Zusammenarbeit mit den Nazis an der Verwandlung der Menschen zu Übermenschen arbeite. Hitler und die SS stehen im halluzinierten globalen Kampf also auf Seiten der Guten. Was Ravenscroft nur im raunenden Ton anthroposophischer Geschichtsesoterik vorgetragen wurde, Hitlers angebliche Gier nach dem Longinusspeer, wird in der “Schwarzen Sonne von Tashi Lunpo” zum kitschigen Zauberritual:

“Plötzlich begann sein Oberkörper zu zittern, erst ganz leicht, dann immer stärker. Schließlich wurden seine Hände, sein Kopf, seine Beine davon ergriffen. Auf seinem Gesicht bildeten sich Schweißtropfen, die bei ihrem Abwärtsgleiten ihre salzigen Spuren auf der Haut hinterließen und die Haare seines schmalen Oberlippenbartes benetzten. Das Zittern ging in einen regelrechten Schüttelfrost über, doch sein Blick blieb weiterhin starr auf die Spitze des Speers gerichtet. Aber die Trance, die ihn überfiel, um sich seines Geistes zu bemächtigen, ließ seine Sinne nichts mehr wahrnehmen. Sein Mund öffnete sich und heraus brach ein Schrei, der nichts Menschliches an sich hatte. Seine Arme schossen nach vorne, packten den Speer, rissen ihn in die Luft. Sein Kopf ruckte nach oben, seine dunklen Augen hefteten sich an das Stück Geschichte, das er in seinen ausgestreckten, zitternden Händen hielt. Seine Uniformmütze rutschte herab und fiel zu Boden. Eine Strähne seiner Haare hing ihm in die schweißgebadete Stirn. Er war eins geworden mit den magischen Kräften, die der Speer ausstrahlte, deren Fluidum sich auf ihn übertrug, ihn erfüllte und ein Hochgefühl erzeugte, wie er es noch nie zuvor erlebt hatte. Vier mal sieben Jahre – 28 insgesamt – hatte er auf diesen Moment gewartet. Jetzt, in der Nacht vom 14. auf den 15. März 1938, hielt er endlich den Speer in seinen Händen. Er war eins mit dem Schicksal geworden, ja er war selbst Schicksal. Sein Schrei verebbte, lief aus in einem Röcheln, sein Oberkörper fiel nach vorne und schlug polternd auf dem kleinen Tisch auf. Seine Finger umkrampften das Stück Metall, so, als ob sie schwören würden, es nie wieder loszulassen.” (McCloud: Die schwarze Sonne…, a.a.O., 5f.)

In “Die Schwarze Sonne von Tashi Lunpo” wird erstmalig die Verbindung zwischen der ominösen “Schwarzen Sonne” und dem aus 12 Sig-Runen bestehenden, berühmten Emblem aus dem Obergruppenführersaal der Wewelsburg hergestellt, die Himmler zu einer Art “SS-Vatikan” (Goodrick-Clarke) ausbauen wollte. Als Symbol für die kosmische Evolution taucht bereits bei Helena Blavatsky eine unsichtbare, “zentrale, geistige Sonne” des Universums auf (vgl. Blavatsky: Die Geheimlehre (1888), Burg-Haamstede, Bd. I, 127). Sie sei das große Mysterium, eine Art ‘Ding an sich’ des Kosmos und “die Lehrer” sagten “offen, dass nicht einmal die höchsten Dhyani-Chohans [die "Baumeister der Welt", identisch mit Steiners siebenfältigen Elohim – AM] jemals die Geheimnisse jenseits jener Grenzen, welche die Milliarden von Sonnensystemen von der ‘Centralsonne’, wie es genannt wird, trennen, durchdrungen haben.” (ebd., 41).

Darstellung der "Schwarzen Sonne" als Sonnenrad aus dem ehemaligen SS-Obergruppenführersaal der Wewelsburg (Wiki-Commons)

Steiner und Blavatsky als Projektionsflächen rechter Esoterik

“Das Buch von Ravenscroft erfüllt den Tatbestand geistiger Umweltverschmutzung.” (Christoph Lindenberg: Jenseitsvon Wirklichkeit und Wahrheit, a.a.O., 635), Arfst Wagner zerpflückte Russel McClouds Phantasien über Agartha und Schamballah (Nationalokkultismus II). Man kann aufgrund dieser eindeutigen und eloquenten Abwehr wohl nicht sagen, dass die Anthroposophie in toto mit nationalsozialistischer Esoterik kompatibel ist – auch unter Einbezug von Steiners eigenen Rassismen: “Elemente rassischen Denkens implizieren nicht automatisch eine Zugehörigkeit zur völkischen Bewegung.” (Helmut Zander: Anthroposophie in Deutschland, Göttingen 2007, 633). Dennoch waren Steiner und die Inhalte der Anthroposophie bei interessierten Rezipienten stets geeignet, um als Inspiratoren oder Inhalte rassistischen oder nazistischen Geistes zurechtgebogen zu werden. Bereits 1943 phantasierte der an der Judenverfolgung im faschistischen Italien beteiligte Anthroposoph Ettore Martinoli:

“Rudolf Steiner war ein wahrhaft idealer Vorläufer des neuen Europa von Mussolini und Hitler. Ziel dieser Schrift war es, den Geist und die Figur dieses grossen, modernen, deutschen Mystikers für die Bewegung zu beanspruchen – eine Bewegung, die nicht nur politisch, sondern auch spirituell ist – eingeführt in die Welt von den zwei parallelen Revolutionen, der Faschistischen und der Nationalsozialistischen Revolution, denen Rudolf Steiner als echter Vorläufer und spiritueller Pionier in idealer Weise angehört.” (Ettore Martinoli, „Un preannunziatore della nuova Europa: Rudolf Steiner“, in: „La Vita Italiana“, Juni 1943, Seite 566, zit. bei Andreas Lichte)

Rudolf Steiner wurde hier vom kulturell praktisch irrelevanten Stifter einer esoterischen Religion zum politischen Rassisten erklärt. Martinolis Fiktion stützt sich auf dekontextualisierte oder schlicht erfundene Belege. Georg Werner Haverbeck, von dem sich hochrangige Anthroposophen schnell und durchaus glaubhaft distanzierten, stilisierte Steiner ebenfalls zum “Anwalt” des von Hitler “heraufgeführten” Deutschland (vgl. Christoph Lindenberg: Mißbrauch und Verdrehung. Wie Haverbeck Steiner-Zitate in den Dienst seiner Nazi-ldeologie stellt, in: Die Drei, Nr. 12/1989, 906-910, Sergej Prokofieff: Wessen ‘Anwalt’ ist Haverbeck?, ebd., 910-914). 1997 wurde ein anthroposophisches “Projekt gegen NS-Nostalgiker in den eigenen Reihen” gegründet, da es “immer wieder einzelne Anthroposophen” gebe, “die eine spirituelle Sicht der Geschichte mit eigenen Sympathien für Nationalismus und Nationalsozialismus vermischen.” (Anthroposophie und NS). Die Vieldeutigkeit Blavatskyscher und Steinerscher Theoreme machte beide zu beliebten Gewährsmännern der rechten Esoterik: Hatte Blavatsky nicht Agartha (Agadi) als unterirdische Feste des alten Babylon beschrieben? Zeitreisefreudige Verschwörungstheoretiker fügten hinzu, dass die mit “Reichsflugscheiben” ausgestatteten Nazis “durch den ‘transdimensionalen Kanal’ zurück in die Vergangenheit gereist sind und Zuflucht im alten Babylon gefunden haben, wo die deutschen Besatzungsmitglieder als ‘weiße Götter’ aus einer anderen Welt empfangen und verehrt wurden.” (Goodrick-Clarke: Im Schatten, a.a.O., 340).

"Reichsflugscheibe" am Goetheanum, dem Sitz der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft (Collage von Esowatch)

Hatte nicht Steiner behauptet, die Seelen der Menschen seien in grauer Vorzeit (“lemurische Epoche/Wurzelrasse”) durch hochentwickelte Engel von den anderen Planeten des Sonnensystems auf die Erde gesandt worden, um sich erstmals in biologischen Körpern zu inkarnieren und zu eigenständigen Menschen zu werden (GA 13, 241)? Hatte er nicht die Existenz geheimnisvoller Luftschiffe aus Atlantis verkündet? “Sie erinnern sich, wie die eigentliche Technik der Atlantier war. Auf kleinen Luftschiffen fuhren die Atlantier dahin über die Erde, nahe der Erde, weil die Luft durchsetzt war von dichten Nebelmassen.” (GA 109, 79). Und dann wäre da noch die mysteriöse Substanz “Vril”, die bei Steiner ebenso vorkam wie bei heutigen Epigonen ‘ätherischer’ UFOs (vgl. zum Kontext Marco Frenschkowski: Die Geheimbünde. Eine kulturgeschichtliche Analyse, Wiesbaden 2007, 169-172, Zander: Anthroposophie…, a.a.O., 642-646). In grobstofflicher Interpretation lässt sich aus diesem Cocktail leicht der Schluss ziehen, die Menschheit habe außerirdische Vorfahren von verschiedenen Planeten gehabt: Die Deutschen seien in Wahrheit Außerirdische aus der “Herrenrasse der ‘Lichtgottmenschen’ (Alpha-Aldebaraner)” (Goodrick Clarke: Im Schatten, a.a.O., 336). Fließend kommt man von solchen Vorstellungen zu den anthroposophischen “Flugscheiben”-Affirmationen Herwig Duscheks oder den “Die-Götter-waren-Aliens”-Theoremen eines Erich von Däniken, der den mysteriösen Kontinent Atlantis zum Sitz dieser außerirdischen Mächte erklärte. Auch Ravenscroft hatte die Existenz von Atlantis besungen – und es zur Brutstätte der Arier erklärt:

“Auf diese Weise wurden die besten Eigenschaften in den erlesensten Exemplaren der Rasse enwickelt, und die Veredlung der arischen Völkcr schritt dadurch immer weiter fort. Die Herrscher der degenerierenden Rassen im Süden des Kontinents erkannten die Gefahr einer höheren Entwicklung der neuen arischen Rasse und erklärten ihr den Krieg. Aus dem Nebel, der den Fuß der Berge umgab, rückten den arischen Verteidigern Horden plündernder Krieger entgegen. Viele von ihnen waren riesengroß, hatten ein groteskes Aussehen und waren mit furchtbaren magischen Kräften ausgerüstet, die ihnen übermenschliche Stärke verliehen. Ihnen gegenüber setzten die Arier ihre neugewonnene Intelligenz ein, und die Fähigkeit zur Improvisation war wertvoller als alle von den Angreifern eingesetzte Magie.” (Ravenscroft: Der Speer, a.a. O., 248)

Mögle-Stadel alias McCloud meinte, in Hitler doch noch ein Fünckchen esoterischer Hoffnung erkennen zu können: “Es gab keine Zufälle, höchstens Dinge, die gewöhnliche Menschen mit gewöhnlichen Gründen erklärten. Jetzt verzehrten die Flammen das Fleisch jenes Mannes, der zum Symbol für eiskalte Vernichtung geworden war. Feuer und Eis, im ewigen Spiel der magischen Kräfte. Es schien, als ob die Flammen Tribut forderten für die Millionen Toten, die zurückgeblieben waren. Doch das Feuer würde Asche gebären, und die Asche würde der Samen sein für einen neuen Phönix, der sich in fernen Zeiten mit mächtigem Flügelschlag aus ihr erheben würde.” (McCloud: Die Schwarze Sonne…, a.a.O., 9).

Die “Nazi-Mysterien”

Der oben mehrfach zitierte britische Esoterikforscher Nicholas Goodrick-Clarke fasst Literatur vom Schlage eines Ravenscroft, McCloud usw. unter dem Stichwort “Nazi-Mysterien” zusammen. Er sieht darin

“Bemühungen seitens der fiktionalen und der nichtfiktionalen Literatur…, den Nationalsozialismus entpolitisierend und enthistorisierend mit Religiösem, Okkultistischem, Esoterischem, Mythischem und dergleichen in Verbindung zu bringen und diese metaphysischen Bezüge als ‘wahres Wesen’ der braunen Bewegung hinzustellen … Das Grundmuster bildet die Suggestion: Die Nazis wurden getrieben von verborgenen, okkulten, oder wie ein in diesem Kontext gern benutztes Fachwort heißt, ‘arkanischen’ Mächten, die womöglich gar nicht von dieser Welt waren.” (Goodrick-Clarke: Im Schatten, a.a.O., 223).

Sein deutscher Kollege Hans-Thomas Hakel weitet die Bestimmung auch auf kryptohistorische Verschwörungsmythen aus, die eine ‘okkulte’ Vorgeschichte des Nationalsozialismus propagieren: “Niemand wird … leugnen wollen, dass es im Deutschland der zwanziger und dreißiger Jahre einen okkulten Boom gegeben  hat. Nur – darf man daraus schließen, dass deswegen Hitler und der Nationalsozialismus ebenso okkulte Ursprünge gehabt haben müssen? Dieser Trugschluss wird auch durch noch so viele Hinweise auf die damalige okkulte Szene in Deutschland nicht wahrer.” (Hans Thomas Hakl: Nationalsozialismus und Okkultismus, in: Nicholas Goodrick-Clarke: Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus (1982), Wiesbaden 2004, 217)

Es ist richtig und wichtig, solche Verschwörungstheorien (auch) durch satirische Antworten wie den Film “Iron Sky” oder “Die Mondverschwörung” zu kontern. Allerdings werden dadurch die “Nazi-Mysten” in keiner Weise beeindruckt. Das Dilamma esoterisch-okkulter Geschichtsdeutungen, wie sie die Anthroposophie pflegt, im Umgang mit einem Phänomen wie dem Nationalsozialismus, bleibt so unauflösbar wie die Theodizeefrage. Auch potente Theologen schlängeln sich nicht selten auf ähnlichem Niveau herum: “Manchmal möchten wir zu Gott am liebsten sagen: Hättest du den Menschen doch weniger groß gemacht, dann wäre er auch weniger gefährlich … Und doch wagen wir es dann letztlich nicht zu sagen, weil wir auch dankbar sein müssen, dass Gott die Größe geschaffen hat.” (Joseph Ratzinger: Gott und die Welt. Glauben und Leben in unserer Zeit, Ein Gespräch mit Peter Seewald, Stuttgart/München 2000, 102). Hitler allerdings, “der aus dem Untersten aufgestiegen war” und “als Nichtstuer herumgelebt” habe, spricht Ratzinger diesen Status des Menschseins und der potenziellen Größe ab (ebd., vgl. S. 108).

Die schiere Feststellung, dass Esoterik, vielleicht religiöse Geschichtsdeutung generell, auch der Mystifizierung von Verbrechen gegen die Menschheit dienen kann (vgl. Armin Pfahl-Traughber: Rechtsextremismus in der Bundesrepublik, München 2006, 47-50), impliziert keine generelle Bewertung von Religion und Esoterik als regressiv oder barbarisch. Es ist im Gegenteil gerade die christlich-jüdische (insbesondere im ‘Alten’ Testament begründete) Ethik der “Menschheit” mit ihrer Feststellung, “dass die Beziehung zum Göttlichen über das Verhältnis zu den Menschen führt und mit der sozialen Gerechtigkeit zusammenfällt” (Levinas: Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum, Frankfurt a.M. 1992, 32; vgl. Amos 6,4-6; Amos 9, 7; 3. Mose, 19,18/33-34; 5. Mose 30, 15/19), die eine jede Religionskritik materialistisch beerben muss, um an der Vorstellung von menschlicher Würde und Solidarität festzuhalten. Anders als unter Berufung auf die Idee der Menschheit lässt sich auch den geschichtsverzerrenden Deutungen nationalokkultistischer und rechts-esoterischer Provenienz nicht begegnen.


Einsortiert unter:Anthroposophie & Rassismus

“Ja, gewiss kam es zu Spannungen…”– ein Interview mit Peter Staudenmaier

$
0
0

Prof. Peter Staudenmaier über Rudolf Steiners Rassismus und Antisemitismus, deren Stellung im “Mainstream der damaligen Esoterik” und die ideologischen Überschneidungen mit dem Nationalsozialismus.

Ansgar Martins: Herr Staudenmaier, Sie haben 2010 eine Dissertation über die Verwicklungen von Anthroposophie und Faschismus vorgelegt und bereits seit 2005 in Fachzeitschriften zum Thema publiziert. Was interessiert Sie an der Anthroposophie allgemein? Und was war Ihr konkreter Anlass, sich mit ihr zu befassen?

Peter Staudenmaier: Das hat eine lange Geschichte. 1995 erschien ein Aufsatz von mir über den sogenannten „grünen Flügel“ der NSDAP und die brisante Frage der Ökologie und des Umweltschutzes als Teilaspekte nationalsozialistischen Denkens und Handelns. Da die biologisch-dynamische Landwirtschaft eine nicht unerhebliche Rolle in diesem Zusammenhang spielte, habe ich auch dieses Thema gestreift. 1999 wurde ich von einer norwegischen Zeitschrift beauftragt, einen Aufsatz speziell zum Thema ‚Anthroposophie und Ökofaschismus’ zu schreiben. Dieser Text erschien 2000 und rief anthroposophischerseits lebhaften Widerspruch hervor, was mich zur weiteren Forschung veranlasste. Daraus ergab sich allmählich ein immer grösser angelegtes Projekt.

Martins: Steiner war ein Kind des Habsburger Reichs, zeitweiliger Fan des Sozialdarwinisten Ernst Haeckel und formulierte seine Rassentheorien um 1900 nach seiner Konversion zur theosophischen Esoterik Helena Blavatskys. Wie sah das Rassebild aus, das er daraus kompilierte?

Staudenmaier: Steiners Rassenbegriff war zugleich im populärwissenschaftlichen Umfeld der Jahrhundertwende verwurzelt und durch unverkennbar theosophische Züge gekennzeichnet, welche im deutschsprachigen Europa jener Zeit teilweise innovativ bzw. befremdend wirkten. Ausgehend von Blavatskys entwicklungstheoretischem Ansatz baute Steiner eine Evolutionslehre der Völker- und Rassengruppen auf, wonach die menschliche Seele durch aufeinanderfolgende Verkörperungen in immer „höheren“ Rassen geistig wie leiblich fortschreitet. Diese Stufenleiter der Rassen steht im Mittelpunkt von Steiners esoterischem Verständnis der Gesamtentwicklung der Menschheit, vom Verhaftetsein in der Materie hin zur geistigen Vervollkommnung.

Martins: Diese anthroposophische Rassenlehre entstand in einer Zeit, in der Eugenik und politischer Rassismus populär wie akademisch weit verbreitet waren. Wie radikal waren Steiners Theoreme vor diesem Hintergrund, welche Übereinstimmungen und Differenzen gibt es?

Staudenmaier:  Radikal war Steiners Rassenlehre in dem Sinne nicht, eher im Gegenteil, vor allem im Vergleich etwa zur Ariosophie oder Evola usw. Steiners Ideen lagen vielmehr im Mainstream der damaligen Esoterik. Seine Schüler entwickelten diese Ideen dann weiter, zum Teil in Auseinandersetzung mit völkischen und nationalsozialistischen Rassentheoretikern. Die Übereinstimmungen und Differenzen lassen sich schwer zusammenfassen; da würde ich auf die einschlägigen Arbeiten von Helmut Zander, Jana Husmann und Georg Schmid verweisen.

Martins: Es gab in der anthroposophischen Szene einige jüdische Mitglieder, teils (Hans Büchenbacher) auch in wichtigen Positionen, bei Steiner und vielen prominenten Anthroposophen findet sich allerdings antijüdisches Ressentiment zur Genüge. Kam es da nicht zu Spannungen?

Staudenmaier: Ja, gewiss kam es zu Spannungen, welche sich teilweise in der anthroposophischen Literatur wiedergespiegelt haben, nicht zuletzt in Steiners eigenen Werken. Einerseits zeugt das von der Breite der anthroposophischen Bewegung, wo ein Hugo Bergmann und ein Karl Heise beide eine geistige Heimat finden konnten. Andererseits bereitete es den jüdischen Mitgliedern Schwierigkeiten, wobei diese sich selbst meistens eben nicht als Juden verstanden (Büchenbacher zum Beispiel, dessen Vater jüdischer Herkunft war, wurde katholisch erzogen). So schrieb etwa Karl Heyer 1931 an Oskar Franz Wienert: „Ihre Besorgnis wegen des Hervortretens des israelitischen Elements – das an sich ja zahlenmässig bei uns schwach vertreten ist – teile ich seit langem sehr.“ (Brief vom 16. 12. 1931)  Die Lage war nach 1933 natürlich verschärft; Ernst Stegemann z.B. wollte im August 1935 alle „nichtarische“ Mitglieder aus den Mitgliederlisten der Anthroposophischen Gesellschaft löschen (Ernst Stegemann an Alfred Reebstein, 28. 8. 1935).

Martins: Anthroposophen kontern eine Kritik dieser Rassismen gern, indem sie Steiner als Verfechter einer radikalen Freiheitsethik und Gegner völkischen Gedankenguts profilieren. Es gibt ja auch tatsächlich entsprechende Zitate. Wie fügen sich diese widersprüchlichen Positionen in Steiners Geschichts- und Menschenbild ein und welche Gewichtung haben sie im Vergleich zu den manifesten Rassismen?

Staudenmaier: Als Gegenargument sind solche Gedankengänge historisch gesehen leider nicht sehr einleuchtend; sie scheinen von der irrtümlichen Annahme auszugehen, Verfechter einer Freiheitsethik und Gegner völkischen Gedankenguts müssten irgendwie frei sein von eigenen rassistischen oder antisemitischen Einstellungen. Das ist in der Geschichte keineswegs immer der Fall. Die gegenläufigen Positionen in Steiners vielschichtigen Theorien lassen sich m.E. nicht eindeutig in der einen oder anderen Richtung festlegen, und eine angemessene Interpretation muss beide Momente miteinbeziehen. Steiner hielt z.B. die verschiedenen Völker und Rassen für „Entwickelungsstufen zur reinen Menschheit hin“ und beschrieb die  „Entwickelung des Menschen durch die Wiederverkörperungen in immer höher stehenden Volks- und Rassenformen“ als einen „Befreiungsprozeß.“ (GA 10, 210). So wird eine Zukunftsvision jenseits der Rassenunterschiede mit einem evolutionären Rassismus verknüpft, eine Verbindung, die im frühen 20. Jahrhundert nicht selten war.

Martins: Diese Kontinuität ist mir klar und ich stimme Ihnen hundertprozentig zu. Trotzdem: Ich finde da doch einiges schlicht widersprüchlich. Lassen Sie mich das an zwei Beispielen demonstrieren: Bis ca 1909 setzte Steiner die imaginierten ‚Rassen‘ konsequent mit ‚Lehrstufen‘ der Evolution gleich, verschiedene ‚Rassen‘ seien Produkte verschiedener Entwicklungsstufen. Reinkarnation bedeutete hier den Aufstieg des geistigen ‚Ich‘ innerhalb der rassistischen Hierarchie (GA 54, 134). 1910 dagegen erklärte er, die ‚Rassen‘ seien nicht nacheinander, sondern gleichzeitig und als ‚Vereinseitigungen‘ entstanden, die Reinkarnation führe horizontal durch dieselben hindurch, sodass wir „einmal hier, einmal dort inkarniert werden“ (GA 121, 86) und „keine eigentliche Benachteiligung“ zwischen den ‚Rassen‘ bestehe (natürlich hielt er an “aussterbenden” Indianern und mit “Merkmalen der Kindheit” behafteten Afrikanern ungebrochn fest). Ein anderer Fall: 1907 bezog sich Steiner, scheinbar religiös verzückt, auf Christus als Repräsentanten des ‚Ich‘ und affirmierte mit antijüdischer Konnotation die „Blutmischung“, weil sie das Ende biologischer Rassen und den Übergang von der „Blutsliebe“ zum universalen Liebesgebot Christi bedeutete (GA 97, 63). 1923 aber konnte er sich, als schwarze Kolonialsoldaten im Ruhrgebiet stationiert waren, nichts Schlimmeres vorstellen als “Negerromane” und die Entstehung von sog. „Mulattenkindern“ (GA 348, 189). Wie würden Sie derartige Umbrüche deuten?

Staudenmaier: Als die Ungereimtheiten und Widersprüche eines strapazierten Redners, wie sie eigentilch zu erwarten sind von einem esoterischen Lehrer, der im Laufe der Jahre tausende von Vorträgen zu den verschiedensten Themen gehalten hat. Aber auch als gescheiterter Versuch, die schwankende Botschaft der Theosophie bzw. Anthroposophie im Hinblick auf die Rassenthematik einem wechselnden Publikum unter unterschiedlichen Verhältnissen zu vermitteln. Dass es Steiner schliesslich nicht gelang, diese gegensätzlichen Thesen in Einklang zu bringen, liegt nicht nur an der Unbeständigkeit der Esoterik; der Begriff der Rasse in jeglicher Form ist immer höchst widersprüchlich gewesen.

Martins: Auch in der wissenschaftlichen Forschungsliteratur wurde die theosophische Rassenlehre oft marginalisiert und das „internationale“ Selbstverständnis von Theosophie und Anthroposophie betont. Konkret etwa bei George L. Mosse („Theosophie konnte in der Tat auch einen neuen Humanismus tragen. Rudolf Steiners 1913 in Berlin gegründete Anthroposophische Gesellschaft verband Spiritualismus mit Freiheit und Universalismus“), Ulrich Linse („Die Verwendung der Rassen-Kategorie sollte“ nicht „als Beweis für eine rassistische Ausrichtung dienen“) oder James Santucci („Race as presented in The Secret Doctrine is not racist in intent“). Gerade Mosse und Linse sind Experten auf dem Gebiet, wie kommt es zu dieser Unterschätzung der rassistischen Parallelen?

Staudenmaier: Ich würde da unterscheiden zwischen Apologetik (z.B. Santucci) und einer kritischen Analyse, die in dem einen oder anderen Fall möglicherweise zu kurz greift (z.B. Mosse oder Linse). Mit der Anthroposophie hat sich Mosse nie eingehend beschäftigt, und Linse ist berechtigterweise bemüht, dem alten Bild der Esoterik entgegenzutreten. Über ein derart komplexes Thema lässt sich sowieso streiten, und es wäre verfehlt, von allen Wissenschaftlern die gleiche Interpretation zu erwarten, auch wenn meine Analysen oder Zanders Analysen z.B. im allgemeinen mit denen von Mosse oder Linse übereinstimmen.

Martins: Wie gingen Anthroposophen mit dem rassistischen Gedankengut Steiners nach der der ‚Machtergreifung‘ 1933 um? Welche Positionen lassen sich ausmachen?

