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Rudolf Steiner und Baruch de Spinoza Spinoza. Ein Diskussionsbeitrag

von Hartmut Traub

2011 hat der Philosoph Hartmut Traub mit seinem Buch „Philosophie und Anthroposophie. Die philosophische Weltanschauung Rudolf Steiners. Grundlegung und Kritik“ (Stuttgart), die akademische Diskussion um die philosophischen Werke des späteren Okkultisten Steiner auf eine neue Grundlage gestellt. Inzwischen sind von anthroposophischer Seite erste ausführliche Kritiken an Teilen von Traubs Studie erschienen. Sie betreffen Steiners streitbare Spinoza-Rezeption in seiner “Philosophie der Freiheit”. Traubs folgende Antwort nimmt zu den Kritiken Stellung und dokumentiert die aktuelle Debatte. Den Text gibt es hier auch als PDF: Hartmut Traub – Steiner und Spinoza. Ein Diskussionsbeitrag

Warum Spinoza?

Unter den Titeln „Eine Gedankenskizze zum Verhältnis Rudolf Steiners zu Spinoza“ und  „Rudolf Steiner und Baruch de Spinoza“ haben Michael Muschalle und Merijn Fagard auf der Web-Site der „Studien zur Anthroposophie“ zwei Beiträge veröffentlicht, die sich ausführlich mit einem kurzen Kapitel meines Buches Philosophie und Anthroposophie (im Folgenden PuA) auseinandersetzen. Neben manch berechtigter und manch unberechtigter Kritik findet sich insbesondere im Beitrag von Fagard auch viel Zustimmung zu den Ergebnissen meiner Analyse zur  problematischen Spinoza-Rezeption Rudolf Steiners (vgl. Fagard, 24ff./ 29f./ 35-39). Es freut mich, dass die anthroposophische Steinerforschung so engagiert und differenziert auf meine Arbeit reagiert und entnehme den Reaktionen eine sachbezogene Diskussions- und Auseinandersetzungsbereitschaft, die ich sehr begrüße.

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Dass sich die Autoren auf die wenigen Seiten meines Buches fokussieren, auf denen ich die Steiner-Spinoza-Kontroverse abhandele (S. 258f./268-272), mag angesichts des Umfangs der Untersuchung zu den Grundlagen von Steiners philosophischer Weltanschauung überraschen. Wären nicht J. G. Fichte oder Kant, Hartmann oder I. H. Fichte oder Steiner und das Christentum wichtigere Ansatzpunkte für eine Auseinandersetzung? Das mag sein. Aber wenn man von der Freiheitsthematik – dem Herzstück der Philosophie der Freiheit – ausgeht, dann ist es sinnvoll, ja vielleicht zwingend, den dort von Steiner zum Vater aller modernen Freiheitsgegner stilisierten Spinoza und vor allem meine Kritik an Steiners Umgang mit ihm in den Blick zu nehmen.

Im Folgenden möchte ich zu zwei Themen von Fagards und Muschalles Kritik Stellung nehmen. Der erste Punkt betrifft die Quellenkritik Fagards an der von mir verwendeten Übersetzung des Spinoza-Briefes, auf den Steiner seine Kritik an Spinoza stützt. Dieser Punkt enthält einen formalen, philologischen und einen materialen, philosophischen Aspekt. Bei der Erörterung beider Aspekte werde ich mich ausschließlich auf den Kontext beschränken, innerhalb dessen die Philosophie der Freiheit Spinoza und seinen Brief von Oktober/November 1674 behandelt.

Der zweite Punkt befasst sich mit einigen inhaltlichen Konsequenzen, die die beiden Autoren aus meiner Kritik an Steiners Spinozadeutung ableiten bzw. die sie damit verbinden. Hier wird es vor allem um die meines Erachtens – sowohl für Spinoza als auch für Steiner – problematische Polarisierung und Etikettierung „Spinoza ist Determinist. Und Steiner nicht.“ (Fagard, 26) sowie um den „Scheinwiderspruch“ zwischen Notwendigkeit und Freiheit gehen. Ich habe bei der Lektüre von Muschalle und Fagard den Eindruck gewonnen, dass diese Thematik, insbesondere die Behauptung des Schwarz-Weiß-Kontrastes von Determinismus (Spinoza) und Freiheit (Steiner), die eigentliche Botschaft ihrer Texte ist. Ich halte diese Unterscheidung auch für wichtig. Ich bin jedoch überzeugt,  dass sie in dieser Eindeutigkeit weder für Spinoza noch für Steiner aufrecht zu erhalten und für die philosophische Interpretation beider Denker unproduktiv ist. Einer differenzierenden philosophischen Auseinandersetzung erweist eine solche Polarisierung keinen guten Dienst.

Schließlich bleiben mir noch einige offene Fragen an die Autoren, die ihre Steinerdeutung betreffen.

Merijn Fagards gründlicher philologischer Recherche spreche ich meine aufrichtige Anerkennung aus

Im ersten Teil seiner Auseinandersetzung mit meinem Steiner-Spinoza Kapitel (PuA, 257–259 und 268–272) befasst sich Fagard mit den Textgrundlagen, die Steiner und ich bei unserer Interpretation von Spinozas Freiheitsverständnis verwenden.

Meine Kritik wirft Steiner einerseits vor, er habe Spinozas Brief nur – „mit Auslassungen, ohne diese kenntlich zu machen“ – zitiert (PuA, 271), und andererseits habe er seine „Spinoza-Adaption“ genau an der Stelle abgebrochen, an der Spinoza den bedeutsamen Sachverhalt aufklärt, dass seine Schilderung der „Freiheits-Illusion“ als Irrtum eines eingeborenen menschlichen Vorurteils und nicht als seine eigene Konzeption der Freiheit zu verstehen ist. Diesen Umgang mit dem Text habe ich weiter dahingehend kritisiert, dass Steiner seinen Lesern in der Philosophie der Freiheit (GA 4, 18) die Differenz zwischen Spinozas Kritik am Vorurteil des illusionären Freiheitsbewusstseins und seiner Distanzierung davon vorenthält und ihnen stattdessen suggeriert, Spinoza vertrete selbst dieses Freiheitsverständnis, um von ihm ausgehend jeden Begriff von Freiheit als illusionär zu verabschieden.

Fagard hat nun nachgewiesen, dass meine Kritik an Steiners Spinozarezeption schon alleine deshalb problematisch ist, weil Steiner und ich zwei unterschiedliche Übersetzungen des in lateinischer Sprache verfassten Spinoza-Briefes verwenden. Steiner zitiert den Brief in der Philosophie der Freiheit nach der im Wortlaut gleichen Übersetzung von J. H. Kirchmann aus den Jahren 1871/1882, während ich die Übersetzung von C. Gebhardt verwende, die erstmals 1914 erschienen ist. Mit bewundernswerter Akribie ist es Fagard gelungen zu belegen, dass mein erster Vorwurf, Steiner habe Textpassagen des Briefes ausgespart, falsch ist. Die in meiner Übersetzung enthaltene und von Gebhardt übersetzte Stelle ist in der Übersetzung, die Steiner vorlag, nachweislich nicht zu finden. Das heißt, der in der Philosophie der Freiheit (S. 17f.) von Steiner zitierte Spinoza-Text ist wortgetreu aus der Kirchmann-Übersetzung wiedergegeben. Damit ist meine Behauptung, Steiner habe den Brieftext „mit Auslassungen, ohne sie kenntlich zu machen“ (PuA, 271), zitiert, als haltlos erwiesen. Ich nehme diese Behauptung zurück.

Auch hinsichtlich meines zweiten Vorwurfs, den ich Steiner im Hinblick auf seinen Umgang mit dem Spinoza-Brief gemacht habe, dass er exakt an der Stelle sein Zitat enden lässt, an der im Folgenden eine sachlich wichtige Erklärung von Spinoza zum vorher Behandelten anschließt (PuA, ebd.), hat Fagard eine bedeutsame Entdeckung gemacht. Denn auch diese Stelle des Briefes zeigt erhebliche Abweichungen in der von mir und der von Steiner verwendeten Übersetzung. Während Gebhardt sich darauf beschränkt, den Originaltext mit „Hiermit habe ich, wenn ich nicht irre, meine Meinung über die eingebildete menschliche Freiheit genugsam auseinandergesetzt“ übersetzt, zeigt die offensichtlich textgetreuere Übersetzung Kirchmanns, dass Spinoza an dieser Stelle noch mehr dargelegt zu haben glaubt. In der Steiner vorliegenden Übersetzung heißt es: „Damit habe ich, glaube ich, meine Ansicht über die freie und erzwungene Notwendigkeit und über die eingebildete Freiheit dargelegt [...].“ (Fagard, 49). Aus dieser sachlich weiter ausgreifenden Zusammenfassung Spinozas ergeben sich, so Fagard und Muschalle, noch andere Konsequenzen für Steiners Verwendung des Briefes als die von mir vorgebrachten und kritisierten. Auch dieser philologischen Kritik stimme ich vorbehaltlos zu.

Für seine gründliche Recherche spreche ich Merijn Fagard an dieser Stelle ausdrücklich meine aufrichtige Anerkennung aus. Alle Achtung! Auch stimme ich seiner Kritik zu, dass mir mit Rücksicht auf meine wissenschaftlichen Standards die Nachlässigkeit, den Steiner vorliegenden Text nicht hinreichend zur Kenntnis genommen zu haben, eigentlich nicht hätte unterlaufen dürfen.

Während ich im Hinblick auf die erste Kritik Fagards mein Monitum gegenüber Steiner bedingungslos zurücknehme, liegen die Dinge im zweiten Fall allerdings anders. Ja, wenn man es genau nimmt, verschärft sich unter Berücksichtigung des Kirchmann-Textes meine  Kritik an Steiners interpretatorischem Umgang mit dem Brief Spinozas. Hier ist am Kern der Sache nichts zurückzunehmen. Aus den unterschiedlichen Übersetzungen lässt sich in diesem Punkt keine „außerordentliche Fehleinschätzung Rudolf Steiners“ meinerseits konstruieren. (Fagard, 2). Im Gegenteil. Die ausführlichere und zutreffendere Übersetzung Kirchmanns unterstreicht Steiners höchst selektiven Interpretationsansatz des Textes. Damit komme ich zum zweiten Punkt.

… wenn man es genau nimmt, verschärft sich unter Berücksichtigung des Kirchmann-Textes meine Kritik an Steiners interpretatorischem Umgang mit dem Brief Spinozas

Zu diesem Punkt lautet meine Kritik an Steiner: Obwohl Spinoza unmissverständlich klar macht, dass das, was er im fünften Absatz seines Briefes (GA 4, S. 18, Zeile vier ff. / von Steiner kursiv gesetzt) erörtert, die Vorstellung der eingebildeten menschlichen Freiheit und nicht sein Begriff der Freiheit sei, versucht Steiner über Spinozas Kritik an der eingebildeten Freiheit ihn zu einem, ja dem modernen Freiheitsgegner schlechthin zu stilisieren. Zurecht weisen Fagard und Muschalle darauf hin, dass Steiner den zu Beginn des Briefes eingeführten Freiheits- und Unfreiheitsbegriff Spinozas „Ich nenne nämlich eine Sache frei, die aus der bloßen Notwendigkeit ihrer Natur besteht und handelt, und gezwungen nenne ich die, welche von etwas Anderem zum Dasein und Wirken in genauer und fester Weise bestimmt wird“ (GA 4, 17) zur Kenntnis genommen haben muss, sonst hätte er ihn nicht zitiert. Allerdings – und darauf weist meines Erachtens der von Steiner kursiv gestellte Text des Spinoza-Briefes hin – scheint ihm weniger an Spinozas Definition der Freiheit und Unfreiheit als vielmehr am illusionären Begriff der menschlichen Freiheit, der in diesem Abschnitt von Spinoza als Bewusstseins des Begehrens, ohne Kenntnis der Bestimmungsursachen, charakterisiert wird, gelegen zu sein. Denn darauf hebt Steiner in seiner Kritik an Spinoza im Folgenden ja explizit ab. Der Mensch hat nicht nur ein Bewusstsein von seinen Handlungen [Spinoza spricht von Begehren], sondern er kann auch ein Bewusstsein von den Ursachen, die sein Handeln leiten, haben (GA 4, 19). Aus diesem Konzept „Wissen und Erkennen der Ursachen des Handelns“ entwickelt Steiner dann im Folgenden seine Idee der geistigen menschlichen Freiheit, um die es zentral in diesem Abschnitt und auch in den folgenden Kapiteln geht.

Um zu belegen, dass Spinoza den von Steiner eingeführten Freiheitsbegriff nicht nur kennt, sondern ihn auch als den seinen vertritt, habe ich ein längeres Zitat aus Spinozas Ethik in das Kapitel „Spinoza lesen! Steiner verstehen“ (PuA, 270) eingefügt. Dieses Zitat belegt das Gegenteil von dem, was Steiner über Spinoza behauptet. Auch darin kann ich keine „außerordentliche Fehleinschätzung Rudolf Steiners“ (Fagard, 2) erkennen. Insbesondere deshalb nicht, weil Merijn Fagard meiner Kritik, dass Steiner Spinoza fälschlicherweise unterstellt, er habe keinen durch „Wissen um die Gründe des Handelns“ bestimmten Begriff der Freiheit, ausdrücklich zustimmt (Fagard, 35f.).

Steiners problematische Kompilation wird durch Fagards Hinweis, dass die Steiner vorliegende Übersetzung da, wo die von mir verwendete lückenhaft ist, explizit den Unterschied zwischen der freien und erzwungenen Notwendigkeit thematisiert, noch prekärer. Denn, obwohl Spinoza im Anschluss an das von Steiner verwendete Zitat noch einmal an sein sozusagen vierdimensionales Freiheitsverständnis erinnert, nämlich dass zur Bestimmung des Freiheitsbegriffs zwischen (a) der Bestimmung der Freiheit überhaupt, (b) ihrer Anwendung auf Gott, (c) der Bestimmung ihres Gegenteils und (d) der Bestimmung der Scheinfreiheit unterschieden werden muss, reduziert Steiner seine Spinoza-Kontroverse maßgeblich auf (c und d), den Begriff der Unfreiheit  und den der Scheinfreiheit.

Auf Spinozas Begriff der „freien Notwendigkeit“ (a und b), der im Kontext von Steiners Spinoza-Interpretation, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle spielt, kommen wir an anderer Stelle noch zurück.

… Hier wird weniger diskutiert, als vielmehr im Szenario von Angriff und Gegenangriff Krieg um die Idee der menschlichen Freiheit geführt…

Nimmt man den Brief – wie Fagard vorschlägt – als Ganzes in den Blick, und ich gehe davon aus, dass Steiner das auch getan hat, dann müssten einem auch noch zwei weitere freiheitsrelevante Aspekte auffallen, die geeignet sind, Steiners verengte Spinozarezeption zu verunsichern. Denn im selben Absatz, in dem Spinoza seine bisherigen Ausführungen zusammenfasst, führt er unter Rückgriff auf Punkt (a) mit Blick auf die aufgeworfene Frage nach der Willensfreiheit des Menschen aus:

„Wenn er [der Freund des Adressaten] mit Descartes Denjenigen frei nennt, der von keiner äußern Ursache gezwungen wird und wenn er unter den Gezwungenen Den versteht, der wider seinen Willen handelt, so gebe ich zu, dass wir in dieser Hinsicht freien Willen haben. Wenn er aber unter gezwungen den versteht, welcher, wenn auch nicht gegen seinen Willen, doch nothwendig handelt (wie ich oben ausgeführt), so bestreite ich, dass wir in irgend einem Falle frei seien“ (Fagard, 47)

Wie immer diese Passage im Kontext des Briefes oder der Freiheitslehre des Spinoza zu verstehen ist – wir kommen darauf noch zurück –, so ist hinreichend deutlich, dass Spinoza auch im Hinblick auf die menschliche Freiheit ein differenzierteres Urteil hat, als Steiner seine Leser glauben machen möchte.

Und ein Letztes. Der Schluss des Briefes behandelt das Problem oder den Widerspruch zwischen Verantwortung und „Schicksalsnothwendigkeit/Vorsehung“. Spinoza bittet hier den Adressaten, seinen Freund zu fragen, „wie er die menschliche Tugend, die aus freiem Willensentschluss hervorgeht, mit Gottes Vorherbestimmung vereinige“ (Fagard, 50). Und jetzt gibt Spinoza eine sehr bemerkenswerte Antwort, die da lautet:

„Wenn er [der Freund] mit Descartes einnimmt [annimmt], dass er dies nicht vermöge, so sucht er ja den Spiess, der ihn schon durchbohrt hat, gegen mich zu schwingen; aber vergeblich, denn wenn Sie meine Absicht aufmerksam prüfen wollten, würden Sie sehen dass [bei mir] Alles übereinstimmt u.s.w.“ (Fagard 51)

Was heißt das anderes als: Auch wenn für den Freund des Adressaten die Vermittlung von göttlicher Vorsehung und freiem Willensentschluss nicht vereinbar zu sein scheint, so bedeutet das für Spinoza nicht, dass eine solche Vereinbarung überhaupt nicht möglich sei. Vielmehr erhebt er hier den Anspruch, diese Vermittlung geleistet zu haben. Genau das gelte es zu prüfen, bevor man ihn als Freiheitsgegner und Fatalisten respektive Deterministen aburteilt.

Ich habe den Eindruck, dass Steiner vieles von dem, was ich an seiner Spinozarezeption kritisiere, gewusst hat, ja – und da hat Michael Muschalle sicher recht (Muschalle, 4) –, dass ihm aus seiner Arbeit an Goethe auch ganz andere Facetten einer Spinozadeutung bekannt waren. Hinzuweisen sei vor allem auf das zu seiner Zeit wohl ausgewogenste Urteil zu Spinoza, das Friedrich Heinrich Jacobi, insbesondere auch im Hinblick auf die Freiheitslehre Spinozas und weniger im Hinblick auf dessen Pantheismus und vermeintlichen Atheismus, auf den sich die philosophiegeschichtliche Hauptrichtung (Schelling/Fichte/Hegel) konzentrierte, vertreten hat. Steiner hat die 1819 erschienenen Schriften des Goethefreundes Jacobi über Spinoza gekannt. (Vgl. GA 1, 76 ff.; Friedrich Roth und Heinrich Köppen (Hrsg.): F. H. Jacobi’s Werke. Vierter Band. Erste Abteilung, Leipzig 1819)

Dass Steiner in der Philosophie der Freiheit trotz dieses Wissens ein so undifferenziertes Bild von Spinoza zeichnet, ist schon bemerkenswert. Was ihn dazu veranlasst hat, lässt sich ein Stück weit der Dramaturgie des Kapitels I entnehmen.

Der Anfang von Kapitel I „Das bewusste menschliche Handeln“ ist dramaturgisch so aufgebaut, dass das Thema Freiheit zum einen auf den Menschen und auf dessen geistige Freiheit fokussiert wird. An einer Differenzierung des Freiheitsbegriffs, die Freiheit überhaupt, persönliche, politische, moralische, sittliche, transzendentale, metaphysische oder absolute Freiheit, in ihrer jeweiligen Bedeutung oder Geltung erörtert, ist Steiner hier nicht gelegen. Zum anderen wird die philosophiegeschichtliche Diskussion zu diesem Thema als kontradiktorischer Kampf zwischen „warmen Anhängern“ und „hartnäckigen Gegnern“ der Freiheitsidee inszeniert. Zugespitzt formuliert wird hier weniger diskutiert, als vielmehr im Szenario von Angriff (GA 4, 16) und Gegenangriff Krieg um die Idee der menschlichen Freiheit geführt.

Didaktisch mag ein solcher Aufzug klarer Fronten sinnvoll sein – vergleiche hierzu die Bedeutung der Polemik in Steiners Philosophie (PuA, 27f.) –, für eine angemessene Erörterung und Würdigung der an dieser Auseinandersetzung beteiligten Positionen ist das aber auf die Dauer unbefriedigend.

Sieht man nun – im Wissen um den im Folgenden eingeführten Brief des „Freiheitsgegners“ Spinoza –  einmal genauer auf dieses Eingangsszenario, dann ist leicht zu erkennen, dass die zentralen Begriffe des Briefes, in seiner Steinerschen Lesart, bereits eingeführt sind, nämlich die „Illusion“ und „Wahnidee der Freiheit“ einerseits und die „naturgesetzliche eherne Notwendigkeit“ und  „Gesetzmäßigkeit der Natur“ (GA 4, 15) andererseits. Was noch fehlt, ist die inhaltliche Füllung der Spinozistischen „Wahnidee der Freiheit“ mit dem „bloßen Bewusstsein“ des Strebens und Handelns, das heißt der Punkt, an dem Steiner im Besonderen seine Fundamentalkritik an Spinoza aufhängt und von dem aus er seine eigene Konzeption der Freiheit „Das Wissen von den Gründen/Ursachen des Handelns“ entwickelt (GA 4, 18ff.).

Es ist also eher die didaktische Schwarz-Weiß-Inszenierung des Kapitels und weniger das nicht vorhandene differenzierte Wissen um die Komplexität der Philosophie Spinozas, die Steiner dazu veranlasst haben könnte, seinen Lesern eine derart zugespitzte Spinoza-Deutung anzubieten. Das macht die Angelegenheit von ihrer Intention her verständlich. Das ändert jedoch nichts am Problem von Steiners unangemessener sachlicher Verkürzung des Freiheitsbegriffs Spinozas. Ich kann in dieser Analyse, die im Wesentlichen den Ausführungen meines Buches folgt, weder „bloß oberflächliches Lesen“ der Texte (Fagard, 19) noch eine Fehleinschätzung Steiners (ebd., 2) erkennen.

Ich komme nun zum zweiten Punkt meiner Stellungnahme zu Fagards und Muschalles Kritik an meiner Analyse zu Steiner und Spinoza.

„Spinoza ist Determinist. Und Steiner nicht“!?

In diesem Punkt möchte ich auf einige Dinge aufmerksam machen, die es meines Erachtens zu bedenken gilt, bevor man philosophische Positionen mit abfertigenden Ismen versieht. Solche Kategorisierungen sind zwar gelegentlich hilfreich, um die grundsätzliche Tendenz einer Theorie oder eines Denkansatzes zu charakterisieren. Bei komplexen philosophischen Systemen ist aber Vorsicht geboten. Insbesondere dann, wenn Etikettierungen zugleich mit Werturteilen verbunden werden.

Spinoza ist nun ein Philosoph, dessen Biographie und Werk in besonderem Maße mit diffamierenden Etikettierungen versehen wurden. Zum Rabbiner bestimmt, kritisierte ihn die jüdische Gemeinde Amsterdams wegen seiner weitergehenden philosophischen Interessen insbesondere an der Philosophie Descartes. Als alles Drohen, Bekehren und Bestechen nichts half, belegte man den hoffnungsvollen Nachwuchsrabbiner mit dem „Großen Bann“ und verfluchte ihn. Seinem Werk ging es kaum besser. Spinozas Philosophie ist der Bezugspunkt schärfster Auseinandersetzungen um Pantheismus, Atheismus, Fatalismus und Determinismus. Angesichts des mächtigen Einflusses der Kirchen auf Politik und Gesellschaft im 17. und 18. Jahrhundert kam der Verdacht, Spinozist zu sein, ebenfalls einem Bannstrahl mit Rufmordcharakter gleich.

Wer sich kurz, aber einfühlsam, mit Spinozas Leben beschäftigen möchte, dem sei der lesenswerte Vortrag Kuno Fischers Baruch Spinoza’s Leben und Charakter (Heidelberg 1946),  vom 11. Januar 1865, empfohlen.

Michael Muschalle und Merijn Fagard sind sich darüber einig, dass Spinozas Philosophie „durch und durch deterministisch“ (Fagard, 32) sei und dass der Freiheitsphilosoph Steiner gute Gründe gehabt habe, ihn deswegen zu kritisieren, ja ihn zum Erzvater aller modernen Freiheitsgegner auszurufen.

Bevor ich auf die Gründe eingehe, mit denen die beiden Autoren versuchen, ihr Urteil über Spinoza zu stützen, möchte ich auf eine bemerkenswerte vierstufige Klimax hinweisen, die eine Unsicherheit bei Fagard erkennen lässt, seinen – nicht Steiners! – Determinismusvorwurf gegenüber Spinoza klar und bestimmt zu artikulieren. Und ich kann ihm nur beipflichten und ihn ermutigen, dieser Unsicherheit weiter nachzugehen. In der Fußnote 30 heißt es (erste Stufe): „Steiner sagt nicht explizit, Spinoza sei Determinist“. Auf der Seite 18 heißt es (zweite Stufe): „Spinoza ist in den Augen Steiners ein Determinist“.  Wenn Steiner nicht ausdrücklich sagt, dass Spinoza Determinist sei, woher können wir dann sicher wissen, dass Spinoza  es in seinen Augen doch war? Auf der Seite 26 und 32 sowie in der Fußnote 32 und an einigen anderen Stellen heißt es dann (dritte Stufe): „Spinoza ist Determinist“. Jetzt ist es definitiv. Aber nach wessen Urteil? Nach Steiners Urteil? Nach unserer Vermutung über Steiners Wahrnehmung? Oder nach unserem eigenen Dafürhalten? Und schließlich heißt es auf der Seite 28 (vierte Stufe): „Spinoza [bekennt] sich zum Determinismus.“ Was Spinozas Determinismus sei, worin der Unterschied zwischen Fatalismus und Determinismus besteht, in welchem Sinn und Umfang welche Partien seiner Philosophie deterministisch genannt werden können und welche nicht, das sind seit dreihundertfünfzig Jahren umstrittene Fragen der Spinozaforschung, die sich auf die Schnelle nicht eindeutig beantworten lassen.

Was sich aber beantworten lässt, das ist die Frage nach dem Kernargument, mit dem Muschalle und Fagard ihre Interpretation des vermeintlichen „Determinismus des Spinoza“ zu begründen versuchen und mit dem sie zugleich glauben, Steiner gegenüber Spinoza scharf abgrenzen zu können.

Notwendigkeit aus Freiheit – wo ist das Problem?

Das „Sesam öffne dich“ zu Spinozas Determinismus ist nach Fagard und Muschalle der Begriff der Notwendigkeit. Steiner hatte zu Beginn von Kapitel I der Philosophie der Freiheit den Antagonismus Freiheit versus naturgesetzliche eherne Notwendigkeit vorgegeben. Und damit scheint klar, ein Philosoph, der den Begriff der Notwendigkeit in der Spitze seines Systems etabliert – wie Spinoza – muss ein Freiheitsgegner sein. Und da nach gängigem Verständnis ein System der Notwendigkeit auch Determinismus genannt werden kann, ist Spinoza Determinist.

Bevor ich mich in dieser Sache den Texten von Fagard und Muschalle zuwende, sei eine kurze begriffsanalytische Bemerkung gestattet. Ich halte es für problematisch, die Begriffe Freiheit und Notwendigkeit auf derselben kategorialen Ebene miteinander in ein antagonistisches Verhältnis zu setzen.

Die modale Kategorie der Notwendigkeit bestimmt zunächst das „Wie“ des Entstehens, Vergehens und der Veränderung von Ereignissen und Sachverhalten. Ihr Gegenspieler ist nicht so sehr die Freiheit als vielmehr die Zufälligkeit, das Ungefähre.

Freiheit dagegen thematisiert eine Bedingung – also den Grund –, aus dem heraus sich (Handlungs-)Entscheidungen vollziehen. Das heißt, Freiheit ist eine eher  moralphilosophische und weniger eine erkenntnistheoretische Kategorie. Strenggenommen ist Freiheit keine erkenntnistheoretische oder logische Kategorie des Verstandes, sondern eine Vernunftidee.

Setzt man nun Freiheit und Notwendigkeit dennoch in einen Zusammenhang, dann bedeutet das, dass der Vollzug einer Handlung, also das „Wie“ ihres Geschehens, mehr oder weniger gesetz- oder regelmäßig, das heißt notwendig oder zufällig, sein kann. Ob dieser Vollzug nun einem freien Entschluss oder einem Zwang folgt, ist eine andere Frage. Der Gegenspieler der Freiheit ist hier also weniger die Notwendigkeit als vielmehr der Zwang.

Des Weiteren hat Notwendigkeit auch eine logische Bedeutung in Begründungszusammenhängen von Urteilen. Zum Beispiel, wenn man sagt: „X ist die notwendige Bedingung/Voraussetzung für Y“.

Was folgt daraus? Es folgt daraus, dass man sehr sinnvoll zum Beispiel über die notwendigen Folgen der Freiheitsvoraussetzung sprechen kann. Etwa darüber, dass es durch diese Voraussetzung notwendig wird, Entscheidungen zu treffen. Es folgt daraus auch, dass man von Freiheit als notwendiger Voraussetzung für die Begründung einer Verantwortungsethik sprechen kann usw. Es lohnt sich, über dieses kategoriale Beziehungsgeflecht deswegen nachzudenken, weil Steiner – und zwar an einer prominenten Stelle seiner Spinozakritik – von einer solchen modalen Verknüpfung von Freiheit und Zwang (Notwendigkeit?) spricht, aus der heraus unterschiedliche Handlungstypen motiviert sein können. Wobei der eine Zwang als Modus der Fremdbestimmung und der andere Zwang als Modus der Selbstbestimmung zu verstehen ist. Aber dazu später.

Was ist zu tun? Ich begrüße es sehr, dass sich Fagard entschlossen hat, diesen Gegenstand zum Thema eines Buches zu machen. Das können wir an dieser Stelle nicht. Was aber machbar ist, das ist den Sinn des Notwendigkeitsverständnisses bei Spinoza kurz zu skizzieren und ihn in seinem Wesenszusammenhang mit dem Begriff der Freiheit überhaupt und dem der menschlichen Freiheit im Besonderen zu charakterisieren. Wesenszusammenhang bedeutet dabei etwas gänzlich anderes als der von Fagard entwickelte „Kombinations- oder Kompatibilitätszusammenhang“, den er Spinozas Begriff der freien Notwendigkeit unterstellt (Fagard, 25). In dieser Darstellung wird auch Steiners Einengung des Notwendigkeitsbegriffs auf naturgesetzliche oder mathematische Notwendigkeit deutlich, den er – nicht nur in der Philosophie der Freiheit – ansetzt. Fagard hat zu Recht darauf verwiesen, und Muschalle weicht diese Feststellung zu Unrecht auf (Muschalle, 2), dass Steiner die Zuspitzung auf naturgesetzliche Notwendigkeit wichtig gewesen sein muss. Denn in der zweiten Auflage zur Philosophie der Freiheit fügt er der „ehernen Notwendigkeit“ das Adjektiv „naturgesetzlich“ bei, dem im Folgenden die „Gesetzmäßigkeit der Natur“ oder das der Freiheit entgegengesetzte „Wirken in der Natur“ entsprechen (GA 4, 15). Es wäre in diesem Zusammenhang zu klären – das aber führt zu weit –, welches Verständnis von Naturgesetzlichkeit hier gemeint ist. Spinozas natura naturans oder die Beziehungen der Phänomene als natura naturata oder überhaupt weniger Spinoza als vielmehr moderne mathematisch-empirische Naturwissenschaft?

… freie Bestimmung seiner selbst als lebendiges Agere, als natura naturans, nennt Spinoza „freie Notwendigkeit“. Sie ist kein Kompositum, wie Fagard annimmt …

Ich werde mich bei der nun folgenden Explikation des Notwendigkeitsbegriffs vor allem auf den Brief beziehen, den Steiner als Dokument für seinen Beweis der Freiheitsgegnerschaft Spinozas verwendet hat.

Spinozas Definition der Freiheit und Unfreiheit (Zwang) lautet an der angegebenen Stelle des Briefes aus dem Jahre 1674 im Zusammenhang:

„Ich wende mich also zu der Definition der Freiheit, die er [der Freund des Adressaten] als die meinige ausgiebt, obgleich ich nicht weiss, woher er sie genommen hat. Ich nenne nämlich die Sache frei, die aus blosser Nothwendigkeit ihrer Natur besteht und handelt und gezwungen nenne ich die, welche von etwas Anderem zum Dasein und Wirken in genauer und fester Weise bestimmt wird. So besteht z.B. Gott obgleich nothwendig, doch frei, weil er nur aus der Nothwendigkeit seiner Natur allein besteht. Ebenso erkennt Gott sich selbst und alles Andere frei, weil es aus der Nothwendigkeit seiner Natur allein folgt, dass er Alles erkennt. Sie sehen also, dass ich die Freiheit nicht in ein freies Beschliessen, sondern in die freie Nothwendigkeit setze“ (Fagard, 48).

Freiheit bedeutet demnach ein Sein/Existieren und Handeln, das ausschließlich durch die Wesensgesetze der eigenen Natur bestimmt wird. Notwendig heißt diese Selbstbestimmung, weil sie nicht zufällig, sondern aus der Natur der Sache selbst folgt oder in der Natur der Sache selbst liegt. Diese von Spinoza angesetzte Notwendigkeit ist ihrer Natur und ihrem Ursprung nach

„[...] weder eine mechanische, noch eine mathematische, keine logische oder psychologische auch keine metaphysische im damaligen Wortsinn. Sie ist nichts als die nach einwohnenden Wesensgesetzen wirkende, unendliche und einzige Seinswirklichkeit [...].“ (Stanislaus von Dunin-Borkowski: Spinoza nach dreihundert Jahren, in: Texte zur Geschichte des Spinozismus,  hrsg. von Norbert Altwickler, Darmstadt 1971, 64)

Die höchste, absolute und unendlich freie, allein aus ihrer Natur bestimmte, „Seinswirklichkeit“ ist nach Spinoza die Substanz Gottes. Ihre „Seinswirklichkeit“ ist die allschöpferische natura naturans, das agere Dei. „In der Tat, ist die Allmacht von Deus für Spinoza nur die absolute Notwendigkeit des Agere selbst.“ (Wolfgang Cramer, Spinozas Philosophie des Absoluten, Frankfurt a. M., 1966, 67) Die aus der eigenen Natur begründete, das heißt freie Bestimmung seiner selbst als lebendiges Agere, als natura naturans, nennt Spinoza im Brief an Schuller nun „freie Notwendigkeit“. Sie ist kein Kompositum, wie Fagard (Fagard, S.25) annimmt, sondern freie, unbedingte Bestimmung einer Sache aus sich selbst und durch sich selbst nach den Gesetzen der eigenen Natur. Und diese Natur-Notwendigkeit ist im Falle Gottes und auch des Menschen, wie noch zu zeigen sein wird,  kein blindes Fatum, sondern freie Selbst- und Welt-Erkenntnis. „Gott erkennt sich selbst und alles andere frei, weil es aus der Nothwendigkeit seiner Natur allein [unbedingt] folgt, dass er alles erkennt.“ (Fagard, 48).