Staudenmaier:  Unter deutschen Anthroposophen war es weniger die Rassenlehre Steiners als der Deutschtumsbegriff, der sich als Anhaltspunkt anbot. Aber auch rassenthematische Überlegungen wurden weitergeführt. Ernst Uehli und Sigismund von Gleich beispielsweise verarbeiteten den Ariermythos, während Richard Karutz eine umfassende anthroposophische Rassensystematik vorlegte. Die Positionen reichten bis hin zur ausdrücklichen Zustimmung zu nationalsozialistischen Grundsätzen, so wie bei Karutz oder Ernst von Hippel . So schrieb Karutz z.B. über Hitler:

„Er macht die höhere Entwicklung der Völker von deren ungleichen Zusammensetzung aus einer organisatorisch befähigten und einer zum Herrschen nicht befähigten Rasse abhängig, er empfindet diese Schichtung als eine uralte, bis in die Rassenbildung zurückgehende […] Das setzt einen geistigen Entstehungsgrund für die Rassen voraus, der Nationalsozialismus ist, vielen unbewußt, tatsächlich eine geistige Bewegung, Rassenbildung und Rassenschichtung in Europa gehen tatsächlich bis in jene atlantischen Zeiten zurück, von denen Rudolf Steiner spricht.“ (Richard Karutz, Vorlesungen über moralische Völkerkunde, 1934, S. 5)

Martins: Wie spezifisch anthroposophisch war diese Reaktion? Die Anthroposophie war zu Beginn der Naziära eine von vielen theosophisch-esoterischen Splittergruppen mit wenigen tausend Anhängern. Gab es dort Parallelen oder gravierende Unterschiede?

Staudenmaier: Diese wenigen tausend Anhänger waren im Vergleich zu anderen esoterischen Gruppierungen eine beträchtliche Zahl. Parallelen zu theosophischen Strömungen gab es durchaus; sowohl die „Theosophische Verbrüderung“ Hermann Rudolphs als auch die Leipziger „Theosophische Gesellschaft“ Hugo Vollraths versuchten beharrlich, ihre eigenen Rassenvorstellungen als die ideale geistige Ergänzung des Nationalsozialismus aufzuführen, übrigens ohne Erfolg. Es ging ja aber nicht nur um die Rassentheorie; viele der Begegnungen – ob freundliche oder feindliche – zwischen Anthroposophen und Nationalsozialisten hatten mit diesem Thema relativ wenig zu tun. Die Gemeinsamkeiten und Konflikte wurden vor einem breiten ideologischen Feld ausgetragen, wobei die Topoi ‚Rasse’ und ‚Volk’ keinesfalls immer im Vordergrund standen, sondern z.B. Natur oder Leben oder Gemeinschaft oder Schicksal oder Erlösung oder geistige Wiedergeburt oder kulturelle Erneuerung usw. Wenn man diesen verwickelten Hintergrund in Betracht zieht, lassen sich die berüchtigten Skandalfälle (Otto Ohlendorf, Sigmund Rascher, Franz Lippert, Friedrich Benesch, Werner Georg Haverbeck, Andreas Molau, usw.) einigermaßen historisch kontextualisieren.

Martins: Umgekehrt – wie verhielten sich nationalsozialistische Organisationen zur Anthroposophie? Und gab es Resonanzen von zentralen Figuren wie Hitler, Himmler, Heydrich oder Goebbels?

Staudenmaier: Die Reaktionen aus dem nationalsozialistischen Lager reichten von ausgesprochener Sympathie bis zur unerbittlichen und zwanghaften Gegnerschaft. Dabei waren die anthroposophischen Belange nicht in erster Linie ein Anliegen der zentralen Figuren, mit Ausnahme von Heß, sondern eher der mittleren Ebenen des weitverzweigten und zerstrittenen NS-Apparates. Während der SD die Anthroposophie als „weltanschaulichen Gegner“ einstufte und entsprechend bekämpfte, erhielten Waldorfbewegung, biologisch-dynamische Landwirtschaft, anthroposophische Medizin, Christengemeinschaft, und andere anthroposophischen Projekte wiederholt Schutz und Förderung von nationalsozialistischer Seite. In einem Brief an Erziehungsminister Rust vom 9. 5. 1934, zum Beispiel, lobte der Stab des Stellvertreters des Führers die Waldorfschulen als „ein Instrument von nicht zu unterschätzender pädagogischer Bedeutung“; fünf Tage später resümierte ein Mitarbeiter,

„die in den Waldorf-Schulen aus deutschem Wesen erwachsene, planmäßig gegen materialistisches Denken und blossen Intellektualismus gerichtete Erziehungsart“ sei bestens geeignet, „bei der Neugestaltung des Erziehungswesens für die Sicherung des geistigen und seelischen Gehalts im Nationalsozialismus“ mitzuhelfen (Ernst Schulte-Strathaus, „Bericht an den Stellvertreter des Führers über die Waldorf-Schulen“ vom 14 .5. 1934).

Martins: Gerade Steiners „Deutschtums“-Bekenntnis stellt offenbar eine ideologische Parallele zum Nazidiskurs dar. Völkische Gegner der Anthroposophie (etwa Dietrich Eckart) echauffierten sich aber mitunter gerade darüber. Und auch die (teilweise führenden) Anthroposophen, die den Nationalsozialismus dezidiert ablehnten oder (in wenigen Fällen) zum Widerstand Kontakt suchten, sahen sich in aller Regel nicht als antinational: Sie verstanden ihr ‚idealistisches‘ Deutschlandbild als Gegenpol zu dem der Nazis. Wie lässt sich diese Bandbreite und Konkurrenz von Nationalismen verstehen?

Staudenmaier: In geschichtlicher Perspektive sind solche konkurrierenden und widersprüchlichen Spielarten des Nationalismus vollkommen normal, selbst in nationalsozialistischen Zusammenhängen. (Das Gleiche gilt übrigens für unterschiedliche Varianten der Rassentheorie, des Antisemitismus, usw.) Ein „idealistisches Deutschlandbild“ stellte für manche Anthroposophen in der Tat einen Gegenpol zum Nationalsozialismus dar; sie hielten an der Überzeugung fest, das gehobene und geistige deutsche Wesen im Gegensatz zur Hitlerschen Verzerrung  zu vertreten. Gleichzeitig aber bot gerade dieses idealistische Deutschlandbild wesentliche Ansatzpünkte für weltanschauliche Annäherung. So schrieb ein führender NS-Publizist 1935 in einem Buch über den zeitweiligen Anthroposophen und Vertreter eines „idealistischen Antisemitismus“ Friedrich Lienhard:

„Der Nationalsozialismus ist die heutige Form des deutschen Idealismus.“ (Hellmuth Langenbucher, Friedrich Lienhard und sein Anteil am Kampf um die deutsche Erneuerung, Hamburg 1935, S. 151)

Martins: Ein Parallelbeispiel aus dem faschistischen Italien, wo Anthroposophen sich weit stärker in der faschistischen Politik engagierten. Auch hier gab es Verwicklungen, die in der Außenperspektive überraschen: Der Anthroposoph Colonna di Cesaro beispielsweise war politisch im Faschismus aktiv und gehörte zu Julius Evolas Ur-Kreis, wo er den üblen Rassisten Massimo Scaligero für Steiner begeisterte. Noch in der faschistischen Ära artikulierte er aber regimekritische Überzeugungen und soll sogar die ‚verwirrte‘ Violet Gibson bei der Planung ihres Mussolini-Attentats bestärkt haben. Spielte die Anthroposophie für ihn bei alledem eine Rolle?

Staudenmaier: Aufgrund der vorhandenen Quellen ist das schwer festzustellen. Colonna war ein kulturell und politisch vielseitiger Mensch, dessen Verhalten gegenüber dem Faschismus auffallend inkonsequent war. Bei einem Anthroposophen ist das nicht unbedingt überraschend, angesichts der vorwiegend „unpolitischen“ Haltung unter Steiners Schülern, und auch deutsche Anthroposophen wie Emil Leinhas oder Johannes Hemleben haben Mussolini und den Faschismus begrüßt. Die Gerüchte über eine mögliche Beteiligung Colonnas an Gibsons Attentatsversuch wurden schon damals sowohl von der faschistischen Polizei als auch von den britischen Behörden zurückgewiesen. Ins Gesamtbild der italienischen Anthroposophie in der Zeit des Faschismus passt eine zwielichtige Figur wie Colonna eigentlich recht gut ein. Im Rückblick wird er verständlicherweise überschattet von einem Scaligero, mit seinem eifrigen Engagement für den faschistischen Rassismus und Antisemitismus, oder einem Ettore Martinoli, Mitbegründer und Sekretär der italienischen Anthroposophischen Gesellschaft, der als hochrangiger Funktionär der faschistischen Rassenbürokratie an der Judenverfolgung aktiv teilnahm.

Martins: All das sind für die ‘anthroposophische Bewegung’ höchst unbequeme Verbindungen. Wie haben Anthroposophen auf Ihre Forschungsergebnisse reagiert? Welche Kritik und welche positive Anknüpfung gab es?

Staudenmaier: Das Spektrum der anthroposophischen Reaktionen auf meine Forschungen ist so breit und bunt wie bei meinem deutschen Kollegen Helmut Zander, von ernsthaften Auseinandersetzungen bis hin zu dunklen Andeutungen einer anti-anthroposophischen Verschwörung. Vor allem im englischsprachigen Raum fällt es vielen Anthroposophen schwer, sich dem Thema zu stellen, sei es Steiners Rassenlehren oder seine Ausführungen zum wahren Deutschtum, sei es die Geschichte der Anthroposophie im nationalsozialistischen Deutschland oder die Frühgeschichte der Waldorferziehung oder die Verbindungen der biologisch-dynamischen Bewegung zur SS. Dies liegt teilweise in der tradierten esoterischen Abneigung gegen akademisch-wissenschaftliche Erkenntnis begründet. Steiner selbst wetterte gegen die, wie er sie nannte, „materialistische Geschichtswissenschaft“ und hielt die „professorale Geschichtsbetrachtung“ für „unsinnig“ und der „Welt der Maja“ verhaftet, ja „die äußere Geschichte und ihre Kenntnis ist geradezu eine Störung für den Seher.“ (GA 112, 30). Noch heute erschweren solche Vorbehalte den anthroposophischen Umgang mit der eigenen Geschichte. Trotzdem gibt es Anzeichen einer anderen Einstellung zu den bisher unterbelichteten Seiten dieser Vergangenheit, und auch wenn ich nicht in erster Linie für eine esoterische Leserschaft schreibe, würde ich mich freuen, wenn meine Recherchen der inneranthroposophischen Forschung und Diskussion einen Stoß gibt.

Martins: In den letzten Jahren verstärkt haben sich auch einige AnthroposophInnen für eine kritische Historisierung des Steinerschen Rassismus ausgesprochen. Viele Versuche waren reine Apologie, andere blieben zaghaft oder inkonsequent, manche zeugen von ehrlicher Bereitschaft zur Auseinandersetzung. Einige Kritiker gehen dagegen davon aus, dass die Anthroposophie im Kern und unrevidierbar rassistisch sei. Wie schätzen Sie die Chancen für eine ‚ent-rassisierte‘ Anthroposophie ein?

Staudenmaier: Keine Weltanschauung ist unrevidierbar. Auch keine Geheimwissenschaft oder Geisteswissenschaft oder Erkenntnisweg oder Initiationsweisheit. Wie alle Formen menschlichen Wissens und Glaubens sind sie der historischen Entwicklung unterworfen, so sehr sich das esoterische Selbstverständnis dagegen sträuben mag.  Wie die Anthroposophie zu ändern sei, müssen allerdings Anthroposophen selber entscheiden; da habe ich als Nicht-Anthroposoph an sich kein Mitspracherecht. Aus historischer Sicht gibt es durchaus Grund zum Optimismus: die Anthroposophie ist erst vor etwa einem Jahrhundert entstanden, ist also noch eine vergleichsweise junge Erscheinung, und die Religionsgeschichte wie auch die Wissenschaftsgeschichte zeigen, dass überholte Rassenvorstellungen nicht beibehalten werden müssen und nicht zwingend sind. Das Hinauswachsen über solche Entwürfe bedeutet nicht notwendigerweise die Preisgabe der anthroposophischen Identität. Eine grundsätzliche Bereitwilligkeit zur Aufarbeitung der anthroposophischen Vergangenheit könnte in dieser Hinsicht zu einer wesentlichen Erneuerung beitragen.

Martins: Danke für Ihre präzisen Stellungnahmen! Ich freue mich, von Ihren weiteren Forschungen zu hören.

————————————————————————————–

Peter Staudenmaier (Foto: privat)

Peter Staudenmaier ist Juniorprofessor für Neuere deutsche Geschichte an der Marquette University (Milwaukee, Wisconsin). 2010 promovierte er an der Cornell University zum Thema “Between Occultism and Fascism: Anthroposophy and the Politics of Race and Nation in Germany and Italy, 1900-1945.”


Einsortiert unter:Anthroposophie & Rassismus, Hintergründe, Peter Staudenmaier

“Das Karma der Unwahrhaftigkeit”

$
0
0

Anthroposophen und ihre Kritiker tun sich aktuell an den Eingeweiden der Rudolf-Steiner-Nachlassverwaltung gütlich. Während ein nichtanthroposophischer Verlag inzwischen die erste historisch-kritische Ausgabe der Steinerschen Werke ankündigt (was eigentlich Aufgabe der Nachlassverwaltung gewesen wäre), schaffen die Dornacher Nachlassverwalter es auch an anderer Stelle nicht, über ihren eigenen Schatten zu springen. Zu dokumentieren wäre mal wieder die anthroposophische Tradition rassentheoretischen Denkens.

Die gute Nachricht zuerst

Der philosophische Fachverlag fromman-holzboog plant, eine achtbändige Kritische Ausgabe der Werke Rudolf Steiners herauszubringen. Damit wird der Guru Jahrzehnte nach seinem Tod endlich in einer Textausgabe präsentiert, wie sie im wissenschaftlichen Kontext Standard ist. Der Verlag verkündet:

“Die kritische Edition ausgewählter Schriften Rudolf Steiners (1861–1925) bietet die Grundlagentexte der Anthroposophie, der wohl bedeutendsten esoterischen Bewegung des 20. Jahrhunderts, zum ersten Mal in textkritischer Ausgabe. Steiners zentrale Schriften zwischen 1884 und 1910 werden in ihrer Textentwicklung durch die verschiedenen Neubearbeitungen hindurch verfolgt, im Rahmen von Steiners intellektueller Biographie kontextualisiert und hinsichtlich ihrer Quellen und Bezüge umfassend transparent gemacht. So wird ein neuer Editionsstandard für das geschriebene Werk Steiners gesetzt, welcher der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Anthroposophie eine unverzichtbare textuelle Grundlage schafft.”

Der Frommann-Holzboog-Verlag ediert auch die Schriften Fichtes, Schellings, Jakob Böhmes oder des Rosenkreuzers Johann Valentin Andreae. Die “Kritische Ausgabe” (KA) Steiners steht hier also unerwartet in durchaus prominenter Nachbarschaft. Wie kam es dazu? Christian Clement, Assistant Professor für Deutsch und deutsche Literatur an der mormonischen Brigham Young University (vgl. FAZ), hatte den Verlag von dem Projekt überzeugt. “Das war freilich für jemanden auf meiner Stufe der akademischen Karriereleiter sehr gewagt”, findet Clement: “…und ich gebe zu, dass ich selbst überrascht war, als der Verlag tatsächlich positiv antwortete … Mit Blick auf die Zukunft sehen wir die KA als mögliche Grundlage einer voll ausgewachsenen historisch-kritischen Ausgabe”. Nach seinem Interesse an der Anthroposophie gefragt, betonte Clement, er sehe sich “selbst durchaus als ‘Insider’” und sei an der Anthroposophie als “Erbin” esoterischer Traditionen “existentiell interessiert”. Die Verklärung der Anthroposophie zum “Religionsersatz” sei ihm allerdings suspekt. Die “KA” soll die Deutungshoheit über Steiners Werk deshalb “den Händen der erklärten Anhänger bzw. Gegner” entreißen (Interview mit Clement in: Info3, 05/2012, 54ff.). Clement hat sich bereits in seiner Dissertation (2007) sowie durch das “Rudolf Steiner Online Archiv”, das auf dem Server der Brigham Young University liegt (anthroposophie.byu.edu), um die Verbreitung der Anthroposophie bemüht. Anscheinend gab es auch hier und da bereits Kontakte zu den prominenten Repräsentanten einer liberalen Anthroposophie (RSL-Archiv).

Für die anthroposophische Szene bedeutet die “KA” zuallererst willkommene Publicity: “Damit ist das Werk Steiners wiederum einen Schritt mehr im kulturellen Kanon angekommen und wird in Zukunft auch in der wissenschaftlichen Welt kaum mehr zu übersehen sein.” (Info3, 05/2012, 53). Kritiker dürften sich freuen, dass die oft kaschierten Umbrüche in Steiners Denken, die sich auch in den verschiedenen Auflagen seiner Werke zeigen, endlich in verlässlichen Ausgaben sauber dokumentiert werden. Renommierte Publizisten wie Gerhard Wehr, lutherischer Theologe, Mystikforscher und “Vater der kritischen Steiner-Forschung” (so Zander: Rudolf Steiner, 476) haben Vorwörter beigesteuert, und das bedeutet in der Außenperspektive zunächst einmal eines: Die Herausgabe und Kommentierung der Werke Steiners ist nun zumindest in Teilen der (anthroposophisch geführten) Rudolf-Steiner-Nachlassverwaltung in Dornach bzw. dem ihr angegliederten Steiner-Verlag entrissen. Keine Abschiedsträne vergießt darüber anscheinend der Chefredakteur der Zeitschrift Info3, Jens Heisterkamp: “Steiner ist im Kanon angekommen und braucht keine Gralshüter mehr.” Heisterkamp glaubt “tatsächlich das Knarzen eines Sargdeckels zu hören, der sich über dem Werk Steiners schließen will.” Für ihn kein Problem, denn “der freie Geist Rudolf Steiners ist entwichen und weht, wo er will.” (Jens Heisterkamp: Das Rad der Geschichte zurückdrehen?”, in: Info3, 05/2012, 11).

Dass der wo auch immer wehende, aber stets apodiktisch argumentierende Steiner einer “kritischen Ausgabe” seiner sorgsam behüteten Werke sympathisch begegnet wäre, würde ich bezweifeln. Aber wie auch immer: Auch das übertrumpfte Steiner-Archiv will bei der Kritischen Ausgabe noch ein Wörtchen mitreden. Deren Präsident Cornelius Bohlen sieht jedenfalls “die Notwendigkeit einer Mitwirkung des Steiner-Archivs. Eine solche Ausgabe bedürfe auch des Rückgriffs auf die Vorstufen der Schriften von den Manuskripten [sic], eine Aufgabe, die wiederum im Steiner-Archiv anzusiedeln wäre.” (NNA).

Wo die wilden Kerle wohnten

Der erste von acht Bänden soll noch 2012 erscheinen. In der Zwischenzeit haben AnthroposophInnen wie üblich auch ganz andere Gründe, übereinander herzufallen, die auf Außenstehende allenfalls befremdend wirken. In ungewohnter Harmonie protestierten kürzlich die “anthroposophischen Medienschaffenden” im Kollektiv gegen das Rudolf-Steiner-Archiv. Dort hat man vor Kurzem und nach langem Streit zwei langjährige Mitarbeiter, Walter Kugler und Vera Koppehel, vor die Tür gesetzt. Kugler und Koppehel hatten das Steiner-Archiv in den letzten Jahren einerseits für wissenschaftliche Recherchen geöffnet, andererseits erfolgreich Kunstmuseen in aller Welt dazu gebracht, Wandtafelzeichnungen Rudolf Steiners auszustellen (vgl. “Kreative Fundgrube”). Dass es sich bei diesem Popularisierungserfolg in der Kunstwelt allein um “gezielte” Propaganda und “Täuschung der Öffentlichkeit” (NWA) handelte, wie Anthrogegner vermuteten, kann man nur mit Einschränkungen gelten lassen.

Tatsächlich brachen in den letzten Jahren “Ausstellungen über okkultistische Sujets wie nach einem Dammbruch über uns herein. Die Vorboten dieser Entwicklung waren eine Ausstellung in Los Angeles über ‘The Spiritual in Art’ (1986/87) und in Frankfurt eine über ‘Okkultismus und Avantgarde’ (1995). Es folgten Ausstellungen im Jahresrhythmus, Tendenz bislang steigend, und es ist unklar, ob wir die Bugwelle hinter uns haben. Im Hintergrund steht unter anderem eine Revision unserer Konzeption von ‘Hochkultur’, da in der Forschung zunehmend klar wird, dass sich häufig ‘okkultistische’, ‘spiritistische’ und ‘hermetische’, heute meist ‘esoterisch’ genannte Strömungen nicht in ein Getto der Marginalität verfrachten lassen.” (Helmut Zander: L’europe des esprits ou la fascination d’occulte 1750-1950, Journal für Kunstgeschichte, Jg. 15, 4/2011, 265).

Die Popularisierung Steiners innerhalb dieser kunstgeschichtlichen “Revision” gehört zu den offenkundigen Arbeitserfolgen Kuglers und Koppehels – und selbstverständlich eigneten sich die Ausstellungen auch, um mediale Aufmerksamkeit für Anthroposophistan zu bekommen. Dass ausgerechnet diese beiden aus dem Archiv ausscheiden mussten, wirft Fragen auf. “So liegt es nahe, im Hintergrund all dieser Vorgänge auch einen Machtkampf zu vermuten.” (Die Drei, 8-9/2011, 90). Oder das liebe Geld. Immerhin hatte Kugler 2010 um die 240000 € für eine Ausstellung zum “Kosmos Rudolf Steiner” ausgegeben (NWA). Dass das Unmut auslöste, kann man nachvollziehen. Die Nachlassverwaltung kündigte jetzt an, sich künftig weniger um Medien- und Museumspräsenz als vielmehr um die eigentlichen Archivaufgaben zu kümmern.

In einer “Wiener Erklärung” artikulierte das Gros anthroposophischer Öffentlichkeitsarbeiter und Zeitschriftenherausgeber ihre “Sorge über den neuen Kurs der Nachlassverwaltung”. Die Unterzeichner fragen in ihrer an den Vorstand der Nachlassverwaltung gerichteten Erklärung, ob „dieser unerwartete Paradigmenwechsel im Bewusstsein der Tatsache erfolgt, dass die Präsenz Rudolf Steiners im gesellschaftlichen, kulturellen und wissenschaftlichen Diskurs damit zukünftig gefährdet ist“. In meiner unbedarften Außenperspektive scheint diese Erklärung gewaltig übertrieben. Dass sie einen durch Lobbyarbeit erreichten Popularisierungsgrad Steiners als befriedigende “Präsenz Rudolf Steiners im gesellschaftlichen, kulturellen und wissenschaftlichen Diskurs” beschreibt, ist erstaunlich.

Zum einen war diese “Präsenz” Rudolf Steiners teilweise nicht mehr denn z.B. eine geschmacklose Anbiederung an einen Gegenaufklärer wie Peter Sloterdijk (vgl. “Inhalte überwinden”). Zweitens dementierte umgehend Cornelius Bohlen die Meldung, das Archiv wolle zukünftig keine Leihgaben mehr an Museen austeilen: „Ich habe das sofort korrigiert … selbstverständlich wird es weiterhin Originale aus dem Archiv als Leihgaben für Ausstellungen geben“ (NNA). Drittens hat der Steiner-Verlag auch weitere Publikationsvorhaben, etwa die erste vollständige Veröffentlichung von Steiners Briefwechsel. Damit ist er auch in Zukunft schlicht finanziell darauf angewiesen, weiterhin Exponate zu liefern. Dass Kugler und Koppehel, bei allen Verdiensten, die einzigen im Archiv waren, die an die “Notwendigkeit” glaubten, “Rudolf Steiner im Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung zu positionieren” (Wiener Erklärung), möchte ich ernsthaft bezweifeln. Und Walter Kugler repräsentierte durchaus keinen Hort der Liberalität, wenn es um die Offenheit gegenüber Steiner-Kritikern ging. Im Gegenteil (vgl. Kugler: Vorwort, in: Lorenzo Ravagli: Zanders Erzählungen, Berlin 2009, 11-16), in dieser Hinsicht wären andere Mitarbeiter und Projekte zu loben (wie Taja Gut, von dem sich übrigens gerade Kugler distanzierte).

“Zeitgeschichtliche Betrachtungen”

Wäre nicht Kuglers Kurs schon die progressivere Gegenposition zur versteinerten Introspektion früherer Steiner-Archivare gewesen, man müsste sich gegen die “Sorgen” dieser anscheinend mediengeilen “Medienschaffenden” fast schon auf die Seite einer neuaufgestellten Steiner-Nachlassverwaltung schlagen. Kritiker der Anthroposophie wüssten es ohnehin zu schätzen, wenn Archiv und Verlag sich manchen ihrer Aufgaben etwas passionierter widmen würden. Die Bundeprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) hat 2007 festgestellt, dass zwei Vortragsbände Steiners “in Teilen als zum Rassenhass anreizend bzw. rassendiskriminierend anzusehen” seien. Einer Indizierung beider Bände konnte die Steiner-Nachlassverwaltung durch die Zusage entgehen, innerhalb eines Jahres kommentierte Neuauflagen auf den Weg zu bringen. Das geschah aber erst 2011 und auch erst bei einem der beiden Bücher – und der Kommentar war eine einzige Verharmlosung der monierten rassistischen Theoreme Steiners (vgl. dazu ausführlich Die Rache des Steiner-Verlags).

Die Reaktionen auf die ausbleibende Kommentierung waren schon im Vorfeld giftig gewesen (vgl. Bundesprüfstelle an der Nase herumgeführt). Jüngst legte der sachkundige Religionswissenschaftler Helmut Zander nach, der ein weiteres, vom Steiner-Verlag mit Stolz beworbenes Editionsprojekt unter die Lupe nahm: 2010 wurden Band 173 und 174 der Steiner-Gesamtausgabe neu herausgegeben, die Vorträge Steiners aus den Kriegsjahren 1916/17 enthalten. Der Band wurde in drei Bücher unterteilt, die wohlklingenden Titel: “Wege zu einer objektiven Urteilsbildung” (GA 173a), “Das Karma der Unwahrhaftigkeit” (GA 173b) und “Die Wirklichkeit okkulter Impulse” (GA 173c). Die Vorträge widmen sich unter dem Titel “Zeitgeschichtliche Betrachtungen” dem Ersten Weltkrieg, stellen tagespolitische und völkerpsychologische Spekulationen an. Seitenweise zitiert Steiner darin politische Traktate der Kriegsparteien, versucht, die deutsche Militärführung zu entschuldigen, raunt über die heimliche Wirksamkeit “okkulter Logen” hinter den Kulissen des Weltgeschehens.

Diese Vorträge nun wurden ausgehend von den Originalmanuskripten neu transkribiert und mit hunderten Seiten von Erläuterungen und Herausgeberkommentaren versehen. Mit Blick auf das BPjM-Verfahren schreibt Zander: “…in diesem Horizont ist die vorliegende Edition (GA 173) auch ein Lackmustest für die Bereitschaft und die Fähigkeit der Herausgeber der Gesamtausgabe, mit Steiners Rassentheorien kritisch umzugehen.” Anschließend hat er auch Lob für das Editionsprojekt übrig:

“Bemerkenswert ist vorderhand, dass die Erläuterungen und Materialien mehr Platz als die 24 Vorträge Steiners einnehmen. Dies ist ein Indikator, in welchem Ausmaß auch Anthroposophen zunehmend Kommentare benötigen. Das dabei zusammengetragene Material ist beeindruckend, die Herausgeber haben mit großem Fleiß Informationen zu teilweise sehr abgelegenen Personen und Sachverhalten ermittelt.” (Zander: Anthroposophische Aufarbeitungen der anthroposophischen Geschichte, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, Jg. 64, 01/2012, 68).

Das ist erst einmal richtig. Befriedigt darf man verzeichnen, dass die Kommentatoren durchaus auch historische Abhängigkeiten und Zeitgebundenheiten Steiners nicht mehr in Abrede stellen: “Es ist offensichtlich, dass Rudolf Steiners Deutung der deutschen Haltung durch Mitteilungen beeinflusst ist, die er im Verlauf seiner Gespräche mit General Helmuth von Moltke im November 1914 in Bad Homburg geführt hatte.” (GA 173a, 299). Ein so klares Eingeständnis fällt vielen Anthroposophen bei Steiners ‘höheren Erkenntnissen’ nach wie vor schwer (vgl. Zanders Zitate-Zauber, Steiner “spirituell”, Anthroposophische Geschichtsschreibung, Bilder und Sachen, Leitmotiv Zertrümmerung, Ravagli, die ‘Rassen’ und die Rechten).

Auch Steiners Position innerhalb der theosophischen Weltkriegsdeutungen und völkerpsychologischen Spekulationen wird dokumentiert (vgl. etwa GA 173a, 355ff., GA 173c, 608f.) Dankbar nimmt man beispielsweise wiederholte Hinweise der Herausgeber auf den Theosophen C.G. Harrison zur Kenntnis. Der hatte, wie Steiner, versucht, den theosophischen Kanon ‘philosophisch’ zu begründen und auf ‘westliche’ Theoreme wie die Hierarchienlehre Dionysius’ Aeropangitas, auf Hegel oder Goethe hingewiesen. Der Anthroposoph Arfst Wagner hat (allerdings nicht historisch-kritisch, sondern normativ-exegetisch) auf weitere Detail-Übereinstimmungen Harrisons mit Steiner hingewiesen (Die Achte Sphäre). Und nun zeigen die Steiner-Herausgeber, dass Steiner seitenweise Positionen Harrisons wiedergibt, nämlich in politisch-okkultistischen Fragen (vgl. exemplarisch GA 173a, 279, 340, 363, 367, GA 173b, 328ff., 332, 335f., 355f.). Sie kommentieren:

“Auffällig ist, dass Rudolf Steiner in seinen Mitgliedervorträgen nie den Namen Harrison genannt hat, obwohl eindeutig nachgewiesen werden kann, dass er seine Schrift gut kannte – die von ihm mit vielen Anstreichungen versehene deutsche Erstausgabe findet sich in seiner Bibliothek – und deren Inhalte öfters darstellte. Das ist insofern außergewöhnlich, als er in der Regel die Quelle angibt, die er für seine Forschungen benutzte.” (ebd., 275)

Nunja…

Die Kriegsschuldfrage

Die liebevollen Erläuterungen sind aber in einigen Fällen fragwürdig. Ein Beispiel: In einem Vortrag warf Steiner dem französischen Präsidenten Raimond Poincaré (1860-1934) vor, “auf ‘rumänische’ Art Prozesse zu zu führen” (GA 173a, 54). Die Kommentatoren erklären eifrig:

“Rudolf Steiner meint mit dieser Wendung eine unehrliche, auf Lügen gebaute Prozessführung. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts besaßen die Rumänen in den Augen der Deutschösterreicher, vermutlich, weil sie mit den ‘Roma’, dem Volk der ‘Zigeuner’ gleichgesetzt wurden, das Stigma von Lügnern und Betrügern. Die von Rudolf Steiner gewählte Ausdrucksweise war von ihm sicher nicht diskriminatorisch [sic!] gemeint, sondern er wollte lediglich – in der damals üblichen Ausdrucksform – ein bestimmtes Verhalten charakterisieren.” (GA 173a, 322)

Es folgen allen Ernstes anderthalb kleingedruckte Seiten über Poincaré als Anwalt in einem Prozess gegen die 1858 gegründete Suezkanal-Gesellschaft (vgl. ebd., 322ff.). Ein weiterer Fall: Steiner doziert über das “Geistesleben” Polens (mit “einer außerordentlichen Schwung- und Tatkraft” ausgestattet, GA 173a, 70) und Englands (“im eminentesten Sinne politisch veranlagt”, ebd.). Die Herausgeber halten es lediglich für angebracht, im Kommentar zu dieser Stelle auf John Locke als politischen Philosophen aus England hinzuweisen (ebd., 385). Steiners essentialistische ‘Volksseelen’-Lehre durch weit hergeholte Verweise auf dafür irrelevante Philosophen irgendwie plausibel machen zu wollen, ist kaum überzeugend. Überhaupt haben die Kommentatoren so ihre Schwierigkeiten, sich normativ von Steiners Deutungsvorhaben und Suggestionen abzugrenzen. So wird erwähnt, dass der Theosoph und Steiner-Fan Edouard Schuré im Ersten Weltkrieg “zum  fanatischen Deutschenhasser” geworden sei (ebd., 325, vgl. GA 173c, 562f.). Tatsächlich war Schuré von Steiners deutschnationalem Kulturchauvinismus abgeschreckt worden (vgl. Christoph Lindenberg: Rudolf Steiner und die geistige Aufgabe Deutschland, in: Die Drei, 12, 1989, 892, Helmut Zander: Anthroposophie in Deutschland, Göttingen 2007, 1023f.).

An einer weiteren Stelle mit Seitenhieben gegen Schuré verteidigen die Kommentatoren Steiners Schrift “Gedanken während der Zeit des Krieges” (GA 24), die Steiner 1915 veröffentlicht hatte. Darin spircht Steiner die Mittelmächte des Ersten Weltkriegs von jeglicher Schuld am Kriegsausbruch frei und zitierte zustimmend, der Weltkrieg sei ein “Vertilgungskampf gegen die germanische Rasse” (GA 24, 305). Steiner, dessen (Halb-)Wissen über die Kriegsvorgänge sich aus den sog. ‘Farbbüchern‘ speiste, lag damit zwar im breiten Mainstream einer damals kriegsbegeisterten deutschen Bevölkerung, hat sich aber schlicht und leicht nachweisbar in soziemlich allen Punkten an den falschen Behauptungen der Kriegspropaganda orientiert. Auch er selbst hat diese Ansichten nach Kriegsende zumindest in Teilen revidiert, er sah nun eine deutliche Mitschuld vor allem des deutschen Militarismus gegeben:

“Die Welt will ein ehrliches Wahrheitsbekenntnis des deutschen Volkes … Und diese Wahrheit: sie ergibt, recht gelesen, die restlose Verurteilung der deutschen Politik. Eine Verurteilung, die schärfer nicht sein könnte. Eine Verurteilung, die auf noch ganz andere Dinge hinweist, als diejenigen sind, die bei Freund und Feind angenommen werden.” (GA 24, 387)

Und er gab sogar – und das hat bei Steiner seltenheitswert – zu, dass er schlicht falsch gelegen hatte:

“Ich muß sagen, ich schrecke nicht zurück, dieses zu bekennen, daß es mir erst später klar geworden ist. Denn es war überhaupt nicht leicht, historisch und wahrheitsgemäß und zu gleicher Zeit so, daß das Betreffende richtig im betreffenden Zeitpunkte getan wurde innerhalb dieser katastrophalen Zeit, sich zu verhalten … Ich habe dazumal dieses Büchelchen «Gedanken während der Zeit des Krieges» vor allen Dingen geschrieben für die Menschen Mitteleuropas, nicht um irgend etwas zu erreichen der Welt gegenüber, sondern für die Menschen Mitteleuropas, und es stellte sich mir, bald nachdem ich dieses Büchelchen geschrieben hatte, heraus, wie die Situation war infolge der Marne-Niederlage. Und ich habe mich mit Händen und Füßen gesträubt, jemals eine weitere Auflage dieses Büchelchens erscheinen zu lassen, trotzdem es mir selbstverständlich nicht nur nahegelegt wurde, sondern ja auch der Anreiz gut vorhanden war.” (GA 185a, 46)

Auch Anthroposophen haben Steiners Vereinnahmung durch den Blutrausch des Ersten Weltkriegs erkannt und benannt. An erster Stelle wäre hier die eher zurückhaltende Kritik Christoph Lindenbergs zu verzeichnen, der dafür plädierte, man müsse Steiners “Gedanken während der Zeit des Krieges” als “eine einseitige und auch parteiliche Deutung der Geschichte sehen. Nirgends wird hier gefragt, ob nicht Deutschland etwas dazu beigetragen hat, dass es in der Welt scheel angesehen wurde.” Die Ausführungen Steiners seien als “zeitbedingte Aussagen mit einem Fragezeichen [zu] versehen und die Reaktion eines Edouard Schuré, der Steiner Chauvinismus vorwarf, ist zumindest verständlich.” (Lindenberg, a.a.O.). 1996 fand der Anthroposoph Michael Loeckle (damals unter heftigem Protest von Jens Heisterkamp) im “Jahrbuch für anthroposophische Kritik” deutlichere Worte zur Kontextualisierung von Steiners Pangermanismus:

“Stil und Sprache Steiners in den damaligen Jahren unterscheiden sich nur wenig von den völkisch-alldeutschen Traktaten und Utopien, wie sie um die Jahrhundertwende in Gang gesetzt und von breiten Schichten der deutschen und österreichischen Bevölkerung aufgesogen wurden … Steiner hätte es besser wissen müssen, denn die ‘europäischen Notwendigkeiten’, von denen er sprach, bestanden für das Kaiserreich spätestens seit 1878 in einer imperalistisch-expansionistischen Gewaltpolitik zwecks Gleichberechtigung und Gleichrangigkeit neben den Weltmächten, wozu den kaiserlichen Annexionisten der Aufbau einer Kriegsflotte als unverzichtbar galt … So ähnlich [wie in Steiners 'Gedanken während der Zeit des Krieges' - AM] las man das auch in den Manifesten des reaktionären Alldeutschen Verbandes und seiner eingangs erwähnten Präzeptoren, die in den Alldeutschen Blättern während des Ersten Weltkrjeges ständig annexionistische Forderungen erhoben. Ob Steiner den späteren Überfall der NS-Bellizisten auf Polen und den Genozid an sechs Millionen Juden auch als tragisch oder womöglich als ‘Fehler der Weltgeschichte’ bezeichnet hätte?” (Michael Loeckle: Anmerkungen zu Rudolf Steiners Deutschlandrezeption, in: Lorenzo Ravagli (Hg.): Jahrbuch für anthroposophische Kritik 1996, 143ff.)

Die fundierten Einschätzungen Lindenbergs und Loeckles haben die Kommentatoren der neu herausgegebenen Kriegsvorträge Steiners offenbar nicht zur Kenntnis genommen. Nicht einmal die Selbstkritiken Steiners und seine Weigerung, das Buch später wieder auflegen zu lassen, werden von ihnen erwähnt (sehr gewissenhaft wird allerdings dokumentiert, dass Steiner ähnliche Bedenken auch gegenüber den “Zeitgeschichtlichen Betrachtungen” hegte, vgl. GA 173a, 263-267). Über das Buch “Gedanken während der Zeit des Krieges” heißt es im Kommentar zu GA 173a nur:

“Mit der Veröffentlichung dieser Schrift hoffte Steiner, einen Beitrag zur allgemeinen Völkerverständigung zu leisten. Durch einen vorurteilslos-sachlichen Blick auf die in Europa herrschenden Gedankenrichtungen wollte er Verständnis für die mitteleuropäische Situation und die Bedeutung des deutschen Geisteserbes erwecken.” (GA 137a, 449)

Das 36. Jahrhundert nach Christus

Helmut Zander beurteilt die neu herausgegebenen Bände denn auch als wissenschaftlich “desaströs”: “Von neueren Reflexionen zu Rassentheorien und zur Kulturgeschichte des Imperialismus, von Entaglement bis Orientalismus, sind diese Kommentare unberührt. Man legt diese Bände, die im Internet als „editorischer Meilenstein innerhalb der Gesamtausgabe“ beworben werden, irritiert zur Seite. Es scheint, als sei den Herausgebern die Brisanz von Steiners kultureller Evolutionstheorie und seinen politischen Positionen nicht bewusst.” (Zander: Anthroposophische Aufarbeitungen…, a.a.O., 69). Der bereits zitierte Präsident der Steiner-Nachlassverwaltung, Cornelius Bohlen, antwortete auf diesen Vorwurf, “dass es überhaupt nicht Aufgabe der Edition sei, gültige Interpretationen zu liefern. Es gehe vielmehr darum das Werk des Autors in seinem Kontext so gut wie möglich zur Verfügung zu stellen, damit es interpretiert werden kann.” (NNA).

Das ist zwar ein berechtigter Einwand, dessen Anspruch diese “Edition” aber keineswegs erfüllt: Steiner wird hier fortlaufend (und durchgehend entlastend) interpretiert. Wenn es, wie oben zitiert, heißt, Steiner habe bestimmte Ausdrücke nicht ‘diskriminatorisch’ gemeint, wenn man versucht, Philosophen wie Locke oder beliebige historische Entwicklungen (vgl. z.B. auch GA 173b, 348, GA 173c, 527) zur Plausibilisierung von Steiners völkerpsychologischen Typologien heranzuziehen, ist Interpretation eigentlich noch eine euphemistische Bezeichnung. Die Interpretation geht, wie bereits in der neu herausgegebenen GA 107, gar soweit, dass Steiners Texte nicht nur apologetisch gedeutet, sondern schlicht und einfach umgeschrieben werden. Während dies in GA 107 nicht einmal kenntlich gemacht wurde (vgl. Die Rache des Steiner-Verlags), wird dies in den Kommentaren zu GA 173 nun lang und breit gerechtfertigt:

In Steiners Vortrag vom 1. Januar 1917 liest man:

“Nicht wahr, es sind ja nicht alle Menschen gleichzeitig berufen, die Kultur der fünften nachatlantischen Zeit in sich aufzunehmen. aber zunächst sind jetzt alle Angehörigen des weißen Teils der Menschheit dazu berufen, die Kultur der fünften nachatlantischen Zeit in sich aufzunehmen.” (GA 173b, 182)

In der älteren Ausgabe war nicht vom “weißen Teil” der Menschheit, sondern von “weißen Rassen” die Rede (GA 174, 15). Der Kommentar erläutert:

“Da es sich in der vorliegenden Stelle nicht um die Abgrenzung zwischen Menschen mit unterschiedlichen Rassemerkmalen handelt, sondern um verschiedene Kulturkreise, wurde der in der Nachschrift verwendete Ausdruck ‘weiße Rassen’ durch den Begriff ‘weißer Teil der Menschheit ersetzt. Es soll dadurch von vornherein Missverständnissen vorgebeugt werden, die heutzutage leicht entstehen können, wenn der Bedeutungsgehalt bestimmter Begriffe nicht historisch gesehen wird.” (GA 173b, 403).

Auch die Textänderung ist freilich ein hoffnungsloses Unterfangen. Sie verbirgt nicht, dass Steiner hier ‘die Weißen’ unmissverständlich zur Avantgarde der Menschheit erklärte, also einmal mehr seinen evolutionären Rassismus ausbreitete.  Der Hinweis der Herausgeber, der “Bedeutungsgehalt” des Rassenbegriffs müsse “historisch gesehen” werden, ist zwar treffend: Aber dieser historische Bedeutungsgehalt ist eben ein rassistischer. Nicht die möglichen Leser, sondern die Kommentatoren unterliegen hier “Missverständnissen”, indem sie annehmen, Steiner habe diesen Begriff ganz anders gebraucht und man dürfe ihn folglich durch eine angeblich weniger rassistische Formulierung ersetzen. Letzteres ist übrigens eine nicht nur in Anthroposophistan altbekannte, makabere Vorgehensweise:

“Die Stelle erlaubt Einblick in die subtilen Mechanismen der Anpassung der Rassentheorie an die veränderte politische Lage. Anstelle der »weißen Rasse«” steht “die »abendländische Kultur« … Das vornehme Wort Kultur tritt anstelle des verpönten Ausdrucks Rasse, bleibt aber ein bloßes Deckbild für den brutalen Herrschaftsanspruch.” (Theodor Adorno: Schuld und Abwehr, in: Gesammelte Schriften, Bd. 9/2, 277)

Die Situation ist umso misslicher, als Steiner sehr wohl zwischen “Rassen” und “Kulturen” unterschied (aber das ist Anthroposophen größtenteils und Kritikern mit Ausnahme von Jana Husmann bisher anscheinend ganz entgangen). Erstere holte er dann spätestens 1910 zumindest teilweise aus dem Schatten der evolutionären Wurzelrassenlehre heraus und verlieh ihnen eine eigenständige Begründung durch geographische bzw. astronomische Spekulationen. Die Herausgeber verzerren Steiners Rassen- und Evolutionstheorie in eine problematische Unschärfe, indem sie beide Begriffe austauschen. Damit nicht genug, denn der Kommentar erklärt anschließend noch, wie Steiner seine Rassenlehre ‘wirklich’ gemeint habe.

“Es ist auch nicht zutreffend, wenn man glaubt, Rudolf Steiner hätte die Überlegenheit der weißen Menschen für die heutige Zeit vertreten. Wenn er vom ‘fünften nachatlantischen Zeitraum’ spricht, so meint er damit einen ganz spezifischen Kulturzeitraum – die die heutige Zeit prägende moderne Kultur. Die Moderne hat nach seiner Auffassung ungefähr mit dem Beginn des 15. Jahrhunderts eingesetzt und wird bis in die Mitte des 36. Jahrhunderts hinein dauern.” (GA 173b, 403)

Hier zeigt sich erneut die (absichtliche oder aus der Not zwanghafter Apologie geborene?) Verfälschung von Steiners Rasse- und Kulturbegriff. Im Vergleich mit den böswilligen, aber immerhin eindeutigen Elaboraten à la Ravagli oder den nachsichtigen Ausführungen anthroposophieinterner Rassismuskritiker ist dieser Kommentar überhaupt unangenehm unernst. Steiners Position zur “Überlegenheit der weißen Menschen” unterlag zwar über die Jahre z.T. erheblichen Transformationen, war aber im und nach dem Ersten Weltkrieg halbwegs präzise: Erstens behauptete Steiner, die “Rassen” als Medium der kosmischen Evolution seien im Wesentlichen überholt, sie würden gegenwärtig an Bedeutung verlieren und in der (fernen) Zukunft ganz verschwinden. Die politisch-völkische Berufung auf “Rassen-, Volks- und Blutsideale” – einstmals progressiv – arbeite seit dem Bedeutungsverlust der Rassen nun den “Geistern der Finsternis” zu (GA 177, 220). Zweitens hob aber diese Ablehnung rassistischer Praxis seine Rassentheorie nicht auf, die weiterhin von der Ungleichheit der Rassen ausging. Darin bezeichnete er die ‘weiße Rasse’ als die “zukünftige”, da “am Geist schaffende Rasse” (GA 349, 67) – und zwar nicht im Sinne einer schon gegebenen Auserwähltheit, sondern eines spirituellen Imperativs. Dazu schrieb er 1920 in einem Gedicht für Richard Teschners Bilderserie “Drei Kulturrassen”:

“Der weißen Rasse neues Morgenrot
Wird im Erdgebiet sich offenbaren
Erst wenn dieser Rasse Wissende
Erfühlen der Seele Band mit dem Geist;
Und in ihnen wirken wird
Empfindung von der Schande,
Die Seelen schwärzt, wenn sie
Das Menschenwesen durch Materien-Sinn
Begreifen wollen.” (GA 40, 293)

Die Kommentatoren beenden ihre Geschichte, indem sie zwei scheinbar kulturrelativistische Äußerungen Steiners zitieren: “jedes Volk hat seine besondere Aufgabe” (GA 121, 168) und: “Das, was der gesamten Menschheit gegeben wird, gegeben werden muss, kann zwar an diesem oder jenem Ort [d.h. bei einem bestimmten Volk - AM] entspringen, gegeben werden muss es aber der gesamten Menschheit” (ebd., 197). Das klingt zwar sehr schön, doch entstehen die Hierarchisierungen in Steiners Modell dadurch, dass im Lauf der kosmischen Evolution eben bestimmte Völker und ‘Rassen’ ihre Aufgabe hinter sich oder erst vor sich haben sollen. Da hilft es auch nicht, dass die Kommentatoren den amerikanischen Religionshistoriker James Santucci mit der Aussage zu zitieren, dass die theosophische Rassenlehre “not racist in intent” sei (vgl. Santucci: The Notion of Race in Theosophy, in: Nova Religio, Vol. 11, Issue 3/2008, 37). Zum einen ist Santuccis Aufsatz stark apologetisch, zum anderen beschäftigt er sich vor allem mit dem Rassenbegriff der Blavatsky-Theosophie.

Wenn die Anthroposophie von Kritikern unter theosophische Strömungen subsummiert wird, ist die anthroposophische Reaktion meist lautstarke Empörung. Dem entlastenden Urteil Santuccis sind die Herausgeber der GA aber anscheinend so dankbar, dass sie gern in den mütterlichen Schoß der reingewaschenen Adyar-Theosophie zurückkehren. Santuccis Aufsatz befindet sich in derselben Ausgabe der Zeitschrift “Nova Religio” wie ein Aufsatz von Peter Staudenmaier mit dem Titel “Race and Redemption. Racial an Ethnic Evolution in Rudolf Steiner’s Anthroposophy”, in dem die rassentheoretischen Sequenzen der Steinerschen Evolutionslehre klar zur Sprache kommen (ebd., 4-36). Santucci zur Theosophie zur zitieren und den benachbarten Aufsatz von Staudenmaier zu ignorieren ist, milde gesagt, dreist. Insbesondere, weil man keineswegs auf den Theosophen Santucci zurückgreifen muss, um die Feststellung zu finden, dass Steiner “not racist in intent” war:

“Wenn Rassismus die Bindung wichtiger Elemente der Anthropologie an augenblicklich existierende Rassen bedeutet, seien diese biologisch oder spirituell definiert, dann kann man Steiner als Rassisten bezeichnen. Es wäre hilfreich, wenn manche Anthroposophen zugestehen würden, daß dies keine schlicht polemische Aussage ist, sondern in der kontextualisierenden Deutung des historischen Materials gründet. Zugleich aber gibt es bei Steiner Versuche, die deterministischen Konsequenzen dieses Denkens zu brechen, und es wäre gut, wenn viele Kritiker zur Kenntnis nehmen würden, daß Steiner kein Rassist sein wollte; aus diesem Grund spreche ich lieber von Steiners Rassentheorie als von Rassismus. Aber diese abgemilderte Begrifflichkeit birgt für die politische Debatte das Problem einer möglicherweise voreiligen Salvierung Steiners. Denn es gibt neben philanthropischen Anthroposophen solche, die rassistisch denken, wie es bei den Kritikern verständnisvolle neben blindwütigen gibt.” (Zander: Anthroposophie in Deutschland, a.a.O., 636 - Hervorhebung AM)

“It is certainly true that Zander notes that Steiner did not want to be a racist (I note the same thing myself, for what it’s worth), but this simply has nothing to do with whether some of Steiner’s statements about race are racist. Racist beliefs do not become racist because the people who hold them “want to be racist”. In order to determine whether a particular set of ideas about race is racist, we need to look at the content of those ideas, not at the intentions or wishes of the person who espoused them.” (Peter Staudenmaier, waldorf critics, 6.3.2009)

Auch dieses Missverständnis ist freilich nicht spezifisch anthroposophisch (vgl. die Reaktionen auf Günther Grass’ “Was gesagt werden muss”). Nahezu typisch für anthroposophische Bücher zu diesem Thema ist aber die ungläubige Ratlosigkeit, die die Lektüre dieser neu herausgegebenen Kriegsvorträge hinterlässt. Der Eindruck ist noch gravierender, weil diese Kommentare mit einer profunden Detailkenntnis geschrieben sind, immerhin stellenweise historisch-kritische Maßstäbe erfüllen und eine wertvolle Auswahl an eigens recherchiertem Kontext- und Hintergrundmaterial bieten. Diese Mischung aus präziser Sachkenntis und absoluter Kritiklosigkeit ist nebenbei auch eines der irritierenden Merkmale im Auftreten von Walter Kugler.

Dass die Steiner-Nachverwaltung eine kritische Ausgabe der Steinerschen Werke bisher (aus welchen Gründen auch immer) nicht auf den Weg gebracht hat, ist bedauerlich, aber politisch unproblematisch. Die Affirmation von Steiners Rassenlehre spielt in einer anderen Liga – hier wird ein evolutionärer Sozialdarwinismus nicht nur kolportiert, sondern kulturalistisch neu legitimiert. Noch steht die Herausgabe des von der BPjM inspizierten Vortragsbands GA 121, “Die Mission einzelner Volksseelen” aus, was Bohlen bewusst (und unangenehm) ist:

“Als Beispiel für einen Rückstand in der Editionsarbeit des Archivs nennt Bohlen die Tatsache, dass bisher nur ein Band der kommentierten Ausgabe des Volksseelen-Zyklus von Rudolf Steiner vorliegt, die bereits 2008 von der deutschen Prüfstelle für jugendgefährdende Medien gefordert worden sei. ‘Wir hatten zugesagt, das so zügig wie möglich zu erstellen. Da sind wir jetzt am Anschlag, das hat oberste Priorität.’” (NNA)

Da darf man gespannt sein, aber interpretative Kurswechsel sind höchst wahrscheinlich nicht mehr zu erwarten.


Einsortiert unter:Hintergründe

Die “Optik des Geistes” und der Geist des Okkulten – Ein Gespräch mit Hartmut Traub

$
0
0

Redefreiheit.
“Die Wahrheit muß gesagt werden, und wenn die Welt in Stücke gehen sollte!”
– so ruft, mit großem Munde, der große Fichte! –
Ja! Ja! Aber man müßte sie auch haben! –
Aber er meint, jeder solle seine Meinung sagen,
und wenn alles drunter und drüber ginge.
Darüber ließe sich mit ihm noch rechten.
– Friedrich Nietzsche: Morgenröte (4. Buch, 353)

Waldorfschulen, demeter-Landwirtschaft und Weleda-Kosmetik sind weit bekannt, eine kleinere Öffentlichkeit ist auch über den okkulten Weltanschauungskosmos Rudolf Steiners informiert. Der philosophische Werdegang Steiners vor seiner Wende zur Esoterik ist aber bisher fast nur durch apologetische Stellungnahmen von AnthroposophInnen erschlossen, die versuchen zu zeigen, „dass die eigentlichen spirituellen Wurzeln des Frühwerks“ bereits in der „übersinnlichen Wirklichkeit liegen“ (Sergej Prokofieff), die der späte Steiner als Esoteriker beschwor. Die Realität ist freilich komplizierter. Dazu befragte ich Hartmut Traub, der mit seinem Buch “Philosophie und Anthroposophie” jüngst eine ideengeschichtliche Analyse und philosophische Kritik dieses ‘frühen’ Steiner vorgelegt hat.