„Ich [Spinoza] bin fern, alle Freyheit zu läugnen, und weiß daß der Mensch seinen Theil davon bekommen hat“

Was nun den Menschen betrifft, so ist dieser keine unbedingte freie Ursache seiner selbst. Er ist Geschöpf. Und darin hat Fagard recht, dass der Mensch nicht unbedingt freie Ursache seiner selbst, sondern mit vielerlei Bedingungszusammenhängen, physischen, biologischen, kulturellen, sozialen usw. verknüpft ist und durch diese bestimmt wird. Allerdings besagt das nicht, wie das Beispiel des Steins suggeriert, dass er ausschließlich durch äußere Anstöße und deren Transformationen (Affekte) bestimmt wird. Nach Spinoza ist der Mensch nicht, wie Fagard behauptet, absolut unfrei (Fagard, 20).  Denn als denkendes Wesen – was er seiner Natur nach auch ist, und darauf kommt es an, – hat er die Möglichkeit (Freiheit), sich vom Zwang äußerlicher und innerer Bestimmungsgründe (Affekte) zu distanzieren und über den Weg eines mehrstufigen Erkenntnisprozesses denkend, das heißt aktiv, zu einer selbstbestimmten Lebensform zu gelangen, die in der intuitiven Erkenntnis der Welt dreierlei realisiert: wahre Seins- und Selbsterkenntnis, Tugend – denn an der rechten Erkenntnis richtet sich auch das Handeln in der Welt sowie das Streben, sich in dieser Lebensform zu erhalten, aus – und schließlich Glückseligkeit, die insbesondere von der „Liebe geistiger Art“ – wie Steiner das später nennen wird –, dem amor Dei intellectualis, getragen und durchzogen wird.

In dieser Sicht der Dinge erschließen sich im Brief Spinozas zwei etwas unklare Stellen, die mit dem Problem Freiheit und Notwendigkeit im Hinblick auf den Menschen zusammenhängen. Nämlich die bereits erwähnte Stelle im Absatz 6, an der Spinoza sagt, dass „wir in manchen Dingen keineswegs gezwungen werden und in dieser Hinsicht freien Willen haben“ (Fagard, 49). Nach dem Gesagten besteht der freie Wille insbesondere darin, der „Vorsehung“, das heißt der Bestimmung unserer Natur zur Freiheit – zum Denken und Erkennen – , aktiv zu folgen und darin unsere Not, das heißt den Zwang der Affekte, zu unserem eigenen Heil zu wenden. Was Not-Wendigkeit ja auch bedeutet. Schließlich ist Spinozas Ethik auch eine Glückseligkeitslehre oder „Anweisung zum seligen Leben“.

Die zweite, auch bereits erwähnte Stelle, die sich mit dieser Auslegung gut verstehen lässt, ist der Schluss des Briefes, den Fagard meines Erachtens irrtümlich zum Beleg von Spinozas Determinismus anführt (Fagard 26f.). Spinoza behauptet dort, dass in seinem Denken der von Descartes ungelöste Widerspruch zwischen freiem Willensentschluss und menschlicher Tugend einerseits und göttlicher Vorsehung andererseits sehr wohl in Übereinstimmung stehen, und zwar ohne dass eines der Glieder in dem anderen auf- oder untergeht. „Wenn Sie meine Absicht aber aufmerksam prüfen wollten, würden Sie sehen, dass [bei mir] Alles übereinstimmt u.s.w.“ (Fagard, 51).

Es gibt, so kann man unsere Überlegungen vorläufig zusammenfassen, gute Gründe, um von einer eindeutigen Polarisierung, die Spinoza zu einem Freiheitsgegner stilisiert, abzurücken und dessen Philosophie der Freiheit zu würdigen, ohne dabei die Unterschiede  zwischen ihm und Steiner – etwa den einer ausgearbeiteten Philosophie des Ich – zu verwischen.

Auf eine bedeutsame Stimme in dieser Debatte, die Steiner auch gekannt und zitiert hat, nämlich die bereits erwähnte Schrift Jacobis Über die Lehre des Spinoza, möchte ich hier noch aufmerksam machen. Sie ist aus zwei Gründen besonders interessant. Erstens, weil Jacobi als radikaler Kritiker Spinozas gilt, und zweitens, weil er, neben Christian Wolff, als einer der anerkannt besten Spinozakenner seiner Zeit galt. Seinem Brief an Moses Mendelssohn vom 5. September 1784 fügt er eine Beilage hinzu (die Kopie eines Briefes an den niederländischen Philosophen Hemsterhuis), in der er Spinozas Philosophie in der Form eines Dialogs entfaltet. In diesem Dialog lässt Jacobi Spinoza sagen:

„Ich [Spinoza] bin fern, alle Freyheit zu läugnen, und weiß daß der Mensch seinen Theil davon bekommen hat. Aber diese Freyheit besteht nicht in einem erträumten Vermögen wollen zu können, weil das Wollen nur in einem wirklich vorhandenen bestimmten Willen da seyn kann. [...] Die Freyheit des Menschen ist das Wesen des Menschen selbst, daß ist, der Grad seines wirklichen Vermögens oder der Kraft, mit welcher er das ist, was er ist. In so fern er allein nach Gesetzten seines Wesens handelt, handelt er mit vollkommener Freyheit. Gott, welcher nur aus dem Grunde handelt und handeln kann, aus dem er ist, und der nur durch sich selbst ist, besitzt demnach die absolute Freyheit. Dies ist meine wahre Meinung über diesen Gegenstand.“ (Friedrich Roth und Heinrich Köppen (Hrsg.), Friedrich Heinrich Jacobi’s Werke, Vierter Band. Erste Abteilung, a.a.O., 150)

Ich habe meine Zweifel daran, und diese zu erklären, war der Grund der vorherigen Erörterungen, dass sich aus den beiden Endpunkten der Philosophie Spinozas: dem absolut freien Grund seiner selbst (Gott) und dem freien Entschluss zur Wesensbestimmung seiner selbst als denkender Mensch, das starre Netz einer ehernen Notwendigkeit knüpfen lässt, über dem das unumstößliche Urteil „Spinoza ist Determinist“ prangt. Den Nachweis dazu allein über den Begriff der Notwendigkeit zu versuchen, wird, wenn es überhaupt geht,  woran ich starke Zweifel habe, schwerlich gelingen.

Leben in Gott ist nach Steiner „ein Dasein, das sich eingegliedert und durchdrungen weiß von der ‚absoluten Wirklichkeit‘, die sich ihm durch das intuitiv-denkende Erfassen der Ideenwelt erschließt“

Ebenso, wie ich Zweifel daran habe, Spinoza in Bausch und Bogen über den Notwendigkeitsbegriff zum Deterministen zu erklären, habe ich Probleme damit, die Grundlegung der Philosophie der Freiheit allein dem Konzept des ethischen Individualismus zu überlassen. Hier bin ich nun in der komfortablen Lage, dass ich die Aspekte des Steinerschen Denkens, die die Einbindung des Individuellen in das „allgemeine Welterleben“ thematisieren, nicht explizit ausbreiten muss, sondern auf die einschlägigen Kapitel meines Buches verweisen kann. Die systematische Grundspannung, um die es hier geht, möchte ich dennoch kurz ansprechen und einige Hinweise darauf geben, wo Steiners Universalismus Züge einer Einbettung und Verknüpfung des Individuellen mit dem hen kai pan aufweist, die der Philosophie  Spinozas nicht unähnlich sind.

Selbstverständlich – und das ist ja eine meiner Thesen zur Genese des Freiheitsbegriffs bei Steiner – ist insbesondere in der ersten Auflage der Philosophie der Freiheit der individualistische Freiheitsbegriff unübersehbar dominant. Ein Freiheitsbegriff, der große Affinität zu Max Stirners Freiheitsanarchismus aufweist (vgl. PuA. u.a. 216ff., 243–  256).

Gleichermaßen offensichtlich sind aber in Steiners Philosophie auch die Elemente eines theoretischen und ethischen Universalismus. Insbesondere seine Intuitionslehre vertritt einen Ideenrealismus, dessen Geltungsanspruch gerade dadurch verifiziert wird, dass sich die individuelle Freiheit gegenüber dem Selbstleben der ideellen Welt zurücknehmen muss,  damit sich die übersinnliche Ideenwelt im Individuum und seinen Handlungsvollzügen „darleben“ und „ausleben“, das heißt Wirklichkeit werden kann. Diese Grundstruktur lässt sich sowohl im experimentellen Entdeckungsschema erkenntnistheoretischer Begriffe und Ideen in Steiners objektivem Idealismus (PuA, 67ff.) als auch in der „Transformationstheorie“ sittlicher Ideen im Kontext seines ethischen Individualismus, zum Beispiel am Beziehungsgeflecht zwischen sittlichen Ideen, moralischer Intuition und moralischer Phantasie sowie der Bestimmung des Handelns, nachweisen. (Mit diesen Zusammenhängen befassen sich die Kapitel 6–8 und auch die Kapitel 11–14 des IV. Teils meines Buches.).

Über die Erkenntnistheorie und Ethik hinaus ist es vor allem das religionsphilosophisch-theologische Schlusskapitel der Philosophie der Freiheit, von dem aus interessante Bezüge zur Spinoza-Steiner-Kontroverse herzustellen sind. In Steiners Konzeption der „letzten Fragen“ lassen sich nicht nur „die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Philosophie der Freiheit, sondern auch ihr moralphilosophischer und ethischer Standpunkt, inklusive der darin enthaltenen Ansätze zu einer Konzeption ‚geistiger Gefühle‘“ in einem „Leben in Gott“ zusammenführen. Steiner skizziert hier, wie „eine Einkehr des intuitiven Denkens, samt seinen Ideen, in die Ordnung der ‚absoluten Wirklichkeit‘, die alles individuelle Denken und Sein ‚umfasst‘ und ‚durchdringt‘“, zu denken und zu erleben ist (PuA, 867). „Leben in Gott“ ist nach Steiner „ein Dasein, das sich eingegliedert und durchdrungen weiß von der ‚absoluten Wirklichkeit‘, die sich ihm durch das intuitiv-denkende Erfassen der Ideenwelt erschließt“ (ebd.). Dass die Ordnung der ‚absoluten Wirklichkeit‘ kein Chaos, sondern ein lebendiger, nach Gesetzen organisierter und  systematischer Strukturzusammenhang ist, dem nicht nur ideelles, sondern auch affektives („Liebe geistiger Art“) und schöpferisches Sein immanent ist, muss nicht ausdrücklich betont werden. Hier ist Steiner sehr nahe an Spinozas absoluter Freiheits- und Glückseligkeitslehre aus dem V. Teil seiner Ethik. Und die Interpretation der Steinerschen Termini der „Eingliederung“ und „Durchdringung“ des Daseins in die, bzw. von der „absoluten Wirklichkeit“ wäre durchaus geeignet, über die Modalität dieser Zusammenhänge, das heißt über ihre Notwendigkeit oder Zufälligkeit, weiter nachzudenken. Auch Steiners Reinkarnationslehre, ein Spezialfall „schicksalhafter Verknüpfung“, gälte es hier zu bedenken.

Wie nahe sich Steiner und Spinoza gerade in ihrer Kosmologie und deren Bedeutung für Erkennen und Handeln stehen, kann der Hinweis auf ihre Konzeption von „Gut und Böse“ veranschaulichen. Im Unterschied zu Nietzsche, bei dem der freie Geist sich selbst sein Gut und Böse gibt und zwar unter Berücksichtigung der vom Christentum verfemten Instinkte und Triebe, gilt für Spinoza und Steiner, dass Moralität grundlegend etwa mit der „rechten Art“ zu tun hat, wie die individualisierte sittliche Intuition, an der sich das Handeln des „freien Geistes“ ausrichtet und die er liebt, „im Weltzusammenhang drinnensteht“ (PuA, 664 ff.). Oder, um es in der Terminologie Spinozas zu sagen, es kommt darauf an, dass die intuitive Erkenntnis das Handeln aus dem Zusammenhang mit der ewigen, schöpferischen Ordnung der natura naturans orientiert und begreift und dadurch adäquate Erkenntnis und adäquates Handeln möglich macht. Ein derart begründetes Handeln oder Streben ist nach Spinoza ethisch gut. Oder, wie Steiner sich ausdrückt:

„[Eine Handlung] wird ‚gut‘, wenn meine in Liebe getauchte Intuition in der rechten Art in dem intuitiv zu erlebenden Weltzusammenhang drinnensteht; ‚böse‘, wenn das nicht der Fall ist.“ (GA 4, 162).

Es ist in beiden Fällen der „Weltzusammenhang“, aus dem Sittlichkeit und Ethik begründet werden. Und für beide Denker gilt überdies – auch das im Unterschied zu Nietzsche –, dass die aus der physischen Natur des Menschen stammenden Neigungen, Triebe und Instinkte keine geeigneten Kandidaten für die Begründung von Moral und Ethik sind.

Hierin sind Steiner und Spinoza in der Sache nicht wirklich auseinander. Die Kategorie der Notwendigkeit ist somit kein hinreichender Grund dafür, Spinoza einen Deterministen und Steiner einen Philosophen der Freiheit zu nennen.

Mit zwei kleinen Bemerkungen zum Thema Freiheit und Notwendigkeit möchte ich diesen Diskussionsbeitrag beschließen. Die eine bezieht sich noch einmal auf die in meinem Buch analysierte Passage aus Kapitel I der Philosophie der Freiheit. Die andere thematisiert die Kritik von Fagard, dass Spinoza und Steiner unterschiedliche Begriffe der Freiheit verwenden und ein Vergleich deshalb schwer möglich sei (Fagard, 19).

Steiners Kritik an Spinoza läuft auf den Vorwurf hinaus, mit Bewusstsein begleitete Handlungen oder Bestrebungen nicht hinreichend differenziert zu haben (GA 4, 19).

„Aber ist es berechtigt, Handlungen dieser Art [die unter unwiderstehlichem Zwang stehen] in einen Topf zu werfen mit solchen, bei denen sich der Mensch nicht nur seines Handelns bewußt ist, sondern auch der Gründe, die ihn veranlassen?“ (Ebd.)

Aus dieser Unterscheidung entwickelt Steiner bekanntlich den Ansatz zu seiner Freiheitskonzeption „wissen, warum ich etwas tue“ (ebd.). Wir haben oben auf das Problem der kontradiktorischen Dichotomie von Freiheit und Notwendigkeit hingewiesen und auf die Sinnhaftigkeit aufmerksam gemacht, in modalen Beziehungen etwa davon zu sprechen, dass „Freiheit notwendige Voraussetzung von X sein könne“ oder „X die notwendige Folge der Voraussetzung der Freiheit sei“. Der Versuch, Freiheit und Notwendigkeit als kontradiktorische Gegensätze aufzubauen und darauf den Unterschied zwischen einem deterministischen oder freiheitlichen System zu begründen, hat seine Tücken. Interessant ist nun zu sehen, dass Steiner im Kontext seiner Auseinandersetzung mit Spinoza die Idee eines Konsequenzialismus anspricht, bei dem es um das Moment der Nötigung (des Zwanges) im Hinblick auf ein „bloß bewusstes“ bzw. ein „aus Einsicht in die Gründe“ vollzogenes Handeln geht. Steiner fragt mit Richtung auf Spinozas Beispiele und dessen „mangelndes Unterscheidungsvermögen“, „ob denn ein Beweggrund meines Handelns, den ich erkenne und durchschaue, für mich im gleichen Sinne einen Zwang bedeutet, wie der organische Prozeß, der das Kind veranlasst, nach Milch zu schreien.“ (Ebd., 20. Hervorhebung H.T.) Interessant ist es, zunächst darauf zu achten, dass Steiner in beiden Fällen von Zwang spricht. Allerdings möchte Steiner zwischen beiden Zwängen eine spezifische Differenz berücksichtigt wissen. Im ersten Fall haben wir es mit einer Nötigung zu tun, die durch Einsicht in den Wirkungszusammenhang erfolgt bzw. von seinem Durchblick begleitet wird. Im zweiten Fall folgt die Handlung der Notwendigkeit eines physischen Zwangs, ohne dass hier ein interner Erkenntnisakt vorliegt. Insofern hat Steiner Recht, wenn er sagt, dass beide Handlungen durch eine unterschiedliche Nötigung motiviert werden, und dass dieser Unterschied im Hinblick auf die Frage nach der menschlichen Freiheit von elementarer Bedeutung ist. Hatte aber Spinoza nicht ebenfalls, und zwar in derselben Hinsicht, diese beiden Handlungstypen mit der Unterscheidung freie und gezwungene Notwendigkeit zutreffend charakterisiert?

Muschalles Versuch, von dieser Stelle aus – in der Sache, nicht im Urteil – einen fundamentalen Unterschied zwischen Steiner und Spinoza zu konstruieren, überzeugt mich nicht. Es gehe Steiner an dieser Stelle darum, so Muschalle, „ob einsehbare Vernunftgründe unseres Handelns einen ähnlich determinierenden Zwang auf uns ausüben wie andere, uns unbewusste Ursachen des Handelns“. Bei Spinoza, so Muschalle weiter, geschieht letztlich alles, „das (geistige und physische) Handeln aus einsehbaren Gründen und das Handeln aus dunklen organischen Bedürfnissen [...] mit Notwendigkeit“ (vgl. Muschalle, 13).

Zunächst ist festzuhalten, dass von „Determinismus bei Steiner nicht die Rede “ ist (vgl. Fagard, Fn 30). Wohl aber spricht Steiner von Zwang und zwar im einen wie im anderen Fall. Die Frage ist, ob von Zwang oder Nötigung in beiden Fällen im selben Sinne gesprochen werden kann. Natürlich nicht. Das haben wir soeben gezeigt. Im ersten Fall handelt es sich um eine Nötigung zur Handlung aus Freiheit (freie Notwendigkeit) im anderen Fall um eine fremdbestimmte (bewusste oder unbewusste) Nötigung. Das heißt: Eine Nötigung zu Handeln oder zu Wollen kann aus unterschiedlichen, nämlich freien oder gezwungen, Beweggründen erfolgen; und: Ein freier Beweggrund ist einer, der mit Einsicht, Durchblick, Wissen und Erkenntnis zusammenhängt. Hierin sind Steiner und Spinoza in der Sache nicht wirklich auseinander. Die Kategorie der Notwendigkeit ist somit kein hinreichender Grund dafür, Spinoza einen Deterministen und Steiner einen Philosophen der Freiheit zu nennen.

Auch im Hinblick auf die größeren Zusammenhänge, in denen Erkenntnis, Handeln und Glückseligkeit (die „Erhöhung des Daseinswerts“) mit dem Weltganzen und dessen gesetzmäßiger Erscheinung und Verwirklichung stehen, lassen sich – wie gezeigt –  bemerkenswerte Parallelen zwischen Steiner und Spinoza ziehen. Damit sollen selbstverständlich die merklichen Unterschiede zwischen beiden, etwa der im Hinblick auf eine explizite Ich-Lehre, nicht völlig eingeebnet werden.

Über die Kritik an der „Schwarz-Weiß-Schablone“: Determinismus einerseits und Freiheit andererseits, gibt es jedoch, wie ich glaube gezeigt zu haben, hinreichend Anlass nachzudenken.

… wenn es darum geht, Wahrheit und Wirklichkeit der Freiheit umfassend zu verstehen.

In dieser Hinsicht scheint mir auch der Hinweis Fagards keine tragfähige Lösung zu bieten, bei Steiner und Spinoza zwischen zwei verschiedenen Freiheitsbegriffen zu unterscheiden (Fagard, 34). Ich bin mir zwar nicht sicher, ob Fagard  den Freiheits-Begriff im strikten Sinne der Philosophie Steiners verwendet oder hier eigentlich eher an unterschiedliche Vorstellungen von Freiheit bei Steiner und Spinoza denkt. Letzteres scheint eher der Fall zu sein. Denn es wechseln in unsystematischer Folge: das „Wort“, das „Idiom“, der „Begriff“ Freiheit. Die Tendenz geht allerdings zum Begriff der Freiheit. Sollte der gemeint sein, dann ist von Steiner selbst her einzuwenden, dass es in striktem Sinne keine zwei Begriffe von Freiheit geben kann. Ebenso wenig wie es zwei Begriffe des Löwen oder des Dreiecks gibt. Begriffe können nur vollständig oder weniger vollständig, einfacher oder komplexer (Ideen) sein. Das bedeutet für unser Problem „Spinoza oder Steiner“, dass nicht gezeigt werden kann, dass Spinozas Freiheitsbegriff in Wahrheit ein Determinismus und Steiners gesetzmäßige Ordnung des Weltganzen ein System der Freiheit ist. Es muss im Sinne des Ideenbegriffs Steiners vielmehr gezeigt werden, um welchen Anteil, Ausschnitt oder Wesenszug der Freiheitsidee es sich im einzelnen bei Steiner und Spinoza handelt,  wenn es darum geht, Wahrheit und Wirklichkeit der Freiheit umfassend zu verstehen. Absicht des zweiten Teils meines Diskussionsbeitrags war es, darauf hinzuweisen, dass zu diesem Zweck weniger eine rigorose Abgrenzung zwischen dem Freiheitsverteidiger Steiner und dem Freiheitsgegner Spinoza als vielmehr eine differenzierende und abwägende Betrachtung geeignet ist.

Ich fasse zusammen:

  1. Die philologische Kritik Fagards an der von mir verwendeten Übersetzung des Spinoza-Briefes ist berechtigt. Mein erster Vorwurf, Steiner habe den Text, ohne dies kenntlich zu machen, gekürzt, ist haltlos. Ich nehme ihn zurück.
  2. Die interpretatorischen Konsequenzen aus meinem zweiten Vorwurf, Steiner habe die von Spinoza selbst gegebene Deutung seines Briefes seinen Lesern vorenthalten und dadurch ein einseitiges, ja unzutreffendes Freiheitsverständnis Spinozas gefördert, werden durch die philologische Arbeit Fagards und seine Zustimmung zu wesentlichen Kritikpunkten meiner Analyse bestätigt, ja sogar noch verschärft.
  3. Über den Begriff der Notwendigkeit allein lässt sich keine hinreichend scharfe Trennung zwischen Determinismus und Freiheit begründen. Freie Notwendigkeit ist bei Spinoza kein begriffliches Kompositum und notwendige Folgerungen sind sowohl aus freien wie aus unfreien Voraussetzungen möglich.
  4. Unter Berücksichtigung der Komplexität beider Denkansätze und Weltanschauungen kann eine eindeutige Polarisierung: Spinoza ist Determinist und Steiner Philosoph der Freiheit philosophisch nicht überzeugen.

In der Hoffnung auf die Fortführung einer sachbezogenen Auseinandersetzung möchte ich mich an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich bei Merijn Fagard für die fruchtbare philologische Arbeit am Kapitel meines Buches und für den Anstoß zu diesem Diskussionsbeitrag bedanken.

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Bild: privat

Dr. Hartmut Traub ist Studiendirektor am Seminar für schulpraktische Lehrerbildung in Essen und Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der Johann-Gottlieb-Fichte-Gesellschaft. Promotion über Fichtes Populärphilosophie und Herausgeber u.a. des Briefwechsels zwischen Schelling und Fichte, der Fichte-Studien und der Fichte-Studien Supplementa. Lehraufträge in Philosophie und Philosophie-Didaktik an der Mercator Universität Duisburg, der Universität Duisburg/Essen und der Alanus-Hochschule Alfter.

Zu Hartmut Traub und dem philosophischen Frühwerk Rudolf Steiners auf diesem Blog:

Philosophie und Anthroposophie – zu Hartmut Traubs Steiner-Exegese

Die “Optik des Geistes” und der Geist des Okkulten. Ein Gespräch mit Hartmut Traub


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Esoterische Alternativen im deutschen Kaiserreich

 – spirituelle Sucher, wechselhafte Weltanschauungen und der Aufstieg des modernen Okkultismus

von Peter Staudenmaier

Erst in den letzten beiden Jahrzehnten hat sich eine historische Analyse der neuzeitlichen Esoterik etabliert, die die Religionsgeschichte mit Fokus auf neureligiöse und ‚okkulte‘ Bewegungen gegenliest. Die Eingrenzung ihres Gegenstandes ist immer noch umstritten. Peter Staudenmaier erläutert im folgenden Text die okkulte Bewegung im wilhelminischen Deutschland – also den geschichtlichen Kontext, in dem auch die Anthroposophie entstand. Dabei schildert er Verflechtungen und Gemeinsamkeiten von „Mainstream“-Esoterikern (wie Theosophie und eben Anthroposophie) mit politisch „extremen“ Strömungen wie der völkischen Ariosophie. Staudenmaier deutet den Okkultismus als „alternative Moderne“, als Versuch, traditionelle Grenzen von Glaube und Vernunft aufzuheben. Dem Text liegt ein im Oktober 2012 auf der German Studies Association Conference gehaltener Vortrag zugrunde. Die deutsche Übersetzung wurde von Peter Staudenmaier korrigiert.

Vielen heutigen Beobachtern scheint die Welt okkulter und esoterischer Gruppen unvorstellbar fremdartig und vielleicht unverständlich, sie erscheint als kompromisslose Ablehnung des aufklärerischen Erbes. Für weite Kreise gebildeter Deutscher in der Zeit des deutschen Kaiserreichs allerdings stellte das Okkulte und Esoterische eine stark anziehende alternative Form von Aufklärung dar: Ein Weg, der erleuchtendes Wissen über die fernsten Weiten des Kosmos und die dunkelsten Tiefen der Seele versprach, ein Zugang zu versteckten Quellen spiritueller Weisheit und klarer Einsicht in die Geheimnisse des Universums. Die Anhänger und Praktizierenden verschiedenster esoterischer Strömungen behandelten okkulte Weltsichten als Antithese zum Materialismus, die eine entzauberte Welt wieder verzaubern könne, sie formulierten Schlüsselthemen der Moderne neu und erweiterten Bildungs-Ideale zu einem lebenslangen Prozess der Fortentwicklung menschlicher Fähigkeiten.

Dieser Vortrag untersucht an bekannten literarischen und künstlerischen Personen ebenso wie an obskuren okkultistischen Autoren einige der Gründe, aus denen heraus eine ganze Reihe deutscher Denker den etablierten Wissensformen esoterische und akademisch sanktionierte Alternativen vorzog. Das grundlegende Muster, das sich herausbildete, bestand nicht nur aus spirituellen Suchern, die unkonventionelle Themenfelder erkundeten, sondern auch aus praktisch orientierten Personen, die sich oft zu traditionellen Werten und Überzeugungen bekannten und auf wissenschaftliche Entdeckungen und akademische Innovationen antworteten. Der historische Befund zeigt eine große Flexibilität esoterischer Traditionen im deutschen Kaiserreich, dieselben Figuren adaptierten – zeitweise oder gleichzeitig – ein weites Spektrum von manchmal widersprüchlichen okkultistischen Standpunkten und unterhielten dabei vielfältige Beziehung zum lebensreformerischen Milieu, zu völkischen Zirkeln, neuheidnischen Strömungen und minoritären Zweigen des Christentums – unter anderem. Diese esoterischen Pioniere kombinierten auf unterschiedlichem Wege universalistische Grundsätze und kosmopolitische Ansichten mit einer starken Betonung der deutschen geistigen Mission.

Spirituelle Suche und Wissenschaft im Wandel (1880-1920)

In den Jahrzehnten um 1900 waren wichtige Teile des deutschen Bildungsbürgertums zu neuen Ansätzen in Wissenschaft, Philosophie und wissenschaftlichen Untersuchungsmethoden hingezogen, zum Teil angeregt von einer erfolgreichen Popularisierung der Wissenschaft, aber auch von Innovationen und Entdeckungen der verschiedenen Naturwissenschaften. In einer Zeit, die aufstrebendes Vertrauen in die deutsche Wirtschaft, parallele Entwicklungen im Erkenntnisgewinn der Wissenschaften und deren Verbindung mit der Gesellschaft umfasste, schien dieser neue intellektuelle Horizont großartige Aussichten auf beispiellose Möglichkeiten anzubieten: Könnten wir schließlich die Geheimnisse des Kosmos und der Seele begreifen? Zur selben Zeit verunsicherte die Forschung in so unterschiedlichen Feldern wie Bibelkritik, Geschichte und Physik die traditionellen Wissenskonzepte. Der moderne Aufschwung des deutschen Okkultismus wuchs aus dieser Mixtur und bot eine reiche Palette von Lösungen für die Rätsel dieser Ära an.

Mit dem Aufstieg der modernen theosophischen Bewegung, die mit einer „Synthese von Wissenschaft, Religion und Philosophie“ warb (so der Untertitel von Helena Blavatskys Buch „Die Geheimlehre“ von 1888, ein zentraler theosophischer Text, großenteils in Deutschland entstanden), sammelten die okkulten Alternativen eine wachsende Zahl von Anhängern und neugierigen Zaungästen.

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Helena Petrovna Blavatsky 1887, ein Jahr vor dem Erscheinen ihrer “Geheimlehre” (Foto:Wikipedia)

Esoterische Ansätze versprachen nie da gewesene Erkenntnisse durch die Entwicklung höherer Fähigkeiten, verschiedene Meditationsformen, einen Weg der Einweihung oder andere Techniken. Praktizierende und Förderer vertraten, dass okkulte Methoden der persönlichen Erleuchtung, spirituellem Wachstum, Heilung, dem Erreichen höherer Bewusstseinsebenen, der Erkenntnis von Zukunft oder Vergangenheit, der Entdeckung oder Wiederentdeckung von Geheimwissen über das Innenleben der Welt und die Kultivierung ungeahnter Seelenkräfte dienten. Seinen Enthusiasten bot der Okkultismus an, die Verbindungen zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos zu enthüllen sowie Geist und Natur in eine wiederverzauberte Welt zu vereinigen. Verfechter der Esoterik präsentierten ihre Ansätze als eine „werdende Wissenschaft“ mit respektablen Vorgängern und glänzenden Aussichten.[1]

Diese Ansprüche stießen damals auf entschiedenen Widerstand und bleiben bis heute kontrovers. Wie ist ihre historische Bedeutung einzuschätzen? Welche Rolle spielten sie im facettenreichen kulturellen Kontext des deutschen Kaiserreichs? Wieso waren sie für Aristokraten und Künstler, für gebildete Eliten und unkonventionelle Bohèmiens attraktiv, für diejenigen mit wissenschaftlicher Ausbildung und kreativen Bestrebungen, in Deutschland und darüber hinaus? Ich werde darlegen, dass adäquate Antworten auf diese Fragen einen Wechsel der wissenschaftlichen Perspektive erfordern, in Richtung einer stärker kritischen und kontextualisierenden Beschäftigung mit dem Okkulten in der modernen deutschen Geschichte.

Die Wechselhaftigkeit esoterischer Weltsichten im deutschen Kaiserreich

Viele Individuen, die in der Zeit des Kaiserreichs zu esoterischen Weltsichten hingezogen waren, identifizierten sich nicht nur mit einer einzigen Perspektive, Organisation oder Ausprägung, sondern mit mehreren Richtungen okkulten Denkens und Handelns. Gleichzeitige oder phasenweise Beteiligung in unterschiedlichen esoterischen Strömungen war eher typisch und kann zum Teil auf zwei miteinander verbundene Faktoren zurückgeführt werden: Der Hang esoterischer Akteure, sich in fortlaufender spiritueller Suche, in Experimenten und Vergleichen widersprüchlicher Alternativen zu engagieren und der zerstrittene Charakter des okkulten Milieus als Ganzem. Ein weiterer relevanter Faktor beruhte auf der Aneignung vorgeblich östlicher geistiger Traditionen in einem westlichen Rahmen. Diese Mehrfach-Zugehörigkeiten beleuchten auch die Fähigkeit esoterischer Konzepte, nationale Grenzen zu überschreiten; einige der prominenteren Strömungen zogen  Mitglieder nicht nur aus Deutschland sondern auch aus Österreich und der Schweiz an.[2]

Eine Fallstudie kann diese Dynamiken erhellen: Der deutsch-schweizerische Okkultist Karl Heise (1872-1939) wurde in Berlin geboren und zog um 1905 nach Zürich, 1907 wurde er in theosophischen Zirkeln aktiv. In kurzer Folge trat Heise einer theosophischen Loge, der ariosophischen Guido-von-List-Gesellschaft und der Mazdaznanbewegung bei, dann wurde er 1916 Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft. Er lebte eine zeitlang in einer Mazdaznan-Kommune mit dem Namen Aryana und gab in den späten 20ern die Zeitschrift „Gral: Zeitschrift für Sucher eines esoterischen Christentums“ heraus. Heise war ein Schüler Rudolf Steiners und korrespondierte mit anderen Anthroposophen. Seine Publikationen bedienten sich intensiv von Blavatsky, List, Steiner sowie anderen Figuren und wurden auf einer weiten Reihe esoterischer Plattformen veröffentlicht.[3] Mitglied in einer neuen Gruppierung zu werden, bedeutete für Heise nicht, die früheren aufzugeben und sein Werk präsentierte ein Amalgam esoterischer Überzeugungen, die aus einem ekklektischen Spektrum von Quellen stammten. Die Periodica, in denen er schrieb, zeigen ein ähnlich vielfältiges Profil. Der Untertitel der Zeitschrift „Theosophische Kultur“ lautete beispielsweise “Monatsschrift zur Erweckung und Pflege der höheren Seelen- und Geisteskräfte und zur Verwirklichung der Idee einer allgemeinen Menschenverbrüderung auf der undogmatischen Grundlage der göttlichen Selbsterkenntnis.” Es war das Organ der Internationalen Theosophischen Verbrüderung in Leipzig. Derselbe Verlag publizierte auch die „Astrologische Rundschau“, herausgegeben von Rudolf von Sebottendorf.

Solche Überlagerungen waren in der Wilhelminischen Periode üblich und verbreiterten sich in die Weimarer Jahre hinein. Die Zeitschrift „Psyche: Monatlich erscheinende Zeitschrift für den gesamten Okkultismus und alle Geheimwissenschaften, für wissenschaftliche Erforschung der okkulten Phänomene des Seelenlebens, ferner für Indische Philosophie, Theosophie, Spiritualismus, wahre, ethische Kultur, naturgemäße Lebensweise und Sozialreform“ wurde von Karl Brandler-Pracht (1864-1939) herausgegeben, einer wichtigen Figur in okkulten und astrologischen Kreisen, der auch das „Zentralblatt für Okkultismus“ (veröffentlicht im Max Altmann Verlag, dem führenden theosophischen Verlagshaus) herausgab. „Psyche“ erschien mit einem „Beiblatt“, die „Astrologischen Blätter: Zentral-Organ für wissenschaftliche Astrologie“. Zusätzlich zu Artikeln von Brandler-Pracht und regelmäßigen Beiträgen von Heise bot „Psyche“ Schriftstücke von Peryt Shou (Pseudonym von Albert Schultz, 1873-1953), einem Unterstützer der Theosophie und der „deutschen Neugeistbewegung“, dem Ariosophen und Astrologen Ernst Ißberner-Haldane und dem deutsch-russischen Autoren Gregor Schwartz-Bostunitsch an, der nacheinander ein Theosoph, ein Anthroposoph, ein Ariosoph, ein Anhänger von Artur Dinters völkisch-religiöser Bewegung, ein selbsternannter „christlicher Okkultist“ und dann ein vehementer Gegner der esoterischen „falschen Propheten“ war. Brandler-Pracht war auch Herausgeber von „Prana: Zentralorgan für praktischen Okkultismus, Monatsschrift zur Förderung der okkultistischen Bewegung, Organ für angewandte Geheimwissenschaften“  (vertrieben durch das Theosophische Verlagshaus in Leipzig) von seiner Gründung 1909 bis 1914; 1915 übernahm der Ariosoph Johannes Balzli die Herausgeberschaft. „Prana“ enthielt Beiträge von Balzli, Brandler-Pracht, Peryt Shou, C. W. Leadbeater, Rudolf Steiner, Franz Hartmann, Hugo Vollrath, Ernst Boldt und vielen anderen.

Weitere Beispiele für die Fluidität des esoterischen Milieus sind Harald Grävell und Max Seiling, beide durchliefen eine beträchtliche universitäre Erziehung, bevor sie sich zum Okkultismus wandten. Grävell (1856-1932) war ein völkischer Autor, der theosophische, anthroposophische und ariosophische Themen kombinierte; seine Arbeiten erschienen in vielen der oben erwähnten Publikationsorganen sowie in Buchform, etwa Harald Grävell, Aryavarta (Leipzig: Akademischer Verlag, 1905), Grävell, Die arische Bewegung, eine ethische Bewegung (Leipzig: Theosophisches Verlagshaus, 1909), and Grävell, Zarathustra und Christus (Leipzig: Baumann, 1913). In Berlin geboren, lebte er zu verschiedenen Zeiten in Straßburg, Wien und Breslau, außerdem in Belgien und England. Wie viele andere Okkultisten legte er Wert auf lebensreformerische Prinzipien in einem esoterischen Kontext. Ebenso sein bayrischer Zeitgenosse Seiling (1852-1928), ein langjähriger Theosoph, Anthroposoph und Ariosoph, der sich später zur katholischen Mystik wandte, dabei aber eine esoterische Auffassung beibehielt. Wie Heise war er ein Mitglied sowohl der Guido-von-List- als auch der Anthroposophischen Gesellschaft. Seiling war auch Vegetarier sowie ein Befürworter von Tierrechten, aktiv in der Anti-Vivisektions-Bewegung und ein Sympathisant der Naturheilkunde.[4]

Das Zusammenlaufen ganz verschiedener okkultistischer Ideen in Leben und Werk von Personen wie diesen zeigt, dass eine bedeutsame Neubewertung verwickelter Zweige des modernen deutschen Okkultismus angebracht ist, die jede einfache oder gradlinige Trennung zwischen esoterischen „Mainstream“-Tendenzen wie Theosophie und Anthroposophie und „extremen“ Varianten wie der Ariosophie hinterfragt. Überdies ging das Spektrum von Themen, das in den Schriften und Aktivitäten der wilhelminischen Okkultisten behandelt wurde, weit über die spirituelle Standardkost hinaus und ging sowohl auf alltäglich anstehende Themen ein als auch auf kontroverse soziale Fragen, sowie Fragen der persönlichen Moral und des Lebensstils, auf aktuelle Themen und dringende Gegenstände des öffentlichen Interesses, beispielsweise Deutschlands Stellung in der Welt sowie die Ursachen und Konsequenzen des Ersten Weltkriegs. Jedes dieser Themen wurde von einem esoterischen Standpunkt mit einem Blick auf seine weiteren kulturellen Zusammenhänge untersucht. Sogar während sie sich vom angeblich leblosen Bereich akademischen Wissens, ‚materialistischer‘ Wissenschaft, den starken Beschränkungen lediglich diesseitiger Informationen und Experimente distanzierten, waren die Okkultisten oftmals universitär geschulte Weltmänner, weltoffen und weitgereist. Während sie den Anspruch der Wissenschaftlichkeit für ihre eigenen Weltsichten erhoben, bewegten sie sich ohne Weiteres zwischen esoterischen und exoterischen Sphären, zwischen stark unterschiedlichen Erkenntnis-, Urteils- und Diskursformen.

Okkultismus als Alternative Moderne

In der neuen geistigen Landschaft des deutschen Kaiserreichs, flankiert von technischem Fortschritt, wissenschaftlichem Erfolg und einer zunehmend wichtigen Rolle auf der europäischen und globalen Bühne, könnten esoterische Neigungen nicht so sehr als Verirrung, sondern als Erweiterung des sich rapide ausbreitenden Modernisierungsprozesses erscheinen. Ein einflussreicher jüngerer Interpretationsansatz behauptet, dass okkulte Weltsichten und Praktiken, seit der moderne deutsche Okkultismus versuchte, die Trennung von Wissenschaft und Religion zu überschreiten und wissenschaftliche Methoden in einem Rahmen neu zu gestalten, als eine eigene Form wissenschaftlicher Forschung gesehen werden sollten, die „verbunden waren mit der liberalen Version einer Gesellschaft, die sich langsam in eine aufgeklärtere Zukunft entwickelt.“[5]

Es gab zweifellos viele liberale, kosmopolitische und progressive Aspekte im wilhelminischen und Weimarer Okkutismus und in der Tat sahen Adepten der Esoterik ihre Aktivitäten als innovative Form von Wissenschaft. Aber diese Perspektive vernachlässigt die ebenso wichtigen Strömungen des Okkultismus, die sich nicht durch eine weitläufige Überschneidung mit wissenschaftlichen und liberalen Ambitionen, sondern mit lebensreformerischen und völkischen Tendenzen auszeichneten, ein Element, das die langjährige „Verbindung zwischen Theosophie und völkischer Weltanschauung“ reflektiert.[6] Die Verbindung war paradigmatisch für einen größeren Zusammenfluss von Ideen im Kaiserreich, ein maßgebliches Beispiel für “das tiefere Eindringen lebensreformerischer, theosophischer, astrologischer und völkischer Gedanken in breite bürgerliche Schichten des deutschen Volkes.”[7] Diese lebensreformerischen und völkischen Themen waren genauso Teil der aufsteigenden Moderne des Kaiserreichs wie Industrialisierung, innenpolitische Reform oder Fortschritte in der Physik und nahmen an derselben ambivalenten Modernisierungsdynamik und deren zweideutigen sozialen Folgen teil. Die Feststellung, dass der moderne Charakter der Esoterik den Okkultismus notwendigerweise mit liberalen, rationalen und wissenschaftlichen Trends – den angeblichen Säulen einer modernen Aufassung – verbinde, basiert auf einem verkürzten Begriff der Moderne und verkennt das entscheidende Streben der Okkultisten, ein alternatives Modell von Moderne zu formulieren.

Ein paradoxer Faktor, der diesen Umstand vielfältig illustriert, ist die Rolle rassentheoretischen Denkens in modernen esoterischen Bewegungen. Obwohl Wissenschaftler, die die liberalen und rationalen Facetten des Okkultismus unterstreichen, dazu tendieren, rassentheoretisches Denken als einen relativ unbedeutenden Rückfall zu schildern, der in früheren Darstellungen des Themas unfairerweise überbetont wurde, stellt die rassentheoretische Komponente esoterischer Weltsichten einen ihrer wichtigsten modernen Züge dar. Rassenkunde war ein prominenter Teil des wissenschaftlichen Mainstreams im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, und rassentheoretische Voraussetzungen durchzogen liberale, evolutionäre und progressive Gesellschaftsmodelle. In der selektiven Aneignung wissenschaftlicher Themen und liberaler Motive nahmen Okkultisten eine Vielzahl von Ideen über Rasse auf und durchtränkten sie mit spiritueller Bedeutung. Theosophische Denker bauten Rassenkategorien in ein umfassendes Evolutionsmodell ein, das geistige und physische Aspekte vereinte und das sie als Alternative zur angeblich materialistischen Wissenschaft des Fin de siècle aufstellten. Dieses Konzept spirituell-rassischer Evolution gab das Gerüst ab für viele esoterische Lehren und begründete okkulte Sichtweisen auf Reinkarnation, Karma, die Entwicklung der Seele, die Evolution der Menschheit und die Entfaltung des kosmischen Schicksals. Rasse wurde so zu einem Schwerpunkt für esoterische Bemühungen, wissenschaftliche und spirituelle Vorstellungen von Fortschritt zu verbinden – und ein Symbol für den modernen Charakter okkultistischen Denkens. Für esoterische Denker in Deutschland waren Rassenthemen selbstverständlich mit nationalen verknüpft, eine Entwicklung, die von esoterischen Überschneidungen  mit dem völkischen Milieu angeregt wurde. Diese nationalistischen Neigungen des deutschen Okkultismus wurden besonders klar am Ende des Kaiserreichs, mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs.[8] In diesem Sinne waren Okkultisten Kinder ihrer Zeit, selbst wenn sie versuchten, die Beschränkungen ihrer Zeitgenossen zu überschreiten. Ebenso zeitbedingt war der Einfluss des rassentheoretischen Denkens auf Vertreter der Esoterik. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert waren Rassentheorien, die heute bestenfalls als abstrus erscheinen, oftmals ein Zeichen von Gelehrsamkeit und Kultiviertheit.

Um esoterische Rassenvorstellungen historisch angemessen zu begreifen, muss man versuchen, diese Vorstellungen in ihrem geschichtlichen Kontext zu verstehen, statt sie von einem post-1945-Standpunkt daraufhin durchzusehen, was davon heutzutage salonfähig wäre und was nicht. Dabei sollte man auch klar erkennen, dass viele dieser Überzeugungen rassistisch waren, trotz der hohen Idealen ihrer Befürworter. Obwohl geneigte Beobachter der okkultistischen Szene generell zögern, dies zuzugestehen, ist dieses Motiv esoterischen Denkens zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht spurlos verschwunden, weder in Deutschland noch anderswo.[9]

Solche Herausforderungen haben der Esoterikforschung immer wieder den Vorwurf eines verfehlten Unternehmens eingebracht. Die Vielfalt und Komplexität des Gegenstandes und seine geschichtlichen Widersprüche können nur schwierig adäquat aufgeklärt werden, umso mehr als das Thema weiterhin eine besondere Faszination auf Verschwörungstheoretiker und diejenigen ausübt, die glauben, dass finstere okkulte Einflüsse den Gang der Geschichte heimlich mit einem Schleier verdecken, den zu durchdringen Historiker machtlos sind. Diese Situation erfordert besondere Aufmerksamkeit im Umgang mit „dem grauen Bereich von Publikationen auf halbem Weg zwischen Okkultismus und wissenschaftlicher Forschung.“[10] Sie zeigt auch, dass eine gelassene und historisch informierte Antwort angebracht ist, wenn alarmierte Berichte warnen, dass okkulte Pseudowissenschaften die Universität unterwandern.[11] Und sie kann als Erinnerung daran dienen, dass eine angemessen empathische Annäherung an die Themen unserer Untersuchung bedeutet, sowohl Okkultisten als auch ihre Kritiker zu verstehen; frühe Kritiken esoterischen Denkens enthielten zum Teil bedeutende Einsichten und verdienen weiterer historischer Aufmerksamkeit.[12]

Gab es also eine esoterische Aufklärung im Deutschland des Fin de siècle? Okkultistische Tendenzen verstanden sich selbst als Alternativen zum wissenschaftlichen Mainstream, zur etablierten Religion, zu konventionellen Formen von Rationalität und zum gesellschaftlichen status quo; ihre esoterischen Ambitionen drückten neue Ziele und Interessen für die Mitglieder eines aufsteigenden Bildungsbürgertums inmitten sozialer Unsicherheit, politischer Stagnation und kultureller Unbeständigkeit aus. Sie prophezeiten eine neue persönliche Aufklärung, teilweise in Spannung mit und teilweise eine Erweiterung der Prinzipien der klassischen Aufklärung. Dass ihre Ambitionen zur Verflechtung mit rassistischen und nationalistischen Mythen gelangten – war keineswegs außergewöhnlich im Kontext dieser Zeit. Aufmerksamkeit für diese Verflechtung ist eine Grundvoraussetzung, um die nachfolgende Entwicklung esoterischer Ideen und Aktivitäten in der Weimarer und NS-Zeit zu verstehen. Für Germanisten, Kulturhistoriker, Religionshistoriker und andere können Forschungen zur umstrittenen Stellung okkultistischer Unternehmen eine Möglichkeit sein,  um geläufige Annahmen über Modernität und ihre Gegensätze, Wissenschaft und ihre Gegensätze sowie diese scheinbar weltfremden Versuche, die vermeintlich restriktiven Grenzen von Wissenschaft, Religion und Vernunft neu zu überdenken.


[1] Vgl. Ferdinand von Paungarten, Werdende Wissenschaft: Eine kritische Einführung in esoterische Forschung (Leipzig: Max Altmann, 1913). Paungarten war ein Anhänger Rudolf Steiners. Zum Hintergrund vgl. Ekkehard Hieronimus, “Okkultismus und phantastische Wissenschaft” in Horst Bürkle, ed., Kursbuch der Weltanschauungen (Frankfurt: Ullstein, 1980), 301-49; Justus Ulbricht, “‘Buddha’, ‘Sigfrid’ oder ‘Christus’: Religiöse Suchbewegungen als Ausdruck kultureller Identitätskrisen im deutschen Bildungsbürgertum” Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 4 (1998), 209-26; Michael Bergunder, “Das Streben nach Einheit von Wissenschaft und Religion: Zum Verständnis von Leben in der modernen Esoterik” in Eilert Herms, ed., Leben: Verständnis, Wissenschaft, Technik (Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2005), 559-78; Sabine Doering-Manteuffel, Das Okkulte: Eine Erfolgsgeschichte im Schatten der Aufklärung (Munich: Siedler, 2008); Helmut Zander, “Esoterische Wissenschaft um 1900” in Dirk Rupnow, Veronika Lipphardt, Jens Thiel and Christina Wessely, eds., Pseudowissenschaft – Konzeptionen von Nichtwissenschaftlichkeit in der Wissenschaftsgeschichte (Frankfurt: Suhrkamp, 2008), 77-99; Heather Wolffram, The Stepchildren of Science: Psychical Research and Parapsychology in Germany, c. 1870-1939 (New York: Rodopi, 2009); Corinna Treitel, “What the Occult Reveals” Modern Intellectual History 6 (2009), 611-25; Claudia Barth, Esoterik – die Suche nach dem Selbst: Sozialpsychologische Studien zu einer Form moderner Religiosität (Bielefeld: Transcript 2012). Für eine anthropologische Perspektive auf die Geschichte der Grenzlinien des “Okkulten” und der “Wissenschaft” vgl. Stanley Tambiah, Magic, science, religion, and the scope of rationality (Cambridge University Press, 1990).

[2] Vgl. Wouter Hanegraaff, “On the Construction of ‘Esoteric Traditions’” in Antoine Faivre and Wouter Hanegraaff, eds., Western Esotericism and the Science of Religion (Leuven: Peeters, 1998), 11-61; Titus Hjelm, “Tradition as Legitimation in New Religious Movements” in Steven Engler and Gregory Grieve, eds., Historicizing “Tradition” in the Study of Religion (New York: de Gruyter, 2005), 109-25; Olav Hammer, “Schism and consolidation: The case of the theosophical movement” in James Lewis and Sarah Lewis, eds., Sacred Schisms: How Religions Divide (Cambridge University Press, 2009), 196-217; Jörg Wichmann, “Das theosophische Menschenbild und seine indischen Wurzeln” Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 35 (1983), 12-33; Gauri Viswanathan, “The Ordinary Business of OccultismCritical Inquiry 27 (2000), 1-20; Karl Baier, Meditation und Moderne: Zur Genese eines Kernbereichs moderner Spiritualität in der Wechselwirkung zwischen Westeuropa, Nordamerika und Asien (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2009); Douglas McGetchin, Indology, Indomania, and Orientalism: Ancient India’s Rebirth in Modern Germany(Associated University Presses, 2009), 132-38, 169-77; Christine Maillard, “Ex oriente lux. Zur Funktion Indiens in der Konstruktion der abendländischen esoterischen Tradition im 19. und 20. Jahrhundert” in Andreas Kilcher, ed., Constructing Tradition: Means and Myths of Transmission in Western Esotericism (Leiden: Brill, 2010), 395-412.

[3] Karl Heise, Karma – das universale Moralgesetz der Welt (Lorch: Rohm, 1909); Heise, Das Alter der Welt im Lichte der okkulten Wissenschaft (Leizpig: Fändrich, 1910); Heise, “Germaniens Runenkunde: Die Initiation in das Geheimnis der Ario-Germanischen Sieben Ur-Heils-Runen” Theosophische Kultur 3 (1911), 64-70; Heise, “Ist Deutschland in Gefahr?” Zentralblatt für Okkultismus July 1912, 39-44; Heise, “Die Lehre von der Wiederverkörperung der menschlichen Individualität” Prana 4 (1913), 299-303, 420-28; Heise, “Der Krieg und seine Folgen” Zentralblatt für Okkultismus November 1914, 213-16; Heise, “Das Geheimnis des spirituellen Fortschrittes” Psyche: Zeitschrift für den gesamten Okkultismus 3 (1918), 13-17; Heise, Entente-Freimaurerei und Weltkrieg (Basel: Finckh, 1919); Heise, Die englisch-amerikanische Weltlüge (Konstanz: Wölfing, 1919); Heise, “Die Toten leben” Zentralblatt für Okkultismus April 1920, 433-44; Heise, “Wünschelrute und Gestirneinflüsse” Astrologische Rundschau 14 (1923); Heise, Der katholische Ansturm wider den Okkultismus (Leipzig: Max Altmann, 1923); Heise, Parsifal: Ein Bühnenweih-Festspiel Richard Wagners in okkult-esoterischer Beleuchtung (Berlin: Linser, 1924); Heise, Die astrale Konstitution des Menschen vom Standpunkte der okkulten Wissenschaft aus dargelegt (Leipzig: Fändrich, 1926); Heise, Wie aus Traum und übersinnlichen Tatsachen Weltgeschichte wurde (Zurich: Gral-Verlag, 1931).

[4] Seine Publikationen sind unter anderem: Max Seiling, Goethe und der Materialismus (Leipzig: Mutze, 1904); Seiling, Was soll ich? Weise Lebensregeln und Gesundheitsregeln (Leipzig: Baumann, 1908); Seiling, Das Professorentum, der Stolz der Nation? (Leipzig: Mutze, 1908); Seiling, Theosophie und Christentum (Berlin: Philosophisch-Theosophischer Verlag, 1910) mit einem enthusiastischen Nachwort von Rudolf Steiner und Auszügen aus Guido von Lists ariosophischer Gründungsschrift Die Religion der Ario-Germanen; Seiling, Richard Wagner, der Künstler und Mensch, der Denker und Kulturträger (Munich: Kuhn, 1911), das sowohl Steiner als auch List feiert; Seiling, “Richard Wagner und die Theosophie” Bayreuther Blätter 34 (1911), 41-49; und Seiling, Goethe als Okkultist (Berlin: Baum, 1919), das nach seinem Bruch mit Steiner erschien. Vergleichbare Beispiele sind etwa der bekannte völkische Autor Friedrich Lienhard, der sowohl ein Ariosoph als auch ein Sympathisant der Anthroposophie war und dabei half, die Schriften des Österreichers List beim deutschen Publikum einzuführen sowie Heinrich Kipp, ein Theosoph und Anhänger von Franz Hartmann, der unter dem Namen K. Heinz veröffentlichte; vgl. Heinz, Von Häckel zur Theosophie (Leipzig: Grunow, 1913), Heinz, Der Krieg im Lichte der okkulten Lehren: Ein Wort an die weiße Rasse (Breslau: Faßhauer, 1915), and Heinz, Goethes Faust als Weltanschauung und Geheimlehre (Leipzig: Theosophisches Verlagshaus, 1921). Kipps Werke zeigen einen ökumenischen Umgang mit den verschiedenen theosophischen Fraktionen, die in einer Reihe mit Gruppen wie dem Mazdaznan und dem „Gralsorden“ alle befürwortet werden, er zitierte Hartmann, Blavatsky, Besant, Sinnett, Steiner, Peryt Shou und andere mit ebenbürtiger Autorität. Ein weiteres bemerkenswertes Beispiel für die Fluidität esoterischer Glaubenssysteme und die Neigung der Okkultisten, ‚zwischen den Weltsichten zu wandern‘ ist der theosophische Wortführer Johannes Maria Verweyen; vgl. die exzellente Biographie von Jessica Klein, Wanderer zwischen den Weltanschauungen: Johannes Maria Verweyen (1883-1945) (Münster: Lit, 2009).

[5] Corinna Treitel, A Science for the Soul: Occultism and the Genesis of the German Modern (Johns Hopkins University Press, 2004), 190. Für eine Vielzahl von Sichtweisen vgl. Geoff Eley, “German History and the Contradictions of Modernity” in Eley, ed., Society, Culture, and the State in Germany, 1870-1930 (University of Michigan Press, 1996), 67-103; Olav Hammer, Claiming Knowledge: Strategies of Epistemology from Theosophy to the New Age (Leiden: Brill, 2001); Alex Owen, The Place of Enchantment: British Occultism and the Culture of the Modern (University of Chicago Press, 2004); Thomas Laqueur, “Why the Margins Matter: Occultism and the Making of Modernity” Modern Intellectual History 3 (2006), 111-35; Marco Pasi, “The Modernity of Occultism: Reflections on some Crucial Aspects” in Wouter Hanegraaffand Joyce Pijnenburg, eds., Hermes in the Academy (Amsterdam University Press, 2009), 59-74; Bradford Verter, Dark Star Rising: The Emergence of Modern Occultism, 1800-1950 (PhD dissertation, Princeton University, 1998). Eher als “eine Gegenbewegung zur Aufklärung,” sieht ein großer Teil der jüngeren Geschichtsschreibung im modernen Okkultismus ein Stiefkind aufklärerischen Denkens (Verter, Dark Star Rising, 30).

[6] George Mosse, “The Mystical Origins of National Socialism” in Mosse, Masses and Man: Nationalist and Fascist Perceptions of Reality (New York: Fertig, 1980), 204.

[7] Norbert Klatt, Theosophie und Anthroposophie: Neue Aspekte zu ihrer Geschichte (Göttingen: Klatt, 1993), 9. Zum Hintergrund vgl. Janos Frecot, “Die Lebensreformbewegung” in Klaus Vondung, (Hg.), Das wilhelminische Bildungsbürgertum: Zur Sozialgeschichte seiner Ideen (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1976), 138-52; Martin Green, Mountain of Truth: The Counterculture Begins, Ascona, 1900-1920 (University Press of New England, 1986); Nicholas Goodrick-Clarke, The Occult Roots of Nazism: The Ariosophists of Austria and Germany 1890-1935 (New York University Press, 1992); Helmut Zander, “Sozialdarwinistische Rassentheorien aus dem okkulten Untergrund des Kaiserreichs” in Uwe Puschner, Walter Schmitz, and Justus Ulbricht, eds., Handbuch zur ‘Völkischen Bewegung’ 1871-1918 (Munich: Saur, 1996), 224-51; Uwe Puschner, “Lebensreform und völkische Weltanschauung” in Kai Buchholz, ed., Die Lebensreform: Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900 (Darmstadt: Häusser, 2001), 175-78; Matthew Jefferies, “Wilhelmine reform movements” in Jefferies, Imperial Culture in Germany, 1871 – 1918 (Palgrave, 2003), 191-223; Bernd Wedemeyer-Kolwe, “‘Umgang mit dem Zwischenreich’: Die Lebensreformer Walter Fränzel und Herbert Fritsche” in Judith Baumgartner and Bernd Wedemeyer-Kolwe, eds., Aufbrüche, Seitenpfade, Abwege: Suchbewegungen und Subkulturen im 20. Jahrhundert (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2004), 81-89; Oliver Piecha, “Das Weltbild eines deutschen Diätarztes: Anmerkungen zum Verhältnis zwischen Lebensreform und völkischem Fundamentalismus” in Sabine Kruse and Jürgen-Wolfgang Goette, eds., Von Ascona bis Eden: Alternative Lebensformen (Lübeck: Erich-Mühsam-Gesellschaft, 2006), 118-58; Helmut Zander, Anthroposophie in Deutschland: Theosophische Weltanschauung und gesellschaftliche Praxis 1884–1945 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007); Sandra Franz, Die Religion des Grals: Entwürfe arteigener Religiosität im Spektrum von völkischer Bewegung, Lebensform, Okkultismus, Neuheidentum und Jugendbewegung (1871-1945) (Schwalbach: Wochenschau, 2009); Gilbert Merlio, “Kulturkritik um 1900” in Michel Grunewald and Uwe Puschner, eds., Krisenwahrnehmungen in Deutschland um 1900: Zeitschriften als Foren der Umbruchszeit im wilhelminischen Reich (Frankfurt: Lang, 2010), 25-52; Gregor Hufenreuter, Philipp Stauff: Ideologe, Agitator und Organisator im völkischen Netzwerk des Wilhelminischen Kaiserreichs (Frankfurt: Lang, 2011).

[8] Zusätzlich zu den oben zitierten Primärquellen von Heise und Heinz siehe z.B. Harald Grävell, “Deutsche Kultur und französische Zivilisation im Kampf” Theosophie 5 (1915), 377-93, und Friedrich Lienhard, Deutschlands europäische Sendung (Stuttgart: Greiner & Pfeiffer, 1915) sowie die Analyse von Ulrich Linse, “‘Universale Bruderschaft’ oder nationaler Rassenkrieg – die deutschen Theosophen im Ersten Weltkrieg” in Heinz-Gerhard Haupt and Dieter Langewiesche, eds., Nation und Religion in der deutschen Geschichte (Frankfurt: Campus, 2001), 602-45 und Helmut Zander, “Kriegszeit: Anthroposophie in den Zeiten des Blutrausches” in Zander, Rudolf Steiner: Die Biografie (München: Piper, 2011), 329-50.

[9] Vgl unter anderm Mattias Gardell, Gods of the Blood: The Pagan Revival and White Separatism (Duke University Press, 2003), und Andreas Speit, “Ohne Juda, ohne Rom”: Esoterik und Heidentum im subkulturellen Rechtsextremismus (Braunschweig: Arbeitsstelle Rechtsextremismus und Gewalt, 2010). Das mit dem Aufstieg des modernen Okkultismus fast gleichzeitige und oft mit ihm verflochtene Auftreten neuheidnischer Themen  kann als ähnlicher Prozess einer Auseinandersetzung mit der Moderne gedeutet werden; teilweise kam der Anstoß zur neuheidnischen Renaissance im deutschen Kaiserreich von der Bedrohung traditioneller christlicher Überzeugungen durch wissenschaftliche Ansätze in der Bibelkritik, der Leben-Jesu-Forschung usw.

[10] Wouter Hanegraaff, Esotericism and the Academy: Rejected Knowledge in Western Culture (Cambridge University Press, 2012), 238.

[11] Siehe z.B. Bernd Kramer, “Der akademische Geist – Esoteriker unterwandern die deutschen Hochschulen” Die Zeit 31 Mai 2011, aus dem ZEIT Wissen Magazin 4/2011.

[12] Als Beispiel hier der Schlussparagraph einer 1913 erschienenen Studie von Hans Freimark (1881-1945), einem prominenten kritischen Beobachter des wilhelminischen theosophischen und anthroposophischen Milieus, der eine Reihe okkultistischer Interessen verfolgte: „Die Umwege der Geheimlehre und Geheimwissenschaft sind die Menschen oft und lange genug gewandert. Es ist an der Zeit, daß sie begreifen, wie sehr in die Irre diese Pfade leiten, ehe sie den Suchenden ans Ziel bringen. Nur die Wenigsten haben Kraft und Ausdauer, um ans Ziel zu gelangen. Den Meisten wird der Pfad zum Ziel. Gewiß hat Blavatzky und haben alle Anwälte der Seele recht, wenn sie erklären: Die einzige Welt der Realität ist die subjektive! Das Ich, dieses Einzelne und Einzige, kann sich von keiner andern Welt völlig befriedigt fühlen. Nur die, die es sich selbst erbaut, vermag ihm zu genügen, nur in dieser seiner eigenen Welt ist es restlos glücklich. Will es aber diesem Glück Dauer verleihen, so muß es sich von der Welt der andern abwenden, es muß sich von allem lösen, was es äußerlich mit dieser ihm innerlich fremden Welt verbindet. In dem Augenblick aber, wo der Mensch die letzten Brücken abbricht, wo er das letzte Band zerstört, das sein Ich mit der für es unrealen objektiven Lebensform der andern verbindet, zerstört er zugleich seine eigene Besonderheit, zerstört er gerade das, auf dessen Erhaltung es ihm ankommt. Die radikale Lösung des Ichproblems ist zugleich dessen Beseitigung. Um diesen Übelstand zu vermeiden, schaffte der Mensch sich Mittelungen, die ihm ein Leben in einer subjektiven Welt gestatteten, ohne doch sein Dasein in der objektiven zu gefährden. Zu diesen Mitteln gehören neben den Religionen und der Kunst, die mancherlei Geheimlehren und Geheimwissenschaften. Aber sie sind trügerische Mittel, da sie ihren wahren Charakter als subjektive Gebilde zu verschleiern trachten. Es ist daher rätlicher, sich der Mittel zu bedienen, die den Stempel der Subjektivität nicht verleugnen. Das sind einmal die relgiösen Bekenntnisse, zum andern die Offenbarungen der Kunst. Wer für die einen keinen rechten Glauben aufbringen kann und für die andern zu wenig schöpferische Kraft besitzt, dem bleibt der dritte Weg der ehrlichen aufrichtigen Mitarbeit an der sozialen Verbesserung des Daseins. Er baut dann freilich nicht an seiner Welt, lebt nicht im Sinne seines Ichs und wird dessen einzige Realität nie erfahren. Aber indem er an der Welt der andern baut, indem er für ihr Wohl wirkt, baut und wirkt er seine Gaben und Kräfte in diese Welt hinein, er webt sich gewissermaßen mit dieser Welt zusammen. Und das ist die andere Unsterblichkeit. Es ist nicht eine Unsterblichkeit, die mühselig Beweise herbeibringen muß, sie ist bewiesen durch das Wirken selber, das fortdauernd neues Wirken erzeugt. Der Realität des Ich stehen die Realitäten der andern Iche gegenüber und heben sich gegenseitig auf. In der Objektivität des Du ist für alle Raum und darum ist in ihr der einzig untrügliche und wahre, weil ständig sich entwickelnde Ausdruck des allumfassenden Geistes gegeben.” Hans Freimark, Geheimlehre und Geheimwissenschaft (Leipzig: Heims, 1913), 145-46.
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Peter Staudenmaier (Foto: Privat)

Peter Staudenmaier ist Juniorprofessor für Neuere deutsche Geschichte an der Marquette University (Milwaukee, Wisconsin). 2010 promovierte er an der Cornell University zum Thema “Between Occultism and Fascism: Anthroposophy and the Politics of Race and Nation in Germany and Italy, 1900-1945.”


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Mehr Autorität! Gerhard Vilmar und der “Konsens der Unzufriedenheit”

“Man soll sich davor hüten, die alten Zeiten als Erziehungsvorbild zu idealisieren. Es ist eine reine Phantasie, dass das 19. und das frühe 20. Jahrhundert die Blütezeit einer guten Erziehung gewesen sind und ihre Ideale lediglich durch die Nationalsozialisten missbraucht wurden. Die Erziehungskultur des deutschen Kaiserreiches und der Weimarer Republik war autoritär. Zwar gab es auch liberale Erziehungsformen im Großbürgertum und interessante Erziehungsexperimente in der Reformpädagogik. Aber gerade letzteres zeigt die hohe Ambivalenz dieser vermeintlich progressiven Erziehung: Einerseits gab es sehr kreative Momente in der Reformpädagogik, andererseits war sie auf die Akzeptanz von Führern ausgerichtet.”
– Micha Brumlik, FR, 27.07.2007

Bücher und Aufsätze in Richtung “Meine Erfahrungen an der Waldorfschule” bilden ein ganz eigenes Genre in der (anti-)anthroposophischen Literatur. Der Bogen spannt sich von begeisterten Berichten über wohlwollend-kritische und besorgte Erinnerungen bis zu schockierenden Leidensgeschichten – und für alle davon gibt es ein leselustiges Publikum.

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Gerhard Vilmar – Mediziner, Psychoanalytiker, “Coach” und Dozent für “Beziehungskompetenz im Lehrerberuf” in Innsbruck – hat dieses Genre kürzlich um einen eigenwilligen, aber lesenswerten Band erweitert. Er war Vater an einer Waldorfschule und hat seine Gedanken dazu in einem schmalen Buch bei Books on Demand publiziert: “Waldorfsalat. Zur Psychologie der Waldorfschulen” (Norderstedt 2012). Über die eigene Waldorf-Erfahrung führt Vilmar auch in das Thema seines Buches ein:

“Jede Waldorfschule ist ein Kosmos für sich. Vergleiche sind nur sehr eingeschränkt möglich … Die persönliche Erfahrung als Waldorfvater, in verschiedenen Gremien einer Waldorfschule, insbesondere im Elternrat und Vertrauenskreis, die Beratungs- und therapeutische Tätigkeit für Lehrer, Eltern und Schüler sowie die kontinuierliche Arbeit mit ausgebrannten und mit den strukturellen Defiziten hadernden Waldorflehrern zeigen ein ziemlich übereinstimmendes Bild: ein Konsens der Unzufriedenheit mit einem nicht sonderlich geglückten organisatorischen System.” (ebd., 5)

Es gebe auch Ausnahmen und Schulen mit “Offenheit, Neugier, Experimentierfreundigkeit”, Waldorfschulen, “in denen, ganz wie Rudolf Steiner es forderte, Reformen nicht zu Dogmen erstarrt sind.” (ebd.) Wo Steiner das gefordert haben soll, ist mir unbekannt. Dass er so etwas gefordert hat, scheint mir plausibel – seine in der Tat inflationäre Aussage, die Anthroposophie kenne keine Dogmen, ist heute schließlich auch Schild und Schwert anthroposophischer Dogmatiker.

Zu Steiner hat Vilmar anscheinend kein eindeutiges Verhältnis: Fast immer, wenn die Rede auf ihn kommt, beginnt er, über Psychoanalyse zu schreiben, “von deren Anfängen Rudolf Steiner schon früh etwas mitbekam. Er war nämlich ab 1884 Hauslehrer in der Familie Ladislaus Specht und konnte immer wieder an Gesprächen teilhaben, die Pauline Specht mit Josef Breuer führte, Mitbegründer der Psychoanalyse und Freund von Sigmund Freud.” (S. 8). Das trifft zu (vgl. GA 28, 211ff.), ist aber schlicht kein Argument, um Steiners Beitrag zu den strukturellen und manifesten Problemen des Waldorf-Systems außen vor zu lassen. Wo Vilmar es dennoch versucht, verfällt seine Bestandsaufnahme bekannten Klischees, etwa dem von Steiners beschränkter, bildungs- und geldarmer “Herkunftsfamilie” (S. 32). Ein Mythos, den Steiner selbst in die Welt gesetzt hat und mit dem spätestens seine kritischen Biographen 2011 aufgeräumt haben – tatsächlich waren die Steiners Teil des ländlichen Kleinbürgertums. (vgl. Der Besuch der toten Tante) Dennoch ist Vilmars Fazit interessant, dass man “die depressiv-zwanghafte Atmosphäre der von ihm initiierten Institutionen … aus organisationspsychologischer Sicht als Niederschlag der Persönlichkeit Rudolf Steiners” verstehen könne (Vilmar, 32).