Ansgar Martins: Was interessiert Sie als Nichtanthroposoph und in Absetzung von der apologetischen Steinerdeutung an einer „Grundlegung und Kritik“ der vor-esoterischen Philosophie Steiners?

Hartmut Traub: Das Problem, das Sie hier ansprechen, ist der philosophischen Forschung nicht unbekannt. Es geht um die häufig auftretende Frage, wie der Entwicklungsprozess eines Philosophen und die darin auftretenden Schwerpunktverlagerungen seines Denkens zu verstehen sind. Bei Platon etwa unterscheiden wir die frühen von den mittleren oder späten Dialogen. Bestimmt der Sokratische Zweifel die frühen Dialoge, so tritt in den späten Dialogen die Ideenlehre in den Vordergrund. Oder nehmen sie ein anderes Beispiel: Ludwig Wittgenstein. Hier stehen wir vor der Frage, ob der Wittgenstein der „Philosophischen Untersuchungen“ noch der Wittgenstein des „Tractatus“ ist. Oder denken Sie an die „Kehre“ vom frühen zum späten Heidegger. Auch in der Fichte-Forschung, in der ich die Ehre habe, seit geraumer Zeit aktiv mitzuwirken, kennen wir dieses Problem. Wir fragen uns etwa, wie die radikalen Revolutionsschriften des frühen Fichte mit den geschichtsmetaphysischen Offenbarungsspekulationen des späten Fichte zusammen passen? Grundsätzlich kann man sagen, dass Philosophieren – auch bei den großen Denkern – ein Lern- und Entwicklungsprozess ist. Das impliziert Veränderung. Wenn Sie von Steiners „Wende zur Esoterik“ sprechen, dann geht es genau um diese Frage nach dem Lern- und Entwicklungsprozess von Steiners Denken.

Martins: Wie gehen Anthroposophen mit diesem Lernprozess Steiners um?

Traub: Die anthroposophische Steiner-Forschung kennzeichnet der Versuch, den „ganzen Steiner“, das heißt, den esoterischen wie den prä-esoterischen Steiner, allein vom Ende seiner geistigen Entwicklung her erschließen und deuten zu wollen. Das ist ein höchst spekulatives und problematisches Unternehmen. Der Steiner der Philosophie der Freiheit hätte dagegen ernste Vorbehalte ins Feld geführt. Denken Sie etwa an seine Kritik der Teleologie auf dem Felde der Moral- und Geisteswissenschaften. Die „retrospektive Interpretation“, wie ich das genannt habe,  birgt nämlich die Gefahr, die originäre Bedeutung und Eigenständigkeit der Ideen der früheren Phasen von Steiners Denken nicht angemessen würdigen zu können,  weil die Sicht von der Einseitigkeit des anthroposophischen Standpunktes dominiert wird. Werkgeschichtlich scheint mir das ein zentrales Problem der anthroposophischen Steiner-Deutung zu sein.

Martins: Können Sie ein Beispiel dafür nennen?

Traub: An vielen Stellen meines Buches wird gezeigt, dass man mit der retrospektiven Interpretation in die größten Schwierigkeiten gerät. Dazu nun das Beispiel. Es gibt eine anthroposophische  Deutung des Kapitels III der Philosophie der Freiheit, die behauptet, dass sich darin eine vierstufige Theorie des Denkens befände. Was dabei übersehen wird, ist die werkgeschichtliche Tatsache, dass die Referenzstelle für die vierte Stufe im ursprünglichen Text nicht enthalten war. Sie befindet sich in einer Fußnote, die  von Steiner 1918 eingefügt wurde. Solche Ungereimtheiten ließen sich zahllose nennen. Dieses Problem entsteht der anthroposophischen Steiner-Forschung alleine dadurch, dass sie geradezu zwanghaft versucht, Steiners frühe Schriften in ein esoterisches Interpretationskorsett zu zwängen. Mein Anliegen läuft dem genau entgegen. Ich nehme die frühen Arbeiten in ihrer Genese und der Vielfalt ihrer Themen ernst, und ich denke auf diesem Wege gezeigt zu haben, dass Steiner mehr zu bieten hat, als das, was uns die anthroposophische Steiner-Forschung sehen lassen möchte.

Martins: Wie würden Sie Steiners philosophische Weltanschauung zusammenfassen?

Traub: Wenn ich an den frühen Steiner und die Philosophie der Freiheit denke, dann haben wir es hier mit einem radikal-individualistischen Denkansatz zu tun, der davon überzeugt ist, durch die Kraft einer persönlichen Denkerfahrung die großen philosophischen Themenfelder der Erkenntnis, der Ethik und der Kosmologie erschließen und neu strukturieren zu können.

Steiner und Fichte

Martins: Sie betonen vor allem, dass Steiner seine Positionen in vielen Details und großen Entwürfen dem Idealismus Johann Gottlieb Fichtes verdankt. Naiv gesagt: Was wollte Fichte und wie hat Steiner ihn rezipiert?

Traub: In dem, was ich soeben über die Philosophie der Freiheit sagte, und das gilt auch für Steiners Dissertation und „Wahrheit und Wissenschaft“, ist es das von Descartes über Kant und Fichte gelegte  Fundament der Geschichte der Philosophie der Neuzeit: das „Ich-denke“, von dem Steiner – im übrigen auch Stirner, Schopenhauer und Nietzsche – fasziniert war. Bei Fichte kommt hinzu, dass sein cogito (co-agito) zugleich ein volo, ein „Ich-will“, ein video, ein „Ich-sehe“ und ein afficio, ein „Ich-fühle“ ist. Es ist ja doch sehr bemerkenswert, dass J.G. Fichte der  Referenzphilosoph von Steiners Dissertation war. Seine Dissertation heißt nicht, wie das manche Vertreter der anthroposophischen Steiner-Forschung gerne behaupten, Wahrheit und Wissenschaft, sondern: Die Grundfrage der Erkenntnistheorie mit besonderer Rücksicht auf Fichte’s Wissenschaftslehre. Das heißt, Steiner hat seine Erkenntnistheorie vor allem an Fichtes Theorie der intellektuellen Anschauung und der Theorie vom „inneren Sehen“ ausgerichtet. In diesem Punkt gibt es von Steiners Seite aus keinen Dissens zu Fichte. Im Gegenteil: Fichtes „sehende Setzungskraft“ oder „setzende Sehkraft“, die aufs Innerste mit der Freiheitshandlung des Ich verbunden ist, ist auch das Theorem, von dem aus Steiner seine Philosophie konzipiert.

“Steiner hat seine Erkenntnistheorie vor allem an Fichtes Theorie der intellektuellen Anschauung und der Theorie vom ‘inneren Sehen’ ausgerichtet”

Bei Fichte ist mit der Theorie des „übersinnlichen Sehens“ zudem eine sehr interessante interpersonal gedachte Idee des „Geisterreichs“ verbunden. Ich bin davon überzeugt, dass auch dieser Gedanke für Steiner Signalwirkung, wenn nicht gar Prägefunktion gehabt hat.

Martins: Wo liegen Steiners Differenzen zu Fichte?

Traub: Von Fichte verabschiedet er sich dann bei den Themen „Transzendentalität“ und „Konstitutivität“. Allerdings, und auch das habe ich ausführlich gezeigt, gibt es in diesem Themenkomplex bei Steiner eklatante Missverständnisse und Fehleinschätzungen. Und die betreffen nicht alleine Fichte, sondern vor allem auch Kant. Sie betreffen aber auch die Beurteilung des eigenen Denkansatzes. Lassen Sie mich auch dazu ein Beispiel geben. Wenn Steiner behauptet, Begriffe, etwa der der Kausalität,  werden nicht induktiv durch Generalisierung sinnlicher Wahrnehmungen gewonnen, sondern liegen der Möglichkeit der Ursache-Wirkungs-Erfahrung bereits zu Grunde, dann hat er sich damit nicht nur nicht vom kategorialen Denken der Transzendentalphilosophie abgesetzt, sondern exemplarisch wiederholt und bekräftigt, was etwa Kant in seiner transzendentalen Analytik ausführlich erörtert. Davon unberührt ist allerdings die Frage nach dem Verhältnis von Kants Theorie der Objektivität transzendentaler Begriffe und Steiners Lehre von der Realität der Begriffe und Ideen.

“Windmühlen seiner eigenen Phantasie”

Martins: Wie gut kannte Steiner sich im Kanon der ‚abendländischen‘ Philosophie aus? In der „Philosophie der Freiheit“ finden sich Bezüge auf Hegel und Humes berühmtes Billardkugel-Beispiel, aber auch eine bemerkenswert verfehlte Spinozakritik. In Ihren Worten kämpft Steiner mit seiner philosophischen Polemik hier teilweise gegen die „Windmühlen seiner eigenen Phantasie“. Warum?

Traub: Steiner war, lassen Sie es mich etwas bildhaft ausdrücken, ein „literarischer Vielfraß und Schnellesser“. Was er sich alles in kürzester Zeit angeeignet zu haben scheint, ist atemberaubend. Nehmen Sie allein Kants Kritik der reinen Vernunft. Wer mit dem ernsthaften Studium dieses Werks einmal angefangen hat, der wird sehr schnell feststellen, dass man damit nicht in drei Wochen fertig sein kann.  Nichtsdestoweniger hat sich Steiner mit vielen Autoren der Philosophiegeschichte sehr intensiv auseinander gesetzt, sie studiert, exerpiert und auch internalisiert, Nietzsche und Stirner z.B. Was die „Windmühlen seiner eigenen Phantasie“ betrifft, so geht es hier um das Spannungsverhältnis zwischen philosophiegeschichtlicher Redlichkeit im Umgang mit Autoren einerseits und um die argumentationsstrategische Modellierung von Positionen zum Zweck einer polemischen Selbstbehauptung andererseits. Im Dienst der Ausschärfung der eigenen Position wendet Steiner die Methode der Verzerrung philosophischer Gegenargumente an. Dieses methodologisch durchaus legitime Verfahren führt bei ihm allerdings dazu, dass die Ausschärfung der eigenen Position zugleich als Widerlegung des verzerrten Standpunktes behauptet wird. Und das geht nun nicht. Ich nenne Ihnen ein Beispiel.

Martins: Ich bitte darum!

Steiner, Kant und das Etikett Neukantianismus

Traub: Steiner behauptet in seiner Dissertation, Kants Kritik der reinen Vernunft mache die synthetischen Urteile a priori zur voraussetzungslosen Grundlage der Erkenntnistheorie.  Und jetzt wird gezeigt, dass sie diese Funktion nicht übernehmen können, weil  sich nachweisen lässt – so Steiner –,  dass dieser Voraussetzung eine andere zugrunde gelegt werden muss, nämlich das Erkennen des Erkennens selbst. Zur Einführung und Ausschärfung der eigenen Erkenntnistheorie ist das ein legitimer Ansatz. Nun aber zu behaupten, damit sei Kant widerlegt, ist Unsinn. Denn es müsste zunächst geprüft werden, ob die synthetischen Urteile a priori tatsächlich der Punkt sind, an dem man Kants transzendentale Erkenntnistheorie aufhängen kann. Das aber – und das habe ich in meiner Kritik zu diesem Punkt minutiös nachgewiesen – ist nicht der Fall.  Kants „Erkenntnistheorie“ auf der Lehre von den synthetischen Urteilen a priori aufzubauen und dann heftig dagegen zu streiten, ist ein Kampf gegen Windmühlen der eigenen philosophischen Phantasie. Von solchen Fällen gibt es in Steiners Schriften etliche. Auch Schopenhauer, Hartmann, Spinoza, Descartes natürlich auch Fichte oder etwa bestimmte Inhalte der Theologie und des christlichen Glaubens werden auf diese Weise von Steiner traktiert. Ein großer Teil meiner Kritik an Steiners Argumentationsstrategie besteht im ausführlichen Nachweis der Unhaltbarkeit dieses Verfahrens der Urteilsbildung.

“Der erkenntnistheoretische Bezug deckt nun aber bei weitem nicht Steiners Verhältnis zu Kant ab”

Martins: Überhaupt war Kant ein weiterer wichtiger Referenzpunkt für Steiner, von dem er sich offiziell aber meist abgrenzte, ihn gar zum Gegner stilisierte. Dem widersprechen u.a. Helmut Zander und auch der Alanus-Philosophieprofessor Harald Schwaetzer, die Steiner zumindest im Neu-Kantianismus situieren. Wo sehen Sie Steiners Differenzen zu und Übereinstimmungen zu ihm?

Traub: Ich würde zunächst einmal grundsätzlich zwischen Steiners Bezug zu Kant und zum Neukantianismus unterscheiden. Das ist deswegen wichtig, weil es bei Steiner einen originären, differenzierten und nicht nur ablehnenden Bezug zu Kant selbst gibt, der weit über das für den Neukatianismus zentrale Thema der transzendentalphilosophischen Erkenntnistheorie hinaus reicht. Aber zunächst zur Verortung Steiners im Neukantianismus. Ich halte die Ausleuchtung des geistesgeschichtlichen Umfeldes, in dem sich Steiner bewegt, für ein fruchtbares und auch notwendiges Forschungsprojekt. Und dabei spielt der Neukantianismus durchaus eine wichtige Rolle. Man muss dabei aber zwei Dinge beachten. Der Neukantianismus ist keine in sich homogene philosophiegeschichtliche Strömung. Das bedeutet, man muss klären: Welches theoretische Problem  interessiert Steiner bei welchem Vertretern des Neukantianismus? Thematisch geht es, wenn ich das richtig sehe, vor allem die vom Neukantianismus aus begründete erkenntnistheoretische Kritik am Materialismus. Dieser erkenntnistheoretische Bezug deckt nun aber bei weitem nicht Steiners Verhältnis zu Kant ab. Ich habe den Eindruck, dass die Verortung Steiners im Neukantianismus von der Intention geleitet wird, Steiner in erkenntnistheoretischen Fragekontexten festzusetzen. Das aber wird seinem Verhältnis zu Kant nicht gerecht.

Martins: Wo und wie geht Steiners Verhältnis zu Kant über erkenntnistheoretische Fragen hinaus?

Traub: Mit ihm verbinden sich vor allem auch moralphilosophische Fragestellungen. Denken Sie etwa an die Kerndimension von Steiners Anthropologie, die Unterscheidung zwischen dem „Normal-Menschen“ und dem „höheren Menschen“. Hier gibt es eine bemerkenswert enge, wenn auch ambivalente Beziehung zu Kants Lehre vom „niederen“ und „höheren Begehrungsvermögen“. Diese, für Steiner höchst relevanten Freiheitsfragen kommen  in seiner  Auseinandersetzung mit den Vertretern des Neukantianismus nicht zur Sprache. Wegen der Gefahr der Problemverengung habe ich Schwierigkeiten mit dem Thema „Steiner im Neukantianismus“, wie ich überhaupt ein Problem mit der „Ismen“ Etikettierung von Philosophen habe. Steiner und der Spiritualismus, Steiner und der Okkultismus, Steiner und der Transzendentalismus oder Steiner und Neukantianismus usw. Die „Ismen-Debatte“ läuft meines Erachtens Gefahr, vom lebendigen Gedanken weg zu führen und sich in Strukturgittern philosophiegeschichtlicher Konstruktionen zu verfangen.

Martins: Was wäre Ihr Gegenvorschlag?

Traub: Es ist dringend erforderlich,  zwischen unserer Rekonstruktion von Steiners ideengeschichtlichem Umfeld einerseits und den Bezügen zu expliziten, philosophischen Positionen und konkreten Argumentationen, die Steiner selbst herstellt, andererseits, zu unterscheiden. Ich habe mich ausschließlich mit Letzterem beschäftigt. Der Vorteil ist dabei, dass ich mich auf sicherer textlicher Grundlage bewege.  Zwar nennt Steiner – etwa in der Philosophie der Freiheit – auch Vertreter des Neukantianismus, Friedrich Albert Lange zum Beispiel, konkrete oder thematische Argumentationszusammenhänge werden aber nicht wirklich hergestellt. Das ist bei Eduard von Hartmann, Fichte oder Kant deutlich anders. Bei diesen Autoren nennt Steiner die konkreten gedanklichen Zusammenhänge, mit denen er sich auseinandersetzt, ja, er zitiert sie gelegentlich, wie etwa Kant mit seinem Pflichtbegriff.  Diese Bezüge machen eine Erörterung von konkreten Sachfragen ergiebiger als eine hypothetische Zuordnung „des ganzen Steiner“ zu welcher Geistesströmung auch immer. Und nun zu meinem zweiten Punkt. Für eine Einschätzung von Steiners ideengeschichtlichem Kontext ist darüber hinaus eine angemessene Gewichtung der jeweils unterstellten Einflüsse von Bedeutung. Das heißt, neben der Frage: „Was ist unsere Rekonstruktion, und was ist Steiners eigene Referenz?“, muss auch die Frage, „Was ist marginal und was zentral?“ mit Blick auf „Steiner und der Neukantianismus“ erörtert werden.

Was bleibt nach der ideengeschichtlichen Kontextualisierung?

Martins: Reformulierte Steiner letztlich nur andere Beiträge? Gibt es eine originär Steinersche Position im philosophischen Diskurs seiner Zeit?

Traub: Kontextualisierung ist ein schillernder Begriff. Das habe ich ja soeben anzudeuten versucht. Wenn damit die epochale Kategorisierung Steiners in Strukturraster irgendwelcher „Ismen“ gemeint ist, dann tut man seinem philosophischen Ansatz keinen Gefallen. Man muss sich schon der Mühe des geistigen Mitvollzugs seines Denkens unterziehen, wenn man das Eigentümliche seiner Philosophie entdecken will. Im Übrigen bin ich nicht der Ansicht, dass Reformulierung oder Reorganisation mit  einem pejorativen Unterton verstanden werden sollte. Ich habe in meinem Buch Marcel Prousts „Gesetz der Optik des Geistes“ erwähnt. Dieses „vom Schicksal gewollte Gesetz“ ist für Ihre Frage nach der Reformulierung oder Originalität Steiners relevant. Proust behauptet, dass unsere eigene Weisheit dort beginnt, wo die des Autors endet. Was eben auch bedeutet, dass wir die Wahrheit von niemandem erhalten können, sondern dass wir sie selbst schaffen müssen. Was Autoren können, so Proust, ist: „unsere Liebe zu den Dingen zu erwecken, die für sie bedeutungsvoll sind.“ Die Schlussfolgerungen müssen wir jedoch selber ziehen und entwickeln.

Marcel Proust

“Was Autoren können, so Proust, ist: ‘unsere Liebe zu den Dingen zu erwecken, die für sie bedeutungsvoll sind.’ Die Schlussfolgerungen müssen wir jedoch selber ziehen und entwickeln.”

Traub: Wenn wir das „Gesetz der Optik des Geistes“ auf Steiner anwenden, dann sehe ich in der epochalen Entdeckung Fichtes, dass vom übersinnlichen Sehen des Ich aus eine wissenschaftlich begründete Weltanschauungslehre entfaltet werden kann, jenen Impuls, von dem Proust spricht, der bei Steiner die Liebe zu den Dingen erweckt hat, die auch Fichte wichtig waren. Nur, und auch darin kommt das „Gesetz der Optik des Geistes“ zur Anwendung, ging dieser Anstoß für Steiner nicht weit genug. Fichte hat Steiner, wie Proust sagt, keine Antworten, sondern „Wünsche“ gegeben, nämlich insbesondere den:  mit dem geistigen Sehen nicht nur die Phänomenologie des sich objektivierenden Geistes, sondern auch die Welt des okkulten Geistes wissenschaftlich, ja, naturwissenschaftlich zu erschließen und für die Lebenspraxis der Menschen fruchtbar zu machen. Ob diese Position wirklich originär ist, darüber kann man streiten. Denn mit dem Okkultismus haben sich ja auch viele andere Philosophen vor Steiner befasst. Die Intensität und Konsequenz aber, mit der Steiner dieses Projekt verfolgt hat, ist wohl einzigartig.

Martins: Natürlich, es gibt den Unterschied von Genese und Geltung. Kontextsensible Situierung – durchaus auch in „Ismen“ – entbindet nicht von der inhaltlichen Rekonstruktion und Analyse. Fichtes ‚Entdeckung‘ zu Steiners intellektuellem Kernmotiv zu erklären, halte ich aber für stark spekulativ: Der Philosoph Steiner warf Fichte – bei aller Zustimmung – eben auch vor, er wolle die ganze Welt aus einem Gedankengebäude herausspinnen. Erst als er selbst Esoteriker war, nahm Steiner Fichte auch auf diesem Gebiet in Schutz: Derartiges sei Fichte, Schelling, Hegel „niemals eingefallen“ (GA 35, 95).

Traub: Das ist nun ein sehr weites Feld, das Sie hier eröffnen. Aber ich gehe gerne darauf ein. Zuerst möchte ich noch einmal ausdrücklich betonen, dass sich Steiner zu Fichtes „Freiheitstat der Selbstsetzung des Ich“ und auch zu anderen Theoremen seiner Philosophie bereits vor der Abfassung der Philosophie der Freiheit  explizit bekannt hat. Quellen dazu sind sowohl Steiners Briefwechsel als auch seine Dissertation. Letztere spricht Fichte, neben der Entdeckung des „höheren Sehens“, das Verdienst gegenüber Kant zu, dessen vermeintlich formales Wissen des „Ich denke“ in die Forderung und Realisierung eines aktualen und unmittelbaren Vollzugswissens übersetzt zu haben. Die Zustimmung des jungen Steiner zu Fichte insbesondere zu diesem Punkt habe ich im Buch intensiv recherchiert und nachgewiesen. Ein weiterer Punkt der enthusiastischen Zustimmung Steiners zu Fichte – und zwar vor seiner theosophischen Konversion – betrifft Fichtes Liebeslehre aus der Anweisung zum seligen Leben. Auch den Vorbildcharakter des Wissenschaftsethos, das Fichte in seinen Vorlesungen über den Gelehrten entworfen hat, wird man für den jungen Steiner reklamieren dürfen. Die These, dass Steiner Fichte, den Philosophen des Ich, erst als Anthroposoph positiv rezipiert und verteidigt haben soll, ist m. E. nicht zu halten. Allerdings  haben Sie Recht, wenn Sie sagen, dass Steiner nicht allen Konsequenzen zustimmen konnte, die Fichte aus der „Thathandlung“ abgeleitet hat. Das ist aber kein Argument gegen Steiners grundsätzliches Bekenntnis zu einer Vielzahl von Theoremen der Philosophie Fichtes insbesondere zu dessen Theorie einer transzendentalen sowie existenzbezogenen Selbstkonstituierung des Ich.

“Übersinnliches Sehen”. Fichte und das Okkulte

Martins: Nochmal zum von Ihnen angesprochenen ‘übersinnlichen Sehen’ bei Steiner und Fichte. Ich möchte nicht Ihre zweifellos größere Kompetenz in Sachen Fichte herausfordern, aber wenn ich ihn richtig verstehe, ist dort die „intellektuelle Anschauung“ zwar ein ‚geistiges Sehen‘, aber das heißt nicht, dass man Geister sieht, sondern es geht um eine reflexive und auch phänomenologische Selbstkonstitution des Ich: Dieses Ich erzeugt sich in der Reflexion auf sich selbst. Und ohne auf Kants Kritik dieses Topos – dass Anschauung nicht ohne Sinnlichkeit möglich ist – einzugehen, würde ich behaupten, dass der ‚okkulte Geist‘ oder die Ideenschau der ‚Akasha-Chronik‘ sich davon doch qualitativ unterscheiden. In Fichtes Bestimmung des Menschen schaut mich zwar alles „aus hellen Geister-Augen“ an, aber Fichte präzisiert: „Auf das mannigfaltigste zerteilt und getrennt schaue in allen Gestalten außer mir ich selbst mich wieder, und strahle mir aus ihnen entgegen…“. Bei Steiner dagegen treten dem ‚Geistesforscher‘ Engel und Geister als von mir autonome Subjekte und ‚reale Wesenheiten‘ entgegen. Ist diese Fortschreibung Fichtes durch Steiner wirklich eine Verlängerung oder nicht auch eine entscheidende Transformation von Fichtes Anspruch?

Traub: Da möchte ich auf folgenden Umstand aufmerksam machen. Sie haben sicher Recht, dass es schwierig ist, die philosophische Theorie der „intellektuellen Anschauung“, wie sie Fichte in seiner Wissenschaftslehre vertritt, mit einer esoterischen Wesensschau zu vereinbaren. Allerdings sind für eine angemessene Beurteilung dieses Themenkomplexes drei Dinge mit in Betracht zu ziehen, die bei Fichte selbst über eine enge, rein philosophische Analyse der intellektuellen Anschauung hinausweisen:
1.  Es gibt im Denken Fichtes einen apokalyptischen Zug, der mit seiner frühen Berufswahl, Pfarrer zu werden, zusammenhängt.  Apokalyptische Symbolik finden wir nicht nur in Fichtes frühen Predigten, sondern auch in seinen späteren populär-philosophischen Vorträgen. Denken Sie etwa an die Vision von der Endzeit und dem  Anbruch der Heilszeit beim „Seher“ Hesekiel, mit der Fichte im realpolitischen Kontext seiner Reden an die deutsche Nation im Jahre 1808 arbeitet.  Auch die Engel- und Teufelszenarien aus der Apokalypse des 2. Petrusbriefs oder aus der Offenbarung des Johannes gehören zum Arsenal der Fichteschen  Bildersprache.  Übrigens hat Nietzsche über eines dieser von Fichte verwendeten apokalyptischen Bilder einen interessanten Aphorismus unter dem Titel „So ruft mit großem Munde der große Fichte“ verfasst.
2. Worüber man sich beim Thema Fichte und der Okkultismus auch im Klaren sein sollte ist der Umstand, dass Fichte in seiner Berliner Zeit nicht nur Mitglied einer Freimaurerloge, sondern „Oberredner im Inneren  Orient der Großloge“ war. Wer sich in der Freimaurerei ein wenig auskennt, weiß, dass damit ein vertieftes Wissen über die freimaurerische Lehre, die Geheimzeichen, die Zahlensymbolik usw. verbunden ist. Fichte hat mehrere Reden in den Logen über das Wesen der Freimaurerei gehalten und stand in seiner Jenaer Zeit lange Zeit im Verdacht, selbst eine geheime, illuministische Gesellschaft gründen zu wollen.
3. Fichte hat sich überdies intensiv mit dem Mesmerismus befasst. Seine Überlegungen dazu hat er im „Tagebuch über den animalischen Magnetismus“ festgehalten.  I. H. Fichte hat über den etwas kryptischen  Text ein hochinteressantes Urteil gefällt. Es sei ein Text, der zum Einen den Mittelpunkt des Idealismus am deutlichsten und tiefsten erfasst, und es sei der Text, der zeige, nach welchen Seiten hin Fichtes Idealismus weiterer Ausführungen bedürfe. Gemeint ist damit I. H. Fichtes Psychologie und Anthropologie, die eben auch eine Phänomenologie des Okkulten beinhalten.