“Kinder erwarten Grenzen!”

Tatsächlich würden Vilmar und Steiner sich wohl in pädagogischer Hinsicht gut verstehen. “Kinder brauchen Grenzen?”, fragt Ersterer rhetorisch – und man ahnt die Antwort: “Zu kurz gedacht! Kinder erwarten Grenzen! Wenn Kinder kein konturiertes Gegenüber finden, werden sie sich mit der Ausbildung ihrer Identität schwer tun. Voraussetzung ist, dass Eltern und Lehrer von der freundschaftlichen Kumpelebene zu einer autoritativen Haltung finden.” (Vilmar, 9). Niemand wird den Zusammenhang zwischen Identität und Zwang bestreiten – aber warum ihn idealisieren? Während Steiner den Menschen erst im Alter von 14 Jahren für fähig hielt, “sich über die Dinge, die er vorher gelernt hat, ein eigenes Urteil zu bilden” (GA 34, 342), ist dies für Vilmar “ab einem Alter von ca. 13 Jahren sinnvoll.” (Vilmar, 9) An Waldorfschulen erlebte er anscheinend – man möchte sagen: glücklicherweise – das Gegenteil. Und deshalb kritisiert er die “ständig aktive Schulgemeinschaft”, in der die Grenzen von Schülern, Eltern und Lehrern “schnell” verwischen, fordert dagegen “Abgrenzung”, denn “Beziehungsgestaltung über die Schule und mit der Schule kann zur Sucht werden” (S. 30).

Aber Vilmar kennt auch ein Gegenmittel zum Grauen der “Beziehungsgestaltung”, eben die “autoritative Haltung”: “Einfühlung und Verständnis bilden eine wichtige Basis für ein gutes Miteinander. Doch wer dabei versäumt, klare Strukturen zu schaffen, eindeutige Regeln aufzuzeigen und auf deren Einhaltung zu achten, gibt den Kindern keinen ausreichenden Halt.” (S. 10). Vilmar gehört – wie viele Fachkollegen aus den Reihen der Psychologen und ‘Coachs’ – anscheinend zum alle paar Jahre auftauchenden Meinungstrend, der verkündet, man brauche ‘wieder’ mehr ‘Halt’ und ‘Durchsetzungskraft’ seitens der Lehrer und Eltern. Denn früher war alles besser: “Damals” waren “die Strukturen klarer, die Schüler anders und Rudolf Steiner die zur Verfügung stehende Autorität.” (S. 16) Die Historikerin Miriam Gebhardt hat sich in ihrer Habil-Schrift mit der erstaunlich langen Geschichte solcher Vorstellungen befasst und bilanziert:

“Wer heute wieder lauthals fordert, Fachleute sollten sich in die Familienerziehung einmischen und möglichst verbindlich die richtigen Regeln zur Ernährung und Erziehung unters Volk bringen (‘Elternführerschein’), wer meint, Kinder müssten wieder Disziplin und Gehorsam lernen, wer ständig von ‘Grenzen’ spricht, die Eltern wieder ziehen müssen, der muss sich gefallen lassen, dass man ihn zu dem Wort ‘wieder’ befragt; dass man an die Vergangenheit erinnert – an all die Ratgeberpäpste und -päpstinnen, die dazu beigetragen haben, dass den deutschen Eltern angst und bange wurde vor ihren ‘kindlichen Tyrannen’.” (Miriam Gebhardt: Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen. Eine Geschichte der Erziehung im 20. Jahrhundert, München 2009, 241)

Bekanntlich hat sich die Vorstellung vom Lehrer als “geliebter Autorität” auch in der Waldorftheorie stark niedergeschlagen. Steiner fand, “dass einer in der Schule befehlen muss. Also: einem jeden eine Art Handlung für jeden Tag zuweisen, die sie dann jeden Tag, unter Umständen das ganze Schuljahr hindurch, vollbringen – das ist etwas, was auf die Willensbildung sehr stark wirkt.” (GA 293, 74)

Aber hier schuf die selektive Steiner-Rezeption immerhin Gegengewichte. So plädierte der prominente Waldorflehrer Hans Müller-Wiedemann für “ernsthafte partnerschaftliche Bemühungen der Eltern. Wir müssen den Mut wiedergewinnen, auf den Wandlungswillen unserer Kinder zu vertrauen…” (Müller-Wiedemann: Mitte der Kindheit, Stuttgart 1973, 279) Müller-Wiedemann wandte sich gegen pädagogischen Aktionismus und eben auch dagegen, dass Erzieherinnen und Erzieher ‘autoritativ’ sein müssten: “Die großen Dinge, die das Herz bewegen, brauchen Zeit und meistens auch Schweigen … Dort sucht eure Autorität. Niemand hat sie. Sie wandelt durch die Seele” – und so komme sie schließlich auch den Kindern zugute. (ebd., 282) Wie auch immer man Müller-Wiedemanns Jargon bewertet: Solche Weigerungen von Waldorfpädagogen, sich mit Steiners esoterischen Erziehungsratschlägen ernsthaft zu befassen und sie der eigenen Meinung nach umzubiegen, dürften nicht unwesentlich zu der Atmosphäre beitragen, die viele ehemalige Waldorfschüler an ihrer Schule so schätzten.

“Große Gefühle gehören in die Oper!”

Die Schwachstellen dieser Wohlfühlstimmung liegen freilich in einer kollektivistischen, post-demokratischen Selbstverortung, die die demokratische ‘Mehrheitsdiktatur’ durch Konsensentscheidungen und ‘einmütige’ Concordia ersetzen will.

“So richtig wohl fühlt sich die Herde nur, wenn alle Schafe beisammen sind. Als Ideal scheint die Vorstellung eines ins Universelle gehobenen geselligen Beisammenseins zu wirken. Eines imaginären Allzuständigkeitsgremiums, in dem sich Lehrer, Eltern und Schüler aller Waldorfschulen rund um die Uhr und den Erdball durch alle anstehenden Fragen bis zum letztgültigen Konsens hindurchquälen. Wo anders als im größten Rund ließe Stagnation sich besser zelebrieren! … Wie wollen wir es mit dem Schneeballwurfverbot auf dem Pausenhof halten? Und wie mit Schülern, die in den Pausen unerlaubt das Schulgelände verlassen? Prekäre Fragen allemal, die eines mit Sicherheit auslösen: endlose Debatten. Und verzweifelte Versuche, in der ‘Nachspielzeit’ doch noch zu einer ‘Last-Minute-Entscheidung’ vorzudringen. Was so, als Beschluss getarnt, irgendwann und -wie von der Runde abgenickt wird, ist am Folgetag bereits nurmehr Schnee von gestern.” (Rüdiger Iwan: Die neue Waldorfschule, Reinbek 2007, 115f.)

Diese Beobachtung sucht man bei Waldorfkritikern in der Regel vergebens – zu attraktiv ist der autoritäre Steiner, um sich dessen chaotische Rezeption anzuschauen. Vilmar beobachtet dagegen immerhin dieselbe von Iwan (zurecht) verrissene postmoderne Kollektiv-Kultur. Er scheint sie allerdings noch unterschreiten zu wollen – und plädiert auch auf organisatorischer Ebene für Zucht, Ordnung und “Leistungsverantwortung”:

“Verlässt man jedoch die Ebene arbeitsbezogener Interaktion, und sucht sein Heil im emotionalen Miteinander, werden die Konfliktfelder nicht vermindert sondern verstärkt. Doch große Gefühle gehören in die Oper! … Wenn heute in manchen Waldorfschulen ausgeschlossen ist, dass einige wenige Personen aus dem Kreis des Kollegiums Leistungsverantwortung übernehmen und damit auch riskieren, sich (vorübergehend) unbeliebt zu machen, dann kann aus falscher Gleichheit höchstens Mittelmäßigkeit erwachsen. Dann wird zwar alles angesprochen, aber nicht zielführend gehandelt, weil zu viele mitreden und dadurch zu wenig in Strukturen, Prozessen und Verantwortlichkeiten gedacht und gehandelt werden kann. Außerdem ist es sehr fraglich, ob ein (von der Größe her) mittelständisches Unternehmen in der heutigen Zeit überhaupt noch von Laien geführt werden kann.” (Vilmar, 16)

Vilmars Plädoyer für Ordnung und Hierarchien ist so haarsträubend wie seine Analyse der Schulrealität an Waldorfschulen treffend ist. Der größte Teil seines Büchleins widmet sich der Selbstausbeutung von Waldorflehrern, mangelnder Kommunikation, resultierenden sozialen Klimakatastrophen. Erschwert würden sie noch durch eine falsch verstandene Freiheitsideologie, die unter anderem dazu führe, “dass in der unkommentierten Selbstvergessenheit die persönlichen Verzerrungen und neurotischen Anteile der einzelnen Lehrer ungebremst in der Klassenführung und Unterrichtsgestaltung durchschlagen können.” (S. 37) Gleiches gelte für Waldorfeltern:

“Manche Eltern wollen ihre Position im Vorstand [des Schulvereins – AM], dem Personalkreis [zuständig für die Neueinstellung von Lehrern – AM] oder anderen Gremien dazu nutzen, um einen direkten Einfluss auf die Personalsituation, die Finanzen und andere wichtige Themen zu nehmen. Einige Eltern haben, das darf man dabei nicht vergessen, häufig sehr gute und weitreichende Kompetenzen in unterschiedlichen Bereichen, bewähren sich täglich in der Führung eine Unternehmens … wieder andere dulden und leiden, schleichen eher subdepressiv umher – die Belohnung fürs Bravsein!” (S. 41f.)

Das sind Zustände, die wahrscheinlich jeder Waldorfschüler kennt und die in der kritischen Literatur so gut wie nicht auftauchen. Wer, der eine Waldorfschule besucht oder mit ihr zu tun hat, hätte nicht dutzende von Anekdoten bei der Hand, wenn von giftigen “Parkplatzgesprächen” oder spätabendlichen Krisentelefonaten die Rede ist? Wer hat nicht von Elternabenden gehört, an denen “sich Lehrer und Eltern … erbitterte Auseinandersetzungen mit wechselseitigen Schuldzuschreibungen” (S. 27) liefern?

Für die Rolle der Schüler im “Waldorfsalat” scheint Vilmar allerdings nicht besonders viel übrig zu haben. Nicht nur, dass es ihm inhaltlich vor allem um (zurecht) fordernde Eltern und überforderte Lehrer geht. Waldorfschüler scheinen sich Vilmar zufolge vor allem in “Lücken hinein [zu] begeben und diese fortlaufend [zu] vergrößern.” (S. 36). Zur Lösung der Probleme hat Vilmar außer den Phrasen, “dass jede Schule Führung, Management und Steuerung braucht” (S. 39) aber scheinbar nicht viel zu sagen. Bei der Bestandsaufnahme will er sich auch nicht zu lang aufhalten, denn es gelte, “vom Problembewusstsein zum Lösungsbewusstsein zu kommen.” (S. 47) Was davon zu halten ist, zeigt Vilmars Buch. Dessen Stärke und Witz liegt nämlich gerade in der problemorientierten Bestandsaufnahme.


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“…out of the frying pan and into the fire”: Rassismus und Geschichtsmetaphysik – Rezension von Peter Staudenmaier

Ansgar Martins, Rassismus und Geschichtsmetaphysik: Esoterischer Darwinismus und Freiheitsphilosophie bei Rudolf Steiner (Frankfurt: Info3, 2012)

Reviewed by Peter Staudenmaier

Ansgar Martins has written a perceptive and provocative book about a topic many prefer to avoid: Rudolf Steiner’s racial teachings, a perennial bone of contention between anthroposophists and their critics. It is a sober and discerning account, by far the best to appear from an anthroposophist publisher, and a noteworthy contribution to the historical literature on Steiner and his movement. The book’s approach is nuanced, complex, and sophisticated, taking heed of the contrasting motifs in Steiner’s thinking about nation and race, what Martins aptly terms “Steiner’s wavering between universalism, individualism, cultural chauvinism, and racist stereotypes” (143). His method combines critique and empathetic comprehension: The task, as Martins sees it, is “to identify the ambivalent strands in [Steiner’s] thinking, and to understand how Steiner came to make racist statements, without forfeiting a critical perspective.” (141)

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To this end, Martins traces Steiner’s developing ideas about race in a minutely detailed reconstruction of the various phases of Steiner’s career. One of the strengths of the study is its chronological structure, surveying the transformations and modifications in Steiner’s views across the years without losing thematic coherence. Martins quotes dozens of texts and lectures in which Steiner spelled out his racial views, providing admirably clear explanations of the details of Steiner’s claims about racial evolution: External racial characteristics reflect internal spiritual qualities; different racial groups represent different levels of spiritual development; some racial groups carry evolutionary progress forward, while other racial groups are degenerating and devolving; the “white race” (or “Aryan race” or “Caucasian race” or “European peoples”) are “normal” and “the race of the future,” in contrast to the “colored races”; and the fundamental hierarchy of “lower races” and “higher races” as an expression of spiritual regression or advance. These themes, running throughout Steiner’s published work, are given vivid and informed treatment. Martins argues that, with some exceptions, when it came to the practical forms of anthroposophy developed in the wake of World War I – Waldorf schools, anthroposophical medicine, biodynamic farming, etc. – Steiner gave priority to the universalist strands over the racist and ethnocentric strands in his teachings (121).

The book begins with an overview of debates on Steiner’s racial teachings, then of historical assessments of these teachings. Martins incorporates insights from previous scholarship by Georg Otto Schmid, Helmut Zander, and Jana Husmann (Martins draws on my work as well, and offers several thoughtful criticisms of it). But Martins wants to go beyond prior studies by paying closer attention to the evolution of Steiner’s racial views over time, highlighting the breaks and shifts in his thinking. Martins’ goal is to see how specific historical contexts influenced Steiner’s changing racial beliefs throughout his theosophical and anthroposophical career: What racial theories was he influenced by or responding to, and how did his own racial theories fit into his intellectual biography and his overall teachings? In this way, Martins attempts to account for the discontinuities and contradictions in Steiner’s racial thinking.

Some of the conclusions are bound to be disconcerting even for more open-minded anthroposophists. Martins notes the apologetic tendency of the vaunted ‘Dutch report’ on anthroposophical race doctrines and observes that its focus on legal issues is not especially helpful from a historical perspective (17). He carefully reviews “the full spectrum of antisemitic clichés” in Steiner’s work (29). He is justly harsh on the threadbare rationalizations for Steiner’s racial teachings put forward by prominent anthroposophists like Lorenzo Ravagli, editor of the flagship journal of Waldorf education. The book also includes pertinent reflections on esotericism and its claims to “higher knowledge.” Martins consistently emphasizes the ambivalence running throughout Steiner’s work, oscillating between an individualist message and invidious racial categories, and he systematically punctures a range of tenacious anthroposophical myths. Regardless of what anthroposophists today might prefer, Martins writes: “Though Steiner may have wished otherwise, he has gone down in history not as the author of a Philosophy of Freedom but as the founder of a controversial esoteric movement.” (37)

Martins offers an excellent overview of Steiner’s early deutschnational period, his involvement in German nationalist circles in Habsburg Austria and the concomitant combination of nationalism and individualism which shaped his youthful worldview (21-27). This is a key era for understanding Steiner’s idiosyncratic perspective on nationalism; Martins notes that for Steiner, “national chauvinism” meant the refusal of non-German peoples to recognize the superior German mission (27). The book also points out that in the 1890s Steiner tried to base his individualism on Ernst Haeckel’s social Darwinist theory of evolution (31). This set the stage for Steiner’s adoption of the theosophical theory of “root races” with his conversion to Theosophy after 1900. Here the centerpiece of Martins’ analysis begins.

As Martins recounts, Steiner initially adopted the root race narrative wholesale, without question or commentary, in the course of appropriating the theosophical model of evolution. Steiner soon began re-working various theosophical teachings, in the process often enough contradicting his own prior statements, sometimes within just a few months of each other. In the midst of establishing himself as an esoteric teacher, he was reading Helena Blavatsky’s writings and weaving her teachings into his own statements even while modifying them. Martins also notes the influence of occult authors like C.G. Harrison and Antoine Fabre d’Olivet on Steiner’s thought.

His approach in this central section of the book is painstaking, ascertaining just when Steiner lectured on racial themes, including lectures which do not appear in the Gesamtausgabe, the official edition of Steiner’s complete works. Martins makes the important point that compared to Blavatsky and other theosophists, Steiner’s race concepts at this time were in some ways more biological and less abstractly cosmic (57). He sees Steiner’s often neglected 1904 text “Ueber die Wanderungen der Rassen” (On the Wanderings of the Races) as Steiner’s most thorough explication of the root race theory, with its attendant “sub-races” and similar trappings. Martins remarks that Steiner distanced himself from the ‘sub-race’ terminology in 1905 and 1908, but Steiner was still using the terms “root race” and “sub-race” (Wurzelrasse and Unterrasse) in writing as late as 1916: several such manuscripts are reproduced in Steiner, Zeitgeschichtliche Betrachtungen vol. III (Dornach 2011), 367-77.

The core of the book is a detailed reconstruction of Steiner’s evolving racial views from his theosophical period onward and his efforts to build these ideas into his overarching system of esoteric teachings. Martins offers a number of insightful interpretive hypotheses. He draws connections, for example, between Steiner’s depiction of the white race as representing the balanced and harmonious contrast to the black and yellow races, who had developed the ‘I’ either too weakly or too strongly, and Steiner’s model of Christ as the balanced and harmonious contrast to Ahriman and Lucifer. This is a plausible and illuminating interpretation.

Martins has a good brief chapter on the intra-theosophical conflict over Krishnamurti, the final straw in Steiner’s escalating clash with the India-based leadership of the Theosophical Society which led to the split-off of the Anthroposophical Society in 1912/1913. He sees 1910 as the date of a major expansion of Steiner’s racial theory and provides a thorough examination of Steiner’s book on The Mission of the Folk Souls, observing that Steiner held various spiritual entities responsible for the existence of racial differentiation, from the “abnormal spirits of form” to Lucifer to Ahriman. On Steiner’s efforts to distinguish his own racial teachings from those of mainstream Theosophy, Martins comments: “through his new race metaphysics, he jumped out of the frying pan and into the fire as far as racism is concerned.” (105)

The book’s discussion of Steiner’s perspective in World War I is refreshingly demystified, though there are occasional small lapses. At one point Martins says that Steiner’s statements about the war did not represent the principal focus of his lectures from 1914 to 1918. But we do not yet have a definitive record one way or the other; most of Steiner’s lectures from the first year of the war, for instance, have never been published. Martins nonetheless gives an accurate portrait of Steiner’s stance, noting that his war-time statements “fit almost seamlessly into the pan-German and propagandistic positions common during those years” (113). Steiner’s claims about the war shifted in the aftermath of the German defeat, and Martins observes astutely and caustically that eminent latter-day anthroposophists have not followed Steiner’s lead, clinging instead to the utterly groundless notion that Germany bore no substantial responsibility for the war.

Delineating the impact of the war, Martins describes Steiner’s model of “social threefolding” as oscillating “between theocracy and emancipation,” pointing out that in his threefolding lectures Steiner varied his message from audience to audience (121). The book includes an illuminating comparison of Steiner’s threefolding proposals to Édouard Schuré’s earlier conception of a threefold social order, which in turn drew on the ‘synarchy’ ideas of occultist Alexandre Saint-Yvesd’Alveydre. Departing partially from the work of historian Helmut Zander, Martins also traces the indebtedness of Steiner’s threefolding model to his esoteric evolutionary narrative, with occasional racial overtones (123).

This is one of the more provocative and illuminating parts of the book, but also one of the places where the study’s historical contextualization, in my view, falls somewhat short. Steiner’s teachings about “social threefolding” emerged in a particular historical moment, and the contours of that historical moment are crucial to understanding the import of Steiner’s tenets. The 1917-1920 period in Germany, Austria, and elsewhere was one of great lability, with many proposals for sweeping democratization of social life in response to the hierarchy and authoritarianism of the Imperial era. In light of this background, Steiner’s proposals appear as an attempt to stem the democratic tide and keep it within limited boundaries while recuperating significant hierarchical and authoritarian aspects of the social order. Hence Steiner’s insistence that in a threefold society, democratic principles and procedures were to be restricted to the relatively attenuated political realm and were not to be applied to the spiritual-cultural or economic realm.

Steiner was quite vocal on this point, declaring unambiguously: “For God’s sake, no democracy in the economic sphere!” (Steiner, Vom Einheitsstaat zum dreigliedrigen sozialen Organismus, 165, from a 1920 speech on “Threefolding and the Current World Situation”) Statements like these were a direct rebuke to the movements aspiring toward economic democracy and a “council republic” in post-war Germany, movements proposing a much more dynamic vision of grassroots democracy, a vision decidedly at odds with Steiner’s own. In this sense as in others, the elitist conception of a spiritual aristocracy was fundamental to Steiner’s ‘social threefolding’ framework. Within the specific historical context of the 1917-1920 interregnum, this was not an emancipatory but a conservative model. The illiberal implications of this approach profoundly shaped anthroposophist responses to the Weimar Republic as well as to the National Socialist regime.

But these issues are not central to Martins’ analysis and do not detract essentially from the value of his study. The saga of anthroposophical race doctrine did not end with Steiner’s death in 1925 or even with the end of World War II in 1945. Martins characterizes leading anthroposophist Guenther Wachsmuth’s 1953 book The Evolution of Mankind as “a racist account of prehistory which went far beyond Steiner.” (137) The same could be said for works published after 1945 by anthroposophists Ernst Uehli, Sigismund von Gleich, Fred Poeppig, Richard Karutz, Wolfgang Moldenhauer, Max Stibbe, and others. Martins comments that both apologists for Steiner and critics of Steiner often tend to acknowledge only one side of Steiner’s Janus face and ignore or deny the other sides. A historically adequate view requires taking its several sides into account, contradictory as they may be.

Though Martins often has harsher words for Steiner’s apologists, he does offer an important and well-founded admonition for critics of Steiner as well, noting that it is pointless to reduce Steiner as a whole to his racist utterances. The indispensable alternative to both of these one-sided approaches, Martins concludes, is critical historical reflection. (144) He reserves his sternest remarks for anthroposophists, warning that the refusal to engage with Steiner as a historical figure threatens the positive achievements his followers have made.

Martins’ book tries to get to the bottom of the central paradox in Steiner’s thinking about race, its combination of racist and universalist strands, its contrasting biological and spiritual poles, simultaneously opposed to one another and intertwined around one another. If the book does not entirely succeed, the fault lies not with Martins’ analysis but with the irreducible contradictions in Steiner’s thought. While there could be more attention to Steiner’s contemporary scientific sources, Martins provides important contextual material on the range of racial theories which influenced Steiner, from Linnaeus to Kant to Blumenbach to Carus. He overemphasizes the latter figure, in my view, but it is a historically informed and informative discussion. Since Steiner’s racial doctrines represented a continual effort to negotiate between esoteric and scientific approaches, historical consideration of both is necessary.

On that score, another modest disagreement with one of Martins’ claims may be in order: He says at one point (56) that to his knowledge the planetary names Saturn, Sun, Moon, Earth, Jupiter, Venus, Vulcan did not appear in earlier theosophical literature, and that Steiner thus introduced them. In reality, this is an example of Steiner’s reliance on previous theosophical concepts. The notion of a planet named Vulcan, for example, was a common element in late nineteenth and early twentieth century Theosophy and still plays a role in some esoteric versions of astrology. The scheme of Vulcan, Venus, Earth, Jupiter, Saturn, Uranus, Neptune appeared in a variety of theosophical texts from Steiner’s era. Like other theosophists, Steiner offered an esoteric synthesis of science and spirituality and was concerned to integrate scientific advances into his system. Entities like Vulcan, Lemuria, and Atlantis each had scientific defenders in the nineteenth century and were taken up in theosophical contexts as a marker of sophistication. A similar dynamic helps account for the role of various racial theories within theosophical and anthroposophical thought, an insight eminently compatible with Martins’ argument.

Though these sorts of details are a minor concern overall, I have several further disagreements to register. In my estimation, Martins does not adequately contextualize Steiner’s bitter tirades against “Wilsonism” after the German defeat in World War I. This is where Steiner’s conception of nationalism returned to its Habsburg roots. What Steiner denounced as “nationalism” in the wake of the war was what others called national self-determination. In Steiner’s eyes, this sort of “Wilsonism” was an illegitimate imposition of abstract Western notions on Mitteleuropa or Germanic Central Europe. There are many reasonable criticisms to be lodged against Wilsonian, Leninist, and other versions of national self-determination, but Steiner’s polemics strikingly echoed his youthful condemnations of ‘chauvinism’ in the context of the Habsburg Empire, dominated as it was by ethnic Germans.

This is a decisive aspect of Steiner’s thought, central to his perspective on ‘nationalism’ and on ethnicity as such: the essential element of German cultural hegemony as ostensible guarantor of universal spiritual values against illicit forms of particularism. It is not accidental that national self-determination after World War I was supposed to benefit smaller national groups, particularly in the formerly Habsburg and German-controlled East, against the longstanding sway of German dominance.

Similar themes were just as prevalent in the Imperial era. Peter Walkenhorst’s study Nation – Volk – Rasse: Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890-1914 (Vandenhoeck & Ruprecht, 2007) offers a thorough examination of the adoption of ‘race’ vocabulary from the 1890s onward, painting a picture of utter semantic confusion, with the terms “Rasse,” “Volk,” and “Nation” constantly weaving in and out of one another, and with ample instances of convergence between biological and cultural discourses. The unstable and extremely broad character of the concept of ‘race’ allowed enormous leeway in applying it, and the putatively biological aspects of the race idea did not restrict its wide applicability but in a sense enabled the opposite: via ‘race’ any cultural or spiritual characteristic could be invested with biological significance and thus cast as inherent, naturally ordained, and so forth.

This context is important for a fuller comprehension of what was distinctive and what was derivative in Steiner’s teachings. Martins misses, for example, the profound ambivalence in Gobineau’s stance toward ‘race-mixing’ (78). A less consequential disagreement: In his review of Steiner’s 1923 lecture on “Color and the Races of Mankind,” Martins discerns strong parallels to the work of Carus in 1849 (132). But the five race scheme that Steiner outlined in the 1923 lecture, with three primary races (white Europeans, yellow Mongolians, black Africans) and two branching off races (brown Malayans and red American Indians), almost exactly recapitulates Blumenbach’s seminal race system from 1795. This does not, to be sure, undermine Martins’ broader argument, but it is an indication of how much more historical work there may be to do in moving toward a more comprehensive assessment of Steiner’s racial beliefs.

One last concern, albeit a subordinate one in a book as richly meticulous as this, has to do with the themes that are not included. Martins might have mentioned, for example, Steiner’s instructions to the first generation of Waldorf teachers to include “knowledge of races” and “the different races and their various characteristics” in the elementary years at the original Waldorf school (Steiner, Discussions with Teachers, 23), or Steiner’s recommendation that Waldorf faculty teach children about “the worst Oriental peoples” and their “Mongolian-Mohammedan terror” which had supposedly threatened Europe for centuries (Steiner, “Pädagogisches Seminar” Erziehungskunst February 1933, 241-53).

These were not isolated comments; the first Waldorf schools did in fact incorporate Rassenkunde or “racial studies” within their curriculum, determining that “racial studies” were to be introduced in the seventh grade, along with discussion of “the contrast between Northern and Southern ethnic types” and the cultural impact of “foreign national souls” (Caroline von Heydebrand, Vom Lehrplan der Freien Waldorfschule, Verlag der Freien Waldorfschule, 1931, 25, 41, 47). As Ida Oberman points out, “Racial theory has a place in the Waldorf curriculum as designed by Rudolf Steiner.” (Oberman, The Waldorf Movement in Education from European Cradle to American Crucible, 1919-2008, 132)

Other gaps include some of the more dramatic of Steiner’s proclamations on racial themes. Throughout the book Martins devotes considerable attention to the anti-Jewish strands in Steiner’s thought and the way they intersected with his racial doctrines. But he does not examine Steiner’s repeated invocations of the antisemitic myth of Ahasver, passages which are important to Steiner’s overarching racial theories. And while Martins quotes extensively from Steiner’s 1911 book on The Apocalypse of St. John, he does not cite the passages about a coming “War of All against All” and the emergence of a “race of good” and a contrasting “race of evil.”

More striking, in his discussion of Steiner’s 1915 lecture on “the mission of white humankind” Martins does not quote Steiner’s insistence that “the transition from the fifth cultural epoch to the sixth cultural epoch cannot happen in any other way than as a violent battle of white humankind against colored humankind” (Steiner, Die geistigen Hintergründe des Ersten Weltkrieges, 38). These facets of Steiner’s racial teachings merit attention not least because they represent a sharp counterpoint to the model of a gradual disappearance of racial difference.

In summing up the book’s argument, Martins writes that as Steiner’s views developed he increasingly distanced himself from theosophical conceptions of racial evolution and posited an “anthropological-biological” model of race in contrast to Theosophy’s “cosmic” model of race (142). In historical perspective, this contrast was by no means straightforward, since many theosophical thinkers readily combined both “cosmic” and “anthropological-biological” components into their racial theories. Steiner’s works were not exceptional in this regard.

Martins concludes from this argument that racial categories eventually became marginal to Steiner’s cosmology. In my view, this conclusion misunderstands the ongoing significance of race within Steiner’s mature worldview, a significance underscored again and again by the evidence presented in this book. But Martins points out a sentence later that Steiner continued to elaborate and intensify his racial teachings after his initial theosophical period. In some ways, the interpretive differences at stake here come down to a matter of emphasis and framing more than substantive disagreements. What is perhaps lacking is a more consistent recognition that racial categories and the shifting narrative of racial evolution played a central role in anchoring Steiner’s conception of karma and reincarnation, a theme which receives relatively little attention in the book.

A study this lucid and incisive can withstand such criticisms. Despite its welcome emphasis on temporal and conceptual distinctions and the shifting attitudes at different points in Steiner’s life, the book at times makes a bit too much effort to find explanations for Steiner’s various inconsistencies and self-contradictions. It can be helpful to recall that the sources minutely examined here were frequently extemporaneous lectures given over the course of many years, rather than texts which Steiner could revisit and revise over time. It is not surprising to find any number of incongruities in that sort of material – it would be surprising if this were not the case, in view of all the other demands on Steiner and all the other subjects he addressed.

Martins has undertaken the demanding job of appraising Steiner’s contentious and sometimes rebarbative views on race in a fair and historically responsible manner. His study stands as a rebuke to anthroposophists who continue to ignore this sizeable portion of their own past and its ongoing repercussions in the present. It also offers challenging but fruitful lessons for critics of anthroposophy tempted to simplify Steiner’s teachings on a volatile theme, lessons that can make a difference to historical evaluation of Steiner and his ideas and the activities of his followers. The intricate relationship between the racist features and the cosmopolitan features of Steiner’s esoteric system defies easy elucidation, but it is not hopelessly inscrutable or eternally enigmatic. This book demonstrates that it is possible to make historical sense of what Steiner taught about race and why it matters.

In his concluding remarks, Martins notes that engaging with Steiner’s racial and national ideas can be a thankless task (141). That is often true, alas, and is one more reason to be thankful to Martins for such a thoughtful, careful, and insightful study of this daunting topic.

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Peter Staudenmaier (Foto: Privat)

Peter Staudenmaier ist Juniorprofessor für Neuere deutsche Geschichte an der Marquette University (Milwaukee, Wisconsin). 2010 promovierte er an der Cornell University zum Thema “Between Occultism and Fascism: Anthroposophy and the Politics of Race and Nation in Germany and Italy, 1900-1945.”


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Mentzels Traum

oder: Schon wieder eine Polemik

“Eine Kritik, die sich an dem stört, was sie für unleserlich und eitel hält,
ist nicht nur zutiefst zu misstrauen, weil sie die Tatsache,
dass die Wahrheit einem nicht zufliegt, sondern kritisch begriffen sein will,
im Kokettieren mit der Dummheit leugnet und weil aus dem Affekt
gegen die Eitelkeit das Wissen über die Hässlichkeit der eigenen Gedanken spricht.”
– Tjark Kunstreich

Michael Mentzel (“Themen der Zeit”) hat zwei Fehler in meinem Buch gefunden – und einen Trost, dass Steiner nämlich nicht den Nationalsozialismus verursacht habe. Da seine Rezension in den üblichen Bahnen kreist, überdies nicht an unbelegten oder schlicht unrichtigen Unterstellungen spart und ich besagtes Buch ernst meine, erlaube ich mir eine Antwort.

Idealismus vs Nationalsozialismus

George L. Mosse hat darauf hingewiesen, dass man die Geschichte des Rassismus “mit dem Ende und nicht mit dem Anfang beginnen” muss: “Mit den sechs Millionen Juden, umgebracht von Erben europäischer Kultur … Zwar führten die Nazis das Verbrechen aus – aber überall glaubten Männer und Frauen, dass die Rassen sich unterscheiden, seien sie nun weiß, gelb, schwarz, jüdisch oder arisch.” (Mosse: Die Geschichte des Rassismus in Europa, Frankfurt/M 1990, 23) Michael Mentzel, Anthroposoph und Urheber der Seite “Themen der Zeit”, ist scheinbar anderer Auffassung. Dabei ist ihm nicht verborgen geblieben, dass es Rassismus im Werk des Anthroposophie-Gründers Rudolf Steiner gibt, schließlich seien “die in Rede stehenden Zitate und Aussagen tatsächlich in Steiners Werk vorhanden.” Die Auseinandersetzung damit scheint für Mentzel keine notwendige Aufarbeitung der Vergangenheit und auch kein Grund zu sein, anthroposophische Traditionen auf ihre Rolle im Nationalsozialismus hin zu befragen, im Gegenteil: Mentzel will Steiners Rassenlehre und dem darüber immerhin bei ihm aufkeimenden Zweifel anscheinend sogar ein Quäntchen spirituelles Kapital entlocken. Denn: Wer bereit sei, eine “- stellenweise tatsächlich vorhandene und auch nicht wegzuleugnende – Ambivalenz in Steiners Denken auszuhalten, wird belohnt durch die Erfahrung, dass es für die Entwicklung seiner eigenen Gedankenwelt nur mehr förderlich sein kann, wenn er bereit ist, den persönlichen Seelenkampf in die Wagschale zu werfen und die eigene Auseinandersetzung mit dem Zweifel als Möglichkeit zur erweiterten eigenen Erkenntnis zuzulassen.” (siehe hier und im Folgenden Michael Mentzel: Steiner und der Rassismus)

Für diesen neuesten “Seelenkampf” zur Erkenntnis-Erweiterung hat Mentzel sich netterweise mein Buch ausgesucht. Am Ende bleibt der Eindruck, dass dabei der “Seelenkampf” und keineswegs die Erkenntnis im Zentrum steht. Kritische Bücher sind anstrengend, schon weil Mentzel “angesichts der vielen fußnoten die zeit fehlt, sich auch noch mit dem text zu beschäftigen. gleichwohl lese ich manches durchaus mit gewinn.” Immerhin. Fußnoten sind vielmehr das Geschäft fieser Zeitgenossen wie der “Experten”: “Da steht es doch. Schwarz auf weiß”, rufen die “Experten” und lehnen sich selbstzufrieden zurück, wohl wissend, dass es ihnen wieder einmal gelungen ist, beim geneigten Publikum eine gewisse Aufmerksamkeit zu erreichen und die Saat des Zweifels ein wenig mehr aufgehen zu lassen.” (ebd.)