Martins: Interessante Hinweise! Es gibt m.E. auch tatsächlich erstaunliche Parallelen zwischen einigen journalistischen Aufsätzen aus Steiners Wiener Zeit – z.B. die Polemik Papsttum und Liberalismus – zu Fichtes “Philosophie der Maurerei” (1802/3). Aber was bedeutet all das für die Frage nach dem Wesen des ‘inneren Sehens’ bei J. G. Fichte und dessen Verhältnis zum Okkultismus?

Traub: Meines Erachtens war Fichte selber sehr daran interessiert – und das besagen die Hinweise, die ich soeben gegeben habe –, die Grenzen und Möglichkeiten einer Erweiterungen der Prinzipien seiner exoterische Philosophie auf Gebiete des Esoterischen auszuloten. Das Thema „Fichte und Mystik“ hat in der Fichte-Forschung eine lange Tradition. Möglicherweise liegt in diesem Themenkomplex eines der Motive dafür, dass Steiner den alten Fichte für einen der bedeutenden Wegbereiter der Anthroposophie erklärt hat. Dass sich Fichtes Zugang zur Esoterik und zum Okkulten eher abgeklärt protestantisch als überbordend und bildreich katholisch wie bei Steiner gestaltet, ändert nichts an der Tatsache, dass eine gewisse Nähe, wenn nicht gar Affinität Fichtes zum Okkulten zu konstatieren ist.  Ein Zug, der, wenn man I. H. Fichtes Berichten über sein Elternhaus folgt, auch durch Johanne Marie Fichte, der Gattin des Philosophen, unterstützt wurde. Ein Letztes:  Sie haben auf den Unterschied zwischen der Annahme objektiver okkulter Wesenheiten bei Steiner und den eher subjekttheoretischen Charakter in Fichtes Lehre vom „höheren Sehen“ hingewiesen. Dem kann ich nur bedingt zustimmen. Denn in Fichtes Theorie des Geisterreichs tritt die „ideale Individualität“ (Originalität) des einzelnen Menschen in Beziehung zu anderen, durchaus objektiven Geistern. Und was Ihr Zitat aus der Bestimmung des Menschen betrifft, so könnte man mit Recht danach fragen, ob es sich dabei nicht um eine Fichte spezifische Fassung des „tat twam asi“ (das bis du), das heißt um die individualitätserhaltende gleichwohl aber universalitätserschließende Einheitserfahrung der indischen Mystik handelt.  Wie gesagt: Ein weites Feld. 

Theosophie, Anthroposophie und “östliche” Philosophie

Steiner mit Annie Besant, Präsidentin der “Theosophischen Gesellschaft”

Martins: Der von der Waldorfzeitschrift „Erziehungskunst“ beschäftigte Wachhund einer ultrakonservativen Steinerdeutung, Lorenzo Ravagli, hat Ihr Buch in einer Rezension wie folgt vereinnahmt: „Traubs Untersuchung führt einen tausendseitigen Nachweis darüber, dass sowohl Steiners Philosophie als auch die Anthroposophie mit allen denkbaren Wurzeln und Fasern in der Philosophie des deutschen Idealismus verankert ist und dass die zuletzt von Helmut Zander weitschweifig erhobene Behauptung, die Anthroposophie sei ein Abklatsch der Adyar-Theosophie, offenbar auf einem grundlegenden Missverständnis beruht.“ Schließen Sie tatsächlich eine Beeinflussung Steiners durch die theosophische Kosmo- und Anthropologie aus?

Traub: Nein, das tue ich nicht. Meine These lautet ja nicht, dass es den Einfluss der Adyar-Theosophie nicht gegeben hat. Sondern ich habe zu zeigen versucht, dass sich Steiners  Auseinandersetzung mit den östlichen Weisheitslehren  auf der Grundlage und im Interpretationsrahmen europäischer Ideen- und Geistesgeschichte vollzog. Diesem Kontext sind ja weder der Reinkarnationsgedanke noch okkultes Denken oder Einweihungsrituale und Geheimwissenschaften fremd. Allerdings darf man bei aller ideengeschichtlichen Kontextualisierung nicht ganz außer Acht lassen, dass bei Steiners  „Adaptionsbiographie“, die ja nicht auf die Philosophie des Ostens beschränkt ist, auch die Frage nach einer sicheren „Berufsperspektive“ stets eine Rolle gespielt hat. Neben dem zweifellos sachlichen „Fascinosum“ der östlichen Weisheitslehren, dem sich Steiner nicht entziehen konnte und auch nicht entziehen wollte, wird sicher auch ein „kalkulatorisches“ Moment mit im Spiel gewesen sein.

Martins: Oh ja! Aber erlauben Sie einen Einwurf zur ‘östlichen’ Theosophie. In meiner Rezension zu Ihrem Buch habe ich geschrieben: “Das Indienbild Steiners und der Theosophen hatte mit buddhistisch-hinduistischer Geistigkeit so viel zu tun wie ein Zitrone-Lotusblüte-Tee Marke Pfanner mit einer japanischen Teezeremonie.” Das ist zwar Polemik, aber für falsch halte ich zumindest die These, dass die Theosophie eine ‚östliche‘ Philosophie sei: Die evolutionäre Anthropologie Blavatskys und Sinnets – versunkene Kontinente, eine Abfolge von ‚Rassen‘ als Medien der Evolution usw. – hat sehr detaillierte Vorbilder im französischen Martinismus, v.a. von Fabre d’Olivet und gleicht in der ‘rassisierten’ Struktur mehr Haeckel als einer brahmanischen Emanationsvorstellung. Die siebenfältige Kosmologie entstand, darauf hat Joscelyn Godwin aufmerksam gemacht, ausgerechnet in der Auseinandersetzung mit der Hermetic Brotherhood of Luxor, wo man versuchte, die vier ‚yugas‘ mit den biblischen Schöpfungstagen auf einen Nenner zu bringen. Überdies fällt auf, dass Blavatsky sich laut Tagebuchnotizen im fraglichen Zeitraum mit Johannes Trithemius‘ De septem secundeis auseinandersetzte, ebenfalls ein jeweils siebenstufiges Geschichtsmodell. Die theosophische Meditationspraxis scheint, wie Karl Baier 2009 überzeugend dargestellt hat, weit weniger mit ‚indischer‘ Kontemplation zu tun zu haben,  als vielmehr mit dem Mesmerismus, mit dem sich auch Schopenhauer und – wie sie schon sagten – Fichte beschäftigt haben. Überdies werden in Blavatskys „Geheimlehre“ dutzende Male Leibniz, Schelling und Hegel bemüht und zitiert. Ich behaupte, nicht Steiner machte eine ‚östliche Phase‘ durch, sondern die Theosophie war letztlich eine ‚östlich‘ explizierte Position innerhalb westlich-esoterischer Strömungen. Gehen Sie da mit?

Traub: Wenn ich das richtig verstanden habe, dann vertreten Sie eine Applikationsthese, die noch weiter geht, als das, was ich in meinem Buch über Steiner und die östliche Weisheit  gesagt habe. Ob bei ihm oder anderen ein ernstes und genuines Interesse an indischer Philosophie vorliegt oder nur ein Projektionsprozess europäischer Ideen in Horizonte hinduistischen Denkens vollzogen wird, darüber müsste im Einzelfall entschieden werden. Meine These ist ja nur, dass ich Steiner – bei aller Sympathie für außereuropäische Geistesströmungen  – eine grundlegend europäisch, genauer idealistisch geprägte Weltanschauung unterstelle.

“Es gibt keine Schlusssteine in der Philosophie”

Martins: Sympathie oder Antipathie, auch darüber wäre zu diskutieren. Ernstes Interesse am Hinduismus würde ich den Theosophen natürlich auch nicht absprechen, aber ich glaube, dass sie den Hinduismus vor allem als Antwort und Autorität in Disputen des westlichen Okkultismus heranzogen. Um nochmal auf die “Erziehungskunst”-Rezension zurückzukommen: Ravagli dient der Nachweis, dass Steiner in der Denktradition des Deutschen Idealismus zu verorten sei, natürlich nicht zur geistesgeschichtlichen oder kritischen Einordnung, sondern um die Anthroposophie als Erbin oder vermeintlichen Schlussstein deutscher Philosophie in toto legitimieren zu können. Grundlage ist hier eine apologetisch-retrospektive Deutung von Steiners früher Philosophie durch die Brille seiner späteren Esoterik. Es wird vorausgesetzt, dass Steiner immer schon auf seine spätere sog. „Initationswissenschaft“ hingearbeitet habe. Wie beurteilen Sie eine solche Interpretation?

Traub: Auf die Schwierigkeiten der retrospektiven Interpretation bin ich ja schon eingegangen. Was die „Initiationswissenschaft“ angeht, habe ich auf den bemerkenswerten Methodenwechsel in Steiners philosophischer Didaktik hingewiesen. Während Steiner insbesondere die Philosophie der Freiheit  als ein denkerisches „Selbsterfahrungsabenteuer“ inszeniert, haben die späteren Schriften eher  den Charakter von „Lehrdidaktiken“. Sie sind weniger Experiment als vielmehr Anleitung. Exemplarisch für diesen Wechsel sei auf die in meinem Buch intensiv erörterten Konsequenzen aus Steiners interpretatorischer Neujustierung des Einstiegs in die Philosophie der Freiheit in der zweiten Auflage hingewiesen. Was nun den ersten Teil Ihrer Frage betrifft, so besteht zwischen der darin aufgestellten Vollendungsthese und Grundlegungsthese kein notwendiger Zusammenhang. Denn die Vollendung des deutschen Idealismus in Steiners esoterischer Anthroposophie setzt deren Annahme als Grundlage für den Vollendungsprozess nicht voraus. Hier sind wir wieder beim Thema „Teleologie“ und der Frage nach der Möglichkeit, Zweckbegriffe als Ursachen für geistesgeschichtliche Entwicklungsprozesse annehmen zu können. Ich wiederhole das gerne noch einmal, Steiner hat entschieden bestritten, dass man das auf eine seriöse Weise tun kann.
Noch ein Wort zum Bild: „Die Anthroposophie sei der Schlussstein der Entwicklung des Idealismus.“ Schlusssteine haben das Unangenehme an sich, dass nach ihrem Einsatz eine lebendige Bauphase beendet wird. Für die Philosophiegeschichte mit solchen Bildern zu arbeiten, halte ich angesichts dessen, worum es hier geht, nämlich um den lebendigen Geist, für wenig angemessen. Insbesondere dann, wenn ein solcher Schlussstrich für das ganze Unternehmen des Denkens und Wirkens Rudolf Steiners, der deutschen Philosophie oder der Philosophie und Geistesgeschichte überhaupt reklamiert wird. Das zu postulieren ist ebenso sinnlos, wie mit Netzen einen Fluss am Fließen hindern zu wollen. In diesem Zusammenhang darf ich vielleicht auf das Buch eines der tiefsinnigsten Idealismusforscher der Gegenwart hinweisen. Es trägt den für unser Thema sehr sprechenden Titel: Die dreifache Vollendung des Idealismus. Der Autor, Wolfgang Janke, kommt in diesem Buch zu dem Ergebnis, dass es neben den großen systematisch durchgearbeiteten Vollendungsgestalten des Idealismus in den Werken Fichtes, Schellings und Hegels vor allem Fichtes „ungeschriebene Lehre“, also die verlebendigende Kraft des mündlichen Vortrags ist, in der der Geist des Idealismus „vollendet“ zum Ausdruck kommt, das heißt,  worin er sich stets erneuert und weiterentwickelt. Es gibt keine Schlusssteine in der Philosophie. Sie zu proklamieren ist nicht die Vollendung, sondern das Ende der Philosophie.

Martins: Wie sieht dann das Verhältnis von Philosophie und anthroposophischer Geisterseherei aus? Führt von Kant und Fichte ein Weg zum Postulat atlantischer Planetenorakel, asurischer Heerscharen, zweier Jesusknaben oder Buddhas Mission auf dem Mars?

Traub: Ich habe ja schon gesagt, dass Steiner nach dem „Gesetz der Optik des Geistes“ durch Fichte auf den Weg gebracht wurde, das übersinnliche Sehen weiter zu entwickeln und auch auf das Okkulte anzuwenden. Auf die Ansätze zu einem solchen Unternehmen bei Fichte selbst habe ich ja ebenfalls hingewiesen. Wie weit eine seriöse Forschung in dieser Sache gehen kann, das mag ich nicht abschließend zu beurteilen. Denn auf meinem Weg durch die philosophischen Frühschriften Steiners steht nach der geleisteten Grundlegung als nächstes die Skizzierung eines Grundrisses seiner Philosophie an. Das heißt, ich möchte im Ausgang von meiner kritischen Analyse und ohne anthroposophische Anleihen die Elemente und Strukturen des philosophischen Denkens Rudolf Steiners entwickeln. Das wäre dann die Voraussetzung für einen exoterischen Deutungsversuch von Steiners Esoterik. Die Frage, was es mit den von Ihnen angesprochenen Phänomenen auf sich hat, ob es sich dabei um esoterische Denksportaufgaben, okkulte Fantasy oder diskussionswürdige Verbildlichungen geistiger Phänomene handelt, bleibt abzuwarten.

“Liquidiert wurde der anarchistische ‘Aufbruch in die Freiheit’”

Martins: Steiner hat seine Frühschriften nach 1900 einer esoterischen Relektüre unterzogen und die philosophischen Positionen teilweise stark überarbeitet. Welche Topoi wurden in dieser apologetischen Neudeutung liquidiert und welche kamen neu hinzu?

Traub: „Liquidiert“, wenn ich diese Vokabel aufgreifen darf, wurde der anarchistische „Aufbruch in die Freiheit“, also das, was den frühen Steiner – auch Stirner, Nietzsche und Fichte –  besonders anziehend macht: Das Freiheitsmotiv, das die Philosophie seit ihren europäischen Anfängen in denkenden Wesen anspricht und zum Klingen bringt, der unüberwindliche Glaube an die selbstschöpferische Kraft des Individuums. Da Stirner noch Nietzsche und auch Fichte keine „Kirche“ gegründet haben, bestand für sie kein Anlass, sich von ihrem radikalen Freiheitsbekenntnis zu distanzieren.  Bei Steiner ist das anders. Wie bei der Bildung aller Organisationen wurde im Zuge der wachsenden Institutionalisierung seines anthroposophischen Unternehmens auch für ihn die Kanonisierung der Lehre zu einer drängenden Aufgabe. Absicherung gegen Fehldeutungen, der Umgang mit Abweichlern und Häretikern rufen nach autorisiertem Dogma und Deutungshoheit in Zweifelsfragen. Zanders Steiner-Biographie zeigt dieses Problem sehr schön am Spannungsverhältnis zwischen der anthroposophischen Gesellschaft und der von Steiner gegründeten Christengemeinde. Was für Steiner jetzt in den Vordergrund rückt sind systemische Strukturen: eine ausgefeilte Seelentopographie, eine dezidiert seherische Haltung gegenüber den philosophischen Themen, wobei das Seherische nicht mehr das intellektuelle Sehen des Idealisten, sondern die inspirierte Schau des Mystikers meint. Auch an den didaktischen Wandel – vom denkerischen Selbstexperiment  zur geistigen Anweisung -  sei hier noch einmal erinnert. Es ist insgesamt ein Wechsel von einer Begriffssprache zu einer Bildsprache, ein Wechsel von rationalem zu spirituellem Denken zu verzeichnen.

Max Stirner, Skizze von Friedrich Engels

“Löcher im Kerygma”

Martins: Der vor-theosophische Steiner wird, wo man ihn nicht auch schon zum Okkultisten erklärt, gern zum Freigeist und radikalen Religionskritiker stilisiert. Sie dagegen sehen beim frühen Steiner dezidiert religionsphilosophische Theoreme. Was sind deren Kernpunkte – und warum hat Steiner die Gottesbezüge in seiner „Philosophie der Freiheit“ in der theosophischen Überarbeitung 1918 nahezu geräuschlos entfernt?

Traub: Steiners Kindheit umfängt ein anthroposophischer Mythos. Das Motiv für die Stilisierung des Freigeists und Technikfreaks Rudolf Steiner beruht auf einem Kompatibilitätspostulat, das verlangt, dass alles aus Steiners Biographie, was dem anthroposophischen Deutungsmonopol widerspricht, entweder umgedeutet oder ignoriert wird. Das ist ein aus dem Gemeindebildungsprozess des Christentums bekannter und gut erforschter Vorgang. Lassen Sie mich das kurz erläutern. Der durch Christus gestiftete Glaube impliziert eine bestimmte Deutung Jesu zu den Verhältnissen seiner Zeit. Dazu gehörte unter anderem die oppositionelle ja feindselige Haltung von Pharisäern und Schriftgelehrten gegenüber Jesus. Schließlich, so will es die Überlieferung, waren sie ja auf seinen Tod bedacht. Bei der Verfassung der Evangelien wurde durch die gläubigen Evangelisten genau darauf geachtet, dass dieses Bild kanonisiert wurde. Leider, oder Gott sei Dank, sind sie mit dem vorliegenden Quellenmaterial nicht konsequent umgegangen. Denn – wie der Theologe Ernst Käsemann herausgefunden hat – gibt es Stellen im Neuen Testament, in denen sich die Todfeinde Jesu als dessen Beschützer erweisen, die ihn vor den Nachstellung des Herodes warnen (Luk. 13, 31). Jesus nimmt die Warnung an und entflieht dem Machtbereich des Herodes. Diese mit dem Glauben (Kerygma) inkompatiblen Ereignisse im Leben Jesu  werden „Löcher im Kerygma“ genannt. Denn sie ermöglichen Einblick in Lebensumstände Jesu, die mit der durch den Glauben geprägten Auffassung vom Leben Jesu nicht vereinbar sind.

Martins: Und wo liegen diese “Löcher” in der mythifizierten Kindheitsgeschichte Steiners?

Traub: Ähnlich wie die Evangelisten, so geht auch die anthroposophische Steiner-Forschung mit der Kindheit Steiners um. Es führt sicher zu weit, die Ergebnisse meiner Untersuchung zur religiösen Sozialisation Steiners im Einzelnen hier vorzutragen. Aber soviel kann man in aller Kürze sicher behaupten: Steiner hatte als Kind ein positives Verhältnis zur katholischen Kirche, insbesondere zu  „mystikaffinen“ Elementen der Liturgie. Auch das asketische Leben der Mönche hatte einen besonderen Reiz für ihn. Dieser Eindruck muss im Zusammenhang mit der religiösen Sozialisation von Johann Steiner gesehen werden. Rudolf Steiner hat an den Reformbestrebungen der Katholischen Kirche großes Interesse gezeigt. Letztlich mündet seine katholische Biographie in der Gründung einer Kirche, deren (alt)katholische Prägung kaum zu übersehen ist. Religionskritik und tiefer Glaube sind keine Gegensätze, sondern komplementäre Verhaltensmuster. Es sind gerade tiefreligiöse Menschen, die die größten Kirchen- und Religionskritiker sind und waren. Denken Sie etwa an Martin Luther. Die Religionsgeschichte lebt in ihrer Vielfalt geradezu von Häretikern und Schismatikern.

“Die Welt ist Gott”

Traub: Zu Ihrer zweiten Frage [nach den entfernten Gottesbezügen – AM] möchte ich sagen, dass ich das nicht so sehe, dass die zweite Auflage der Philosophie der Freiheit Gottesbezüge geräuschlos entfernt hätte. Der dritte Teil „Die letzten Fragen“ enthält nach meiner Lesart eine eigenständige theologische Kosmologie, in der das „Leben in Gott“ den Höhepunkt der Steinerschen Intuitionslehre bildet. Auch an anderen Stellen der Philosophie der Freiheit setzt sich Steiner ausführlich mit der Gottesfrage auseinander. Von einer Entfernung der Gottesbezüge in der zweiten Auflage würde ich nicht sprechen. Denken Sie da eine spezielle Passage?

Martins: Ich denke weniger Passagen – so lang ist das Kapitel ja nun schlicht nicht – als eindeutige Formulierungen, beispielsweise Steiners spinozistisch-pantheistisch angehauchte Aussage: „Die Welt ist Gott“. Diese Definition schickte Steiner in der 1. Auflage dem „Leben in Gott“ voraus. In der 2. Auflage der “Philosophie der Freiheit” fehlt sie.

Exkurs Spinoza: Welterkenntnis sei Gotteserkenntnis. “Da ferner ohne Gott nichts sein noch begriffen werden kann, so ist gewiss, dass jedes Ding in der Natur entsprechend seinem Wesen und seine Vollkommenheit ausdrückt. Je mehr wir daher die natürlichen Dinge erkennen, desto größer wird auch unsere Erkenntnis Gottes … Und so hängt also unsere ganze Erkenntnis, d.h. unser höchstes Gut, nicht so sehr von der Erkenntnis Gottes ab, sondern besteht vielmehr ganz und gar aus ihr.” (Spinoza, Tractatus Theolologico-politicus, in: Sämtliche Werke, III, 68)

Traub: Was die „Korrektur“ des Textes zur zweiten Auflage im Hinblick auf die Formulierung „Die Welt ist Gott“ betrifft, stimme ich Ihnen zu. Man kann diese Streichung in der zweiten Auflage vielleicht aus der Befürchtung Steiners verstehen, das „ist“ in der Formulierung „Die Welt ist Gott“ als eine Ontologisierung seines Gottesverständnisses zu missdeuten. Meines Erachtens ist diese Befürchtung aber unbegründet. Denn der Kontext des Kapitels lässt eine solche Missdeutung eigentlich nicht zu. Steiner erläutert ja im Vorfeld, dass das mit Gedanken erfüllte Leben in der Wirklichkeit „ein Leben in Gott“ ist. Wobei Wirklichkeit die lebendige Einheit von Wahrnehmungs- und Ideenwelt meint. Eine ontologisierende oder transzendierende Projektion dieses Lebens in ein Jenseits oder eine transzendente Substanz  ist an dieser Stelle gänzlich auszuschließen. Folglich führt der Versuch, die lebendige Wirklichkeit, also die Einheit von Wahrnehmungs- und Ideenwelt, über ihre individualitäts- und interpersonalitätsbezogene Erlebnisqualität, das heißt über das „Leben in Gott“ hinaus, in ihrer objektiven Realität zu denken, schlüssig auf den Satz: „Die Welt ist Gott.“

Martins: Noch einmal zurück zu Steiners religiöser Prägung in seiner Kindheit: Eine religionsaffine Sozialisierung Steiners fände ich zwar plausibel, aber das einzige Dokument, das wir dazu heranziehen können – seine Autobiographie „Mein Lebensgang“ – ist in vielen Passagen stark apologetisch und eine rückblickende Selbststilisierung des über sechzigjährigen Steiner. Wieso sind Sie so optimistisch ob deren Verlässlichkeit?

Traub: Zur Frage, warum ich die Auskünfte aus „Mein Lebensgang“ im Hinblick auf meine Analysen zu Steiners religiöser Sozialisation für verlässlich halte, möchte ich dreierlei sagen. Das Erste ist ein erziehungswissenschaftliches Plausibilitätsargument, das sich auf unsere Erfahrungen mit Enkulturations- und Sozialisationsprozessen stützt. Vorausgesetzt, Steiners Angaben zur Biographie seiner Eltern enthalten im Kern etwas Zutreffendes, dann ist schwer verständlich zu machen, warum die klösterliche Prägung seines Vaters keine Rolle für die weltanschauliche Entwicklung des Sohnes gespielt haben soll. Vor allem dann, wenn es für diese Annahme weitere positive Anhaltspunkte aus der Biographie Steiners selbst gibt. Das zweite Argument für eine starke Auslegung der religiösen Sozialisation beruht auf dem, was ich eben zu Ernst Käsemann und den „Löchern im Kerygma“ gesagt habe. Gerade weil Steiner selbst und insbesondere die anthroposophische Steinerdeutung  die von mir herausgearbeiteten Aspekte der Biographie gerne ausblenden, weil sie dem Bild vom Freigeist widersprechen, muss man ihnen meines Erachtens besondere Aufmerksamkeit schenken. Das Dritte ist, dass, außer in „Mein Lebensgang“, in Steiners Briefen und seinen frühen Schriften Stellungnahmen zu theologischen und religiösen Phänomenen vorliegen, die gemeinsam mit den Kommentaren zur Biographie ein einigermaßen klares Bild über gewisse Eckpunkte seiner frühen religiösen Prägung ergeben.  So stützt etwa Steiners Kritik am Rationalismus des Protestantismus seine Berichte über die Faszination, die die katholische Liturgie oder das „Geheimnis“ des klösterlichen Lebens auf ihn ausgeübt haben. Oder Steiners positive Bewertung des Altkatholizismus in seinen Briefen ergänzen plausibel seine Kritik an der autoritären Beichterfahrung, wie sie sich in der Philosophie der Freiheit findet usw.

Sackgassen und Forschungslücken

Martins: Die Etablierung einer nichtanthroposophischen Steinerforschung steht bisher aus bzw. steckt noch in den Kinderschuhen einer grundsätzlichen historisch-kritischen Erschließung. Welche Funde und Innovationen würden Sie hier erwarten?

Traub: Im Anschluss an meine Ausführungen zu Steiners religiöser Sozialisation erwarte ich zunächst die Komplettierung der von der Anthroposophie einseitig betonten naturwissenschaftlichen Prägung Steiners sowie der daraus abgeleiteten fundamentalistischen Kanonisierung der Erkenntnistheorie als einzigem Deutungsrahmen der Philosophie Rudolf Steiners. Das hätte zur Folge, dass auch andere bedeutende Felder seines Denkens, solche, die nicht durch die Erkenntnistheorie dominiert werden, zur Sprache kommen könnten. Selbstverständlich sehe ich die Bedeutung, die Steiners Arbeit an Goethes naturwissenschaftlichen Schriften für seine Weltanschauung hatte. Was ich aber auch sehe, und zwar mit großem Bedauern für die Vielfalt der Themen des Steinerschen Denkens, ist, dass die Fixierung des Blicks auf den naturwissenschaftlichen Goethe und durch ihn auf eine idealistisch vervollständigte Naturwissenschaft  in eine interpretatorische Sackgasse führt.
Dem korrespondiert meines Erachtens auch der oben erwähnte Versuch, den betont erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch ausgelegten Neukantianismus für die Philosophie Rudolf Steiners fruchtbar machen zu wollen. Was aussteht ist unter anderem: Die Klärung der Frage nach der Freiheit des Geistes im  existenziellen wie theoretischen Sinn, die Konzeptionalisierung der frühen Erkenntnistheorie, die Grundlegung einer Ethik aus dem Geist der Freiheit, die Entwicklung einer Theorie und Praxis der Interpersonalität und die einer Kulturgeschichte der moralischen Entwicklung, das Problem ethischer Implikationen naturwissenschaftlicher Forschung, die Frage nach einer philosophisch begründeten Idee von Kunst, Religion und Wissenschaft, die Einbettung der unterschiedlichen Themen in eine philosophische Kosmologie inklusive einer produktiven Religionskritik, die  Klärung des Verhältnisses von Intuition und begrifflicher Argumentation. Das alles sind brachliegende Felder im philosophischen Denken Rudolf Steiners, deren Fruchtbarmachung und kohärente Darstellung ohne interpretatorische Hilfestellungen der esoterischen Anthroposophie auskäme und die überdies mehr zu bieten hätten, als eine erkenntnistheoretisch begrenzte Naturforschung. Ich denke und hoffe, dass wir in zehn Jahren über diese Themen eine breitere Diskussion in der Steiner-Forschung führen werden.

Martins: Da bin ich leider mit Blick auf die bisher mangelnde Diskussionsbereitschaft weiter anthroposophischer Kreise skeptisch. Aber ich hoffe mit und bin gespannt. Danke für Ihre Antworten!

————————————————————————————————————

Hartmut TraubDr. Hartmut Traub ist Studiendirektor am Seminar für schulpraktische Lehrerbildung in Essen und Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der Johann-Gottlieb-Fichte-Gesellschaft. Promotion über Fichtes Populärphilosophie und Herausgeber u.a. des Briefwechsels zwischen Schelling und Fichte, der Fichte-Studien und der Fichte-Studien Supplementa. Lehraufträge in Philosophie und Philosophie-Didaktik an der Mercator Universität Duisburg, der Universität Duisburg/Essen und der Alanus-Hochschule Alfter.

————————————————————————————————————-


Vgl. zum Thema: Philosophie und Anthroposophie. Zu Hartmut Traubs Steiner-Exegese, Wieviel Fichte steckt im Werk von Rudolf Steiner?


Einsortiert unter:Anthroposophie & Philosophie, Hartmut Traub

“Selbstverwaltung”. Neues von der WaldorfSV

$
0
0

Die WaldorfSV “ist die Vertretung der Schüler/innen der im Bund der Freien Waldorfschulen e.V. zusammengeschlossenen Schulen.” Als solche ist sie (seit 2010 auch formal) in die Gremien des Bundes der Freien Waldorfschulen eingereiht und in dessen Arbeit auch personell vertreten. Nach außen hat die WaldorfSV bisher m.W. nirgends Aufsehen erregt – abgesehen von einer Polemik auf Andreas Lichte, verfasst vom Ex-Vorstand Valentin Hacken, auf dem Blog Ruhrbarone.

In der Selbstwahrnehmung hat die WaldorfSV jedoch “in den letzten Jahren, insbesondere seit 2007, einen erheblichen Wandel vollzogen, wie vielfach konstatiert. Aus einem Tagungsnetzwerk für Open-Space-Tagungen wurde ein Bundesschülerrat, der ernsthafte, konstruktive und kritische Auseinandersetzung mit Waldorfschule betrieben hat.” (Offener Brief). Ich habe in meiner Schulzeit und als Schülervertreter der Waldorfschule Mainz an einigen solcher Tagungen teilgenommen, die Plattformen für wirklich anregende Workshops, sublim anthroposophische Vorträge und vor allem die Möglichkeit zur Vernetzung mit SchülerInnenVertretungen anderer Waldorfschulen boten. Die Rolle einer wirklichen Vertretung gegenüber dem Bund hatte die WaldorfSV damals noch nicht. Die Möglichkeit etwa, Anträge an die zweimal im Jahr stattfindenden Tagungen zu stellen oder über das Arbeitsprogramm des immerhin demokratisch gewählten Vorstandes abzustimmen, war im Ablauf dieser Tagungen nicht vorgesehen. Erst seit Anfang 2010 existiert eine neue Geschäftsordnung, die glücklicherweise genau das umfassend vorsieht und ermöglicht.

Vor dem Hintergrund dieser begrüßenswerten Entwicklung überraschte kürzlich ein Offener Brief, den amtierende und ehemalige FunktionärInnen der WaldorfSV unterzeichnet haben:

“Zum 13. Juni 2012 hat die WaldorfSV die Geschäftsstelle geschlossen und alle Projekte eingestellt. Es haben, bis auf den amtierenden Vorstand, alle Ehrenamtlichen ihre Arbeit niedergelegt.
Selbstverwaltung ist nie und für niemanden einfach, doch hier geht es um ein grundsätzliches, ein strukturelles Problem, das eine sinnvolle Arbeit verunmöglicht. Mit einem Budget unterhalt der 3.000 Euro im Jahr, einer Infrastruktur ohne eine einzige hauptamtliche Stelle und dem Aufwand und Anspruch einer bundesweiten Schülervertretung, sehen wir keine Zukunft! Im Gegenteil haben wir in den letzten Jahren erleben müssen, wie sehr engagierte und fähige Schülervertreter_innen nicht nur ihre Schule vernachlässigt haben, sondern auch zunehmend resigniert, traurig und manchmal zerstört ihre Arbeit aufgegeben haben, weil sie keine Chancen mehr sahen, sich ernsthaft zu beteiligen; ihre Projekte einstellen mussten, und das nicht aus Mangel an Initiative! Dies gilt auch besonders für die regionalen Arbeitsgruppen, die sowohl in Zusammenarbeit mit der WaldorfSV und unabhängig nie mehr als ein Jahr geschafft haben.” (Offener Brief)

Das Schreiben soll in den nächsten Tagen an alle Schulen, Seminare und Landesarbeitsgemeinschaften der Waldorfbewegung verschickt werden, heute (am 1.7.12) ging es über den Verteiler der WaldorfSV. Zurecht wird darin festgehalten: “Was für die staatlichen Landesschülerräte – in denen teils auch Waldorfschüler_innen die freien Schulen vertreten – selbstverständlich ist, benötigt auch die WaldorfSV: eine hauptamtliche Stelle, eine pädagogisch- und verbandstechnisch-politische Betreuung der Ehrenamtlichen.” Weiter wird die organisatorische Gleichstellung mit dem Bundeselternrat der Waldorfschulen “als Organ und mit Stimmberechtigung in der Bundeskonferenz” verlangt. Am Wochenende vom 6.-8. Juni 2012 treffen sich Vorstand und andere Ehrenamtliche der WaldorfSV in Offenburg, wo eine Pressemitteilung verfasst und das weitere Vorgehen besprochen werden soll. Sollte der Waldorf-Bund nicht reagieren, will der ‘Bundesschülerrat’ seine Arbeit nach einer vorerst letzten Tagung in Haan-Gruiten endgültig einstellen.

Vermutlich hat der Bund der Freien Waldorfschulen kein Interesse an einer solchen Selbstauflösung: Die Hauszeitschrift Erziehungskunst gibt den Offenen Brief im Wortlaut wieder (Bundesschülerrat legt Arbeit nieder), laut Valentin Hacken (langjähriges Vorstandsmitglied und weiterhin Geschäftsführer der WaldorfSV) hat der Vorstand des Bundes inzwischen informell Gesprächsbereitschaft signalisiert. Michael Mentzel lässt Henning Kullak-Ublick zu Wort kommen, der findet, der Brief sei auch gar nicht “konfrontativ, sondern einfach um Klarheit bemüht”. Kullak-Ublick begrüßt eine starke SchülerInnenbeteiligung und versprach eine “gründliche” Auseinandersetzung mit dem Anliegen der SVler (TdZ).

Was die WaldorfSV nicht kritisiert ist das sehr viel grundsätzlichere Problem von SchülerInnenVertretungen an Waldorfschulen. Das ist ihr fürs Erste nicht vorzuhalten: es ist selbstverständlich, dass die akuten Probleme Vorrang haben. Doch obwohl es inzwischen an vielen Waldorfschulen mehr und/oder weniger gut organisierte SchülerInnenVertretungen gibt – in der esoterisch ummantelten, “selbstverwalteten” Struktur dieser Schulen waren diese niemals eingeplant. Das gemeinsame Leitbild der deutschen Waldorfschulen ist zwar von lächelnden Kindergesichtern umrahmt, doch darin heißt es zur Verwaltung der Schulen:

“Das Engagement und die Zusammenarbeit von Eltern und Lehrern sind die Grundlage der gemeinsamen pädagogischen und wirtschaftlichen Trägerschaft einer Waldorfschule. Organisation, Leitung und Verwaltung der Schule werden von Lehrern und Eltern nach den sozialen Impulsen der Anthroposophie selbst gestaltet. Die Lehrer beteiligen sich an der kollegialen Selbstverwaltung der Schulen. Die Verantwortlichkeit für Prozesse und Entscheidungen ist klar definiert und transparent.”

Pädagogische oder ‘wirtschaftliche’ Mitverantwortung und -verwaltung seitens der Schülerinnen und Schüler wird dort nicht erwähnt. Einzelne Waldorfschulen weichen davon ab: “Eltern, Lehrer, Schüler, Mitarbeiter der Schule und des Ganztagesbereiches gestalten das Schulleben in Selbstverwaltung”, heißt es etwa im Leitbild der FWS Mainz. Aber während sich mit der Literatur zu den ‘okkulten’, dreigliedrigen Grundlagen der waldorfpädagogischen ‘Selbstverwaltung’ Bibliotheken füllen ließen, muss man lange nach spezifisch waldorfpädagogischen Entwürfen für eine SchülerInnenMitverwaltung suchen.

Die kommen, wenn überhaupt, meist sehr vage daher. Johannes Kiersch beispielsweise betont “das Prinzip der gemeinsamen Verantwortung” und nennt dazu auch “die vielfältige Mitbeteiligung von Schülern und Eltern am Leben der Schule außerhalb des Unterrichts” (Kiersch: Die Waldorfpädagogik, Stuttgart 2007, 57). Doch die einzige mir bekannte ausführliche Konzeption eines “Organs der Schülerschaft” findet sich ausgerechnet bei Stefan Leber (Die Sozialgestalt der Waldorfschule, Frankfurt a.M. 1984, 292-301). Leber beschreibt die Rolle einer “Schülerkonferenz” mit konstitutiver Mitverantwortung, die u.a. auch zwei Deligierte “zur Teilnahme an der Allgemeinen Lehrerkonferenz” entsendet. Leber realisiert, dass die “schulischen Prozesse der Zusammenarbeit der Schüler und Lehrer bedürfen.” (ebd., 300).

Solche Erkenntnisse finden trotz, nicht wegen der waldorfpädagogischen Grundlagen statt. Die von Rudolf Steiner kompilierte Pädagogik soll zwar das heilige ‘Ich’ der Schülerinnen und Schüler fördern und dessen (Selbst-)Entfaltung fördern. “Das heißt: Jedes Kind auf jeder Altersstufe erzieht sich selbst … Was diese Individualität dann von sich aus tut, kann nur abgewartet und nicht geplant werden. Daher Steiners schon früh auftretende kontinuierliche Mahnung an seine pädagogischen Schüler, jedes Kind als niemals völlig zu lösendes ‘Rätsel zu betrachten und zu respektieren.” (Johannes Kiersch: Waldorfpädagogik als Erziehungskunst, in: Rahel Uhlenhoff: Anthroposophie in Geschichte und Gegenwart, 439f.). ‘Das Kind’ wird somit durchaus respektiert, aber zur passiven Monade, zum Vollstrecker (s)eines ‘natürlich’ vorgegebenen (Selbst-)Entwicklungsprogramms, in dem Jahrsiebte und eine starke Rolle der ‘geliebten Autorität’ der Lehrer zentrale Rollen spielen. Für Steiner war es eine “höchste, heilige, religiöse Verpflichtung, das Göttlich-Geistige, das ja in jedem Menschen, der geboren wird, neu erscheint und sich offenbart, in der Erziehung zu pflegen” (GA 293, 204). Dieses ‘Göttlich-Geistige’ soll auf den ‘rechten Weg’ gebracht, ‘gepflegt’ werden. ‘Es’ bleibt als solches Objekt eines als religiös verstandenen “Erziehungsdienstes” (ebd.). Das heißt auch: SchülerInnen sollen sich nicht (oder frühestens nach der ‘Geschlechtsreife’) selbst zum Subjekt der Meinungsbildung und gar Mitgestaltung machen.

Die Einbeziehung von Schülerinnen und Schülern in die pädagogische und organisatorische Gestaltung der Schule findet zwar faktisch immer öfter statt, steht zum offiziellen Programm jedoch im denkbar größten Widerspruch. Um SchülerInnenVertretungen in der ‘Menschenkunde’ der Waldorfschulen zu verankern, müsste das Wohlfühlwort ‘Selbsterziehung’ zum Versprechen einer Selbstbestimmung umformuliert werden.

Um eines klarzustellen: Es würde mich sehr wundern, wenn diese (fehlende) Grundsatzdebatte den Verhandlungen zwischen dem Bund der Freien Waldorfschulen und der WaldorfSV im Wege stünde. Die Stärken der real existierenden Waldorfpädagogik liegen eben darin, dass man statt Reflexion oder Neubesinnung über die Probleme der bei jedem Anlass herbeizitierten Steinertexte munter hinwegliest. Diese Stärken liegen darin, dass “ihre Protagonisten an die Anthroposophie nicht mehr ‘glauben’ wie an eine überkommene Tradition, sondern weil sie sie, geschliffen und aufpoliert, in bewusstloser Überzeugung handhaben wie das modernste Kommunikationsmittel.” (Magnus Klaue) Diese Haltung steht freilich Reform und Innovation noch weitaus mehr im Weg als verSteinerte Orthodoxie. Unabhängig davon darf man auf die genauen Aushandlungen zwischen Bund und Waldorf-SV sicher gespannt sein.


Einsortiert unter:Nachrichten, SchülerInnenpartizipation an FWSen

Neues Buch: “Rassismus und Geschichtsmetaphysik”

$
0
0

“Das Erstaunen darüber, dass die Dinge, die wir erleben, im zwanzigsten Jahrhundert ‘noch’ möglich sind, ist kein philosophisches. Es steht nicht am Anfang einer Erkenntnis, es sei denn der, dass die Vorstellung von Geschichte, aus der es stammt, nicht zu halten ist.”
– Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte (1940)

Was hielt Rudolf Steiner, Begründer der Anthroposophie, von Denkern wie dem Rassentheoretiker Arthur de Gobineau oder dem Antisemiten Heinrich von Treitschke? Wie vermittelte Steiner seine Position, “daß der Mensch noch nicht Vollmensch ist, wenn er sich als Angehöriger einer menschlichen Differenzierung fühlt, einer Nation, eines Volkes fühlt” (GA 334, 292), mit seinem Ideologem von der “zukünftigen”, da “am Geist schaffenden” “weißen Rasse” (GA 349, 67)? Welcher gemeinsame Gedanke liegt sowohl Steiners Vorurteil von “der ganz passiven Negerseele” als auch seiner Theologie der “zwei Jesusknaben” zugrunde?

Demnächst erscheint das Buch “Rassismus und Geschichtsmetaphysik. Esoterischer Darwinismus und Freiheitsphilosophie bei Rudolf Steiner”. Darin versuche ich, die Verankerung und Systematik von Rassentheorien im Denken des Esoterikers darzustellen.

Die öffentliche Debatte um die Anthroposophie wird bekanntlich seit geraumer Zeit vom sog. ‘Rassismusvorwurf’ gegen Steiner und seinen esoterischen Nachlass dominiert. Neben allerlei Schund hat die Diskussion darüber auch fundierte wissenschaftliche Untersuchungen hervorgebracht. Aber auch hier gibt es noch Leerstellen. So ist bisher Steiners Aneignung und Wiedergabe der theosophischen “Wurzelrassen”-Lehre um 1900 nur sporadisch erforscht. Vor allem aber fehlt eine chronologische und werkimmanente Nachzeichnung von Steiners über die Jahre schwankender Position zur “Rassenfrage”.

In eine solche ist Steiners Menschen- und Evolutionsbild vor seiner Konversion zur Esoterik einzubeziehen. Ferner zahlreiche seiner Aussagen, die bisher noch keinen Eingang in die anthroposophische wie kritische Diskussion gefunden haben, teilweise auch in seiner Gesamtausgabe (noch?) nicht veröffentlicht sind.

Überdies ergibt sich Steiners ‘Rassenkunde’ weder ausschließlich aus dem breiteren historischen Kontext noch seinem Anspruch auf ‘höhere Einsicht’: Auch die immanenten Konsistenzanforderungen seiner jeweils zeitaktuellen Ideenpolitik und Weltanschauungsproduktion sind von Bedeutung für die Konstruktion seiner konkreten rassistischen Modelle. Schließlich wird so der scheinbare Widerspruch zwischen Steiners rassistischen Ressentiments und seinem Anspruch auf Universalität und eine “Philosophie der Freiheit” wenigstens ansatzweise erklärbar – so meine These, zu der ich im Buch einen ersten Anstoß liefern will.

Das Buch streift auch die Verwurzelung ‘rassischen’ Denkens in der neuzeitlichen Esoterik, Steiners Gesellschaftsutopie der “Sozialen Dreigliederung”, die anthroposophische Rezeption von Steiners Rassentheorien nach seinem Tod und schließlich jüngere Versuche einer anthroposophischen Aufarbeitung. Zum letzten Punkt ist ausdrücklich hervorzuheben, dass das Buch auf Anregung von Jens Heisterkamp entstand und im Info3-Verlag erscheinen wird: Vielleicht endlich ein Zeichen dafür, dass auch auf anthroposophischer Seite die Bereitschaft wächst, die Verzahnung von Steiners Rassentheoremen mit seiner evolutionären Spiritualität zu realisieren und kritisch zu diskutieren.


Einsortiert unter:Anthroposophie & Rassismus, Literarisches

Der Christus im Sinkflug

$
0
0

von Christoph Kühn

„Noch heute ist es ein bei Waldorflehrern bekanntes Übel,
dass sie in der Regel lieber dreihundert Kilometer zu einem vorverdauten Vortrag
anreisen
als eine Seite Originaltext zu lesen, und sei er von Steiner.“
- Fritz Beckmannshagen: Rudolf Steiner und die Waldorfschulen, Wuppertal 1984

Vorwort AM – heute ein Text von Christoph Kühn, der Feldforschung im meinungsbildenden Arkanum der anthroposophischen Szene unternimmt. Dieses Arkanum heißt “Vortrag” und der hier rezensierte wurde von Rahel Uhlenhoff gehalten, die 2011 als Herausgeberin des Sammelbandes “Anthroposophie in Geschichte und Gegenwart” auf sich aufmerksam machte. Es geht natürlich um Christus, um Europa, um allerlei Reinkarnationen und die tragische Opferrolle Rudolf Steiners. Christoph Kühns Bericht erschien zuerst auf dem Endstation Dornach Blog.

__________________________________________________

Was macht der rechtschaffende Geistesschüler an einem lauwarmen Sonntagabend? Er geht zu einem Vortrag ins Rudolf Steiner Haus. Es spricht Rahel Uhlenhoff über die „Geburt der Anthroposophie aus der europäischen Geistesgeschichte“.

19.00 Uhr Teil I: „Sokrates – Platon – Aristoteles“

Es sind 22 Personen gekommen. Ich freue mich auf Rahel Uhlenhoff, die ich als klare Denkerin und sehr angenehme Vortragende in Erinnerung habe. Sie ist schon da, im Saal und sie ist erblondet. Wie finde ich denn das? Ich habe sie allerdings auch eine Weile nicht mehr in natura gesehen und ein kleines Style-Update wollen wir ihr doch gönnen. Sie sieht nach wie vor sehr gut aus, ist aber anscheinend noch dünner geworden. Sie trägt einen langen blonden Zopf, eine weiße, kurzärmelige Bluse und einen schwarzen langen engen Rock. Kurz erinnere ich mich an Judith von Halle, die zwar auch hübsch und sehr dünn ist, aber bei ihrem Vortrag ganz in Schwarz gekleidet war, inklusive fingerloser Handschuhe. Sind die beiden sich nun ähnlich oder nicht? Ich kann es nicht sagen.

Armin Grassert begrüßt und wünscht Erkenntnisse. Er benötigt dafür keine zehn Sekunden, sehr angenehm. In der ersten Hälfte des Abends soll es um “Sokrates – Platon – Aristoteles” gehen. Uhlenhoff beginnt mit einer kleinen Überraschung, indem sie sagt, im Kern gehe es ihr um die Frage, ob wir es mit der Anthroposophie Rudolf Steiners oder mit der „ganz allgemeinen Anthroposophie“ zu tun haben. Ihr These lautet: Es geht um die von der „Heiligen Sophia“ inspirierte allgemeine Anthroposophie, die sich in allen Epochen der europäischen Geistesgeschichte zeigt.

Im antiken Griechenland gab es eine Entwicklung von der Weisheit der Mythenschulen zur Sophisterei der Menschen. Gab es etwas dazwischen? Eine Verbindung „nach oben“? Ja, die Liebe zur Weisheit, die Philosophie des Sokrates. Er „hat mächtig gerüttelt an den Ichen“ seiner Zeit. Er führte die Menschen auf ihr Ich, weg vom Religiösen hin zum Willen. Sokrates sagte nein, zu Göttern, die in ihm denken, er wollte selbst denken.

Sein Schüler Platon repräsentierte die Kunst und das Gefühl, ging auf Reisen, interessierte sich für Politik und beschäftigte sich mit den (Ur-)Ideen. Für Platon geht alles auf das Eine zurück. Uhlenhoff unterstreicht ihre Ausführungen immer wieder mit Gesten, die nach oben und unten deuten, in den Himmel zu den Göttern und auf die Erde zu den Menschen. Es kommt mir erstaunlich kindlich vor, zumal sie sonst so überaus intellektuell wirkt.

Aristoteles hingegen erforscht die „stoffliche Welt“ und begründet mit rationalem Denken die Wissenschaft. Er untersucht die Bereiche der Physik, der Metaphysik und der Logik. Er hat das Tor zur geistigen Welt geschlossen. Aristoteles wendete sich den Phänomenen der Welt zu, wie sie uns begegnen und steht im Gegensatz zu Platon, der die Ideen beschreibt, die „von oben nach unten“ bzw. aus höheren Welten zu uns Menschen kommen. Anthroposophen streben ja, so Uhlenhoff, danach, das Platonische mit dem Aristotelischen in Einklang zu bringen und im Grunde sei Sokrates, der auf dem Marktplatz Dialoge führt und im Leben steht, das Bindeglied.

Sokrates, Platon und Aristoteles wirkten in Athen, hinter ihnen und ihren Menschen- und Weltbildern steht die Göttin Athene, hinter dieser die „Heilige Sophia“ und dahinter schließlich das Eine oder – in anthroposophischer Terminologie – der Christus. So Uhlenhoffs Wahrnehmung. Das Eine sei „der Christus“, der sich „im Sinkflug auf die geistige Welt“, das Ätherische, befand.

Erst in der Moderne/Postmoderne kam mit Rudolf Steiner als Wiedergeburt des Aristoteles jemand, der das Tor zur geistigen Welt wieder öffnete. Steiner, der eine Geisteswissenschaft gründete und vor allem auch wieder eine spirituelle Praxis anregte so wie die Wissensgebiete seiner Zeit auf eine neue geistige Grundlage stellte. Als Wiedergeburt des Platon führt Uhlenhoff Valentin Tomberg ein, dem es Marie Steiner versagte, das Goetheanum zu leiten. Tomberg widmete sich einer tiefgehenden Mystik und begründete eine eigene geistige Strömung, die an die Kunstliebe des Platon erinnert. Sie plädiert dafür, Tomberg eben als eine solche eigene geistige Strömung gelten zu lassen. Und mit ermunterndem Tenor ins Publikum: Warum denn auch nicht?

Was die spirituelle Praxis betrifft, bedürfe es nach Uhlenhoff in unserer Gegenwart einer neuen, im Steinerschen Sinne selbständigen geistigen Praxis: „Wir brauchen das geistig-esoterische Gespräch mit den Elementarwesen und mit den Engeln.“ Dies sei heute wichtiger denn je und sie empfehle dazu die engelskundlichen Bücher von Alexa Kriele.

20.30-21.30 Uhr Teil II: “Thomas von Aquin – Hegel – Rudolf Steiner”

Es sind 26 Personen anwesend und mein Handy, das ich nun auf Wunsch meiner Sitznachbarin wieder ausschalte, zeigt 20.15 Uhr. Während Rahel Uhlenhoff den ersten Teil des Vortrags überflüssigerweise noch einmal in zusammengefasster Version wiederholt, schalte ich die Welt kurz ab und denke nach (wie früher in der Schule oder an der Uni). Ich denke in der Moderne und Postmoderne ist nicht die Anthroposophie Steiners das Gewand der Heiligen Sophia, sondern die Aufklärung, die Freiheit. Nur insofern ist auch Steiners Anthroposophie dabei, nämlich mit seinem Frühwerk.

„Wo ist die Wiedergeburt des Sokrates?“ ruft Rahel Uhlenhoff und antwortet sogleich, dass er (!) schon da sei. Sie freut sich geheimnisvoll und euphorisch, sie ist jetzt wirklich sehr liebenswürdig. In die gute Stimmung hinein leitet sie über zur Anthroposophie Rudolf Steiners als Reinkarnation des Aristoteles. Sie stellt Aristoteles‘ Weltbild (Physik, Metaphysik), Menschenbild (Politik, Ethik) und Denken (Sprache, Syllogismus, Kategorien) vor und dessen These, alles sei immer im Wandel und daher sei Geschichtswissenschaft nicht möglich. Thukydides indes hatte bereits den Grundstein antiker Geschichtsschreibung gelegt.

Thomas von Aquin, der seine Heilslehre mit aristotelischer Wissenschaftlichkeit begründete, streift sie nur flüchtig. Zu Hegel – der zu jenen gehört, deren Vornamen Georg Wilhelm Friedrich nie genannt werden – hatte sie mehr zu sagen. Hegels Heilslehre, die selbstverständlich protestantisch geprägt war, kennt die Begriffe Trinität, Weltgeist und – oh ja, tatsächlich – auch ein Ich und zwar eines, das sagt „Ich bin der Schöpfer“. Während es bei Hegel einerseits nicht nur den Weltgeist, sondern auch Volks- und Zeitgeister gebe, gehe seine Philosophie andererseits aber nicht mehr von einer geistigen Welt aus. Diese Voraussetzungslosigkeit, die sich in der Naturwissenschaft etablierte, habe Steiner, im Anschluss an Hegel, dann auch für die Erforschung der geistigen Welt angewendet. Uhlenhoff betont, dass in der Anthroposophie Rudolf Steiners fast nur die alt- bzw. rechtshegelianische Strömung, also – so denke ich – auch besonders der christliche Aspekt, wirke. Die steinersche Geisteswissenschaft soll ja nicht nur dokumentierbare Informationen liefern, sondern auch Inspiration sein.

Mit der Inspiration durch die Heilige Sophia sollen alle Lebensbereiche befruchtet werden, wie es in den anthroposophischen Praxisfeldern deutlich wird. Hier macht Uhlenhoff wieder diese Gesten mit den Armen, die von oben nach unten deuten, vom Himmel zur Erde. So ginge Steiner einer ganzen „Kulturepoche“ voraus, er sei nicht nur Theoretiker, sondern mische sich mit den Impulsen aus der Heiligen Sophia – also Christus-Impulsen? frage ich mich – in die Wirklichkeit ein. Und diese wiederkehrenden Anfeindungen gegen Steiner, beschließt sie ihren Vortrag, würde es in der slawischen Kulturepoche (3573 – 5733 n. Chr.) vermutlich gar nicht geben.