Entsprechend kommen Zweifel nur in Mentzels Fazit vor, im Rest des Artikels versucht er, einige meiner Darstellungen als “absurd” und als falsche Vorwürfe an Rudolf Steiner zu lesen. Meine Bemühungen, Steiners Gratwanderung zwischen Chauvinismus und Humanismus (und Rassismus, und Antinationalismus usw. usf.) herauszuarbeiten, hinterlassen bei Mentzel wenigstens den folgenden positiven Eindruck:

“Eines scheint mir das Anliegen des Autors Ansgar Martins jedoch nicht zu sein: Der Versuch, nachzuweisen, dass der von ihm bei Steiner diagnostizierte Rassismus und Antisemitismus die von manchen Kritikern behauptete Klammer und die Kontinuität sind, die den Nationalsozialismus ermöglicht haben. Kritikern, die Steiner und seine – und zu einem Gutteil auch unsere – Anthroposophie als die Wegbereiter des Nationalsozialismus stilisieren wollen, dürfte es damit schwerfallen, das Buch als Beleg ihrer oft kruden Thesen heranzuziehen. Denn hin und wieder bemerkt Martins schon, dass Steiner auch darauf hingewiesen hat, dass sein Anliegen in einem idealistisch zu verstehenden Sinn zu werten ist und eben nicht ein national gefärbter Hurrapatriotismus deutscher Provinienz ist.” (ebd.)

Offenbar schließen sich Hurrapatriotismus und Idealismus in Mentzels Augen aus. Das ist leider nicht überraschend und wahrscheinlich das tiefgreifendste und weit verbreitetste anthroposophische Missverständnis in der gesamten ‘Rassismus-Debatte’, geradezu der Traum, dass Steiner sich vereindeutigend aus der Affäre ziehen lasse. In der Tat hat Steiner ‘rassische’ Faktoren durch seine Ich-Philosophie, die Vorstellung von der zukünftigen Vergeistigung der Erde oder die Reinkarnationsidee stark relativiert, aber dadurch wurden auch seine eigenen rassistischen Stereotype nicht weniger und unter manchen Anhängern wurden gerade diese ‘spirituellen’ Teile der Rassenlehre umgekehrt interpretiert: Als Rechtfertigung des Rassismus. Ein prominentes Beispiel ist Richard Karutz, der 1934 in einem ebenfalls “idealistisch zu verstehenden Sinn” und vom spirituellen Standpunkt der Anthroposophie aus den Nationalsozialismus begrüßte. Nur spirituell könne die “Rassenhygiene” wahrhaft begründet werden, so Karutz:

„Eine Abkehr vom materialistischen Denken würde sofort die Empfindlichkeit der Rassenlehre beseitigen, denn die Wandlung vollzieht sich in jenem nicht-physischen Bild des Rassen-Urbildes, das dieselbe Rassenlehre als Quelle der überindividuellen Lebenseinheit, oder wie sie die Rasse sonst bestimmt anerkennt. Für die praktischen Forderungen eugenischer Lebenshaltung ändert sich damit nichts.“ (Richard Karutz: Rassenfragen, Stuttgart 1934, 35)

“Aus beiden, aus Rasse und Volk schält sich die Einzelpersönlichkeit heraus und beginnt von sich aus an den überkommenen seelischen und leiblichen Eigenschaften zu arbeiten. Ein Neues wird, zu dem Rasse und Volk die Stufen sind. Darum stellt Adolf Hitler immer wieder die frei schaffende Persönlichkeit als notwendig für die Gemeinschaft hin … Das Volkstum muss als eine notwendige Grundlage seelischer Entwicklung gewahrt, eugenisch gepflegt und wenn nicht anders möglich, kämpferisch verteidigt werden.” (ebd., 62)

Dass die Anthroposophie nicht die Wegbereiterin des Nationalsozialismus war und sich in dieser Richtung auch nicht ernsthaft argumentieren lässt, darin ist Mentzel ausdrücklich zuzustimmen. Tatsächlich hat bisher auch noch kein ernstzunehmender Steinerkritiker die Anthroposophie zum Wegbereiter des Faschismus stilisiert. Das haben diesbezüglich interessierte Anthroposophen ganz allein geschafft. Ettore Martinoli, der sich nicht nur aktiv für die antisemitischen Rassegesetze im italienischen Faschismus, sondern vor allem für deren Synthese mit der Anthroposophie einsetze, riss Steiner aus seiner faktischen geistesgeschichtlichen Irrelevanz und stellte ihn in eine Reihe mit Mussolini und Hitler:

„Rudolf Steiner war ein wahrhaft idealer Vorläufer des neuen Europa von Mussolini und Hitler. Ziel dieser Schrift war es, den Geist und die Figur dieses grossen, modernen, deutschen Mystikers für die Bewegung zu beanspruchen – eine Bewegung, die nicht nur politisch, sondern auch spirituell ist – eingeführt in die Welt von den zwei parallelen Revolutionen, der Faschistischen und der Nationalsozialistischen Revolution, denen Rudolf Steiner als echter Vorläufer und spiritueller Pionier in idealer Weise angehört.“ (Martinoli: Un preannunziatore della nuova Europa: Rudolf Steiner, in: La Vita Italiana, Juni 1943, S. 566, übersetzt bei Andreas Lichte)

Es waren gerade die idealistischen Aspekte der Anthroposophie, mit denen solche Autoren ihren faschistischen Enthusiasmus rechtfertigten. Erhard Bartsch, Pionier der biodynamischen Landwirtschaft, belehrte den jüdischen Anthroposophen und Nazigegner Hans Büchenbacher: “Wissen Sie, Herr Dr. Büchenbacher, wenn man wirklich michaelischen Geist hat, dann tritt man an die Seite von Adolf Hitler.” (zit. n. Büchenbacher: Erinnerungen 1933-1945, Archiv Info3, 8) Andere sahen in der Anthroposophie die ideale spirituelle Ergänzung zum ‘materialistischen’ Nationalsozialismus: „Rudolf Steiner kommt von oben. Hitler kommt von unten, und so geben sie einander die Hand.“ (zit. n. Dieter Brüll: Ein Bewusstsein war nicht vorhanden, in: Info3, 4/1999, 20) Büchenbacher, der als Vorsitzender der deutschen Anthroposophen 1935 “freiwillig” zurücktreten musste, schätzte rückblickend, “dass ungefähr 2/3 der Mitglieder mehr oder weniger positiv zum Nationalsozialismus sich orientierten.” (Büchenbacher: Erinnerungen, a.a.O., 17) Im faschistischen Italien war das Spektrum breiter:

“A number of Italian anthroposophists were antifascists, and several leading members of the small anthroposophical community in Italy werde Jews who fell victim to the Fascist racial campaign. Other anthroposophists participated wholeheartly in the racist agitation, advocating an esoteric variant of anti-Semitism … While not representative of the anthroposophist movement as a whole, the actions of Martinoli, del Massa and Scaligero are a stark indication of ‘the distorting and harmfull effects of viewing political events through an occult prism.’” (Peter Staudenmaier: Anthroposophy in Fascist Italy, in: Arthur Verluis u.a.: Esotericism, Religion, and Politics, Minneapolis 2012, 95f.)

Mentzels Artikel zieht die Anthroposophie letztlich in ein historisches Vakuum, “Zweifel” dient nurmehr zur spirituellen Erbauung, geschichtliche Zusammenhänge werden nur als unheilvoller Schmutz erwähnt, der verwandt werde, um Steiner schlimme Dinge anzuhängen. “Wird – Zander lässt grüßen – schon etwas hängen bleiben?” fragt sich Mentzel. Idealismus war mitnichten ein Gegensatz zum Nationalsozialismus und die spiritualistische Grundhaltung von Anthroposophen konnte sowohl pro- wie antifaschistisch ausgelegt werden. Aber eine solche Feststellung verträgt sich anscheinend schwer mit Erkenntnisgewinnung durch “Seelenkampf”. Letzterer scheint dunkle Kapitel der Geschichte nicht intellektuell, sondern nur moralisierend auffassen zu können. Helmut Zanders Geschichte der “Anthroposophie in Deutschland”, das in der Esoterikforschung als “the indispensable and almost inexhaustible foundation for all future scholarship about Anthroposophy” gilt (Wouter Hanegraaff: Western Esotericism. A Guide for the Perplexed, London/New York 2013, 179) wird in Mentzels Darstellung zum “brachiale[n] Monumentalwerk”, mit dem Titel “Anthropsophie heute” verballhornt, “das inzwischen als Zitat- und Stichworthalde, aus der man sich nach Belieben bedienen kann, nicht mehr wegzudenken” sei.

“Ungereimtheiten”

Aber der Reihe nach. Mentzel meint, meine “Schlampigkeit, gepaart mit Überheblichkeit” aufzeigen zu können und nennt einige Beispiele, von denen es noch mehr gebe. Das gehört zu den besseren Bestandteilen seiner Rezension und vielleicht ist es hilfreich, wenn ich diese “Ungereimtheiten” hier aufliste und, soweit möglich, kommentiere.

1. Ich versuche angeblich, Steiner einen “Blutsnationalismus” anzudichten.

Mentzel bezieht das auf folgende Bemerkung Steiners, die er aus irgendwelchen Gründen allerdings selbst nicht zitiert: “diejenigen, welche die äußeren Träger zum Beispiel jenes Blutes waren, aus dem ich stamme, sie stammten aus deutschen Gegenden Österreichs; da konnte ich nicht geboren werden. Ich selber bin in einer slawischen Gegend, in einer Gegend, die vollständig fremd war dem ganzen Milieu und der ganzen Eigentümlichkeit, aus der meine Vorfahren stammen, geboren.“ (GA 185,202) Mentzel kommentiert: “Hier einen Blutsnationalismus zu konstruieren, erscheint gewagt und dürfte tatsächlich einer umfassenden und genaueren Betrachtung nicht standhalten.” In der Tat, denn Steiner begründete mit diesen Worten, dass die (mitteleuropäische) Theosophie jedes “Spezialinteresse” überschreite und er selbst ein hervorragender Repräsentant dieses Umstands sei. Steiners Äußerung ist durchaus internationalistisch, aber das war – wie oben gesagt – für Steiner kein Gegensatz zu Blutsabstammung und dem Glauben an Volkscharaktere: Ihm schien beides kompatibel bzw. er erklärte das eine durch das andere. Hier hat Mentzel meine Darstellung anscheinend schlicht falsch verstanden. Das ist bedauerlich, denn Steiners Kombination von “Geist” und “Blut” war eben auch einer der Gründe, der Schulterschlüsse von Anthroposophie und völkischem Gedankengut den Weg ebnen konnte.

“…in diesem Nationalismus erwachte der früheren Zeit gegenüber, die der neuen Jugend kalt und hoffnungslos erschien wie der Romantik die Zeit der Aufklärung, das Gefühl eines neuen, drängenden, schwellenden, verbundenen Lebensgefühls, die Sehnsucht nach einem starken neuen Glauben. Zugleich wurde bewusst eine ethische und religiöse Verankerung des Nationalismus gesucht. Man knüpfte an Fichte an, der dem Nationalismus die Aufgabe zugeteilt hatte, die früher die Religion zu lösen hatte … Der Nationalismus wurde eine Frage der persönlichen Sittlichkeit, er wurde zur Vorbereitung einer messianischen Zeit.” (Hans Kohn: Martin Buber, Köln 1961, 95)

2. “Martins”, so Mentzel, “konstatiert, dass ‘Grundlegend für Steiners Vorstellung von Nation’ dessen ‘intellektuelle Sozialisation im Vielvölkerstaat Habsburg’ gewesen sei. Da mag man fragen: wo anders als dort, wo ein Mensch lebt, findet seine – auch intellektuelle – Sozialisation statt?”

Na also: geht doch. Mentzel scheint diesen Umstand aber in der Folge wieder zu vergessen (siehe 4.)

3. Meine Darstellung, dass Steiners Vater “die Ungarn nicht mochte”, sei zu “dramatisch”.

Mentzel unterstellt, dass diese so “dramatische” Feststellung meine sei, tatsächlich stammt sie von Steiner (vgl. GA 28, 50). Zum anderen gibt Mentzel ausführlich Steiners Begründung dieser Feststellung wieder, ohne sie selbst zu zitieren. Auch darin liegt kein wirkliches Gegenargument zu meiner Darstellung.

4. Steiner sei vom Nationalismus seines Vaters nicht angesteckt worden, Mentzel: “An den politischen Diskussionen in seinem Elternhaus war Steiner allerdings nur insoweit interessiert, als er es für wichtiger gehalten hatte, statt der politischen Inhalte der Diskussionen zwischen dem Vater und seinem Kollegen, der ihn als Bahnhofsvorsteher ablöste, ‘die Frage zu beantworten: inwiefern lässt sich beweisen, daß im menschlichen Denken realer Geist das Wirksame ist.’”

Letzteres Zitat stammt aus Steiners Autobiographie, die natürlich über jeden Zweifel erhaben ist. Denn “was Rudolf Steiner sagt, ist so”, wie es Mentzels Glaubensgenossin Mieke Mosmuller formuliert. Nimmt man Abstand von Steiners retrospektiver Selbstdarstellung, dann gibt es durchaus Belege dafür, dass Steiner früh und aus leicht erklärbaren Gründen (siehe 2.) nationalistische Standpunkte seines Vaters übernahm. So berichtete sein Mitschüler Albert Pliwa: „Als nun Rudolf Steiner einmal in Sauerbrunn ausstieg, wollte er seine Fahrkarte trotzig dem Portier nicht abgeben, weil auf dem Gebäude nicht der deutsche Name Sauerbrunn stünde, das ‚hunnische’ Savanyúkút verstände er nicht. Darauf holte der hinzukommende Stationschef als entrüsteter Magyar zu einer gewaltigen Ohrfeige aus, worauf Rudolf Steiner ihn mit ‚Hunne’ taktierte und sah, dass er aus dem Faustbereich des Schlagfertigen kam.“ (zit. n. Vögele: Der andere Rudolf Steiner, Dornach 2005, 23) Vögele kommentiert, die Stelle zeige, “wie sehr der Schüler Rudolf Steiner damals in den Gegensatz der Nationalitäten hineingestellt war und unter dem Einfluss der Stimmung seines Vaters gegen die magyarisierenden Ungarn, die seine Stellung bedrohten, den Anti-Ungarn herauskehrte…” (ebd.)

5. “Steiner, so Martins,” – so Mentzel – “hätte seine politische Haltung während seiner Studentenzeit als deutsch-national charakterisiert. Ärgerlich auch hier wieder ein Fehler, denn er nennt als Herkunft der Aussage GA31/361; es handelt sich aber um GA32.”

Das ist zutreffend und ein ärgerlicher Fehler meinerseits, ändert aber ebensowenig wie Mentzels folgendes Zitat aus dem nun richtig situierten Aufsatz auch nur das Mindeste an Steiners deutschnationaler Orientierung (und Steiners Bekenntnis dazu). Allerdings sieht Mentzel das anders:

6. “Ebenso eindeutig können die Worte Steiners aber auch stehen für eine nüchterne Betrachtung und eine selbstkritische Betrachtung seiner damaligen politischen Haltung.”

Nun findet sich in Steiners Worten aber nunmal keine Selbstkritik und Mentzel nennt auch keine Anhaltspunkte, wo und wie man eine solche auftreiben könne. Aus seiner unbelegten Behauptung leitet er allerdings auch schon den nächsten Vorwurf an mich ab:

7. “Für Martins aber reicht es, unter anderem aus diesen Aussagen abzuleiten, Steiner hätte seinen ‘Nationalismus allerdings zusehends’ politisiert.”

Das ist im Grunde richtig, aber wesentlich eindringlichere Belege für diese Politisierung finden sich in denjenigen Aufsätzen, die Steiner in den fraglichen deutschnationalen Wiener Jahren geschrieben hat. Mentzel lässt diese unzitiert und beschränkt sich auf Steiners retrospektive Deutungen.

8. “Wer”, so bzw. so wie Mentzel, “die heutigen Debatten um Griechenland, Italien oder Spanien in Bezug auf die Euro-Frage oder die Frage von Zuwanderung etc., die damit verbundenen ‘politischen Kämpfe’ [Steiner] und damit den Anteil, den politisch interessierte Zeitgenossen daran nehmen, aufmerksam verfolgt, kann die aufgeregten Kommentierungen von Steiners damaligen nationalen Aussagen eigentlich nur noch mit einem müden Lächeln quittieren.”

Ein Vergleich von EU und der Habsburger “Nationalitätenfrage” wäre sicher aufschlussreich. Ich halte Mentzels Fokus dazu allerdings für ungeeignet: Es geht um die Auswirkungen des Nationalismus und nicht darum, welcher “müder” sei als der andere.

9. Grund meiner angeblichen Ungereimtheiten sei wohl der Wunsch, “…eine Generalabrechnung mit denen zu führen, die Steiner nach Martins Meinung als Säulenheiligen verehren wollen und dies auch noch offensiv nach außen vertreten.”

An dieser Stelle ist es vielleicht angebracht, a) zu erwähnen, dass Mentzel meine Mailadresse hat, heißt: mich nach meinen Intentionen auch selbst fragen könnte, b) mich einmal selbst zu zitieren, da ich die ominöse Intention meiner Darstellung im Buch selbstverständlich ausführe – und zwar wie folgt: “Mir scheint es … wichtig, die ambivalenten Züge seines [Steiners] Denkens kenntlich zu machen, und zu verstehen, wie Steiner zu rassistischen Äußerungen kam, ohne darüber den kritischen Blick zu verlieren.” (S. 141) Dass sich dabei Differenzen zu anthroposophischen Hardlinern auftun, lässt sich nicht vermeiden, ist allerdings Folge und nicht Ursache meiner Darstellungen.

10. “Einer von Martins ärgsten Feinden”, berichtet Mentzel, “scheint der Publizist Lorenzo Ravagli zu sein, dem er in den vergangenen Jahren mehr als einmal ellenlange Pamphlete widmete, denen ein reichlich lockerer Umgang mit den Aussagen Steiners zu eigen war.”

Lorenzo Ravagli gehört bei aller Kritik sicher zu den klügsten und vornehmsten anthroposophischen Steiner-Deutern. Gerade weil Ravagli jedoch langjähriger Herausgeber eines “Jahrbuchs für anthroposophische Kritik” und Co-Autor einer der besten anthroposophischen Studien über “Kontinuität und Wandel” in Steiners Denken (Stuttgart 2003) ist, halte ich es für unmöglich, seine Verkürzungen, Verfälschungen und Affirmationen der Steinerschen Rassenlehre ernstzunehmen. Um nicht allzuweit vom Thema abzukommen, hier nur eines der offensichtlichsten Beispiele. Zu einem Steiner-Vortrag über Rassen und Hautfarben von 1923 bemerkt Ravagli: “Zwar bewegen sich die Ausführungen Steiners in diesem Vortrag insgesamt im Rahmen von Typenvorstellungen, diese beziehen sich aber, nach einer Bemerkung Steiners, ausdrücklich nur auf den Leib des Menschen, von dem das Geistig-Seelische mehr oder weniger unabhängig ist. ‘Sehen Sie meine Herren, alles dasjenige, was ich ihnen jetzt geschildert habe, das sind ja Dinge, die im Leibe des Menschen vor sich gehen. Die Seele und der Geist sind mehr oder weniger unabhängig davon.’” (Ravagli: Zanders Erzählungen, 288) Das ist korrekt zitiert, aber aus dem Kontext gerissen. Steiner sagte (die von Ravagli ausgelassenen Sätze im Folgenden kursiv): “Sehen Sie, meine Herren, alles dasjenige, was ich Ihnen jetzt geschildert habe, das sind ja die Dinge, die im Leibe des Menschen vor sich gehen. Die Seele und der Geist sind mehr oder weniger unabhängig davon. Daher kann der Europäer, weil ihn Seele und Geist am meisten in Anspruch nimmt, Seele und Geist am meisten verarbeiten. Der kann es am ehesten vertragen, in verschiedene Erdteile zu gehen.” (GA 349, 62) Das sei anderen “Rassen” versagt: Afrikaner in Amerika würden zu Indianern: “…sie gedeihen nicht, sie gehen zugrunde” (ebd., 63) Von Asiaten, die in den Süden zögen, berichtete Steiner, dass sie körperlich zerbröckelten und an der Sonne stürben (ebd., 61)

11. “Eine weitere – nur als kurios zu bezeichnende – Schlussfolgerung” findet Mentzel in meiner Darstellung von Steiners frühen theosophischen Jahren. Steiner deutete 1903 eine Reihe deutscher Mystiker, Dichter und Philosophen ebenfalls als Theosophen. Unter anderem den Idealisten Schelling (vgl. GA 34, 534). Im selben Zeitraum redete Steiner jedoch auch über “Schelling, der selbst kein Theosoph war” (GA 52, 39). Offenbar widerspricht sich Steiner hier selbst. Meine Interpretationshypothese ist, dass Steiner auf verschiedenen Wegen versuchte, den deutschen Idealismus und damit weite Teile seiner frühen Schriften einer theosophischen Relektüre zu unterziehen. Für Mentzel ist das ein “Vorwurf” an Steiner. “Auch hier” sei es “ratsam, sich die in Rede stehenden Stellen genauer anzusehen.” “Für Martins aber sind solche Aussagen einmal mehr ein Anlass, Steiner zu unterstellen: ‘seine intellektuelle Biographie in ein Leben für diese ‘deutsche Theosophie’ umzudeuten’. Wird – Zander lässt grüßen – schon etwas hängen bleiben?”

Leider erläutert Mentzel mit keinem Wort, was an meiner Deutung vorwurfsvoll oder kurios sei. Wieder hat er kein Gegenargument. Wieder zitiert er Steiners (von mir angegebene) Aussagen ausführlicher als ich selbst und wieder bleibt Steiners Widerspruch dennoch bestehen. Wieder imaginiert Mentzel meine Darstellung anscheinand als böswollende ‘Unterstellung’, von der – “Zander lässt grüßen” – irgendetwas Schlechtes an Steiner hängenbleiben solle. Nicht Steiners Widersprüche scheinen für ihn ein Problem zu sein, sondern der Umstand, dass man diese interpretiert.

12. “Dass Martins”, so Mentzel, “es nicht so ganz genau mit den Worten nimmt, die er dem Gegenstand seiner ‘Studie’ in den Mund legt, ist auch dort zu bemerken, wo es um den Dichter Ludwig Jacobowski geht, dessen Tod er im gleichen Absatz seines Textes ins Jahr 1901 und wenige Sätze später auf den 2. Dezember 1900 datiert, was man hier aber auch dem Lektorat anlasten könnte.”

Zwar hat Mentzel bisher nicht nachgewiesen, wo (oder auch nur: dass) ich Steiner etwas fälschlich “in den Mund” legte und mit was davon ich es nicht so genau nähme. Aber hier glückt ihm eine zweite Trouvaille: Offenbar habe ich mich bei Jacobowskis Todestag vertippt, das ist ein wirklich bedauerlicher Schnitzer, der nicht erst auf das Lektorat zurückfällt.

13. Weiter zu Jacobowski: “Reichlich absurd allerdings wirkt Martins Vermutung, Steiners Artikel, in denen er eine klare Stellungnahme gegen den Antisemitismus erkennen lässt, könnten ein ‘posthumes Geschenk’ [Zander] an den verstorbenen Freund Jacobowski sein.”

Erneut erläutert Mentzel nicht, was an der Vermutung absurd sei. Aus meiner Sicht ist sie die bisher plausibelste Deutung. Noch 1897 hatte Steiner die Antisemiten als “ungefährliche Leute” verharmlost: “Viel schlimmer als die Antisemiten sind die herzlosen Führer der europamüden Juden, die Herren Herzl und Nordau.” (GA 31, 199f.) Ein Jahr später lernte er Jacobowski kennen, der für den “Verein zur Abwehr des Antisemitismus” arbeitete. Jacobowski gehörte zu Steiners engeren Freunden – nach seinem Tod schrieb Steiner Artikel für den Verein.

14. Weiter möchte Mentzel “fragen, warum Martins der kurzen Begegnung Steiners mit dem Antisemiten Treitschke einen solch breiten Raum gibt (3 Seiten), die Freundschaft Steiners mit dem Juden Jacobowski aber in ein paar dürren Sätzen abhandelt…”

Die Begegnung Steiners mit “dem Antisemiten Treitschke” nimmt im Buch keine drei Seiten ein, sondern genau sieben Zeilen. Die Begegnung mit Jacobowski umfasst zwölf Zeilen und eine der von Mentzel so gefürchteten Fußnoten. Möglicherweise hätte Mentzel seinen eigenen Rat, “sich die in Rede stehenden Stellen genauer anzusehen”, selbst besser befolgen können.

15. Ferner bildeten meine Darstellung der Freundschaft Steiner-Jacobowski “noch nicht einmal die Realität” ab. Schließlich habe Steiner Jacobowski “einen ganzen Artikel gewidmet und darin gesagt, dass der Freund seine literarischen Tätigkeiten nicht zuletzt deshalb reduziert hatte, weil er seine Aufmerksamkeit stärker auf die politische Ebene – ‘in Verbindung mit der Kulturentwicklung’ gerichtet hatte.”

Dass der Kolumnist, Journalist und Essayschreiber Steiner seinem Freund Jacobowski sage und schreibe “einen ganzen Artikel” widmete, diese weltbewegende Fügung habe ich in der Tat nirgends so festgehalten, sondern von so etwas Profanem wie “gegenseitiger literarischer Wertschätzung” gesprochen. De gustibus est disputandum. Um meine schlimme Verdrehung der Realität richtigzustellen, zitiert Mentzel wieder Steiner, ohne das Zitat zu kommentieren oder daraus abzuleiten, was denn nun mein Fehler gewesen sei. Bemerkenswert ist, dass er unter anderem auch folgende Sätze Steiners zitiert: “Er [der Antisemitismus] verletzte ihn [Jacobowski] tief in seinen persönlichsten Empfindungen. Nicht etwa deshalb, weil er mit diesen Empfindungen an dem Judentume hing. Das war durchaus nicht der Fall. Jacobowski gehörte vielmehr zu denen, die mit ihrer inneren Entwickelung längst über das Judentum hinausgewachsen waren.” (GA 33, 191) In der Tat  geben diese Worte über Steiners Beziehung zu “dem Juden Jacobowski” Auskunft: ‘Gute’ Juden waren für Steiner seit dem Kommen Christi nur diejenigen, die “über das Judentum hinausgewachsen” seien, die “frei” seien von jener “konfessionellen oder Rassebeschränktheit” (GA 28, 280), die Steiner der jüdischen Tradtion ohne Grund und Begründung unterstellte. Steiners Antisemitismus war assimilatorisch: Die Juden sollten weniger jüdisch sein und sich mit den restlichen “Völkern” vermischen. Mentzel zitiert diese Äußerung zwar, aber makabererweise gerade als Beleg dafür, ich hätte Steiners Freundschaft zu Jacobowksi verkürzt dargestellt.

16. Nach Jacobowski springt Mentzel in den letzten Teil meines Buchs und ins Kapitel über Steiners Gesellschaftsutopie der “sozialen Dreigliederung”. “Auch” dieses sei “wenig ergiebig”.

Auch hier liefert er keine Belege für Ungereimtheiten oder Fehler.

17. Anschließend spekuliert Mentzel über meine angeblich “immer etwas aufgeregt klingende Redeweise”. Als Beleg zitiert er folgenden Satz aus meinem Buch: “In Steiners pädagogischen, medizinischen oder nationalökonomischen Vorträgen kamen Rassenbegriffe auf hunderten von Seiten überhaupt nicht vor.” Dieser Satz klinge “bedauernd” oder eben “empört”.

18. Es folgt ein weiterer Sprung ins Jahr 1923. Mentzel: “Als Beleg seiner Ansicht, dass der Rassimus Steiners Werk durchziehe, bringt Martins – natürlich – auch das Beispiel von der Lehrerkonferenz der Stuttgarter Waldorfschule, auf der der damalige Waldorflehrer Karutz die Abschaffung des Französischunterrichts gefordert hatte.”

Ich vermute, das suggestive “natürlich” soll eine Redundanz meiner Darstellung nahelegen. Auch diese Einschätzung seinerseits ist freilich legitim. Richard Karutz war allerdings kein Lehrer an der Stuttgarter Waldorfschule, diese wurde von seinen Kindern besucht. Auch hier hätte Michael Mentzel vielleicht seinen eigenen Rat, genau nachzulesen, selbst besser befolgen können (vgl. GA 300b, 276).

19. Die folgende Diskussion über die Abschaffung des dekadenten Französischunterrichts an der Waldorfschule empfiehlt Mentzel seinen Lesern wieder zur näheren Lektüre. Denn: “Steiner lehnte eine Diskussion über die Frage nach der Abschaffung des Französischunterrichts ab, nicht zuletzt weil er sich den Gegebenheiten der staatlichen Schulaufsicht bewusst war.”

Wie leider so oft in anthroposophischen Darstellungen reißt Mentzel diese Position Steiners aus dem Zusammenhang. Für Steiner hatte Französisch an der Waldorfschule “verschiedene Seiten. Die erste ist die geistig-kulturelle Seite.” (ebd.) Geistig-kulturell sei Frankreich nämlich der erste “Vortrupp des untergehenden Römertums, der untergehenden romanischen Völker Europas” (ebd., 277), die französische Sprache sei oberflächlich und im Gegensatz zum Deutschen dirigiere sie den Menschen, höhle ihn aus. Steiner hielt es für notwendig, “daß der französische Unterricht aus wirklich inneren Wesensgründen allmählich verschwinde. Es ist auch ganz selbstverständlich, daß er in der Zukunft wirklich aus dem Unterricht verschwindet. Nun, etwas anderes liegt in diesem Moment vor, wenn die Waldorfschule in radikaler Art den Anfang machen sollte … auf der anderen Seite ist es absolut ausgeschlossen, daß wir von der Waldorfschule den Anfang machen mit dem Kampfe für die Abschaffung der französischen Sprache. Das ist aus äußeren Gründen nicht möglich. Wir haben ja noch kein freies Geistesleben…” (ebd., 278) Lediglich den letzten Punkt stellt Mentzel dar und erwähnt Steiners Hetze gegen Frankfreich nur in dem Halbsatz “Die Lehrer seien sich zwar darüber klar, so Steiner, dass die französische Sprache in der Dekadenz sei…”. Hier hätte Mentzel wenigstens den Unmut der Französischlehrer festhalten können, die ihre eigene spirituelle Erklärung ihres Fachs hatten. Lehrer(in?) “X” brachte ein: “Ich möchte nur sagen, wie es mir persönlich geht, wenn ich Französisch gebe. Ich steigere mich, ich schwimme. Nichts ist so anstrengend wie das Französisch- Unterrichten.” Steiners Antwort: “Wenn es im guten Sinne wäre, so würde ich Ihnen raten, steigern Sie sich bei den anderen Dingen mehr.” (ebd., 283)

Wider die Eindeutigkeit

Von den angeblichen Ungereimtheiten meines Buchs, die Mentzel unterstellt, bleibt bei näherer Betrachtung zweierlei übrig: Ich habe darin Ludwig Jacobowskis Todesjahr einmal falsch datiert und eine Quellenangabe ist unrichtig – Ich schreibe GA 31, wo GA 32 stehen müsste. Ich bin auch von anderer Seite auf eine falsche Datierungen eines Steiner-Aufsatzes von 1906 hingewiesen worden. Und es wird sicher wirkliche Ungereimtheiten und Stellen geben, an denen das Buch zu kurz greift oder die man schlicht ausführlicher hätte behandeln können. Viel mehr ließe sich beispielsweise zur Dreigliederung und zu Steiners lebensreformerischen Ansätzen sagen.

Dennoch: In Mentzels Rezension kann ich dazu wenig Brauchbares finden. Zwar lässt er gegen Ende den Erkenntnis-Wert des Zweifels anklingen und meint, mein Buch werde der Anthroposophie nicht schaden:

“Wer den Versuch macht, das Werk Rudolf Steiners auch im Hinblick auf Martins Intentionen zu durchdringen und damit bereit ist, eine – stellenweise tatsächlich vorhandene und auch nicht wegzuleugnende – Ambivalenz in Steiners Denken auszuhalten, wird belohnt durch die Erfahrung, dass es für die Entwicklung seiner eigenen Gedankenwelt nur mehr förderlich sein kann, wenn er bereit ist, den persönlichen Seelenkampf in die Wagschale zu werfen und die eigene Auseinandersetzung mit dem Zweifel als Möglichkeit zur erweiterten eigenen Erkenntnis zuzulassen. Insofern wird Martins Buch der Anthroposophie keineswegs schaden, wie manche vermuten.”

Ich danke für die Einschätzung, doch der Rest des Artikels besteht aus Steiner-Zitaten und Vorwürfen an meine Darstellung, die entweder unbegründet sind oder von Mentzel zumindest nicht belegt, sondern nur als absurd betitelt werden. Vielleicht ist dieses Problem ihm selbst nicht verborgen geblieben, denn er fürchtet: “Die zarten Versuche der Beschreibung der Empfindungen, wie sie vor der Seele und den Augen eines – der heutigen Steiner-Kritik gegenüber – kritisch eingestellten Zeitgenossen auftauchen, werden als Versuche der Reinwaschung, als apologetische Irrfahrten durch eine Geschichte gebrandmarkt werden, deren Eindeutigkeit doch schließlich nicht mehr zu übersehen sei.”