„Amen“ rufen alle im Saal. Nein, nicht wirklich. Aber die schläfrige Zustimmung unter den Anwesenden ist wie ein „Amen“. Der Vortrag ist zu Ende und ich bin müde und enttäuscht. Diese kindische Alles-Gute-kommt-von-oben-Attitüde und das Wir-sind-Opfer-Finale ist billigste Allerwelts-Wohlfühlesoterik – das hat sie doch wirklich nicht nötig. Warum macht sie das? Ist das die Geburt der Anthroposophie aus der europäischen Geistesgeschichte? Ist es doch wahr, dass Steiners anthroposophische Bewegung erst erfolgreich wurde, als er begann, sich im Supermarkt des Christentums zu bedienen? Ist Uhlenhoffs Heilige Sophia im Grunde nichts anderes als ein Supermarkt mit einem enormen Sortiment christlicher und anderer religiöser und esoterischer Ingredienzien, Opium des Volks? Wo sie nun angekommen ist, sieht sie ja noch nicht einmal die Tür zur Philosophie der Freiheit, sie bleibt im Vorhof des Vorhofs stehen.


Einsortiert unter:Christoph Kühn, Hintergründe

Waldorf weiter auf Abwegen

$
0
0

“Das Banale kann nicht wahr sein.
Was, in einem falschen Zustand, von allen akzeptiert wird,
hat, indem es diesen Zustand als den ihren bestätigt,
vor jedem besonderen Inhalt schon sein ideologisches Unwesen.”
– Theodor Adorno: Meinung, Wahn, Gesellschaft (Gesammelte Schriften 10.2)

Waldorf in Wilhelmsburg

Dieser Tage machen die Waldorfschulen wieder einmal mit positiven Schlagzeilen auf sich aufmerksam – Schlagzeilen zu zwei Themen: Eine weitere emprirische Studie bestätigt, was auch vorher nur die ideologischsten Waldorfgegner bestritten haben – dass Waldorfschüler sich im Allgemeinen an ihren Schulen wohlfühlen. In Hamburg-Wilhelmsburg fusioniert derweil auf Anregung von Schulsenator Ties Rabe (SPD) eine öffentliche Grundschule mit dem örtlichen “Verein für interkulturelle Waldorfpädagogik”.

„Es gibt viele bei den Waldorfschulen, die wollen raus aus den bildungsbürgerlichen Stadtteilen“, berichtet Christiane Leiste vom Waldorf-Verein. Deshalb wollten Lehrer und Eltern bewusst in Wilhelmsburg eine Waldorfschule gründen, nach dem Vorbild der „Interkulturellen Waldorfschule Mannheim“ … „Wir waren sehr überrascht über dieses Angebot“, berichtet Leiste. Nach mehrmonatigen Konzeptgesprächen mit der Schulbehörde gab es nun eine gemeinsame Tagung mit den Lehrern der Fährstraße. Die Überschneidung der Wünsche, wie man Schule gern gestalten möchte, sei groß, berichtet Leiste. Beide Seiten wollten keine Noten, keine Lernstandserhebungen und mehr künstlerisch mit den Kindern arbeiten. Und sie würden die Kinder gern bis Klasse 8 oder länger behalten. All dies sind klassische Bestandteile der Waldorfpädagogik, neben den bekannten Elementen wie Eurythmie oder Epochenunterricht. „Das wird keine Eins-zu-eins-Waldorfschule“, sagt Leiste. „Kein Lehrer wird gezwungen, Eurythmie zu machen“ (taz)

Die Schule wird wohl 2014 ihre Tore öffnen. Natürlich sind alle Vertreter der Stadt Hamburg eilig bemüht, zu versichern, dass hier mitnichten ein öffentlicher Versuch unternommen werde, die esoterische Hausphilosophie der Waldorfschulen zu fördern: Rudolf Steiners Anthroposophie. „Es geht nicht darum, die Ideologie von Rudolf Steiner in staatliche Unterrichtspraxis zu überführen“, so ein Vertreter der Schulbehörde. Man wolle nur jene waldorfpädagogischen Unterrichtspraxen, die „allseits akzeptiert sind: Der ganzheitliche Ansatz, der sowohl die kognitiven als auch die emotionalen und handwerklich-künstlerischen Aktivitäten im Unterricht zusammenführt. Die künstlerisch-musische Ausrichtung soll im Mittelpunkt stehen.“

Man würde erwarten, dass diese Distanznahme zu Steiner in der anthroposophischen Szene mit Missfallen beobachtet wird. Die Trennung der Waldorfpädagogik von ihrem charismatischen Begründer, Steiner, wird dort im Allgemeinen als Todesurteil betrachtet. Exemplarisch dazu einige Zeilen aus der Waldorfzeitschrift “Erziehungskunst”:

“Wie ein Menschenleib in der ersten Zeit nach seinem Tode dem lebendigen Menschen noch sehr ähnlich sieht, so ist ihm doch das Leben entschwunden, und es wird nicht lange dauern, dann wird dieser Leib sich in den äußeren irdischen Elementen auflösen. So wäre es auch mit der Waldorfpädagogik: Sie kann lebendig sein, von Leben und Gefühl durchpulst; oder sie kann sich eine gewisse Zeit durch das bereits Erarbeitete erhalten, müsste dann aber zwangsläufig sich mit der Zeit auflösen und vielleicht gar in dem üblichen Schulsystem aufgehen.” (Dieter Centmeyer: Waldorfschule ohne Steiner?, Erziehungskunst 10/2007, 1142f.)

Die Bindung an Steiner garantiert in dieser Perspektive das Leben der Waldorfschulen wie anderswo die Kreuzigung Jesu die Vergebung der Sünden. “Die Verbindung der Waldorfpädagogik mit Rudolf Steiner belebt, beseelt und begeistert den Schulorganismus in feiner, fast homöopathischer Weise, sie weckt die stärkenden und gesundenden Kräfte.” (ebd., 1143)

Allerdings: Es ist ein unerklärliches Spezifikum der Anthroposophie, dass ihre Angehörigen die Grundzüge ihrer Überzeugung fröhlich von sich werfen, sobald jemand Steiner, Waldorf & Co auch nur mit einem einzigen positiven Wort erwähnt. Unvergleichlich war etwa der anthroposophische Jubel, als Peter Sloterdijk 2011 Steiner mit banalen Phrasen zum frühen Vertreter seiner eigenen mentalen Fitnessideologie ernannte (Vgl. Inhalte überwinden). Dankend übergangen wurde, dass Steiners Kosmologie wenig gemeinsam hat mit Sloterdijks Philosophie, deren Konzepte von “Anthropotechnik” und “Menschenzucht” selbst ein Jürgen Habermas 1999 als “genuin faschistisch” bezeichnete (vgl. zum Thema Anthroposophie und Faschismus “…ja gewiss kam es zu Spannungen”)

Nach dem selben Muster gestaltet sich das anthroposophische Echo zu dem Schulversuch. So begrüßte die “Erziehungskunst” den Hamburg-Wilhelmsburger Waldorfhybriden bedingungslos, Info3 freute sich über den “konstruktiven Mix aus Waldorfpädagogik und staatlichem Schulwesen”. Mit Blick auf den allzu dogmatischen Ruf der Anthroposophie könnte diese augenscheinliche ideologische Flexibilität durchaus beruhigen – zöge man dort die entsprechenden Konsequenzen. Die allmonatlichen Plattitüden der “Erziehungskunst” gehen der kritischen Auseinandersetzung mit Steiners Weltanschauung fast ausnahmslos aus dem Weg. Für Info3 gilt das Gegenteil, aber gerade hier würde man deshalb eine Diskussion über die Selbstaufgabe der Anthroposophie um den Preis offiziöser Anerkennung erwarten.

Die esoterische Grundierung der Waldorfpädagogik enthält neben beunruhigenden Typologien und einer starren hebdomadologischen Entwicklungspsychologie auch humanistische Rückstände einer humboldtschen “Universalbildung”. Eben diese werden auch von ihren ‘kritischen Sympathisanten’ wertgeschätzt: “Waldorf hat jedem Kind ein zwölfjähriges Curriculum zu bieten, vom Landbaupraktikum bis zur Faust-Aufführung ist da Spannendes drin.” (taz) In der Resistenz der Waldorfpädagogik gegen das öffentliche Schulsystem, gegen Noten, Ökonomisierung, Methoden- und “Kompetenzzentrierung” (vgl. Krautz: Bildung als Anpassung) lagen und liegen nicht nur ihre dogmatischen Gefahren, sondern auch die “unzeitgemäßen” Stärken. So hat man es immerhin mit einer Alternative zum anderweitig schlechten öffentlichen Schulsystem zu tun – eine Differenz allerdings, die alle Beteiligten gern beseitigen möchten.

„Waldorfpädagogen verlieren die staatlich gültigen (Prüfungs-)Anforderungen an die Jugend nicht aus dem Blick … Moderne Vertreter dieser Erziehungskunst schaffen es in diesem Sinne durchaus, manches am Steinerschen Gesamtkunstwerk für verschroben, allzu mystisch und unzeitgemäß zu halten. Dann entrümpeln sie ein wenig, auf dass die jenseitige Botschaft verträglich sei mit den Anforderungen an eine moderne Volksbildung. So geht es am Ende in solchen Schulen doch wieder ziemlich normal zu, und die Vertreter der Staatsschule können zufrieden sein … Fortschrittliche Pädagogen entdecken auf diese Weise in der Waldorfschule immer auch ihre eigenen Erziehungsideale wieder. Das spricht gegen beide.“ (Freerk Huisken: Erziehung im Kapitalismus, Hamburg 2001, 457f.)

Postmoderne Waldorftheorie

Auch die grauen Eminenzen der Anthroposophie scheinen sich mit der Berufung auf ihren Anschluss an ‘höhere Welten’ immer weniger sicher zu sein. Einer ‘geistigen Welt’ versucht man sich durch die Beschwörung der herausragenden Integrität der Person Rudolf Steiners zu versichern. “Durch seine Mitwirkung war das unmittelbare Einströmen von Rat und Hilfe aus der Geisterwelt … gemeinsam erfahrene Realität gewesen. Seine durch sein Lebenswerk ebenso wie durch den seine Person und die Art seines Wirkens gerechtfertigte Autorität verlieh seinen Entscheidungen eine alle Widersprüche des Lebens versöhnende, beruhigende Sicherheit.” (Johannes Kiersch: Steiners individualisierte Esoterik einst und jetzt. Zur Entwicklung der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, Dornach 2012, 80) Im Waldorfbereich zählt man ebenfalls mehr auf die mythopoietische Evidenz der Steinerschen Modelle denn auf den Glauben daran. So heißt es in den vom BdFW herausgegebenen „Leitlinien der Waldorfpädagogik” (Rainer Patzlaff und Wolfgang Saßmannshausen, Pädagogische Forschungsstelle des Bundes der Freien Waldorfschulen, 2005)  mit Bezug auf Steiners entwicklungspsychologischer Jahrsiebte-Lehre, es sei ein Irrtum, anzunehmen,

„es handle sich hier um einen natürlichen Rhythmus, der sich von selbst einstelle, genauso gesetzmäßig wie viele andere Rhythmen, die in unserem Organismus biologisch wirksam sind. Das ist nicht der Fall. Der Siebenjahres-Rhythmus ist nicht von der Natur vorgegeben, ebensowenig wie die Einteilung des Jahres in siebentägige Wochen. Dennoch handelt es sich nicht um mystische Zahlenspielerei, wie vielfach behauptet wird. Vielmehr kommt dem Siebenjahres-Rhythmus salutogenetische Bedeutung zu … Das Kind erhält für sein ganzes späteres Leben eine tragende Grundlage, wenn es sich auf diesen gesundenden Rhythmus einschwingen darf.” (ebd., 35)

Es wird also nicht mehr vorausgesetzt, bei Steiners “Schauungen” von der sukzessiven Entfaltung übersinnlicher “Wesensglieder” in Sieben-Jahres-Schritten handle es sich um geistige “Erkenntnis”. Stattdessen sieht man darin einen „pädagogisch-therapeutischen Richtwert” „salutogenetischer“ Natur, es sei “gesund” und “heilsam” für ein Kind, sich auf ihn “einschwingen” zu dürfen. Hier wird Steiners ‘hellseherischem’ Postulat, das eben richtig oder falsch sein könnte, jeder Anspruch auf Wahrheit ausgetrieben. Zurück bleibt eine paternalistische Vorstellung von “Heilung” – die ihre einzige und sei sie noch so fragwürdige Begründung verloren hat. Egal, wieso, es sei nunmal einfach heilsam für das Kind, nach dem Sieben-Jahres-Rhythmus behandelt zu werden.

Die heutigen Verteter der Steinerschen Pädagogik scheinen sich dadurch auszuzeichnen, dass ihnen ihr eigener Glaubensgegenstand abhanden gekommen ist, ohne dass dies Anlass irgendeiner selbstkritischen Reflexion wäre. Letzterem darf hinzugefügt werden, dass es nicht für alle Waldorfpädagogen zu gelten scheint. Jost Schieren (Prof. für Waldorfpädagogik an der Alanushochschule für Kunst und Gesellschaft bei Bonn) mahnt immerhin Vorsicht im Umgang mit Steiners ‘Geisteswissenschaft’ an:

“Vieles, was mir bisher als sogenannte Reinkarnationsforschung begegnet ist, betrachte ich als Vermessenheit, die der Persönlichkeit des anderen Menschen nicht gerecht wird. Nochmals: Als Pä­dagoge habe ich es vor allem mit der Persönlichkeit des Kindes und Jugend­lichen zu tun, die noch gar nicht voll­ständig ausgebildet ist. Wir stehen ja, wenn wir es mit einem Menschen zu tun haben, vor einem gro­ßen Geheimnis, das Geheimnis des menschlichen Ich. Und es gibt eine Achtung vor dem Geheimnis. Auch wenn Rudolf Steiner manches Geheim­nis gelüftet hat, bedeutet dies nicht, dass wir damit einfach umgehen kön­nen. Auch dies ist eine wissenschaftli­che Haltung.” (Schieren: Bewusstseinsethische Aufgabe, Interview, in: Das Goetheanum, 12/2010, 9)

“Bildungserfahrung an Waldorfschulen”

Im eben umrissenen ideologischen Kontext ist die kürzlich vorgestellte Studie “Bildungserfahrungen an Waldorfschulen” zu sehen. Befragt wurden 800 SchülerInnen von zehn Waldorfschulen. Durchgeführt wurde das Projekt von Heiner Barz (Prof. für Bildungsforschung an der Universität Düsseldorf), Dirk Randoll (Prof. für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt empirische Sozialforschung an der Alanus-Hochschule) und Dr. Sylvia Liebenwein (ebenfalls Düsseldorf). Prof. Andreas Schleicher, Gallionsfigur der Schulökonomisierung im Zeichen der PISA-Studien, hat die Einleitung zu der im renommierten Wiesbadener VS-Verlag erschienenen Publikation geschrieben. Schleicher war auch auf der Pressekonferenz zu ihrer Vorstellung zugegen. “Es gibt ein hohes Maß an Kongruenz zwischen dem, was die Welt von Menschen fordert und dem, was an Waldorfschülern gefördert wird”, zitierte ihn Welt-Online.

Die Ergebnisse der Studie, wie sie die “Welt” referiert, liegen durchaus im Bereich dessen, was auch vom Hörensagen über Waldorf bekannt ist. So sollen 13 Prozent der WaldorfschülerInnen mehr Spaß am Lernen haben als ihre LeidensgenossInnen an öffentlichen Schulen.

“Auch das Schulklima und die Lernatmosphäre wird vom weitaus größten Teil der Befragten, 85 Prozent, als angenehm und unterstützend beschrieben. An Regelschulen finden das nur 60 Prozent. Weiterhin wird die Beziehung zu den Lehrern deutlich besser beurteilt – 65 Prozent der Waldorfschüler stehen hier knapp 31 Prozent der Regelschüler gegenüber. Auch die Identifikation mit der Schule ist größer als bei anderen Schülern; und zudem leiden Kinder an Waldorfschulen bedeutend seltener an somatischen Beschwerden wie Kopfschmerzen, Bauchschmerzen oder Schlafstörungen.” (ebd.)

Waldorfkritiker stehen den inzwischen doch recht zahlreichen Studien in der Regel skeptisch gegenüber – vermutlich, weil noch keiner entdeckt hat, dass dort auch die Konversion von Waldorfschülern zur Anthroposophie rekonstruiert wird (vgl. Till-Sebastian Idel: “…und ja, die wesentlichen Impulse kamen aus der Schule”. Rekonstruktion einer Waldorfschulbiographie, Opladen u.a. 2012). Stefan Hopmann (Prof. für Schul- und Bildungsforschung in Wien), meinte etwa in einem Interview mit Andreas Lichte: “Mag sein, dass trotz der Waldorfpädagogik das Engagement im kulturellen und ästhetischen Bereich manchem Waldorfschüler geholfen hat, seine eigenen Ideen zu entwickeln. Mehr als „anekdotische Evidenz“, Berichte über mehr oder weniger erfolgreiche Waldorfschüler, gibt es da nicht, jedenfalls – wie auch für alle anderen Leistungsversprechen der Waldorfschulen – keine unabhängigen Längsschnittuntersuchungen, die so vollmundige Selbstbeschreibungen bestätigen könnten.” Ähnlich hatte bereits 2005 Peter Bierl gemahnt: “Dennoch sollte man sich vor pauschalen Urteilen über die Praxis an Waldorfschulen hüten. Erstens gibt es keine breit angelegte empirische Studie von unabhängiger Seite über den Unterricht. Zweitens kommen viele Erzieher und Pädagogen, die in diesen Einrichtungen arbeiten, von staatlichen Universitäten. Ihnen fehlt der anthroposophische Hintergrund.” (Peter Bierl: Wurzelrassen, Erzengel und Volksgeister, Hamburg 2005, 13)

Darin muss man sowohl Hopmann als auch Bierl zustimmen. Längsschnittstudien beispielsweise stehen in der Tat noch aus. Die in den vorhandenen Studien als waldorfspezifisch interpretierten Faktoren könnten darin sehr viel genauer untersucht und aufgeschlüsselt werden. Wie auch immer: Ein Dutzend wenn auch nicht repräsentativer Studien legt durchaus und sehr detailliert jene “anekdotischen Evidenzen” nahe, die mir aus meiner eigenen Schulzeit und den Berichten zahlreicher Waldorfschüler gut vertraut sind: Gute Schüler-Lehrer-Beziehungen und angenehmes Schulklima an Waldorfschulen – überschattet von sozialen Klimakatastrophen. Auf der Unterrichtsebene stehen Künstlerische Fächer mit der Gelegenheit, jeweils “sein eigenes Ding zu machen” neben Defiziten in Naturwissenschaften und Sprachen.

Natürlich haben die Waldorfschulen die jüngste Studie zu “Bildungserfahrungen” gern akzeptiert und aktiv gefördert – die Pressekonferenz wurde zur regelrechten Werbeveranstaltung des Bundes der Freien Waldorfschulen. Anders als am Beispiel Hamburg-Wilhelmsburg wurden die von der Studie nahegelegten Waldorferfolge hier als reine Resultate der anthroposophischen Pädagogik gefeiert.

BdFWS-Vorstandsmitglied Henning Kullak-Ublick betonte, die Studie zeige, dass die Waldorfpädagogik mit ihrer Berücksichtigung des Lernumfelds, der Lernatmosphäre und der aktiven Beteiligung der Schüler an der Gestaltung des Unterrichts auf dem richtigen Weg sei. Es komme – auch nach den Ergebnissen der modernen Hirnforschung – darauf an, Eigenaktivität und Kreativität der Schüler einzubeziehen und ihnen damit die Motivation zum lebenslangen Lernen zu vermitteln. Kullak-Ublick: „Wir freuen uns über die neue Studie, die mit empirischen Mitteln belegt, dass die Bildungserfahrungen an den Waldorfschulen genau diejenigen sind, die die Schüler in der heutigen Welt brauchen.“ (Pressemitteilung des Bundes der Freien Waldorfschulen)

Von links: Andreas Schleicher, Heiner Barz, Henning Kullak-Ublick

Von links: Andreas Schleicher, Heiner Barz, Henning Kullak-Ublick. Pressebild des Bundes der Freien Waldorfschulen.

“Anthroposophische” Praxis der Waldorfschulen

So bleibt einmal mehr ein ambivalentes Bild: Die Waldorfschulen sind nach wie vor weit davon entfernt, sich der kritischen Aufarbeitung ihrer ideologischen Grundlagen zu stellen. Gleichzeitig scheinen sie bemüht, ihr spezifisches Profil zur besseren Variante des öffentlichen Schulsystems herabzuwirtschaften. Die Imagepolitik des Bundes der Freien Waldorfschulen scheint auf die Botschaft hinauszulaufen, man böte letztlich die bessere Regelschule. Die ‘spirituelle’ Selbsteinschätzung hält Vorstandsmitglied Henning Kullak-Ublick nicht einmal davon ab, sich auf die biologistischen Hirngespinste der “modernen Hirnforschung” zu berufen – wenigstens dem müsste die Ich-Philosophie Steiners doch vorbeugen (vgl. etwa GA 4, 31). Was auch immer diesem augenscheinlichen Opportunismus zugrundeliegt, er markiert das Ende der wenn auch diffusen Schulkritik, die Steiner durchaus noch artikulierte: “Schlechte Lehrziele, schlechte Abschlußziele werden uns vom Staat vorgeschrieben. Diese Ziele sind die denkbar schlechtesten, und man bildet sich das denkbar Höchste auf sie ein.” (GA 300a, 61) Die Waldorfschulen verlieren durch Anbiederungen an PISA und Co, durch ihre Versuche, mit “alternativkulturellem” Überbau doch nur die bessere öffentliche Schule zu sein, noch den letzten subversiven Zug. Dazu fand Christian Grauer die treffenden Worte:

“Und mein größter Argwohn gegenüber der Waldorfpädagogik ist, dass ihre zumindest ansatzweise interessanten und in eine bessere Richtung weisenden Ideen so sehr zu liebgewonnenen Traditionen verdorrt sind, dass sie den Fortbestand der Schwachsinnsinstitution Schule insgesamt sogar noch stärken, statt ihn aufzubrechen … Das bewegte Klassen-zimmer ist ein toller Ansatz, nur sollte man das Klassenzimmer endlich dorthin bewegen, wo es hingehört: in die Tonne.” (Christian Grauer: in: Endstation Dornach, 254)

Allerdings fragt sich ohnehin, wie viel an den realen Erfolgen der Waldorfschulen noch auf anthroposophische Einflüsse zurückgeht:

“Mehr als die Hälfte des Nachwuchses hat keine Ahnung von Waldorfpädagogik und Anthroposophie, viele von ihnen arbeiten sich ein und werden dann gute Waldorflehrer, aber noch mehr verschwinden nach kurzer Zeit wieder.” Nur 26 Prozent der Neueinstellungen verfügten “über eine Waldorf-Vollzeitausbildung von mindestens einjähriger Dauer.” (Johannes Kiersch: Wir leben in einer Phase der Umstülpung, Interview, in: in: Novalis 52 / 1998, Heft 11, 42)

“Da die Waldorfschule aus Gründen der staatlichen Anerkennung auf Lehrer mit zweitem Staatsexamen, besonders in den naturwissenschaftlichen Fächern, angewiesen ist, diese aber nur selten eine waldorfpädagogische Ausrichtung haben, gibt es immer wieder deutliche Interessenkonflikte … Mit zunehmendem Alter der Schulen wird der Prozentsatz der waldorfpädagogisch ausgebildeten Lehrer immer kleiner, nicht zuletzt deswegen, weil offenbar zunehmend weniger Lehrer an einer waldorfpädagogischen Ausbildung Interesse haben. Das mag auch damit zusammenhängen, dass viele neugegründete Schulen für reformpädagogisch Interessierte eine größere Auswahl bedeuten … Außerdem braucht die Waldorfschule gerade durch das veränderte Klientel neben der anthroposophischen Weltsicht heute vor allem pädagogische, didaktische Erziehungskompetenz bei den Lehrern, um sich den besonderen Erfordernissen in der Arbeit mit der jetzigen Schülergeneration und ihren Eltern stellen zu können. Diese Kompetenzen werden offenbar in den Waldorf-Lehrerseminaren nicht oder nur unzureichend gelehrt … Dass die Beeinflussung eher von den heimischen Welten in die Schule geht und weniger in die andere Richtung, ist verständlich, denn die Zeit zu Hause und in den Weiten der Bildschirmwelten ist etwa doppelt so lang, wie die in der Schule verbrachte Zeit.” (Gerhard Vilmer: Waldorfsalat. Zur Psychologie der Waldorfschulen, Norderstedt 2012, 26ff.)

Was die verbleibenden anthroposophisch überzeugten Lehrer angeht: Bereits 1991 konstatierte Heiner Barz auf Basis einer Stichprobenuntersuchung eine eher oberflächiche Reproduktion und Rezeption Steinerscher Theoreme.

“Die Temperamentenlehre konnte aus den Schilderungen des alltäglichen Unterrichts überhaupt nicht und bei den weiteren Themen nur in sehr vereinfachter Form identifiziert werden, etwa wenn es hieß, dass die eher ‘geistig-seelisch aktiven’ Kinder (‘schwärmerisch, verträumt’) und die eher ‘leiblich-gebundenen’ Kinder (‘essen immer unter der Bank’) gezielt angesprochen würden. Für die Reinkarnations- und Karmalehre gilt ähnliches … Auch die Betonung des formalen bzw. rein prozeduralen Aspekts des anthroposophischen Erkenntnisweges, wie sie sich im ‘offiziellen’ Waldorfsschrifttum findet, konnte nicht bestätigt werden. Soweit dieser Aspekt für die Praxis subjektive Relevanz hat, handelt es sich vor allem um Selbsterziehung im Sinner von Selbstbeherrschung (Affektkontrolle) und um den Erfahrungsnachvollzug des vorgegebenen ‘spirituellen Realismus’.” (Barz: Zwischen lebendigem Goetheanismus und latenter Militanz? Eine Studie zur Alltagsorientierung von Waldorflehrern, in: Neue Sammlung 31/1991, 231f.)