Wenn es einen Beleg dafür gibt, dass Mentzel mein Buch nur flüchtig gelesen oder schlicht nicht verstanden haben könnte, dann diesen Satz. Es ist gerade die Eindeutigkeit, der Versuch, Steiner zum lichten Gegner allen Rassedenkens oder zum finsteren Gegenaufklärer zu stilisieren, gegen die das Buch geschrieben wurde. Mentzel selbst unterstellt diese fiktive Eindeutigkeit, wenn er meinem Buch ausgerechnet positiv anrechnet, “dass Steiner auch darauf hingewiesen hat, dass sein Anliegen in einem idealistisch zu verstehenden Sinn zu werten ist und eben nicht ein national gefärbter Hurrapatriotismus deutscher Provinienz ist.” Dass Idealismus und Hurrapatriotismus, Individualismus und Nationalismus, Spiritualismus und Rassismus – leider – keine Gegensätze sind, das wenigstens hätten Leser aus meinem Buch lernen sollen. Das ist scheinbar zu viel verlangt, aber das war zu erwarten und deshalb kann ich immerhin zwei Sätzen Mentzels ungebrochen zustimmen:

“Es wird kommen, wie es immer kommt. Dessen ist sich der Verfasser der nachfolgenen Zeilen so gewiss, wie das ‘Es keimen die Pflanzen’ am Mittagstisch aufrechter Anthroposophen.”

Das ist der Verfasser dieser Zeilen auch.


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Steiner auf der Siegessäule

Vorwort AM – In diesem Fall mit ausdrücklicher Leseempfehlung der Artikel eines anthroposophischen Autoren: von Ramon Brüll, Geschäftsführer der Frankfurter Zeitschrift Info3. Diese Rezension erscheint in der März-Ausgabe von Info3, die auch als kostenloses Probeheft verfügbar ist.
Brüll zerpflückt eine neue 2000-seitige Rudolf Steiner-Biographie des Autoren Peter Selg als “Restauration eines Heiligenbildes”, “der Doktor” stehe “wieder da, wo er hingehört – auf seinem Sockel.” Streiten kann man über das “Ansehen Rudolf Steiners in der Öffentlichkeit” – aber der Artikel zeigt mehr als die (schlechte) Qualität einer neuen Steiner-Biographie: Es ist ein Dokument zur inneren Diversität der anthroposophischen Szene. Der Kampf darum, wie das Werk des Anthroposophie-Gründes Steiner zu lesen und zu verbreiten sei, wird dort vielleicht gerade neu entschieden.

von Ramon Brüll

Peter Selgs neue Steiner-Biographie bemüht sich über 2.000 Seiten um die Restauration eines Heiligenbilds. Das ist nicht nur unwissenschaftlich, es bleibt auch weit hinter dem Stand der Diskussion zurück und schadet dem Ruf der Anthroposophie.

Dieses Werk ist Restauration. Diejenigen Anthroposophen, für die Steiner immer schon unfehlbar, seine Arbeit widerspruchs- und sein Leben tadellos war, werden über das Erscheinen der drei Bände jubeln: 2.000 Seiten Salbe für die geschundenen theosophischen Seelen, die Zurechtrückung ihres Weltbildes aus berufenem Munde. Endlich beschreibt einer den wahren Steiner, so wie „wir“ ihn immer schon haben wollten. Der Doktor steht wieder dort, wo er hingehört – auf seinem Sockel. Denn, wir wissen doch, das einzig Tragische im Leben Rudolf Steiners war sein früher Tod, und, vielleicht, die fehlende Anerkennung von Seiten seiner Zeitgenossen. Aber daran waren natürlich diese selber schuld.

Was Peter Selg mit seiner neuen Steiner-Biographie in Wahrheit leistet ist mehr als nur die Restauration eines Heiligenbildes. In seinen Augen steht Steiner hoch erhoben über dem gemeinen Volk der zeitgenössischen Denker. Nicht auf einen Sockel erhebt ihn Selg, sondern höher noch: auf eine Siegessäule. Das dürfte aus der Sicht der genannten, zahlenmäßig nicht ganz unerheblichen Fraktion innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft unerlässlich gewesen sein und wäre harmlose Nahrung für die Gemeinde, wäre da nicht noch die Öffentlichkeit. Im Kulturleben, im Wissenschaftsbetrieb, in den Feuilletons der ernstzunehmenden Medien ist im 21. Jahrhundert kein Platz für einen Heiligen (und war es auch im 20. Jahrhundert nicht), und wenn einer als solcher vorgeführt wird, erscheint er schlicht unglaubwürdig. Mit der Veröffentlichung seiner „Lebens- und Werkgeschichte“, so der Untertitel, disqualifiziert Selg sich als Wissenschaftler. Und schadet, was schlimmer ist, der Akzeptanz Rudolf Steiners in der Öffentlichkeit.

Unseriöse Auslassungen

Nehmen wir etwa das Geburtsdatum. Laut Selg wurde Rudolf Steiner am 27. Februar 1861 geboren. Dass es widersprüchliche Angaben dazu gibt, dass Steiner selbst ein anders Datum nennt als in den amtlichen Dokumenten vermerkt, davon erfährt der Leser kein Wort. Es wäre ja fatal, wenn die Geburt eines Unfehlbaren nicht zweifelsfrei feststünde. Dass Selg die Problematik kennt, aber verschweigt, ergibt sich aus einer Fußnote, die auf einen Beitrag aus Das Goetheanum  hinweist, wo eine heftige Debatte, mit (beiderseits) stichhaltigen Argumenten für den 25. oder 27. Februar geführt wurde. Warum sich Selg für das spätere Datum entscheidet, erfährt man ebenso wenig, wie die Tatsache der geführten Diskussion. Das ist unseriös. Ähnlich wie der handfeste Streit um den Verbleib von Steiners Urne nach der Kremation,  den Selg nicht erwähnt . „Allzumenschliches“ wollte Selg nach eigener Angabe nicht behandeln. Bei diesem Streit ging es aber nicht vorrangig um ein Eifersuchtsdrama (obwohl es das auch war), sondern um erste Anzeichen einer tiefen Kluft durch die Anthroposophische Gesellschaft.

Warum fehlt, um ein sehr viel früheres Beispiel zu nennen, die Ambivalenz Steiners zum Judentum? Warum erwähnt Selg mit keinem Wort die Hamerling-Besprechung, die Steiner fast die Freundschaft mit Ladislav Specht gekostet hat, in dessen Familie er Hauslehrer war? Stattdessen finden wir in Bezug auf das Judentum ein einziges Zitat von Lorenzo Ravagli, das Steiners unumstößliche Ablehnung jeglichen Antisemitismus belegen soll. Warum kommt die ganze problematik rassistischer Aussagen Steiners nicht einmal als Fragestellung vor?

Jede Klippe umschifft

Warum wird die Dramatik um die Umbenennung des Goetheanum-Bauvereins am 8. Februar 1925, kurz vor Steiners Tod, nicht erwähnt, obwohl sie jahrelang die Gemüter bewegt hat, bis die Wahrheit ans Licht kam und die endgültige Zunichtemachung der mit der Neugründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft verbundenen Sozialgestalt nicht mehr zu vermeiden war? Peter Selg umschifft jede Klippe, die das idealisierte Steinerbild, oder, wie er es nennt, die „innere Kontinuität einer unvergleichlichen Lebensarbeit“ ankratzen könnte. Dazu passt natürlich auch, dass die rätselhafte Verehelichung Rudolf Steiners mit seiner Hauswirtin Anna Eunike ebenso wenig auffindbar ist wie die Entfremdung der beiden voneinander, als Steiner in theosophischen Kreisen und insbesondere bei Marie von Sivers Gehör fand.

Vielleicht sind diese „allzumenschlichen“, aber für eine Biographie selbstverständlichen Gegebenheiten irgendwo im Kleingedruckten versteckt. Leicht auffindbar sind sie jedenfalls nicht. Ein Personenregister fehlt. Das Inhaltsverzeichnis ist extrem grobmaschig und wenig hilfreich, wenn die Leser konkreten Fragestellungen nachgehen wollen. Zum Schluss dachte der Rezensent, dann wenigstens im Literaturverzeichnis nachschlagen zu können, welche Quellen Selg zu Rate gezogen hat – und fand dort ausschließlich eine Auflistung der Bände der Rudolf Steiner Gesamtausgabe! Damit erfüllt das Werk nicht einmal formal wissenschaftliche Kriterien und bleibt weit, sehr weit hinter dem Stand der Diskussion über die Bedeutung des Gründers der Anthroposophie zurück. Dies ist kein Beitrag „für die Zukunft der anthroposophischen Bewegung“, wie Selg seine umfangreiche Arbeit verstanden wissen will, sondern ein Bärendienst für die Rezeption des tatsächlich unvergleichlichen Lebenswerkes Rudolf Steiners.


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Theosophie und Anthroposophie – ein Workshop kartiert den “Stand der Erforschung”

Um den “Stand der Erforschung der Theosophie und Anthroposophie” drehte sich vom 28. Februar bis zum 1. März 2013 ein Workshop im Schweizerischen Fribourg. Geladen hatte Helmut Zander, der vor Ort den Lehrstuhl für Vergleichende Religionsgeschichte und interreligiösen Dialog inne- und eine Reihe aufsehenerregender Publikationen zur Geschichte der Anthroposophie vorgelegt hat. Neben inhaltlichen Vorträgen und Diskussionen (Zander: “Streiten, am besten heftig”) stand auch das Ziel einer längerfristigen Vernetzung auf dem Programm. Bilder gibt es hier.

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http://unifr.ch/screl/assets/files/IntWorkshop_TheoAnthroposophie_RLY.pdf

Die Einführungs- und Begrüßungsrunde zeigte nicht zuletzt die Breite der erkundeten Bereiche: Vom Spiritismus über die Rezeption des Orientalismus in Helena Blavatskys frühem Werk “Isis Entschleiert”, die Entwürfe theosophischer Einzelakteure wie Anna Kingsford und bis zu den Transformationen der Anthroposophischen Medizin in die Gegenwart reichen aktuelle Forschungs- (meist Dissertations-)projekte.

Helmut Zander erläuterte in seinem einleitenden Vortrag mit dem Titel “Forschungsperspektiven zur Theosophie und Anthroposophie: gegenstandsbezogene und systematische Überlegungen” aktuelle Akteure, Geschichte und Perspektiven der Esoterik-Forschung, freilich mit besonderem Augenmerk auf Theosophie und Anthroposophie. Er zeigte eine Landschaft im Umbruch, der weder die disziplinäre Eingrenzung des Etiketts “Esoterikforschung” noch die Fokussierung auf binnen-theosophische Aspekte völlig gerecht werde. Regional-kulturelle Ausprägungen theo- bzw. anthroposophischer Bewegungen könnten stärker in den Blick genommen werden, ebenso deren Rolle in politischen Diskursen ihrer Zeit – von der Stärkung der indischen Unabhängigkeitsbewegung durch die Theosophie bis zur Rezeption und Förderung anthroposophischer Landwirtschaft durch nationalsozialistische Behörden. Auch die angenommene ‘Marginalität’ esoterischer Gruppen und Einflüsse stellte Zander zur Debatte: Dies sei zunächst eine Zuweisung und noch kein Urteil über das innovative Potenzial der so eingeordneten Gruppen. Bei vielen Intellektuellen des 19. und 20. Jahrhunderts sei eine Beschäftigung mit Theo- oder Anthroposophie zu verzeichnen, teils als oberflächliche Annäherung, teils als prägende Phase. Dabei stelle der Gegenstand teilweise liebgewonnene religionswissenschaftliche Kategorien in Frage.

Die weiteren Vorträge und Diskussionen der zwei Tage bestätigten (oder mehr noch: erweiterten) diese forschungsperspektivischen Anregungen. Dabei zeigten sich verschiedenste systematische und inhaltliche Herangehensweisen. Den Einzelstudien gewidmeten Teil eröffnete Julian Strube (Heidelberg) mit einem beeindruckenden Vortrag über die “Entstehung des Okkultismus im 19. Jahrhundert”, genauer: Éliphas Lévi (Alphonse Louis Constant, 1810-1875), der den Begriff ‘Okkultismus’ entscheidend prägte und gern als Revitalisierer esoterischer Traditionen dargestellt wird. Strube konnte in Absetzung von dieser Kolportage zeigen, dass Constant/Levi entscheidend durch ‘utopistisch’-frühsozialistische und ‘neo-katholische’ Strömungen in Vorfeld und Nachgeschichte der französischen Februarrevolution geprägt war. Sein ‘Okkultismus’ sei aus religiös-sozialistischen Zirkeln erwachsen und erst später etwa mit Motiven aus Tarot, ‘Magie’ und Kabbala gefüllt worden.

Anschließend sprach Maria Moritz (Berlin) am “Fall Krishnamurti” über “Die Theosophische Gesellschaft als Wegbereiterin und Verliererin gesellschaftlicher Innovation am Beginn des 20. Jahrhunderts”. Die Inszenierung Krishnamurtis als globalem Messias las sie vor dem Hintergrund der theosophischen Zentralidee einer ‘universal brotherhood’. Diese habe in Spannung zur stark hierarchischen Struktur der Krishnamurti-Verehrung gestanden – bis der gesuchte Weltheiland selbst seinen “Orden des Sterns im Osten” mit dem berühmten agnostisch-’spirituellen’ Statement von der Wahrheit als “pfadlosem Land” auflöste.

Robin Schmidt von der Dornacher “Forschungsstelle Kulturimpuls” setzte den Nachmittag mit einem Überblick über die dokumentarischen Schätze der anthroposophischen Archiv-Landschaft fort. Im Rahmen der Tagung zeigte sich hier auch der unverzichtbare Austausch mit ‘Insidern’ der erforschten Strömungen – wenngleich nun die Arbeiten Schmidts gerade zu den wenigen anthroposophischen Studien gehören, die mit den Maßstäben historisch-kritischer Forschung mühelos mithalten können. Bruno Michon (Strasbourg) beschloss den offiziellen Teil mit einem “Call for Project” für einen soziologischen Vergleich zwischen französischer und deutscher Anthroposophie. Die denkbar unterschiedliche Verankerung der Anthroposophie in beiden Ländern ist bekannt, aber nie näher untersucht worden – dies wäre vielleicht die erste größere sozialwissenschaftliche Arbeit zur Anthroposophie überhaupt.

Mit dem so anregenden wie uferlosen Thema “‘Buddhismus’ zwischen ‘Religion’ und ‘Philosophie’” eröffnete Sarah Vandenreydt (Zürich) den zweiten Tag des Workshops. Diese Einordnung wird zwar bis heute sehr unterschiedlich vorgenommen. Vandenreydt zeigte jedoch ihre Ursprünge in der Buddhismus-Adaption/Rezeption/Konstruktion bei Blavatsky und Friedrich Max Müller (1823-1900) auf, der gemeinhin als ‘Gründer’ der Vergleichenden Religionswissenschaft gilt. Nicht nur zwischen beiden Deutungsmonopolen kam es zu Konflikten. Auch inner-theosophisch konnte ein stärker spiritistisches oder ‘buddhistisch-philosophisches’ Selbstverständnis zu sehr unterschiedlichen Bewertungen etwa sog. ‘Wunder’ führen. Der Vortrag zeigte (neben vielem anderen) einmal mehr die polyvalente Stellung der Theosophie zwischen ‘westlichem’ Kulturimperialismus, Vermittlerin ‘östlicher’ Traditionen und Teilhaberin religiösen und wissenschaftlichen Wandels.

In der Folge navigierte Bernadett Bigalke (Leipzig) die TeilnehmerInnen unter dem Titel “Die Verbindungslinien zwischen Theosophie und Lebensreform 1895-1914 in Leipzig” zielsicher durch den esoterischen Irrgarten des frühen 20. Jahrhunderts. Dabei wertete sie unter anderem zeitgenössische Zeitschriften (und darin Anzeigen, Veranstaltungen, aufkommende touristische Angebote oder Partner- und Ratgeber-Annoncen) aus. Bigalke zeigte dichte personelle und ideologische Verflechtungen und Konflikte zwischen alternativkulturellen, spiritistischen und theosophischen Lebens- und Gesundheitskonzepten. Die waren vielfältig und ekklektisch, aber dabei nicht wahllos beliebig. Eine wichtige Komponente dieser alternativreligiösen Szene sei ein vom Körper- bis zum Seelenheil reichender “Reinheitsdiskurs” im mittelständischen Bürgertum gewesen, in dem u.a. theosophische Mediziner (erfolgreich) versuchten, spiritistischen Konkurrenten den Rang abzulaufen – und der sich keinesfalls auf eine ‘Krise des Kaiserreichs’ reduzieren lasse.

Mit einem Beitrag zu Bewertungen von Judentum und Antisemitismus in der Anthroposophie, vor allem im Denken jüdisch-stämmiger Anthroposophen, kam auch ich zu Wort. Besagte jüdisch-stämmige Anthroposophen gingen unterschiedlich mit ihrem ‘Judentum’ um: Von dezidiert jüdischen Selbstverortungen, die sich jedoch meist mit Steiners Christozentrik für kompatibel erklärten (Ernst Müller, Adolf Arenson), bis zur Übernahme einer stramm antijüdischen Haltung (Friedrich Hiebel, Karl König). Ausgangspunkt war Hans Büchenbacher, der in seinen nach 1945 veröffentlichten Texten eine stark pessimistisch-krisenhafte Gegenwartsdiagnose entwarf (“…dass der Christus-Impuls im Ich nicht wirksam ist”) und in seinen unveröffentlichten Memoiren eine okkulte Ausdeutung der “nazistischen Sünden der Dornacher” vornahm. Davon ausgehend stellen sich nicht nur Fragen zur ideologischen Verflechtung von anthroposophischem und Nazi-Antisemitismus, sondern auch zur inneren Diversität der anthroposophischen Szene.

Die Diskussion zu den verschiedenen Präsentationen fiel sehr sachlich, bedächtig und höchstens am Rande mal strittig aus. Gemeinsame Fragen vieler Projekte und Teilnehmer waren u.a. die nach historischen Transformations- und Internationalisierungsprozessen in den einzelnen theosophischen Gruppierungen. In einem Abschlussresümee wies Zander auf weitere Punkte hin, so die binnenperspektivische Trennung von “Theo(-/Anthropo)sophischer Gesellschaft” und “theo(-/…)sophischer Bewegung”. Dies sei eine relevante Differenz zu vielen ‘hegemonialen’ Verständnissen von religiöser Mitgliedschaft. Zuletzt wurde die weitere Vernetzung bzw. Bildung von Foren und Veranstaltungen ins Auge gefasst.


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“Die richtige Gesinnung”. Zur ersten empirischen Studie über Waldorflehrer

“Je mehr die Forschung auf die Feststellung vorfindlicher Daten
ohne Rücksicht auf die Dynamik sich richtet, in die sie verflochten sind,
desto apologetischer wird sie;
desto mehr neigt sie dazu, den Zustand, der ihr thematisch ist,
als ein Letztes hinzunehmen, im doppelten Sinn anzuerkennen.”
– T.W.Adorno (Gesammelte Schriften 14, 178)

Die okkult-esoterische Verfassung der Waldorfpädagogik und deren hohe Verbreitung in der Gegenwart werfen viele Fragen auf. In der Kritik stehen immer wieder die Ausbildungsseminare für Waldorflehrerinnen und -lehrer: Deren Programme bieten meist wenig mehr denn eine Einführung in das spirituelle Wunderland der Anthroposophie. Nahezu unbekannt sind dagegen Selbst- und Rollenverständnis von WaldorflehrerInnen – von der Frage, wie viele Lehrkräfte an den Schulen auch tatsächlich die anthroposophische Ausbildung durchlaufen haben bis zu der nach Arbeitszufriedenheit und Gründen für diese spezielle Berufswahl. An dieser Unbekanntheit will die empirische Studie “Ich bin Waldorflehrer” etwas ändern, die kürzlich im Wiesbadener VS-Verlag erschienen ist. Die Lehrerbefragungen bestätigen so gut wie alle gängigen Kritiken, zeigen aber auch ein Schuldmodell im Wandel, bei dem “sich die Waldorfkollegien in ‘Traditionalisten’ und ‘Reformer’ aufspalten.” (S. 148)

“Eine Befragungsstudie” zwischen Wissenschaft und anthroposophischer Selbstbestätigung

In den letzten Jahren haben Heiner Barz, Professor für “Bildungsforschung und Bildungsmanagement” in Düsseldorf und Dirk Randoll, Professor für empirische Sozialforschung an der anthroposophischen Alanushochschule Bonn/Alfter sich erhebliche Mühe gegeben, den empirischen Einblick in die Welt der Waldorfschulen zu verbessern. Da dieser Einblick vorher gar nicht existierte, ist der prinzipielle Erfolg dieses Unterfangens erst einmal nicht zu leugnen. Allerdings wurden die Studien meist hundertprozentig von anthroposophischen Institutionen wie der Darmstädter Software-AG-Stiftung finanziert und nur vom Bund der Freien Waldorfschulen enthusiastisch rezipiert. Von ‘unabhängigen’ Studien kann man hier also kaum reden. Dessen ungeachtet kommen in den Interviews und Fragebogenauswertungen hunderte Waldorfschüler (und nun auch -lehrer) im O-Ton zu Wort: Unabhängig davon, wie man zum Wert der Studien steht, kann man diesen Kommentaren prägnante Formulierungen zum Waldorfsystem entnehmen. Die Barz/Randoll-Studien sollte man folglich als das nehmen, was sie sind: Fragebögen-Umfragen, in denen immerhin ein paar tausend Akteure und ‘Betroffene’ des Waldorfsystems befragt werden. Die Auswertungen schrecken vor allzu kritischen Interpretationen der erhobenen Daten allerdings zurück.

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Die von Randoll herausgegebene Studie “‘Ich bin Waldorflehrer’ Einstellungen, Erfahrungen, Diskussionspunkte – eine Befragungsstudie” (Wiesbaden 2013) wurde bereits im Vorfeld rege vereinnahmt. Der Mainzer Erziehungswissenschaftler, Waldorfkritiker und Steinerbiograph Heiner Ullrich hat das Vorwort zu der (nach seiner Einschätzung “weitestgehend repräsentativen”, S. 6) Umfrage geschrieben und in der taz behauptet “dass 90 Prozent der Waldorf-Pädagogen eine Befragung zufolge fest in der Anthroposophie Rudolf Steiners verhaftet sind”. Auch der muntere Anti-Anthroposoph Andreas Lichte hat sich unter durchgängiger Berufung auf Ullrichs Kolportage mehrere Male auf diese “90 Prozent” bezogen. Liest man im Original nach, gibt aber eine weit kleinere Zahl, nämlich etwa ein Drittel an, “praktizierend/engagiert” anthroposophisch zu arbeiten. Tatsächlich ist die Situation weit hoffnungsloser, aber dazu unten mehr. Hier wird die in den Barz/Randoll-Studien ohnehin schon problematische Zwitterstellung zwischen Wissenschaft und Anthroposophie noch durch den Umstand verkompliziert, dass anscheinend kein einziger Freund oder Feind der Waldorfszene auch nur eine Zahl zitieren würde, die der eigenen ‘Privatempirie’ widerspricht. Im Gegenteil: Alles wird so weit und so lange zurechtgebogen, bis es passt. Ausgehend von dieser Interessenlage dürfte sich die Waldorflehrer-Studie allerdings als Goldgrube für alle Beteiligten erweisen – mich selbst natürlich eingeschlossen.

Die Auswertung der Studie haben neben Randoll Jürgen Peters (seit 2009 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Bildungswissenschaft der Alanus-Hochschule) und Ines Graudenz (Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF)) besorgt. Heiner Barz und Tanja Kosubek (Koordinatorin der Forschungen zu kultur- und reformpädagogischen Projekten bei den Düsseldorfer Sozialwissenschaftlern) haben zudem eine Gruppendiskussion beigesteuert.

Antinomien der Imagepflege

Randoll selbst fasst die Ergebnisse dieser (und einer früheren) Studie in einem Interview für die “Erziehungskunst”, die Verbandszeitschrift des “Bundes der Freien Waldorfschulen” zusammen, Titel: Lehrer und Schüler an Waldorfschulen sind zufriedener. Die folgenden Zitate stammen aus dem Interview. Die Ergebnisse sind für die Waldorfschulen wenig rühmlich, auch wenn Randoll vor allem konstruktive Schlüsse zieht. So seien Waldorflehrer, die sich doch die “Erziehung zur Freiheit” auf die Fahnen schreiben, “innovationsresistenter” als ihre Kollegen an öffentlichen Schulen: Dies gelte ausgerechnet für die “stark an der Anthroposophie orientierten Waldorflehrer. Sie fürchten den Verlust der geisteswissenschaftlichen Grundlagen, nicht so sehr den Verlust ihrer Selbstbestimmung und individuellen Freiheit”, meint Randoll. Anthroposophie scheint sich nicht als Motor, sondern Hindernis pädagogischer Innovation zu erweisen. Auf die Frage “Warum verbleiben neu eingestellte Lehrer durchschnittlich nur vier Jahre an Waldorfschulen?” antwortet der Sozialwissenschaftler:

“Wenn junge, frisch ausgebildete Lehrer das, was sie soeben gelernt haben, mit Enthusiasmus umsetzen wollen, trifft dies bei den älteren nicht immer auf Wohlwollen. An Waldorfschulen potenziert sich dieses Generationenproblem durch den unterschiedlichen Umgang mit der Anthroposophie – den jungen Lehrern ist sie in ihrem Beruf deutlich weniger wichtig als den älteren. Schließlich ist die geringe Verweildauer auch auf das geringere Gehalt der Waldorflehrer zurückzuführen.”

Nahezu sämtliche Spezifika der Waldorfpädagogik scheinen zu den schlechteren Aspekten ihrer realen schulischen Umsetzung zu zählen. So fragt der “Erziehungskunst”-Chefredakteur Mathias Maurer unter anderem, warum “ausgerechnet Lehrer der musisch-handwerklichen Fächer, einschließlich der Eurythmisten, wenig Wertschätzung erfahren.” So erläutert Randoll, dass die “Selbstverwaltung” der Schulen durch die Lehrer, die auf einen Direktor verzichten, alles andere als vielversprechend abläuft: “Die Lehrer selbst halten die Selbstverwaltung sogar für wenig effektiv und unprofessionell.” Und so kritisiert er schließlich zwar verbal charmant, aber inhaltlich vernichtend, die Ausbildungsseminare für Waldorflehrer:

“Die Waldorfschulbewegung ist die einzige, die sich hierzulande eigene Lehrerbildungsstätten leistet. Diese haben aber zu lange eigene Wege beschritten und deshalb den Anschluss an die neuere Lehr- und Lernforschung verpasst. Reformen scheinen daher dringend geboten, wenn nicht gar eine ganz andere konzeptionelle Ausrichtung.”

Ein Blick in die Studie verschärft dieses Urteil: Man liest etwa, “dass sich nur jeder zweite an einem der waldorfeigenen Seminare ausgebildete Waldorfpädagoge hinreichend auf die schulische Praxis vorbereitet fühlt”. (“Ich bin Waldorflehrer”, a.a.O., S. 148)

Verhältnis zur Anthroposophie

Für die Studie wurden über Fragebögen LehrerInnen von 105 Waldorfschulen und 14 Heilpädagogischen Schulen befragt. Insgesamt wurden 2.005 Fragebögen zurückgeschickt (im Erhebungszeitraum dürften an den deutschen Waldorfschulen insgesamt über 6600 LehrerInnen gearbeitet haben). Nur 19,4% der Befragten gaben an, selbst eine Waldorfschule besucht zu haben – insbesondere unter jüngeren KollegInnen. Das scheint nur logisch vor dem Hintergrund, dass der große Waldorfboom erst nach den 70er Jahren einsetzte. Das seither rasante Wachstum der Waldorfbewegung führte aber auch zu erheblichen Lücken in der Rekrutierung anthroposophischer Lehrkräfte (vgl. Die Bösartigkeit des Banalen). Auch das scheinen die Ergebnisse der Befragung wiederzuspiegeln: Noch fast die Hälfte der über 60-jährigen WaldorflehrerInnen (49,5%) bezeichnen ihr “Verhältnis zur Anthroposophie” als “praktizierend/engagiert”, bei den KollegInnen unter 40 sind dies ‘nur’ 28,6% – im Altersdurchschnitt versteht sich demnach ein gutes Drittel (33,9%) der LehrerInnen als praktizierend anthroposophisch. Im Durchschnitt sind demgegenüber etwa 21,5% der LehrerInnen “kritisch-sympathisch” und 1,1% (!) “kritisch/skeptisch” zur Anthroposophie eingestellt (der Rest verteilt sich auf allerlei Zwischenstufen). Nach Fächern aufgeschlüsselt, ist der anthroposophisch-überzeugte Anteil unter den EurythmielehrerInnen am Höchsten (54,9%), unter den SportlehrerInnen am Geringsten (19%).

Hier zeigt sich dann auch, wie weit Ullrichs Behauptung zutrifft, “dass 90 Prozent der Waldorf-Pädagogen … fest in der Anthroposophie Rudolf Steiners verhaftet” seien. Auch wenn ‘nur’ ein Drittel der Waldorflehrer zu den ‘praktizierenden’ Anthroposophen gehört, scheint nicht nur für 90, sondern eher 99% eine “Waldorfschule ohne Steiner” kein anstrebenswertes Ziel zu sein. Dies wäre andererseits auch verwunderlich: Die Waldorfschulen sind in der Selbst- ebenso wie der öffentlichen Wahrnehmung stark mit Steiner verbunden. Wer sich mit seiner Arbeit dort einigermaßen identifiziert, wird unabhängig von seinen Steiner-Kenntnissen wohl kaum Vorbehalte gegenüber dessen Person haben. Der Anteil der skeptisch eingestellten Lehrer liegt bei knapp über einem Prozent, übrig bleiben zwei tolerante Drittel. Hoffnung macht der Umstand, dass die jüngeren Jahrgänge unter Waldorflehrern diesen Trend allmählich umkehren. Gerade aufgrund seiner Allgemeinheit scheint ein weiterer Kommentar Ullrichs hier allerdings treffend:

“Hierin zeigt sich zugleich die Spezifizität und Exklusivität einer Schulkultur, in der m.E. Konfession und Profession nach wie vor so eng miteinander verwoben sind wie in keiner anderen hierzulande. Je stärker sich Waldorflehrer persönlich mit der Lehre Steiners identifizieren, desto entschiedener versuchen sie, die Leistungs- und Normierungsansprüche abzuwehren, die in Form von Zentralabitur, Bildungsstandards und Qualitätssicherung immer höher gegen die Deiche der ‘Entschleunigungsinsel Waldorfschule’ anbranden. Die empirischen Befunde indes sprechen für einen allmählichen Generationswandel innerhalb der Waldorflehrerschaft in Richtung eines stärker ‘pragmatischen’ Umgangs mit den Vorgaben der Anthroposophie und einer größeren Offenheit für pädagogische, methodische und didaktische Innovation.” (Ullrich: Einleitung, S. 6)

Randoll ist hier skeptischer: “Die jungen Pädagogen” würden es “nicht leicht haben, sich gegenüber den ‘Bewahrern’ zu behaupten und durchzusetzen. Schon die kurze Verweildauer vieler neu eingestellter Lehrer an Waldorfschulen lässt in dieser Hinsicht nichts Gutes ahnen.” (S. 148) In der Tat liest man aber in einem guten Viertel der Lehrerantworten Stichpunkte, die in Richtung der pragmatisch-’postmodernen Anthroposophie’ gehen:

“Distanzierung von überholten Weltanschauungen Rudolf Steiners; zeitgemäße Pädagogik; Spiritualität statt Dogmatismus; Steiners Gedanken weiterdenken … einerseits ‘Zeitgeist’ sein, andererseits den Kern (Menschenkunde) nicht verlieren; die geistigen ‘Fesseln’ überdenken; Profil zu haben ohne zu ‘versteinern’; Offensein für neue Unterrichtsformen (weg vom lehrerzentrierten Unterricht); die eigenen pädagogischen Maximen hinterfragen im Einzelnen und Strukturellen, z.B. a) die großen Klassen b) das Lehrerverständnis in der Mittelstufe c) Differenzierung durch Wahlmöglichkeiten in der Oberstufe.” (S. 269)

Sofern eine esoterische Praxis in den Umfragen greifbar wird, wirkt sie eher apathisch und dient zur Regeneration in der Freizeit:

“Demnach schöpft die überwiegende Mehrzahl der Waldorfpädagogen neue Kraft für den Beruf aus Naturerlebnissen (z.B. Gartenarbeit, Spaziergängen) … Für etwa jeden zweiten Waldorflehrer kommen als kraftschöpfende Quellen das ‘Vor-sich-Hindösen’ sowie die Meditation in Betracht, während um die 40 Prozent angeben, neue Kräfte aus dem Besuch von Schulveranstaltungen (z.B. Monatsfeiern, Klassenspiel, Orchester) sowie aus dem Lesen und Studieren der Schriften Rudolf Steiners zu gewinnen.” (S. 139)

“Etwa die Hälfte der Befragten (52,1%) gibt an, ‘Selten’ Antworten in den Schriften Rudolf Steiners zu suchen, wenn sie berufliche Probleme hat. Etwa ein Drittel (33,7%) antwortet mit ‘Sehr oft’/'Oft’ (davon nur 6,1% mit ‘Sehr oft’). ‘Gar nicht’ wurde von 11,7% angekreuzt.” (S. 156)

“Die Meditation nimmt – entgegen der Erwartung – keinen so hohen Stellenwert bei den Waldorflehrern ein. Etwa die Hälfte (50,4%) verneint, sie würden neue Kraft aus der Meditation schöpfen, knapp die Hälfte (47,5%) bejaht es.” (S. 158)

Zum Vergleich: 25% kreuzten bei der Frage “Neue Kraft schöpfe ich aus…” die Option “Fernsehen” an. Im Häufigkeitsvergleich wird der Fernseher sogar anscheinend etwas öfter konsultiert als Steiner. (S. 140) Insgesamt hätte man sich hier eine ausführlichere Darstellung der Antworten und vor allem weit mehr Detailaufnahmen gewünscht:

Natürlich schreibt kein bekennender Anthroposoph sich selbst Dogmatismus auf die Fahnen (oberstes Dogma ist schließlich die Behauptung, es gebe keine Dogmen), was genau soll also die Phrase “Spiritualität statt Dogmatismus” ausdrücken? Der “lehrerzentrierte Unterricht” gehört zum Sanctissimum der Steinerpädagogik (von der “geliebten Autorität” zum 8-jährigen Klassenlehrerprinzip). Dies zu verabschieden wäre zwar begrüßenswert, aber auch eine wie auch immer unbewusste Distanzierung von Steiners Offenbarungen: Wie sich WaldorflehrerInnen die Vermittlung zwischen ‘menschenkundlicher’ Vorgabe und pädagogischer Innovation vorstellen, schimmert nirgends durch. Ebensowenig wird deutlich, wie anthroposophisch die Befragten wirklich auftreten: Was genau besagt etwa die Selbstverortung “kritisch-sympathisch”? Was unterscheidet in den Augen der Befragten die Angaben “positiv-bejahend” und “engagiert/praktizierend”? Wie sieht diese anthroposophische “Praxis” genau aus? Welche esoterischen Überzeugungen tragen eventuell LehrerInnen mit sich herum, die sich nicht als Anthroposophen bezeichnen? Welche nicht-anthroposophischen Vorstellungen werden von ihren anthroposophischen Kollegen als Steinersches Gedankengut wahrgenommen (Stichwort: “Zeitgeist”)? Vor allem wird nicht ein einziges relevantes anthroposophisches Thema abgefragt: Wie die PädagogInnen mit den vermeintlichen früheren Inkarnationen ihrer Schüler, mit Hebdomaden und Temperamenten umgehen, welche Bücher Steiners sie (nicht) gelesen haben und wie fundiert oder oberflächlich ihre anthroposophischen Kenntnisse sind, erfährt man nicht. Eben das hätte eine empirische Studie zu WaldorflehrerInnen leisten müssen – die zentrale Stellung der Anthroposophie für die Waldorfpädagogik ist schließlich für das Selbstverständis der letzteren bis heute essentiell.

Berufswahl und -wechsel

Die Zusammensetzung der Waldorflehrerkollegien erweist sich, wie zu erwarten, als bunt. 79% der Lehrerinnen und -lehrer haben das Abitur, 7,1% die Fachhochschulreife, 46,4% haben ein abgeschlossenes Lehramtsstudium, 18,9% eine andere akademische Bildung durchlaufen, 10,5% können eine handwerkliche, 6,5% eine künstlerische Ausbildung vorweisen. Eher überraschend scheint mir der Umstand, dass von den Befragten  nur 9,4% angeben, Waldorfpädagogik an einer der vom Bund der Freien Waldorfschulen betriebenen Ausbildungsstätten “studiert” zu haben. (S. 79)

Eine 30-köpfige Diskussionsrunde mit aktuellen und ehemaligen WaldorflehrerInnen wird näher portraitiert und zitiert – Profile, wie man sie erwarten würde: “Klassenlehrerin B” (Alter: 45) begründet ihre Berufswahl über ihr Lehramtsstudium: “mir war aber klar, dass ich nicht an die staatliche Schule wollte. Mein damaliger Freund hatte gerade ein Refendariat und dadurch hatte ich dann noch mal mehr Einblick, was da so läuft.” (S. 58) Der “Ehemalige Waldorflehrer L” (Fach: Kunst, Alter: 55) berichtet, er sei auf die Empfehlung eines Dozenten in die Waldorfwelt geraten, um “was Soziales [zu] machen, um dieses Ego ein bisschen ins Gleichgewicht zu bringen.” (S. 63), die “Ehemalige Waldorflehrerin A” (Fach: Deutsch und Philosophie, Alter: 45) beschwert sich über dogmatische Strukturen:

“Es geht [in der Waldorfschule] um die richtige Gesinnung. Das ist nicht meins. Also ich weiß, jeder hat in einer gewissen Form Werte – aber wenn ich das auf die Schulform beziehe, wo ich jetzt tätig bin [Gesamtschule] …, dann kann ich mich wesentlich besser identifizieren, denn da geht es mehr um Chancengleichheit.” (S. 64 – Anmerkungen und Auslassungen im Original)

Zwischen diesen beiden Polen breitet sich der Rest aus, wobei die KollegInnen mit eigener Waldorferfahrung meist diese als Wahlmotiv angeben. 20,6% geben anthroposophische Überzeugungen als Grund für ihren Berufsstart an (S. 86). 88% der LehrerInnen meinen, sich für ihre Unterrichtsgestaltung schwerpunktmäßig am sog. “Lehrplan der Waldorfschule” zu orientieren, allein die Fremdsprachenlehrer sind bei dieser Aussage “deutlich zurückhaltender”. (S. 95)

Die abgefragten Informationen bleiben auch hier oft wieder unspezifisch – Wenn die WaldorflehrerInnen laut Studie ihre Berufswelt weitaus ‘anthroposophischer’ finden als ihr Privatleben, wüsste man gern, wie genau die Anthroposophie im Beruf gehandhabt wird, und warum dann nicht auch im Alltag. Auch zu anderen Themen – Gesundheits- und Arbeitseinstellung, Zufriedenheit oder Effizienz der vielbesprochenen “Selbstverwaltung” – bekommt man zwar jeweils Zahlen, die ungefähr das treffen, was man aufgrund bisheriger Spekulationen vermuten könnte, aber kaum detaillierte Information oder die Aufschlüsselung von Motiven. Gut die Hälfte der WaldorflehrerInnen kann sich laut Studie immerhin für Reformen erwärmen: “Für eine stärkere Akademisierung in der Waldorflehrerausbildung votieren 61,1 % der bis 40-Jährigen, 52,6% der 41- bis 50-Jährigen, 48,3% der 51- bis 60-Jährigen und 45,4% der über 60-Jährigen Lehrer.” (S. 83)

Schulklima

Während sich zur fachlichen Kompetenz der WaldorflehrerInnen einige Zweifel formulieren lassen, gehört bekanntlich die betuliche Lernatmosphäre an den Schulen eher zu deren Stärken. Freilich mit Abstrichen. 90% der Oberstufen-LehrerInnen fühlen sich laut eigenen Angaben von ihren SchülerInnen respektiert und anerkannt, dies sehen allerdings nur 58,6% der Schüler so. (S. 94) Randoll meint, die Lehrer-Schüler-Beziehung werde von der Lehrerseite her “in gewisser Weise idealisiert, Wunsch und Wirklichkeit liegen hierbei zum Teil weit auseinander.” (S. 147) Mit dem “Betriebsklima” an ihren Schulen sind WaldorflehrerInnen laut Studie deutlich zufriedener als ihre KollegInnen an öffentlichen Schulen. (S. 99) Dies ist aber unter Berücksichtigung der Tatsache zu relativieren, dass WaldorflehrerInnen sich viel öfter bewusst für ihre konkrete Schule und die Schulform im Allgemeinen entschieden haben. Daraus ergibt sich naheliegenderweise ein höheres Maß an Identifikation. Die Autoren der Studie neigen selbst zur Relativierung ihrer Ergebnisse:

“Während sich die an Freien Waldorfschulen tätigen Lehrer vergleichsweise positiver zum Betriebsklima an ihrer Schule sowie zur allgemeinen Veränderungsbereitschaft des Kollegiums äußern, sind die Lehrer an Gesamtschulen offensichtlich zufriedener mit der konkret stattfindenden Kommunikation im Kollegium sowie mit der Art, wie Konflikte und Spannungen untereinander gelöst werden. Zudem wird nach Angaben der Befragten die Zusammenarbeit in den Gesamtschulkollegien weniger von der Führerschaft einiger/weniger Personen dominiert bzw. es gibt dort offenbar weniger Gruppen, die nicht viel miteinander zu tun haben.” (S. 100f.)

Im Allgemeinen sind 91,1% WaldorflehrerInnen laut eigenen Angaben mit ihrem Verhältnis zu ihren KollegInnen zufrieden, 77,5% meinen, dass man sich über Unterrichtsmaterialien austausche, aber nur 21% stimmen der Aussage zu, dass zwischen Klassenlehrern (bis Klasse 8) und Oberstufenlehrern (ab Klasse 9) “ein regelmäßiger fachlicher Austausch” stattfinde. Unter anderem hier sehen die Autoren der Studie Defizite: Es “erhebt sich die Frage, wie (offen) man in den Waldorfkollegien konkret miteinander umgeht.” (S. 103)

Während es offenkundig im Sozialen hakt, sind die LehrerInnen im Einzelnen doch glücklich: “Ich kann mich in meiner Arbeit verwirklichen”, finden über 90% – und gut 80% fühlen sich durch ihren Job im “Selbstwertgefühl” gestärkt.

“Es überrascht nicht, dass deutlich mehr Lehrer, die sich als praktizierende/engagierte Anthroposophen bezeichnen (94,6%), angeben, in ihrem Beruf Halt und Sicherheit durch das Vertrauen in übergeordnete Zusammenhänge zu erfahren als Lehrer, die gegenüber der Anthroposophie eher kritisch-sympathisch eingestellt sind (51%).” (S. 124)

Dieser beträchtliche Unterschied in der Selbstwahrnehmung findet seinen Gegenpart in den uniform zu langen Arbeitszeiten der Waldorfkollegien: 91% arbeiten auch am Wochenende, 42% sogar an beiden Wochenendtagen für die Schule (S. 125), mehr als 80% bewerten Überstunden als “selbstverständlichen Teil meiner Arbeit” (S. 126) Man darf vermuten, dass diese mehr als eindeutige Tendenz zur Selbstausbeutung zu einem guten Teil hinter den Erfolgen der Waldorfschulen steckt – freilich auf Kosten der LehrerInnen, von denen 43,9% Berufliches und Privates gern stärker voneinander trennen würden. (S. 127) Zwar sind sie laut eigenen Angaben in hohem Maß mit ihrer Arbeit identifiziert – 91,7% sind “mit ihrer beruflichen Situation zufrieden” –, aber 72,8% sind gleichzeitig der Auffassung, die Waldorfschule verlange ihnen zu viel Engagement ab. (S. 130) Ines Graudenz geht in ihrer Auswertung der Befragungsdaten davon aus, dass auch die Anthroposophie zu den Belastungsfaktoren gehöre, bzw. “dass das von Rudolf Steiner beschriebene Lehrerideal doch einen gewissen Belastungsfaktor für die Befragten darstellt.” (S. 169)

11,8% der Befragten würden ihren Beruf wechseln, “wenn sie die Möglichkeit hätten”, darunter befinden sich vor allem Eurythmielehrer und solche, die der Anthroposophie gegenüber kritischer eingestellt sind. Dieser Prozentsatz ist bei LehrerInnen an öffentlichen Schulen mit 17,5% allerdings höher. (S. 135) Hinsichtlich der gesundheitlichen Belastung, meint Randoll, sei “Vorsicht geboten!” und rät dazu, “präventive Maßnahmen anzubieten, wie z.B. Coaching, Supervision, Entspannungstrainings oder Meditation.” (S. 147) Hinsichtlich anthroposophischer Neigungen zur Überpädagogisierung rät der Bildungsforscher also offenbar zur Austreibung des Satans durch den Beelzebub.

Selbstverwaltung

Waldorfschulen haben in der Regel keinen Direktor, sondern dessen Aufgaben übernimmt eine interne Konferenz – oder die LehrerInnen teilen die unterschiedlichsten organisatorischen Aufgaben in verschiedene Gremien auf, die sie selbst (inzwischen immer öfter in Arbeitsteilung mit Elternrat oder SchülerInnenVertretungen) ausfüllen. Diese “Selbstverwaltung” wird laut Studie überwiegend positiv eingeschätzt, um die 30% sind mit der Arbeit allerdings “mehr oder weniger unzufrieden”. Nur 40% sind der Meinung, “Entscheidungsprozesse” liefen “effizient und zielführend” ab. (S. 104) Dabei differenziert die Studie zwischen zwei Führungsstilen an Waldorfschulen – neben der klassischen Selbstverwaltung durch eine “Schulführungskonferenz” existiert das sog. “Mandatsmodell”, bei dem die unterschiedlichen Bereiche verschiedenen Personengruppen anvertraut werden. Mit letzterer Struktur sind die LehrerInnen offenbar deutlich zufriedener. (S. 105)

In die “Selbstverwaltung” sind in den letzten Jahren die Eltern an Waldorfschulen immer stärker eingebunden. 84% der WaldorflehrerInnen sind mit der Zusammenarbeit zufrieden, aber 65,2% geben an, es komme “immer wieder zu Konflikten” mit der Elternschaft – ein wohlbekanntes Phänomen (vgl. Mehr Autorität). 7% der WaldorfpädagogInnen halten Elternräte für “überflüssig”, 29,2% stimmen der Aussage zu: “Einmischungen von Eltern in meine pädagogische Arbeit weise ich strikt zurück”. (S. 112) Das ist immerhin ein Drittel und zeigt, wenn die erhobenen Daten stimmen, dass es noch ein langer und stein(er)iger Weg ist, die proklamierte Egalität in Schulfragen auch zur Umsetzung zu bringen. Von SchülerInnenVertretungen ist bezeichnenderweise nicht einmal in den Fragebögen die Rede. (vgl. Selbstverwaltung. Neues von der Waldorf-SV) Dazu passt auch: Nur 43% der LehrerInnen sind der Auffassung, dass konzeptionelle Änderungen auch praktisch umgesetzt würden. (S. 106) Andererseits: Die Emphase der “Freiheit” durch die WaldorflehrerInnen, auch bezogen auf ihre eigene Unterrichtsgestaltung, ist ein legitimer bzw. verständlicher Zug. Randoll resümiert:

“Die an den Freien Waldorfschulen praktizierte Selbstverwaltung wird von den Befragten in verschiedenster Hinsicht problematisiert: a. Entscheidungsprozesse erfolgen nicht effizient genug; b. der Austausch von Informationen gelingt nur unzureichend; c. es gibt Gruppierungen, die sich nicht (mehr) an den Konferenzen beteiligen; d. die Kommunikation ist nicht immer offen und transparent; e. es gibt Meinungsführer, sprich: ‘Hidden Directors’ … Das so genannte Mandatsmodell stellt – mit Bezugnahme auf die Urteile der Waldorflehrer – gegenüber der kollegialen Schulführung daher eindeutig die bessere Alternative dar. Schließlich ist die kollegiale Selbstverwaltung äußerst zeit- und kostenintensiv, weshalb angesichts der angespannten Haushaltslagen der Waldorfschulen die Frage berechtigt erscheint, ob sie sich diesen ‘Luxus’ zukünftig überhaupt noch leisten können oder möchten.” (S. 146f.)

Steiner “neu” lesen?

Bei allen Problemen überwiegt freilich die Identifikation der LehrerInnen mit ihrer Schule. Daten aus früheren Studien zeigen ähnliches für die SchülerInnen. Auch ich kann mich zu denen zählen, die auf eine positive eigene Zeit an einer Waldorfschule zurückblicken. Die real existierende Waldorfpädagogik hat es freilich nicht aufgrund ihrer Fehler aus dem lebensreformerischen Untergrund der Weimarer Republik zu einem der weltweit erfolgreichsten Privatschulmodelle geschafft.

So sehr man letzteres historisches Alleinstellungsmerkmal anerkennen und sich an den guten Seiten der Praxis erfreuen kann: Sie alle sind kein Grund dafür, dass diese Schulform ihre alten und in bewusstloser Selbstverständlichkeit ausgetrampelten Wege einfach nur noch weiter austrampeln sollte. Alle Probleme, die die Lehrerstudie empirisch untermauert (“Selbstverwaltung”, die Rolle der “Praktisch-Künstlerischen” Fächer, den Spagat zwischen Anthroposophen und Nicht-Anthroposophen usw.) gehen auf Rudolf Steiner zurück. Es sind keine Umsetzungsfehler eines an sich unbedenklichen, gar wegweisenden Modells, sondern Probleme, die dieses Modell überhaupt erst als Spezifisches konstituieren. In der Bewältigung dieser Probleme können die von Randoll nahegelegten “Coachings” nichts ausrichten, ebensowenig kann das eine Akademisierung der Lehrerausbildung – sie alle würden nur nicht-anthroposophische, ihrerseits mit ganz eigenen Schwierigkeiten belastete pädagogisch-therapeutische Formen um den anthroposophischen Kern hüllen. Dieser Kern ist es, der zu reformieren wäre. Das meint auch Ines Graudenz im halbseitigen “Fazit” ihres Beitrags zur Studie:

“Waldorflehrer sehen sich vor die Aufgabe gestellt, Rudolf Steiner ‘neu’ zu lesen, tradierte Vorstellungen und Ziele und festgeschriebene Prinzipien der Waldorfpädagogik zu überdenken, zu hinterfragen und eine zeitgemäße Weiterentwicklung waldorfspezifischer Intentionen zu ermöglichen, nicht zuletzt im Interesse der heutigen Kinder und Jugendlichen. Ein Umdenken, eine Relativierung der Wahrnehmung und Interpretation der Schriften Rudolf Steiners fordern dazu heraus, Wege zu finden, die dem Kontext der heutigen gesellschaftlichen Gegebenheiten gerecht werden, ohne deshalb spezifische Stärken und Erfolge der Waldorfpädagogik aufgeben zu müssen.” (S. 229)

Diesem Gemeinplatz würden sich mutmaßlich alle gern anschließen. Die Sinnigkeit einer Steiner-”Neu”-Lektüre muss man allerdings arg bezweifeln, wie auch kritischere Anthroposophen meinen: “Wir können Steiner ausquetschen wie eine Zitrone und trotzdem kommt da nie gegenwärtige Anthroposophie heraus.” (Wolf-Ulrich Klünker, in: info3 10/08, S. 34) Damit eine “Neu”-Lektüre hilfreich wäre, müsste zuerst ein Konsens darüber existieren, welche Inhalte man in Steiner hineinlesen wollte – die Entscheidung zur Art und Weise einer pädagogischen Innovation müsste also bereits gefallen sein, und zwar unabhängig von Steiner. Das “Umdenken”, die “Relativierung” müsste wichtiger sein als die Kontinuität, denn schon die Annahme, ein Theorie-Praxis-Kontinuum von Steiner bis in die Gegenwart sei möglich, kann nur aus Steinerianischer Perspektive a priori bejaht werden. Eine Orientierung am “Interesse der heutigen Kinder und Jugendlichen” müsste sich davon freimachen, unabhängig davon, ob die Rückkehr zu Steiner sich aus dieser neuen Perspektive wiederum anböte. Diese radikale Neuorientierung ist nicht zu erwarten: Sie wäre der Selbstmord anthroposophischer Pädagogik.

Die Waldorf-Ideologen üben sich in unreflektierter Weiterführung ihrer überkommenen Theorie, an der auch eine positivistisch-empirische Tatsachenforschung nichts ändert. Letztere vermag es allenfalls, die Probleme der Praxis in Zahlen darzustellen, kann sie aber weder erklären, noch lässt sich auf diesem Wege erkennen, warum sie sich offenbar so permanent reproduzieren.


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Kunst und Boden. Zu Hans-Peter Riegels Beuys-Biographie

Mit reichlich Radau hat der „Spiegel“ eine neue Beuys-Biographie von Hans-Peter Riegel beworben: Unbewältigte Weltkriegsvergangenheit, die Nähe zu Steiners „kruden Ideen“ und dessen rassistischen Äußerungen – sind Kunstkenner in aller Welt einem ewig-gestrigen Deutschen auf den Leim gegangen? Jedenfalls wurde die Bedeutung der Anthroposophie für das Werk von Joseph Beuys bisher weit unterschätzt, meint der jüngste Beuys-Biograph. Seine  quellengesättigte Studie um ein Künstlerleben, das zwischen Messianismus, Meditation und nationalen Ideen schwankte, bietet reichlich Stoff zur Polarisierung.

Joseph Beuys zählt zweifellos zu den ganz großen, wenn auch umstrittensten Künstlern des 20. Jahrhunderts. Dass er sich selbst als „Eingeweihter“ mit spirituellen Fähigkeiten sah, dass er sich für Rudolf Steiners gesellschaftspolitische Ideen engagierte und behauptete, der Gründer der Anthroposophie sei ihm als Kind im Traum erschienen, um ihm die Weiterführung seines Werks anzutragen – das und noch mehr hat Anthroposophen an Beuys fasziniert und ist von Kunsthistorikern meist irritiert übergangen worden.

Nicht nur dieser Lücke nimmt sich der Kunsthistoriker Hans-Peter Riegel in einer neuen Beuys-Biographie an. Sein Buch stellt die geistige und politische Entwicklung des Aktionskünstlers in den Vordergrund. Riegel malt das Bild eines rätselhaften, man möchte fast sagen: eines unheimlichen Intellektuellen, bei dem Genie und Täuschung, ein beinahe missionarisches Engagement für die Demokratiebewegung und eine renitente Begeisterung für eine Mission des Deutschtums offenbar Hand in Hand gingen. Der spätere „Grünen“-Aktivist begann seinen Weg als Hitlerjunge und Bordfunker bei der Luftwaffe. Später meinte er, dass „im Gegensatz zu heute – damals die Situation für die Jugendlichen ideal war, um sich auszuleben.“ Was die Einschätzung seiner nazistischen Jugendjahre anging, scheint der Künstler, wie sein Biograph jetzt nahelegt,  stets den Weg der Verdrängung gegangen zu sein.

Beuys‘ Beschäftigung mit Steiner nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nahm nach Riegel seltsame Dimensionen an: Er imitierte dessen Handschrift, seinen Sprachduktus, seine Vorträge und die berühmten Kreidezeichnungen. Eine wichtige Stellung kam in Beuys‘ Denken dem „Christus-Impuls“ zu. Riegel weist nach, dass die bisherige Beuys-Forschung sich offenbar nicht die Mühe gemacht hat, hier die auf der Hand liegenden Parallelen von Beuys und Steiner nachzuzeichnen. Leider hat Riegel andere Aspekte der Anthroposophie nicht näher einbezogen. Wenn Beuys etwa behauptete, er habe sich „seit meinem 14. Lebensjahr“ „naturwissenschaftlichen Studien“ gewidmet, bleibt der offensichtliche Bezug des Künstlers auf Steiners Lebensalter-Lehre unerwähnt.

Umso überzeugender wirken dafür Riegels Recherchen zu Beuys‘ politischem Amalgam von   „Deutschtum“, „Ich“-Philosophie und Steiners Gesellschaftsutopie der Sozialen Dreigliederung. 1958 beschrieb Beuys „das deutsche Volk“, dem „die Auferstehungskraft“ eigen sei und das damit vor „anderen Völkern“ die „Pflicht“ habe, „radikal erneuerte Grundlagen des Sozialen“ zu errichten. Er hoffte, einen „Heilungsprozess auf diesem Boden vollziehen zu können, aus dem wir alle geboren sind.“ Amerikas „Selbstsucht“ habe dagegen „die ganze Welt versaut“. Riegel führt diese Überzeugungen wohl zu Recht auf Beuys‘ Beschäftigung mit Steiners deutschnationalen Positionierungen im Ersten Weltkrieg zurück, sieht darin aber keinen Widerspruch zu seinem „grünen“ Engagement. Vielmehr weist er auf vielfältige Verflechtungen von Reformbewegungen, rechten Splitterparteien und Amerikahass in der linken APO hin. Hier fand sich der im Achberger Kreis wirkende „revolutionäre Anthroposoph“ Wilfried Heidt ebenso wieder wie der unbelehrbare Nazi-Enthusiast Werner Georg Haverbeck. Beuys schwankte zwischen rechten und linken Figuren: Haverbeck (dessen Nazi-Verstrickungen in der anthroposophischen Szene allerdings erst spät bekannt wurden) lud ihn offenbar für Vorträge an seinem „Collegium Humanum“ ein, Beuys ließ Haverbeck auf Tagungen der „Free International University“ (FIU) sprechen. Auf der Tagung zur „Documenta“ 1977 betrat nach Haverbeck (der übrigens auch vom maoistischen China schwärmte) niemand anderes als Rudi Dutschke die Bühne, mit dem Beuys laut Riegel „brüderliche Sympathie“ verband. Beuys glaubte wie viele Anthroposophen, in der Studentenbewegung, vor allem im „Prager Frühling“, einem historischen Durchbruch der Dreigliederung beizuwohnen, die sie in der Formel „Freiheit, Demokratie, Sozialismus“ zusammenfassten. „Jeder Mensch ist ein Künstler“, lautet seine bekannteste Formel – „Aber auch Hitler war ein großer Künstler, ein großer Aktionist. Der hat nur seine schöpferische Fähigkeit negativ gebraucht“, so Beuys.

Solche  Äußerungen sind spätestens seit 1996 bekannt. Am Versuch des Biographen sowie von Teilen der deutschen Medien, daraus und aus Beuys‘ Bezügen zu Steiner einen „Ewiggestrigen“ zu  konstruieren, stoßen sich allerdings viele seiner Weggefährten und Bewunderer. Klaus Staeck, Präsident der Berliner Kunst-Akademie, der 18 Jahre lang mit Beuys zusammengearbeitet hat, versicherte etwa im Interview mit dem „Deutschlandfunk“, er habe „nie gemerkt“, dass der Künstler „ein reaktionäres Alt-Nazitum“ pflegte. Höchstens habe er sich „ohne diplomatisches Geschick“ geäußert. Nach Staeck hat Beuys in politischen Dingen auf die „falschen Leute“ gesetzt. Staecks Einwände sind zweifellos richtig, stehen aber nicht im Widerspruch zu dem Beuys, den Riegel enthüllt. In der Wahrnehmung des Künstlerpropheten stand die Welt für ihn Modell. Kein Gedanke war zu heilig, zu makaber oder zu abwegig, um Aufnahme in seinen schillernden Kosmos zu finden. Selbst Beuys‘ autobiographische Bemerkungen sind Dichtung und Wahrheit – oft eben wohl auch Ersteres. Riegel widerlegt wie nebenbei eine ganze Reihe von Mythen, denen viele frühere Beuys-Biographen distanzlos folgten. Beuys behauptete etwa, in seiner Jugend mit einem Wanderzirkus umhergezogen zu sein und fälschte sein Abiturzeugnis – weil er 1941, in der Zeit seines Schulabschlusses, schon längst als Freiwilliger zur Wehrmacht gegangen war. Die Legenden über Koyoten und Tataren waren nach Riegels Recherchen ebenso irreal wie die Person Fritz Rothenburg, durch den Beuys zur Anthroposophie gekommen sein wollte. Riegels alternative Deutung von Beuys‘ anthroposophischer Konversion verweist auf Ewald Mataré, seinen langjährigen Lehrer an der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf, der mit Steiner vergleichbare Position zu „Geist“ und „Gesamtkunstwerk“  artikulierte. Sieben von neun Schülern aus Matarés Klasse wurden später Anthroposophen.

Riegels Fokus auf den politischen Beuys zeigt zugleich, dass die Kunst dessen bedeutendste Bühne war. Sein Sendungsbewusstsein machte ihn zwar vorübergehend zu einem beliebten Aushängeschild der „Grünen“, er wurde aber schließlich „von seiner eigenen Partei böswillig abgesägt“, so Johannes Stüttgen. Beuys ist nicht auf den Müllhaufen der Geistesgeschichte zu werfen. Gerade die Untiefen seiner ekklektischen deutschen Ideologie zeigen, dass seine Kunst die Widersprüche der deutschen Geschichte spiegelt. Statt sich abzuwenden, gilt es, ihren Abgründen standzuhalten.

Hans-Peter Riegel: Beuys. Aufbau Verlag. 28 Euro, 595 Seiten

Der Text erscheint auch auf der Webseite von Info3


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Sinn und Sinnlichkeit: Sergej Prokofieff, Judith von Halle und das “Volkstümlich-Mondhafte”

“Der Leser aber wird mit einiger Wehmut an die veralteten Broschüren zurückdenken, die für zehn Pfennig Glück im Spiele oder in der Liebe in Aussicht stellten und sich gestehen, wieviel lauterer sie erscheinen als ein Schrifttum, das Ophir und Atlantis, Buddha und Christus, Totenbuch und Sohar aufbietet, um die Barbarei an jenen Platz zu stellen, den vor hundert Jahren die Bildung einnahm.
– Walter Benjamin: Erleuchtung durch Dunkelmänner (1932), Gesammelte Schriften III, S. 360

Mindestens in einem Punkt ähnelt die anthroposophische Szene der radikalen Linken: Sie ist jederzeit spaltungsbereit. Die Interessenten, Sympathisanten, Rezipienten, Adepten, Schüler, Interpreten, Fans und Deuter von Rudolf Steiners 360-bändigem Gesamtwerk haben sehr unterschiedliche Zugänge zur “Geistigen Welt” des Meisters. Im weltanschaulichen Sammelbecken der Anthroposophie müssen daher immer auch unterschiedliche religiöse Bedürfnisse und politische Ausrichtungen, verschiedene Umgangsformen und diverse klassische Steiner-Lesarten miteinander konkurrieren. Das führte schon zu Lebzeiten des Gurus zu allerlei Querelen. Aber zum Glück für sich und den Hausfrieden konnte Rudolf Steiner zaubern – und damit wie nebenbei seine herausragende kosmische Stellung sichern.

“Hofrat Seiling hatte einen sogenannten ‘Odmesser’ mitgebracht, einem kleinen Kompass ähnlich sehend, dessen Nadel sich von links nach rechts im Sinne des Sonnenlaufes langsamer oder schneller drehte, je nach der Odkraft dessen, der den auf dem Tisch liegenden Odmesser mit beiden Händen umschloss. Das ‘Od’ hängt, wie Dr. Steiner erklärte, mit gewissen ätherischen Wirkungen zusammen. Nachdem verschiedene ihre Odkraft gemessen hatten, wollte der Hofrat absolut, dass Dr. Steiner dies auch tue. Dr. Steiner setzte sich und tat wie die andern, aber der Zeiger –anstatt zu drehen, zitterte nur. ‘Er mus sich von links nach rechts drehen!’ rief ungeduldig der Hofrat. – ‘Ich möchte aber, dass er sich von rechts nach links dreht’, sagte Dr. Steiner, und gleich darauf begann der Zeiger sich im entgegengesetzten Sinne, so wie er es wollte, zu drehen.” (Max Gümbel-Seiling: Mit Rudolf Steiner in München, Den Haag 1946, S. 27, zit. n. Wolfgang Vögele: “Sie Mensch von einem Menschen”. Rudolf Steiner in Anekdoten, Basel 2012, S. 34f.)

Das Charisma des “Eingeweihten”, die Integrationskraft der anthroposophischen Bewegung und das Erfolgsversprechen ihrer gesellschaftspolitischen Praxisfelder beruhten, jedenfalls in der Frühphase der Anthroposophie, zu einem bedeutenden Teil auf dem Glauben an Rudolf Steiners paranormale Fähigkeiten. Er persönlich repräsentierte, was seine Vorträge und Schriften weitschweifig verkündeten: den Einbruch “des Geistigen” bis in die verstecktesten Winkel des Alltags. Nur deshalb konnten Lehrer Priester sein, konnten homöopathische Hochpotenzen die Physis ergreifen, konnten Kuhhörner zu Antennen kosmischer Strahlen werden, weil Steiner jedem bestimmten Sein seinen bestimmten Geist, eine konkrete Entsprechung unter den Wesen der “Höheren Welten” zuordnete. Steiners Anthroposophie gipfelt in der restlosen Verdinglichung des Heiligen. Geist verliert alles Inkommensurable  – darf dafür aber restlos determinierend auf die Materie wirken.

Judith von Halle

Es folgt einer gewissen Logik, dass Steiner, der natürlich nicht immer und überall gleichzeitig kleine Wunder wirken konnte, Christus zur Gallionsfigur seiner Esoterik wählte. Das fleischgewordene Wort Gottes, zwischen die beiden Dämonen Luzifer (spirituelle Flüchtigkeit) und Ahriman (materialistische Pedanterie) gestellt, steht für die erhoffte Schnittstelle zwischen Stoff und Geisterwelt, die die Anthroposophie permanent umkreist.

Obwohl Anthroposophen ihre Weltanschauung gern als Wissenschaft verstehen, nähern sie sich dieser Schnittstelle doch meist im Modus des Glaubens. Zuweilen mit bemerkenswerten Nebeneffekten. So erfuhr in der Karwoche 2004 die Berliner Architektin und Anthroposophin Judith von Halle die Wundmale Jesu am eigenen Leibe. Seitdem trägt sie, wie man hört, weiße Handschuhe, um ihre blutigen Stigmata zu verhüllen, und ist nicht mehr auf physische Nahrung angewiesen, im Gegenteil: angeblich drohen Vergiftungssymptome sogar von kleinsten Mengen Zahnpasta. Die Story schaffte es bis in den “Spiegel”:

“Während im Rest der Republik Familien fröhlich ihren Karfreitagsfisch verzehrten, will sie am eigenen Leib den Leidensweg Jesu nach Golgatha nachempfunden haben – einschließlich “der stundenlangen Misshandlungen, Folterungen, schließlich der Kreuzigung und des Todeskampfes”. Seit dieser Zeit hat die Gebeutelte nach eigenem Bekunden keinen Bissen gegessen. Selbst Wasser vertrage ihr Körper nur in geringen Maßen. Alles nur Spinnereien einer Aufmerksamkeit heischenden Egozentrikerin? … Die polyglotte Akademikerin von Halle lebte zeitweilig in Tel Aviv und Houston, Texas, und arbeitet als Architektin. … Dem Bild einer christlichen Eiferin entspricht sie kaum: Sie wurde in eine jüdische Familie hineingeboren und fühlt sich den Lehren Rudolf Steiners verpflichtet. Mit dessen Ideen erklärt sie auch die verstörenden Vorgänge an sich selbst. Demnach müsse der stigmatisierte Körper “derjenige Leib sein, der den Menschen über die Erdentwicklung hinaus in das Jupiter-Dasein trägt”.” (Frank Thadeusz: Vier Jahre Nulldiät)

Die Liste der Kuriositäten ließe sich (wie so oft) beliebig lang fortsetzen. Interessanter als die Details des Wunderberichts sind jedoch seine ideellen und sozialen Folgen in der anthroposophischen Szene. Eigentlich sollten von Halles ziemlich körperliche Christusreminszenzen gestandenen Anthroposophen nicht weiter verwunderlich erscheinen. Nach Steiner wohnt Christus immerhin seit der Mitte des 20. Jahrhunderts in der Ätherwelt, heißt: dem spirituellen Pendant organischer Lebensprozesse. Dass die geistigen Wesen in der Materie und eben auch im menschlichen Körper unterwegs sind, war die Kernbotschaft Steiners – da könnten ein paar Stigmata sterbensnormal, eigentlich fast langweilig wirken.

So sollte man meinen, aber weit gefehlt: Dass eine Anthroposophin tatsächlich Spuren der Geistigen Welt vorzuweisen meint, stößt auf enorme Resonanz. Judith von Halle zeigt, wie tief die Suche nach Zeugnissen des Glaubens, die Sehnsucht nach post-spiritistischen Zeichen aus dem Jenseits in anthroposophischen Gemütern verankert ist: Sie fand glühende Fans, zärtliche Bewunderer und erzürnte Gegner. Das umfassend verwaltete “freie Geistesleben” der Anthroposophen wusste sich zu helfen. 2007 sollte eine “Urteilsfindungskommission” den Status der Vorfälle klären. Da die Pro-/Contra-Fraktionen innerhalb wie außerhalb der Kommission allerdings keinen Fuß breit von ihrer Position abwichen (Gutachterin Rahel Uhlenhoff ließ sich indes von der Authentizität der Wundmale überzeugen), endete dieser Schritt nur in einer noch breiter losgetretenen Debatte. In diesem Streit macht es von Halle ihren Gegnern und Bewunderern leicht. Sie behauptet, in ihrer spirituellen Entwicklung sensationelle Fähigkeiten freigelegt zu haben:

“Der sinnlich-optische Eindruck entsteht dann allein durch die physisch-gestaltenden Kräfte des Phantomleibes. Daher kann jede Sinneswahrnehmung über eine Entfernung von Tausenden von Kilometern stattfinden oder auch in einer anderen Zeit.” (Judith von Halle: “Und wäre er nicht auferstanden…”, Dornach 2005, S. 51)

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Der Erfolg dieser grenzenlosen Wahrnehmungen bleibt nicht aus: von Halle berichtet etwa über Details vom Tisch des letzten Abendmahls – und stößt damit auf spirituelle Neider und energische Opponenten. Deren Leidenschaftlichste ist zweifellos Mieke Mosmuller, die sich selbst gelegentlich zum Plausch mit Rudolf Steiner in die höheren Welten begibt und deshalb aus erster Hand berichtet, dass dieser das mit den Stigmata nicht gutheißen würde. In der Tat hatte Steiner dem Anthroposophen Richard Pollak-Karlin, der am Ersten Goetheanum arbeitete und ebenfalls Jesu Wundmale tragen wollte, Meditationen gegeben, die sie zum verschwinden bringen sollten.