Dies gilt selbstverständlich nicht für alle anthroposophischen Waldorflehrer, erst recht nicht für die offiziellen Repräsentanten dieser Pädagogik und sicher nicht für die Waldorflehrerseminare. Nichtsdestominder sind die anthroposophischen Überzeugungen an Waldorfschulen am Versickern. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass und warum Mathias Maurer, Chefredakteur der “Erziehungskunst”, sich sogar darüber freut, wenn Kritiker die Waldorfschulen des ungebrochenen Festhaltens an Steiners Lehren beschuldigen:

“Die sogenannte Temperamentenlehre Rudolf Steiners wird zwar an den Waldorflehrerseminaren und hochschulen gelehrt, findet aber im Unterricht der Waldorfschulen immer weniger praktische Anwendung. Insofern kann man es begrüßen, dass Erziehungswissenschaftler diese ‘spätantike hippokratische’ Persönlichkeitstypologie kritisch unter die Lupe nehmen und Waldorflehrern wieder ins Stammbuch schreiben, was eigentlich zu ihren pädagogischen Essentials gehört.” (vgl. Temperamente reloaded)

Hier geht letztlich ein Streit in eine neue Runde, der die Waldorfschule bereits seit ihrer Gründung beschäftigt. Mit Hans Rutz und Hannah Lang waren bereits 1919 zwei Nichtanthroposophen im Kollegium der Stuttgarter Pionierschule. “Das sage ich Ihnen aber gleich von vorneherein”, so Hans Rutz zu Steiner, “ich bin kein Anthroposoph; ich muss meine volle geistige Freiheit haben!” (zit. n. Gisbert Husemann/Johannes Tautz: Der Lehrerkreis um Rudolf Steiner, Stuttgart 1977, 298) Rutz fand schließlich zur Anthroposophie und wird in der anthroposophischen Hagiolatrie bis heute als besonderer “Freigeist” gefeiert (vgl. Forschungsstelle Kulturimpuls). Doch zu solchen Konversionen scheinen viele heutige Waldorflehrer nicht mehr bereit zu sein. Die Forderungen der Waldorforthodoxie lassen sich offenbar nicht durchsetzen, und derweil verlieren  die Waldorfschulen durch Anbiederungen an PISA und Co, durch ihre Versuche, mit “alternativkulturellem” Überbau doch nur die bessere öffentliche Schule zu sein, noch den letzten subversiven und schulkritischen Zug. Dieser “garstig breiten Graben” zwischen Theorie, Praxis und Selbstverständnis der Waldorfschulen wird durch Imagepflege und auch das kompetente Lächeln von Andreas Schleicher nicht aufgehoben.


Einsortiert unter:Allgemein, Nachrichten

“Rassismus und Geschichtsmetaphysik” erschienen

$
0
0

Mein neulich angekündigtes Buch zur anthroposophischen Rassenlehre, “Rassismus und Geschichtsmetaphysik”, ist jetzt lieferbar (€ 14,80).

Bestellungen sind über amazon.de oder direkt über vertrieb@info3.de unter Angabe des Buchtitels und der Lieferadresse möglich.

Inhaltsverzeichnis

Der „Rassismusvorwurf“. Kleine Konfliktgeschichte
Forschungsstand zum Thema Anthroposophie und Rassismus

1. Steiner, der Deutsche
1.1 Habsburger Nationalismus
1.2 „Der finstere Jehova“. Frühe Äußerungen zum Judentum
1.3 Darwinismus und Freiheitsphilosophie
1.4 „Überempfindliche“ Juden und „antisemitische Elefanten“: Steiner und das Judentum 1897-1901.

2. „Höheres Wissen“ und spiritueller Rassismus
2.1 Neuzeitliche Esoterik und der Ursprung der Theosophie
2.2 Von der Chymischen Hochzeit zu Fabre d’Olivet: Schlaglichter auf esoterische Rassebilder
2.3 Die sieben Rassen der Theosophie

3. Die integrale Evolution. Steiner, der Theosoph (1902-1904)
3.1 Die nationale Neugeburt der Theosophie(n)
3.2 Steiners Übernahme der Wurzelrassen
3.3 Das Fragment der Geheimwissenschaft
3.4 Unsere atlantischen Vorfahren
3.5 Differenzierung. Rassenkunde in Vorträgen

4. Absetzung von der Theosophie (1905-1908)
4.1 Eine fünfgliedrige Rassentypologie
4.2 Rosenkreuzer und Kulturepochen

5. Von „Stufen“ zu „Typen“ (1908-1910)
5.1 Degeneration und Göttertypologie
5.2 Balance, Polarität und Steigerung
5.3 Die Geheimwissenschaft im Umriss

6. Krishnamurti und der ätherische Christus

7. Die Mission einzelner Volksseelen (1910)
7.1 Formgeister und Rassengeometrie
7.2 Astrologische Überhöhung

8. „Rassen” und Dämonen (1912-1916)

9. Der Erste Weltkrieg
9.1 Der Johannisbau als Symbol des Internationalismus
9.2 Völkerpsychologie
9.3 Völkische Bündnisse

10. Der Geist und die Geister der Finsternis. Steiners Kritik des Nationalismus (1917-1920)

11. Zwischen Theokratie und Emanzipation: Dreigliederung

12. „Die schwarze Rasse gehört nicht nach Europa“ (1920-1923)
12.1 Das Wesen der Farben. Vergeistigung des Rassismus
12.2 „Negerromane“ und Französischlehrer
12.3 „Weißsein“ und Menschlichkeit

13. Die letzten Jahre

14. Rezeption

Resumee
Quellen und Literatur
Danksagung
Nachwort von Jens Heisterkamp


Einsortiert unter:Anthroposophie & Rassismus, Literarisches, Nachrichten

Die Bösartigkeit des Banalen. Weiter mit Waldorf in Wilhelmsburg

$
0
0

Die Nachricht, in Hamburg-Wilhelmsburg solle eine und auch noch die “erste” “staatliche Waldorfschule” gegründet werden (vgl. Waldorf weiter auf Abwegen), scheucht derzeit alle nur irgendwie Beteiligten auf: Funktionäre, Sympathisanten und Kritiker der Waldorfszene.

Wie üblich hört man von allen Fraktionen bestenfalls die halbe Wahrheit. Das beginnt schon beim Inhalt der Meldung: Die “erste” staatliche Schule mit Waldorfprogramm wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von der Lehrerin Erna Stahl gegründet, die aus dem Kontext der Widerstandsgruppe ‘Weiße Rose’ bekannt ist. Stahl hatte sich mit Steiner und Waldorf auseinandergesetzt und wollte eine Waldorfschule explizit “ohne Anthroposophie”. Es entstand – ebenfalls in Hamburg – die bis heute florierende Albert-Schweitzer-Schule (vgl. Anthroposophie im Widerstand), deren waldorfpädagogisches Klientel inzwischen sehr übersichtlich ist. Der einzige, der in der Debatte um das Wilhelmsburger Projekt auf das Albert-Schweitzer-Gymnasium zu sprechen kam, war der Sprecher der Hamburger Schulbehörde, Peter Albrecht. Von Anthroposophen wird sie ausnahmslos verschwiegen: Für sie ist das Sakrileg einer nicht-anthroposophischen Waldorfschule ebenso frivol wie für Anthro-Gegner, in deren Vorstellung diese Schulen nur als heimliche Kaderschmiede der Anthroposophen Sinn machen.

De facto ist aber auch gar keine “staatliche Waldorfschule” geplant: Eine schon bestehende Grundschule soll mit einer örtlichen Waldorfschul-Gründungsinitiative fusioniert und ein gemeinsames Konzept erarbeitet werden – weil Schulsenator Ties Rabe angeblich fürchtete, eine neue Privatschulgründung werde die meisten ‘bildungsnahen’ Familien von der öffentlichen Grundschule abziehen. Der “Erziehungskunst”, Verbandszeitschrift des Stuttgarter “Bundes der Freien Waldorfschulen”, ist diese Sachlage natürlich zu profan. Dort würde man sich in der Tat staatliche Vollförderung für Waldorf wünschen und titelte stattdessen: “Waldorfschule in staatlicher Trägerschaft startet”. Dass die Grundschul-Kollegen auch noch ein Wörtchen mitzureden haben, blendete der Bericht nahezu aus und verkündete, Wilhelmsburg werde weder “‘Waldorfpädagogik light“ noch “die Waldorfpädagogik zu einem beliebig austauschbaren Methodenbaustein innerhalb der Staatsschulpädagogik”.

Die zitierten Sätze verschwanden natürlich schnell von der “Erziehungskunst”-Webseite, als ‘Staatsschulpädagogen’ von der betroffenen Grundschule sich anfangs vorsichtig bis skeptisch zum Vorschlag der Schulbehörde äußerten. Über den ursprünglichen Link http://www.erziehungskunst.de/nachrichten/inland/wilhelmsburg-waldorfschule-in-staatlicher-traegerschaft-startet/ gelangte man nun zu dem gegensinnigen Titel “Waldorfschule in staatlicher Trägerschaft noch ungewiss”. Im neuen Artikel liest man: “Waldorfpädagogik kann man nicht von oben verordnen” – und hätte gern gewusst, ob die Redaktion der “Erziehungskunst” diesen Umstand gut oder doch eher bedauerlich fand. Nachdem sich die Komplikationen gelegt hatten, folgte dann ein realistischeres Portrait:

“Das Kollegium und die Waldorflehrer werden nach diesem positiven Votum gemeinsam ein Unterrichtskonzept erarbeiten. Schulleiterin Ulrike Klatt erklärte, man werde sich »in der Konzeptgruppe gemeinsam auf den Weg machen« und habe sich dafür zwei Jahren Zeit gegeben. »Es geht auch darum, dass wir uns menschlich näherkommen«, so Klatt. Das Projekt könne auch scheitern, wenn man nicht auf einen gemeinsamen Nenner komme.  Bislang besteht die Absicht, jede Klasse von einem Waldorfpädagogen und einem staatlichen Lehrer unterrichten zu lassen.”

„Das wird keine Eins-zu-eins-Waldorfschule“, meint laut taz auch Christiane Leiste, Sprecherin des Waldorf-Vereins: „Kein Lehrer wird gezwungen, Eurythmie zu machen“. Der Bund der Freien Waldorfschulen verfolgt eine andere Politik. Die “Erziehungskunst” zitierte dessen Sprecher Henning Kullak-Ublick, der meint, die Schulbehörde dürfe sich bloß nicht zu sehr in die “inhaltliche Arbeit” einmischen: “Wir sind neugierig, ob das Kollegium so autonom bleibt, dass wir das unterstützen können”, so Kullak-Ublick, alles andere sei “Etikettenschwindel”. Dass ‘Autonomie’ hier Anbindung an den Waldorfbund heißt, mag das eine oder andere Licht auf Floskeln wie “Erziehung zur Freiheit” werfen. Man sieht förmlich ein Tauziehen zwischen Schulbehörde und Waldorfbund vor sich – und ist in der Tat neugierig, wie autonom das Kollegium bleibt, auch gegenüber den waldorfianischen Gralshütern aus Stuttgart. Für den Mainzer Erziehungswissenschaftler, Steiner-Biographen und Waldorf-Experten Heiner Ullrich ist das Projekt zum Scheitern verurteilt. Anfangs werde es “vielleicht Berührungspunkte” geben, „aber sobald die Waldorfkollegen bei der Schülerbeurteilung von astralischen Kräften oder von Reinkarnation sprechen, werden die staatlichen Lehrer wohl sagen: bitte nicht!“ (taz)

So weit will es der umtriebige Waldorfkritiker Andreas Lichte gar nicht kommen lassen. In einem offenen Brief an den zuständigen Schulsenator prangert er einmal mehr die so obskuren wie überholten Pädagogikvorstellungen Rudolf Steiners an – seine “Schlussfrage”: “Beabsichtigt die Behörde für Schule und Berufsbildung Hamburg als staatlicher Träger der ‘Interkulturellen Waldorfschule Hamburg-Wilhelmsburg’ die Weltanschauung Anthroposophie weiter zu verbreiten?” Zu diesbezüglichen Absichten der Schulbehörde hatte deren Pressesprecher Peter Albrecht  schon im Vorfeld klargestellt: “Es geht nicht darum, die Ideologie von Rudolf Steiner in staatliche Unterrichtspraxis zu überführen”. Man wolle nur “allseits” akzeptierte, eben die reformpädagogischen Elemente der Waldorfpädagogik. Zuletzt hat sich die Kulturwissenschaftlerin Jana Husmann (die 2010 mit ihrer Dissertation “Schwarz-Weiß-Symbolik” ausführlich zu Steiners Rassenlehre publiziert hat) mit einem Beitrag gemeldet, dessen Lektüre ich dringend empfehlen möchte, auch wenn der Autorin leider einige geradezu klassische Fehler unterlaufen. Titel: “Esoterik an Waldorfschulen – Bildung dank ‘Bildekräften’: Lest Rudolf Steiner!” Husmann beginnt wie folgt:

“Wer sich ein wenig mit Waldorfpädagogik beschäftigt und die Schriften ihres Begründers Rudolf Steiner (1861-1925) studiert, wird leicht über die sprachlichen Besonderheiten stolpern, welche die anthroposophische Rhetorik ausmachen. Das Wort “Bildekräfte” etwa gehört in diese Kategorie, ebenso wie der Begriff des “lebendigen Denkens”, den Steiner seinerzeit vom “toten” abstrakten Denken abzugrenzen suchte. Der heute zentrale Oberbegriff zur Beschreibung von Anthroposophie und Waldorflehre ist “ganzheitlich”. Das klingt irgendwie nach östlicher Weisheit, dem Einklang von Leib und Seele, nach Ausgeglichenheit und Wellness-Oasen. Wer wollte sich nicht gerne “ganzheitlich” fühlen und die Aromen von Weleda im Entspannungsbad genießen?”

Eigenartigerweise werden hier zur Charakterisierung von Steiners Jargon die Worte “Bildekräfte” und “lebendiges Denken” angeführt, die gerade nicht spezifisch steinerianisch sind. Ersteres hat Steiner von dem Esoteriker Edward Bulwer-Lytton abgeschrieben, während seine Vorgeschichte bis zum paracelsischen ‘Archaeus’ reicht. Das “lebendige Denken” indes steht an nicht unwichtiger Stelle in der Religionsphilosophie Johann Gottlieb Fichtes, und ebendaher hat es auch Steiner, wie Hartmut Traub in seinem (Husmann sicher bekannten) Buch Philosophie und Anthroposophie belegt (vgl. dort etwa 582-587). Freilich vergisst Husmann nicht, zu erwähnen, dass diese Begriffe nur die Spitze des Eisbergs sind, sie findet: “Wer nur einen Bruchteil der über 6000 Vorträge Steiners zu diesen Themen geschafft hat, weiß sicherlich, was der Steiner-Kritiker Peter Bierl mit der Aussage meint: ‘Wer Steiner liest, verdient Schmerzensgeld.’” Im Original ist das auf Steiners Fans bezogen und weitaus amüsanter illustriert:

“Auffallend an den Epigonen ist bis heute, dass ihre Beiträge gebetsmühlenhaft und exegetisch sind. Wer anthroposophische Schriften liest, hat Schmerzensgeld verdient. ‘Geisteswissenschaftliche Forschung’ besteht in der Regel darin, anhand von Steiner-Zitaten abzuleiten, was der große Meister beispielsweise zu Techno-Musik oder Computern gemeint haben könnte. Das Ergebnis ist ein hoher Ausstoß an bedrucktem Papier, intellektuelle Substanz entspricht homöopathischen Dosen.” (Bierl: Wurzelrassen, Erzengel und Volksgeister, Hamburg 2005, 18)

Am Schluss echauffiert sich Husmann nach einer pittoresken Auflistung von allerlei okkulten, rassistischen, kosmo- und anthropologischen Details der Steinerschen Esoterik: “Ob diese ganzheitlichen Ein-Bildekräfte Steiners noch unter dem Begriff ‘Esoterik’ zu fassen sind, sei der Beurteilung der Leser überlassen.” Die relevante Frage müsste vielmehr umgekehrt lauten, was von diesen “Ein-Bildekräften” nicht unter dem Begriff ‘Esoterik’ zu fassen ist, insbesondere, wenn man Steiner mit anderen esoterischen Zeitgenossen vergleicht.

Unverständlich ist mir auch, dass Husmann keine Kritik des esoterischen Schlüsselterminus “Ganzheitlichkeit” formuliert, den der völkische Idealist und Antisemit Paul de Lagarde prägte (und den sie ja selbst auch nur ironisch gebraucht).

Wie kaum ein anderer Begriff bringt “Ganzheitlichkeit” den Vorrang esoterischen Systembaus vor dem Einzelnen, des Totalen gegenüber dem Subjekt auf den Punkt. Es ist der “ganzheitliche” Anspruch, mit dem die Esoterik die Schattenseiten des Spinozismus und Deutschen Idealismus beerbt und der ihre Attraktivität im Zeitalter der Postmoderne erklärt. Das Philosophen- und Literatentum eines Richard David Precht, Rüdiger Safranski und Peter Sloterdijk steht heute wie seinerzeit Steiner für ein Programm des schlechten ‘ganzheitlichen’ Universalgelehrten, deren Stupidität sich nicht darin ausdrückt, zu wenig zu wissen, sondern zu allem eine beliebig dehnbare Meinung zu haben. Anthroposophische Schlagwörter wie “biodynamisch” finden sich inzwischen sogar im sonntäglichen Tatort, mit Sätzen wie “Ordnungssinn ist abzulehnen” und “Es handelte sich eher um so etwas wie Stand-up-Okkultismus, einen ultraspätromantischen Poetry Slam: Wissenschaft der Form nach, an sich aber Mysterienspiel und Gesamtkunstwerk” (FAZ) wird Steiner heute nicht nur in den Feuilletons, sondern auch bei Anthroposophen imaginiert: als “genialer Dilettant im positiven Sinne” (Taja Gut) oder “Laie par excellence” (Wolfgang Vögele: Sie Mensch von einem Menschen, Basel 2012, 14). Gegen jede noch so explizite Äußerung des Gurus feiern Anthroposophen heute selbst Steiners deterministische Temperamentenlehre nicht mehr als “Klassifizierung von Menschen, sondern pädagogische Künstler-Kompetenz”, deren viergliedriges Zuordnungsschema gar keinen Selbstzweck habe, sondern dazu ermuntern solle, sich über “Gestaltungsmöglichkeiten phantasievoll Gedanken zu machen” (Johannes Kiersch: Waldorfpädagogik als Erziehungskunst, in: Rahel Uhlenhoff: Anthroposophie in Geschichte und Gegenwart, 456). Dieses bösartige Klima postmoderner Beliebigkeit beseelt und bewirkt gegenwärtig das Wachstum und die interne Plausibilisierung der Waldorfbewegung, zieht ‘ganzheitlich’, ‘bewusst’, ‘ökologisch’ orientierte Interessenten an – und ermöglicht gleichzeitig etwa die wohlig-warme Atmosphäre zur Tradierung völkischer Theorieelemente bis in die Gegenwart. Auch der letzte rote Faden von Steiners Weltanschaungskosmos, der Anspruch auf eine letztlich okkult-positivistische ‘übersinnliche Schau’, wird zugunsten der Selbstsuggestion aufgegeben, Steiner habe alles ‘ganz anders’, heuristisch, aphoristisch gemeint. Selbst im Vergleich mit anderen esoterischen Strömungen der europäischen Geschichte stellt dies eine Regression von der theosophischen ‘Clairvoyance’ zum dumpfen Gejammer des Spiritismus dar.

Diese allzu ‘zeitgemäße’ Anthroposophie erschwert auch die Betrachtung der ideologischen Prägung von Waldorfschulen. Husmann folgt diesbezüglich dem von Anthroposophen seit Steiner apodiktisch verneinten (vgl. etwa GA 77, 94), aber bei Anthroposophiekritikern beliebten Narrativ, dass die anthroposophische Esoterik an Waldorfschulen ‘indirekt’ vermittelt werden solle. Sie schreibt:

“Die Krux der Waldorfpädagogik liegt in eben dieser Form der Intransparenz und einer strukturell beförderten Willkür, die es letztlich den einzelnen Lehrkräften aufbürdet und überlässt, wie und wie viel anthroposophische Inhalte die Klassenzimmer erreichen … Autoren der anthroposophischen Zeitschrift Info-3 haben schon vor fünf Jahren dafür plädiert, endlich zur esoterischen Ausrichtung der Anthroposophie und damit der Waldorfschulen zu stehen anstatt diese zu verschleiern. Schließlich, so Sebastian Gronbach, beginnt bereits jeder Schultag mit einem Morgenspruch Rudolf Steiners.”

Sie zitiert anschließend eine ähnlich gelagerte Äußerung Jens Heisterkamps (eine ausführlichere Exegese findet sich in Schwarz-Weiß-Symbolik, 342ff.). Anschließend leitet sie aus einigen Bemerkungen in einer Broschüre des Bundes der Freien Waldorfschulen, nach denen Steiner “nicht nur ein genialer Lehrer und Erzieher, sondern auch ein bedeutender Esoteriker war” die (falsche) Folgerung ab, die Waldorfschulen hätten sich inzwischen dazu bekannt, dass sie Weltanschauungsschulen seien und freut sich:

“Dieses Bekenntnis der Waldorfschulen zur esoterischen Weltanschauungsschule ist ein richtiger Schritt. Waldorfeltern und -schüler sollten diese Grundlagen nicht zuletzt vor dem Hintergrund zur Kenntnis nehmen, dass sich laut einer aktuellen Umfrage 90% der Waldorflehrer mit Steiners Weltbild identifizieren.”

Husmanns Forderung, Waldorfschüler und -eltern sollten sich mit den anthroposophischen Grundlagen beschäftigen, ist ihrerseits ein richtiger Schritt. Dass von seiten besagter Eltern und Schüler “immer wieder vehement beteuert [wird], von „Astralleibern“ oder ähnlichem anthroposophischen Vokabular habe man im Unterricht noch nie etwas gehört”, wird bei Husmann glücklicherweise auch nicht mehr als dreiste Lüge abgetan, sondern durchaus ernstgenommen. Für sie steht fest: “Was folgt daraus? Steiner lesen!” Zu ergänzen wäre hier nur, dass dieser Imperativ nicht nur für Waldorfeltern und -schüler, sondern mindestens ebenso für die Lehrer gelten sollte. Husmann pocht zwar auf eine “aktuelle Umfrage”, nach der 90% aller Waldorflehrer sich mit Steiner identifizierten und auch ihr Intimus Andreas Lichte hat die Quelle für diese Information in gewohnter Manier munter verbreitet: Den oben zitierten Taz-Artikel zur Hamburg-Wilhelmsburger “staatlichen Waldorfschule”, in dem Heiner Ullrich zu Wort kommt.

Die “aktuelle Umfrage” liegt scheinbar weder Lichte noch Husmann, sondern nur Ullrich vor. Bei näherem Hinsehen ergibt sich hier ein nicht unerhebliches Problem: Die einzige mehr oder weniger aktuelle “Umfrage” zum Thema ist nämlich noch nicht publiziert. Sie wurde vom Bund der Freien Waldorfschulen co-finanziert und von der anthroposophischen Alanus-Hochschule in Kooperation mit Heiner-Barz von der Heine-Universität Düsseldorf durchgeführt. Den meisten Anthroposophiekritikern gelten die von diesem Duo produzierten Waldorfstudien als parteiisch und unseriös, allen voran Andreas Lichte. Anscheinend wird dieser erst einmal berechtigte Vorbehalt jedoch gern und schnell vergessen, sobald eine Information die eigene Meinung zu stützen scheint.

Dass 90% der Waldorflehrer Hardcore-Anthroposophen seien, in diesem Wunschtraum sind sich die Leitfiguren der Waldorfszene und ihre Gegner endlich einmal einig. Auch Andreas Lichte hat die Meldung der “Erziehungskunst”, in Hamburg-Wilhelmsburg werde keineswegs “Waldorfpädagogik light” herrschen, dankbar in seinem Offenen Brief zitiert. Sowohl die Waldorfianer als auch ihre Kritiker verbreiten allzu oft die Propaganda ihrer Gegner. Hier fühlt man sich an den Esoterikforscher Michael Bergunder und seine These erinnert, dass “die Esoterik” als diskursive Identitätsposition ebenso Eso-Gegner wie Anhänger umfasst. Und schon 2010 hat Christof Wiechert von der Pädagogischen Sektion am Goetheanum gefordert, durch entsprechende Nachqualifikation sollten wenigstens wieder 75% der Waldorflehrer anthroposophisch ausgebildet sein (Wiechert: Lust aufs Lehrersein? Eine Ermunterung zum (Waldorf-)Lehrerberuf, Dornach 2010). Schon der Titel von Wiecherts Buch liest sich wie eine der Kampagnen, Webseiten, Broschüren, Plakate und nicht zuletzt der Vorträge, die auf Initiative des Waldorfbundes inzwischen sogar vor Waldorfschülern der Oberstufe gehalten werden, um genügend Kunden für die stramm anthroposophisch ausgerichteten Waldorflehrerseminare zu gewinnen. Im Lehrkörper der Schulen ist die Lage längst komplizierter, da viele Neueinstellungen sich kein bisschen mit Anthroposophie auskennen und die einzelnen Schulen auch kaum eine Wahl haben: Lehrer mit zweitem Staatsexamen sind gefragt, um das Abitur abnehmen zu können, aber viele davon haben sich nie zu einer Waldorfausbildung herabgelassen, der anthroposophische Rest an Waldorfschulen folgt immer öfter den Imperativen der postmodern-seichten Steinerlesart (vgl. Waldorf weiter auf Abwegen, Abschnitt “‘Anthroposophische’ Praxis an Waldorfschulen).

Umso mehr kann man sich hier Husmanns Forderung “Steiner lesen!” anschließen:

“Was folgt daraus? Steiner lesen! Anstatt die anthroposophischen Inhalte vordergründig aus dem Unterricht auszublenden, wäre es entsprechend wünschenswert, nicht nur Lehrer, sondern auch (angehende) Waldorfeltern und Waldorfschüler zur Steiner-Lektüre zu verpflichten. D.h. Eltern und Schüler sollten sich zumindest in Teilen durch die 350-bändige Gesamtausgabe durcharbeiten und all die detailreichen Beschreibungen des anthroposophischen Evolutions- und Geschichtsmodell kennenlernen, das Grundvokabular „atlantischer Kulturepochen“ und „arischer Wurzelrassen“ beherrschen, von den gallertartigen Zuständen des Menschen in seinen früheren Bewusstseinsstadien zu berichten wissen, die endlosen Darstellungen zu höheren Welten und geistigen Wesenheiten, zu Äther- und Astralleibern, zur Dreigliederung von Physiologie und sozialem Organismus lesen, um die Zeitgeister und Geister der Form, die Jupiter- und Merkurrassen wissen, die Ausführungen zum verhassten Materialismus, dem bösen Geist des dunklen Ahriman, und zum „hohen Sonnengeist“ Christi verfolgen. … Die Steiner-Lektüre ist nicht zuletzt jenen Senatoren zuzumuten, die die Zusammenlegung von staatlicher Schule und Waldorfschule in Hamburg-Wilhelmsburg befürwortet haben. Aber lassen wir am Schluss den Meister selbst zu Sinn und Zweck der Anthroposophie als „geistiger Wissenschaft“ zu Wort kommen: „Sehen Sie, die Geschichte ist so ernst, daß man sagen kann: Es muß die Menschheit auf der Erde auf andere Weise als in alten Zeiten zu etwas kommen, was wiederum etwas hergibt. Denn es ist tatsächlich so, daß, je mehr die blonden Rassen aussterben, desto mehr auch die instinktive Weisheit der Menschen stirbt. Die Menschen werden dümmer. Und sie können nur wiederum gescheit werden, wenn sie nicht auf den Körper angewiesen sind, sondern wenn sie eine wirkliche geistige Wissenschaft haben. Das ist tatsächlich so. Und wenn die Leute darüber lachen, so mögen sie lachen. Aber sie haben ja über alles gelacht, was irgendwo aufgetreten ist und einen großen Umschwung hervorgebracht hat!“ (GA 348, 103)


Einsortiert unter:Allgemein
Viewing all 119 articles
Browse latest View live