Die davon unbeeindruckte Judith von Halle wirkt attraktiv, sympathisch und gewinnend: angeblich besonders für zahlungskräftige ältere Herren in der anthroposophischen Szene. Man gründete nach Anfeindungen gegen von Halle eine Freie Vereinigung für Anthroposophie, finanzierte im Schweizer Anthroposophenvatikan Dornach eine “Schreinerei” (denn in einer solchen hatte schon Steiner Vorträge gehalten). Eine Präsenz vor Ort, die sich auszahlte. Die Anhänger Judith von Halles sind inzwischen weit verbreitet und gut aufgestellt. Verbreitet genug, um Sergej O. Prokofieff auf den Plan zu rufen.

Der “Repräsentant des Ostens”

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs (und um auf die globalen politischen Folgen zu reagieren) wurde unter Manfred Schmidt-Brabant der Vorstand der “Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft” um drei Mitglieder erweitert: Cornelius Pietzner, Bodo von Plato und Sergej Prokofieff. Wie Hartwig Schiller (Vorstand der deutschen anthroposophischen Landesgesellschaft) kürzlich behauptete, stand dahinter auch der Glaube an Volks- und Kultur-”Missionen”:

“Die Berufung von Menschen aus dem nordamerikanischen Westen, dem russischen Osten und der Mitte Europas schien auf diese [die politische] Entwicklung einzugehen und machte einen Auftrag für die Zukunft sichtbar. Die Anthroposophische Gesellschaft hat eine menschheitliche Zielsetzung und insofern kann sie nur als Weltgesellschaft konzipiert sein. Dafür standen Cornelius Pietzner, Bodo von Plato und Sergej Prokofieff stellvertretend. Westen, Mitte und Osten galten da nicht bloß als geographische Ortsbestimmungen, sondern als geistige Qualitäten.” (Schiller: Konferenz der europäischen Generalsekretäre in Amsterdam, in: Anthroposophie Weltweit. Mitteilungen Deutschland, Januar/Februar 2013, S. 3)

Prokofieff, der den “russischen Osten” repräsentieren sollte, hat seinerseits einen einflussreichen und äußerst hemmungslosen Kreis von Anhängern. In Russland verortete Steiner die “sechste nachatlantische Kulturepoche” – und ein Hauch dieser zukünftigen Evolutionsstufe wird Prokofieff von vielen seiner anthroposophischen Adepten zugeschrieben. Die “östlichen” “Mysterien” sind aber nur eines von vielen Kompetenzfeldern. In seinen Schriften werden alle geistigen Hierarchien, alle Wesenheiten und Potenzen bemüht, die Steiner ersann, allerdings auf durchaus eigene Weise. Prokofieffs Werk zeichnet sich durch die stupende Permanenz, Redundanz und Dichte aus, mit der der anthroposophische Wesenszoo rekombiniert, durch- und übereinandergeworfen wird. An Engeln und Elementarwesen wird zu keinem Anlass gespart, vor allem aber sind Steiner und Christus wichtig:

“Das, was der Christus für die ganze Menschheit tat, als er ihr Karma auf sich nahm, das tat Rudolf Steiner für die Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft als ein wahrer Schüler des Christus Jesus auf der Weihnachtstagung. … Dessen sollte sich jedes Mitglied der Gesellschaft bewusst sein.” (Prokofieff: Rudolf Steiner und die Grundlegung der neuen Mysterien, Stuttgart 1986, S. 129)

Prokofieff ist ein Mensch, der “wirklich die ganze kosmisch-tellurische Dimension des Mysteriums, das auf dem Golgathahügel stattgefunden hat, durchschaut”, wie jetzt ein neues Buch nahelegt (Prokofieff: “Zeitreisen”. Ein Gegenbild anthroposophischer Geistesforschung, Dornach 2013, S. 30). Zumindest aber, so der Tenor des Pamphlets, besser durchschaut als Judith von Halle, der er schlicht die hellseherische Kompetenz abspricht. Die stille Konkurrenz anthroposophischer Christentümer wird in der eben zitierten Streitschrift immerhin unverhüllt ausgetragen. Mit allerlei Steinerzitaten bemüht sich Prokofieff, von Halle als Verräterin  an der Anthroposophie, und das heißt auch, an Christus selbst darzustellen.

Das Buch erscheint nicht zufällig 2013. Es ist Prokofieffs letzte Amtshandlung als Vorstandsmitglied. Seit Längerem stand fest, dass sein Gesundheitszustand nicht der beste war, wobei die genaue Diagnose bisher nicht bekannt geworden ist. Im Januar kündigte Prokofieff nun in einem Offenen Brief seinen Rücktritt an und bedauerte, künftig keine Kontakte mehr pflegen, Vorträge halten oder Aufgaben übernehmen zu können. Neben der Krankheit hatten auch Meinungsverschiedenheiten an seiner Position gezehrt. In Schillers eigentümlicher Völkerpsychologie des Dornacher Vorstands liest sich das so:

“Für das östliche Willensfeuer der Seele ist die Formkälte des Westens jedoch unerträglich und für die westliche Formkraft das lodernde Seelenfeuer des Ostens schwärmerisch religiöse Zumutung. Dem Verständnis des fremden Wollens treten individuelle, aber auch typologische Krafthindernisse entgegen. Zu den unverheilten Wunden und Spätfolgen des Zweiten Weltkrieges gehört die aus dem Gleichgewicht gebrachte Menschheit. Was heute als osteuropäisch gilt, war Jahrhunderte zuvor Mitte und was sich heute Mitte dünkt, ist zumeist nur Appendix des Westens. Die ehemalige Mitte denkt, fühlt und lebt westlich. Da kann einem Repräsentanten des Ostens [also Prokofieff, AM] unbemerkt und ungewollt nicht nur der Platz eingeschränkt oder beeinträchtigt, – er kann ihm genommen werden. Da erscheinen als persönliche Mängel, was als Folgen eines Raumes- und Zeitenschicksals Nachsicht erforderte.” (Schiller: Bericht, a.a.O., S. 6)

Hochverrat

Raumes- und Zeitenschicksal waren aber anscheinend wenigstens so gnädig, Prokofieff einen letzten 120-seitigen literarischen Kreuzzug gegen Judith von Halle zu gestatten. “Zeitreisen. Ein Gegenbild anthroposophischer Geistesforschung”, so der Titel. Auf der Innenseite findet sich ein einschränkender Zusatz: “Eine Darstellung für Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft”. Prokofieffs Strategie ist einfach und wirkungsvoll: Erstens werden von Halles Wundmale als irrelevant marginalisiert, davon ausgehend wird zweitens der Fokus auf ihre Sinneserweiterungen in Raum und Zeit eingeschränkt, drittens soll gezeigt werden, dass letztere mit Anthroposophie nichts zu tun hätten.

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Wer das Buch in der Hoffnung aufschlägt, ein Steinerianisches Zauberduell zu finden, wird enttäuscht: Prokofieff liefert einen immer beleidigt wirkenden Lehrgang in theosophischer Dogmatik. Das vermeintliche “Wunder” der Stigmatisation wird dabei nur am Rande und beeindruckend verzerrt dargestellt. Prokofieff übersieht die Pointe, die von Halle für viele Anthroposophen so attraktiv macht: Die vermeintliche Kausalwirkung des Geistes auf die Materie. Er zielt auf das Glück im clairvoyanten Geist. “Alle leiblichen Manifestationen, welcher Art auch immer, gehören nicht dazu.” (S. 8) Dies führt zu einer unerwarteten, fast überraschenden Position. Im Gegensatz zu früheren Verlautbarungen gipfeln Prokofieffs Polemiken in einer fast dualistischen Gegenüberstellung von Geist und Materie. Christus, der für die biblische Theologie ja nicht umsonst körperlich auferstand, muss dafür als “Geistleib” herhalten, der “seinem Ursprung und Wesen nach nichts mit irdischer Materie zu tun” habe. (S. 29) Aus dieser Figur leitet Prokofieff nur konsequent (aber wortreich) ab, dass auch von Halles vermeintliche Sinneserweiterungen dem Profanen angehörten und keinen “übersinnlichen” Status einnehmen dürfen. Judith von Halle sei wie ihre katholische Leidensschwester Anna Katharina Emmerich nicht in der Lage, die Auferstehung zu erfassen. Sie sei zu “stark auf die Geschehnisse des Karfreitags” konzentriert. Eine “ins Materialistische führende Richtung,” (S. 75)

Selbstredend hat Prokofieff nicht das leiseste Verständnis, nicht einmal einen adäquaten Begriff von Materialismus. Das Schlagwort ist anthroposophisches Jargon mit der Bedeutung: Hochverrat. Nur an wenigen Stellen im Buch wird dessen eigentliche Botschaft offen ausgesprochen, die doch überall durchscheint: neben Steiner ist kein eigener Gedanke, erst recht kein neuer Prophet zugelassen. Prokofieff verlängert seinen alten Hass auf Valentin Tomberg (einen weiteren Anthroposophen mit dem Anspruch eigener Hellsichtigkeit) auf ein neues Opfer. Die Anthroposophie ist für Prokofieff kein “Erkenntnisweg”, sondern dessen Ziel. Seine Kritik an von Halle läuft auf die Mahnung hinaus, sich gefälligst devoter zu verhalten:

“Weil Anthroposophie ein Wesen in der geistigen Welt ist, gebührt ihr gegenüber ein selbstloses Dinenen und nicht der Versuch, sie als Mittel zum Zweck zu benutzen.” (S. 31)

“Monden-Blutsopfer”

Neben seinen aufgewärmten Anti-Tomberg-Polemiken hat Prokofieff weitere Feindbilder, etwa von Halles berühmte Phantasien über “das jüdische Passahfest”. Sie hatte imaginiert, dass Jesus am Gründonnerstag ein Lamm geopfert und damit den Brauch des Pessachfestes erfüllt habe. Diese Anekdote (bei deren Kritik er sich einem Buch von Mosmuller anschließt) ruft in Prokofieff “Erschütterung und innere Abscheu” hervor (S. 36). Denn, so heißt es im typischen Schreibstil:

“Der wahre Sonnen-Gott, der nach dem Zeugnis des Briefes an die Hebräer, sein ganzes Werk auf der Erde im Sinne der Priesterwürde der Sonnenmysterien des Melchisedek ausgerichtet hatte – das heißt nicht im Dienste der nationalen Gottheit Jahve, sondern im Sinne des höchsten Gottes El-eljôn, den Christus in seinen Abschiedsreden als seinen Vater bezeichnet – konnte niemals ein Monden-Blutopfer [Jahwe gilt in der Anthroposophie als Mondgottheit, AM], in welcher Form auch immer, durchführen.” (S. 34)

Prokofieff reißt den biblischen Gott damit in zwei Stücke: erstens den wahren “Vater” mit seinem Sohn, dem sonnenhaften Christus, zweitens der “nationalen Gottheit” Jahwe. In seiner Schilderung Jahwes, dem er noch den Mond und das Blut zuordnet, bedient Prokofieff, ob unbewusst oder wissentlich, Steiners antijudaistische Geschichts- und Symbolkonstruktionen. Die Mond- und Blutsucht projeziert er anschließend auf Judith von Halle: Sie wolle das Abendmahl von den Sonnenkräften weg und in eine “einseitig volkstümlich-mondenhafte Richtung” lenken. Der inhaltliche Haupteinwand gegen von Halle besteht schließlich darin, dass ihr, so Prokofieff, “nicht die wahren Bilder aus der Akasha-Chronik erscheinen, sondern deren in der Mondensphäre vielfach entstellte Widerspiegelungen” (S. 36) An anderer Stelle heißt es:

“Dass sich Jahve von den Erdengeschicken des hebräischen Volkes schon viel früher getrennt hatte, das erfuhr Jesus von Nazareth noch vor der Jordantaufe, als er durch seine jahrelange Beschäftigung  mit der jüdischen Geistigkeit feststellen musste, dass Bath Kol, die noch die Propheten inspirierende geistige Stimme, nicht mehr im Volke wirkte.” (S. 51)

Auch von Halles Jünger haben Prokofieff gern mit völkerpsychologischen Ausfällen attackiert. So meint Peter Tradowsky, Prokofieff sei Anhänger eines “gnostisch platonisierenden Christentums”.

Der Gegenvorwurf lautet nun: latenter Katholizismus. Prokofieff beschäftigt sich im Hauptteil des Buches mit Zitatabgleichen zwischen Steiner, von Halle und Anna Katharina Emmerich, die ebenfalls die Wundmale Jesu, Nahrungslosigkeit und göttliche Visionen beanspruchte. In der Tat kann er zahlreiche (im Einzelfall auch wirklich aufschlussreiche) Gemeinsamkeiten der Stigmata-Fraktion konstatieren. Die unterstellten Differenzen zu Steiner spielen sich derweil ausnahmslos auf der Ebene von Nichtigkeiten ab. Das Ergebnis ist eine Schlammschlacht in den verästeltsten Details anthroposophischer Obskuritäten. Judith von Halle hat beispielsweise ihre eigene Version von der Herkunft des Abendmalskelches Jesu. Der stamme vom “Alten Mond”, einer früheren Inkarnation des Planeten Erde. Nach Steiner handelte es sich um eine Schale aus Jaspis. Für Prokofieff sind die Irrtümer von Halles dabei ganz offensichtlich, da Steiners Forschungsergebnisse stets “vom gesunden Menschenverstand erkenntnismäßig nachvollzogen werden können.” (S. 28) Dabei verwickelt er sich immer weiter im eigenen performativen Widerspruch: Prokofieff vertraut keineswegs auf einen “gesunden Menschenverstand”, was immer das sein soll, sondern muss seitenweise Steiner-Zitate anschleppen, um Judith von Halle des “Irrtums” zu überführen. “Irrtum” heißt freilich nicht mehr, als dass man Steiner auch anders lesen kann.

Natürlich sind Sergej Prokofieff und Judith von Halle sich in der Außenperspektive in allem Grundsätzlichen einig: Christus, die höheren Welten, das Golgathamysterium, die planetarische Evolution… Das scheint auch unser Pamphletist zu bemerken, jedenfalls hält er es für unverzichtbar, auch noch in die Schatzkiste anthroposophischer Dämonologie zu greifen. Zu Beginn seiner Ausführungen erzählt Prokofieff, er habe einen einzigen Vortrag von Halles besucht, der “interessant und zum Teil sogar anregend” war. Aber plötzlich konstatierte der Erleuchtete, dass hier andere Kräfte am Werk waren:

“Dann jedoch machte die Vortragende beim weiteren Verlesen eine Pause und sprach plötzlich (nach meiner Wahrnehmung) mit einem veränderten Gesichtsausdruck und auch nicht mehr mit derselben Stimme weiter. Es war, als spräche jetzt ein anderer Mensch. Und nun folgte zu meiner völligen Überraschung eine schaurige Geschichte, die mit der ganzen vorhergehenden Betrachtung nichts zu tun hatte…” (ebd.)

Spätestens auf Seite 28 weiß der treue Prokofieff-Fan, womit wir es zu tun haben. Der Meister lässt sich Zeit bis zur letzten Seite, um die Konsequenz zu ziehen, die bereits hier feststeht: In Judith von Halle, ihren Stigmata und ihren hellsichtigen Mitteilungen wirken böse Mächte.

“Es besteht kein Zweifel, dass hinter diesem visionären Element auch ganz konkrete geistige Mächte wirken. Dies kann aus der Anthroposophie mit Sicherheit geschlossen werden. Und dass diese Mächte Rudolf Steiner und seinem Werk gegenüber feindlich gesonnen sind, liegt ebenfalls auf der Hand. Denn alle raffinierten Angriffe auf die Anthroposophie, die zu ihrer Entstellung und sogar Aufhebung führen sollen, sind okkult intendiert, was den Sachverhalt, um den es in diesem Buch geht, so gravierend macht.” (S. 114)

“Verleumdung”

Der Klappentext winkt dagegen mit dem Schleier objektiver Nüchternheit: “Die angeführten Tatsachen können die Grundlage für ein eigenständiges Urteil des Lesers bilden”. Die anthroposophischen Reaktionen sind gespalten. Unübersehbar ist, dass weniger über Judith von Halle als über Prokofieff gestritten wird, dessen Duktus man in der Szene seit über zwanzig Jahren debattiert. Michael Eggert wusste sich gleich nach dem Erscheinen über Prokofieff lustig zu machen: “Wenn er das sagt – Grundlage für ein eigenständiges Urteil des Lesers -, dann weiß man immer, was das Stündlein geschlagen hat, High Noon. Wenn Herr Prokofieff dieses sich herab läßt zu sagen – ‘solche Strömungen’, dann gefriert ja schon die Milch im Topf. Die Stunde der edlen Ritter, die Stunde des Tournamentes.” (Eggert: Sergej Prokofieff schlägt zurück) Dagegen meint Michael Mentzel, das Buch biete “eine umfangreiche Materialsammlung”, die es dem Leser “ermöglicht, nachzuvollziehen, warum die Darstellungen Judith von Halles für Prokofieff ein solches Problem darstellen. Seine Sorge, die Anthroposophie könne sich durch die Mitteilungen über “Zeitreisen” und die Gesichte Judith von Halles zu einer Glaubensgesellschaft statt zu einer Erkenntnisgesellschaft entwickeln, ist dabei – für mich – durchaus nachvollziehbar.” (Mentzel: Sergej Prokofieff vs. Judith von Halle)

Andere Anthroposophen halten Judith von Halle für blanken Horror und dürften das Buch mehr als nur nachvollziehbar finden. Prokofieff zitiert “eine junge englische Zuhörerin” eines von Halle-Vortrags:

“My own reaction was one of hurt and anger that anyone could describe Christ in this way. The scene that she described seemed so fundamentally un-Christian that I had to conclude, if this were indeed an accurate description of the last supper, that Christ was not the God I believed in and I was not a Christian.” (Brief an Prokofieff, 1. Januar 2013, zit. n. S. 118)

Solche Briefe, ob für oder gegen Prokofieff, ob für oder gegen Judith von Halle, müssen auch den aktuellen Dornacher Vorstand in rauen Mengen erreicht haben. In Glaubenskrisen wenden sich empörte Anthroposophen gern an ihre (eben nicht nur organisatorische) Führungsebene. Die Vorstandsmitglieder erklärten deshalb höflich, aber vage, ihre Neutralität:

“Grundsätzlich betrachten es der Vorstand der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft und das Hochschulkollegium als ihre Aufgabe, einen Freiraum der Erkenntnissuche und des vielschichtigen anthroposophischen Lebens zu ermöglichen. Dazu gehört selbstverständlich die Freiheit eines jeden Autors – auch als Mitglied des Vorstandes –, seine Einsichten und Erkenntnisse zu publizieren. Ebenso zieht jede Veröffentlichung die Möglichkeit der kritischen Stellungnahme oder Diskussion nach sich. Das gilt gleichermaßen für die Publikationen von Sergej Prokofieff und Judith von Halle.” (Virginia Sease, Paul Mackay, Bodo von Plato, Seija Zimmermann, Justus Wittich, Joan Sleigh: Zum Buch ‹Zeitreisen› von Sergej Prokofieff, in: Anthroposophie weltweit Nr. 5/13, S. 18)

Derweil haben 38 prominente Anthroposophen, darunter etwa Götz Werner, Gründer und aktuell Aufsichtsratsmitglied der dm-Drogeriemarktkette, in einem Offenen Brief gegen das Buch protestiert. Die 38 anthroposophischen Wutbürger finden Prokofieffs “Anschuldigungen” “weder nachvollziehbar noch haltbar noch akzeptabel. Sie sind Ihnen zu einer Verleumdung geraten. Noch gäbe es allerdings eine Möglichkeit zur Korrektur: Entschuldigen Sie sich bei Frau v. Halle, distanzieren Sie sich öffentlich von dem Buch und fordern Sie den Verlag auf, es zurückzuziehen.”

Beide Lager unterscheiden sich letztlich nur in Einzelheiten – der Geisteszustand der von Halle-Fans kann mit dem der Prokofieff-Jünger durchaus mithalten. Trotzdem sind gerade die Differenzen entscheidend: Es geht um nicht weniger als den Offenbarungsrang Steiners, darum, ob es gestattet sei, ihm gleich in die höheren Welten einzudringen. Ferner darum, was die Bühne anthroposophischer Frömmigkeit sein soll: Leib oder Geist, die Suche nach Manifestationen des Spirituellen oder die Versenkung in Steiners Texte.

Nicht zuletzt macht die Offenherzigkeit, mit der der Prokofieff/von Halle-Streit ausgetragen wird, gefährliche Tendenzen sichtbar. Offenbar prägen auch noch im Jahr 2013 verkappt antijüdische und manifest völkerpsychologische Themen den aktuellen anthroposophischen Diskurs. Das macht kritische Aufmerksamkeit von außerhalb der “Bewegung” nötiger denn je.


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“Entwicklungsrichtung Anthroposophie”: Was Max Mustermann über Nazis und Neukantianer lernen sollte. Eine Intervention

„An der anthroposophischen Lehre vorüberzugehen, ist nicht gut möglich, da ehrliche Not und Sehnsucht zahlreicher Gläubigen an ihr hängt. Die große Gefolgschaft Steiners erklärt sich zum guten Teil daraus, dass Steiner auf Grund seiner Einsicht in die Unhaltbarkeit unserer geistigen Situation eine wissenschaftlich nachprüfbare Methode zu besitzen vorgibt, die zur Schau übersinnlicher Realitäten wie zur Erkundung menschlicher Bestimmung verhelfen soll und den trügerischen Anschein erweckt, als stelle sie gesicherte Beziehungen zum Absoluten her … Auch rührt das Anschwellen der Bewegung wohl mit daher, dass die Steiner-Gemeinde soziologisch an entscheidenden Punkten den Typus der Kirche repräsentiert, dass sie somit wohltuend den Vereinzelten umfängt und ihm das Gefühl des Geborgenseins verleiht.“
– Siegfried Kracauer: Die Wartenden (1922), in: ders.: Das Ornament der Masse
, Frankfurt a.M. 1951, S. 110.

“Initiative Entwicklungsrichtung Anthroposophie”

Nicht alle Anthroposophen fühlen sich im Internet wohl: “Die Technologien von heute sind immer die Probleme von morgen…” Zur Angst vor den finsteren Mächten Ahrimans gesellt sich eine vor den “Intellektuellen, die den ganzen Tag von nichts als Papier und digitalen Zeichen umgeben sind” (Lorenzo Ravagli: Prometheus und die heilige Erde, München 2013, S. 8f.) Zu den Exemplaren mit Internetanschluss und vor allem munterer Freude an dessen Benutzung gehört Michael Mentzel. Auf seiner Seite mit dem bezeichnenden Namen “Themen der Zeit” veröffentlicht er gelegentlich, so meine ich jedenfalls, sogar informative Artikel, z.B. der oft exzellent informierten anthroposophischen Nachrichtenagentur NNA. Die “Themen der Zeit” sind trotzdem eine Lektüre immer wert, m.E. besonders dann, wenn Mentzel seiner journalistischen Kreativität zu realen und/oder vermeintlichen Fehlern von sog. “Anthroposophiekritikern” freien Lauf lässt (vgl. Die unendliche Geschichte; Mentzels Traum). Ob Mentzel sich tatsächlich gut mit Steiner auskennt und seine Ressentiments aus dessen Werk gezogen haben sollte, konnte ich bisher nicht feststellen. Zwar bekennt er stolz in einem “(Selbst-)Verständnis”, es sei “sicherlich nicht zu übersehen, dass es auf dieser Seite eine starke Ausrichtung zu anthroposophischen Themen gibt”. Aus seinen wenigen einschlägigen Blogs  konnte ich eine exzessive  Steinerlektüre bisher aber nicht ersehen (vgl. etwa Mentzel: Die richtige Seite der Geschichte).

Angenehm zurückhaltend gegenüber den “Themen der Zeit” ist unfreiwilligerweise der Internetauftritt der “Initiative Entwicklungsrichtung Anthroposophie. Ein Nachrichtenblatt”. Der Leser erfährt hier (Stand: 17.8.2013) in der Spalte “über uns”, dass Max Mustermann am 28. März 1978 geborgen wurde und wird anschließend unter den Stichworten “Beruf”, “Qualifikationen” und “Interessen” jeweils belehrt: “Dies ist nur ein Beispieltext. Du kannst ihn löschen oder ändern.”

Wer denkt, hier habe endlich eine anthroposophische “Initiative” Steiners 1894 proklamierte “Grundmaxime der freien Menschheit” (“Leben und leben lassen”) in einer für alle Beteiligten vorteilhaften, weil unaufdringlichen Weise verinnerlicht, hat leider bloß die Print- bzw. PDF-Ausgabe noch nicht gelesen. Die ist anscheinend stramm im Geiste Peter Selgs und Sergej Prokofieffs unterwegs. Die Zeitschrift hat m.E. das Zeug, das Stimmrohr der zahlenmäßig doch nicht gerade kleinen anthroposophischen Hardlinerfraktion zu werden. Das inzwischen im dritten Jahr von Roland Tüscher und Kirsten Juel betriebene Blättchen beansprucht mit seinem Untertitel “Ein Nachrichtenblatt für Mitglieder” offenbar, in der Nachfolge des seit Beginn der anthroposophischen Bewegung herausgegebenen “Nachrichtenblatts” zu stehen. Letzteres wird von der Verbandszeitschrift der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft, “Das Goetheanum”, inzwischen nicht mehr betrieben und wird jetzt durch die neue private “Initiative” ersetzt. Die Inhalte des neuen Mitglieder-Blatts sind interessanterweise z.T. explizit feindlich gegenüber dem “Goetheanum”, dem etwa Zensur und Verleumdung vorgeworfen wurde, weil es Selgs und Prokofieffs spirituelle Allkompetenz nicht genügend zum Ausdruck bringe bzw. den Abdruck entsprechender Artikel verweigere. Der liberale Anthroposoph Ramon Brüll spricht von einer inneranthroposophischen “Sekte” (vgl. Ramon Brüll: Eine soziologische Betrachtung), ein Terminus, mit dem ich zugegebenermaßen weniger anfangen kann. Dieser Begriff sollte schon alles Mögliche von hinduistischen Gruppen über die Nonnen Mutter Theresas bis zu extremen politischen Parteien und den Zeugen Jehovas umgreifen. Er fasst dabei wohl weder diese noch die spezifischen ideologischen Puzzlestücke dieses anthroposophischen Forums. In der Juli-Ausgabe (14/2003) des “Nachrichtenblatts” wurden etwa gleich auf der Titelseite Spekulationen über Edward Snowden als Kämpfer gegen die Weltherrschaftspläne Ahrimans ausgebreitet.

“Genügt es tatsächlich, ein ehemaliger Waldorfschüler zu sein…?”

Da das “Nachrichtenblatt”, soweit ich einen Einblick gewinnen konnte, von interessanten Artikeln bisher weitgehend verschont geblieben ist, hatte ich mittelfristig eigentlich nicht vor, darüber zu schreiben. Neulich aber fühlte sich eine heilige Allianz von Wolfgang Kilthau (Geschäftsführer der Anthroposophischen Gesellschaft Frankfurt), Klaus Schamell (Arzt für Allgemeinmedizin) und Georg Peuckert (Anthroposophische Öffentlichkeitsarbeit) im Dreiergespann berufen, im “Nachrichtenblatt” über meine Person zu schreiben:

“Genügt es tatsächlich, ein ehemaliger Waldorfschüler zu sein und zu glauben, dass ein 22-jähriger (Martins) damit schon in der Lage sein wird, sachlich-seriöse Darstellungen wichtiger anthroposophischer Felder wie Pädagogik, Medizin und Landwirtschaft vorzunehmen?” (Kilthau/Schamell/Peuckert: “Rudolf Steiners langer Schatten”, in: Initiative Entwicklungsrichtung Anthroposophie, 14/2013, 7. Juli)

Offenbar sei ich also zu jung, um überhaupt etwas zur Anthroposophie zu sagen, obwohl die Autoren die Altersangabe “22” (aus welchen Gründen auch immer) erfunden oder falsch berechnet haben. Die Botschaft, aufgrund meines Alters dürfe man meine Äußerungen entspannt übergehen, habe ich nirgendwo so oft gehört wie bei Anthroposophen, womit vielleicht ein wenig über den Ungeist gesagt ist, der hinter der dort proklamierten Wertschätzung “des Individuums” gelegentlich steckt. Der Text erschien auch in “Anthroposophie weltweit. Mitteilungen Deutschland” (Juli August 2013, S. 5f.).

Die Aussage dieses Triumvirats gefällt anscheinend sowohl Mentzel als auch seinem fanatischeren Glaubensbruder Michael Heinen-Anders, der seit Längerem meinen Eintrag auf wiki.anthroposophie.net betreibt. Beide zitieren die Herren Kilthau, Schamell und Peuckert zustimmend. Heinen-Anders gilt selbst vielen Anthroposophen als spleenig. Ein paar von Mentzels Lesern haben aber die (für mich) unangenehme Angewohnheit, dessen Auslassungen für meine tatsächliche Meinung zu halten und mir in hysterischen Mails vorzuwerfen: wenn meine Waldorfschulzeit so schrecklich gewesen sei, möge ich das doch nicht an der daran gänzlich unschuldigen Anthroposophie auslassen. Das Gegenteil ist der Fall: Trotz oder dank Anthroposophie darf ich auf eine äußerst angenehme Waldorfschulzeit zurückblicken. Ihr verdanke ich zwar keinen Deut meiner Steinerkenntnisse, wohl aber eine auch für die Aneigung selbiger bewährte Kulturtechnik, der sich vielleicht Mentzel, Heinen-Anders und scheinbar auch Kilthau, Schamell und Peuckert etwas intensiver widmen könnten: das Lesen.

Mentzel meint in seinem Beitrag, der ausschließlich auf dem seltsamen Veranstaltungs-“Bericht” der drei letzteren basiert:

“Dass Martins auf seiner Facebookseite die Veranstaltung zwar angekündigt, dann aber offensichtlich den Mantel des Schweigens darüber gebreitet hatte, lässt zumindest die Hoffnung aufkeimen, dass es dem “Sternekoch” (Info3 Chefredakteur Jens Heiserkamp über A. Martins) vielleicht selbst ein wenig peinlich sein könnte, wenn all zu viel Aufhebens von seinem Beitrag zu dieser Diskussion gemacht würde.” (Mentzel: Nachlese. Einst im Mai…)

Warum ich für stattfindende oder fehlende Berichterstattungen über meine eigenen Veranstaltungen verantwortlich sein soll, behält Mentzel für sich. Vielleicht soll das anthroposophischer Enthüllungsjournalismus sein, vielleicht ist Mentzel auch beleidigt, weil Jens Heisterkamp ihn im gleichen Zusammenhang als “Kohlroulade” bezeichnet hat, aber immerhin einen Punkt möchte ich klarstellen: Ich wäre natürlich im Gegenteil erfreut, wenn von meinen Beiträgen dieses Abends “Aufhebens” gemacht worden wäre. Wurde es aber nicht und am wenigsten im von Mentzel zitierten Pamphletchen.

Anlass der Polemik im “Nachrichtenblatt” war eine vor allem von pöbelnden Provinzanthroposophen besuchte Veranstaltung im Frankfurter “Haus am Dom”, bei der die Pädagogin Irene Wagner und meine Wenigkeit auf dem Podium saßen. Zumindest Kilthau und Schamell, denen ich das Attribut geistiger Provinzialität eigentlich nicht zuordnen würde, saßen im Publikum und haben sich auch in die Diskussion eingeschaltet. Außer Steiners ortsansässigem Fanclub schienen sich so viele nun wirklich nicht für diesen und seinen wie auch immer gearteten Schatten zu interessieren. Jedenfalls kam aus dem Publikum kaum ein Nichtanthroposoph zu Wort und eine kritische Diskussion war kaum führbar. Stattdessen war in Wortbeiträgen alles Mögliche bis hin zu Steiners überragenden hellsichtigen Beiträgen zur Erforschung des Bienensterbens zu hören. In der Wahrnehmung unseres Autorentrios war es dagegen “den vielen Interessierten nicht möglich …, sich der Anthroposophie sachlich und verstehend zu nähern. Der eigentliche Auftrag jeder Kultur – bzw. Bildungsanstalt.”

In der Tat würde mich Lob von Autoren, die anscheinend den “eigentlichen Autrag jeder Kultur- bzw. Bildungsanstalt” in der Annäherung an die Anthroposophie sehen, eher verwundern. Verwunderlicher aber ist die Schilderung des Abends durch Kilthau/Schamell/Peuckert. Die selbstgerechte Meinungsstärke ihres Berichts entspricht dem Ausmaß ihrer Faktenschwäche und kann insofern m.E. durchaus mit Mentzels Seite und Dr. Irene Wagners Buch mithalten. Noch verwunderlicher ist der Umstand, dass die drei über das zuweilen schreiende Publikum dieses Abends nicht ein Wort schreiben. Dass (nicht nur) meine Wortbeiträge durch zunehmend aggressive Zwischenrufe (“…von allen guten Geistern verlassen”) unterbrochen wurden, kommt so wenig vor wie meine Diskussion mit Frau Wagner selbst.

Stattdessen wird mit einer unter anthroposophischen Apologeten beliebten Technik gearbeitet und der Inhalt des Abends zu einer Aneinanderreihung von Stereotypen verballhornt, die man “Anthroposophiekritikern” immer problemlos zuschreiben kann, weil ja irgendwie sowas auch gesagt oder mit dem Was-auch-immer-Gesagten zumindest gemeint worden sein könnte:

“Schon im ersten Thema wurden die Zuhörer von den beiden Referenten (insbesondere Ansgar Martins) mit einer Fülle von Halbwahrheiten, Einseitigkeiten und Entstellungen überschüttet: Der Lehrer müsse Anthroposoph sein, er bringe Reinkarnation und Karma mit in den Unterricht und die Waldorfpädagogen schnüren die Schüler in ein Korsett vorgegebener Inhalte. Die Kinder werden zudem nicht als kleine Persönlichkeiten, sondern eher als „Typen“ behandelt und die Pädagogik sei z.T. autoritär. Selbst ein harmloser Begriff wie Nachahmung, erhält plötzlich eine Umbewertung in eine negative Richtung.”

Einige Bemerkungen des Berichts hinterlassen mich tatsächlich ratlos, zum Beispiel folgender Vorwurf an Wagner und mich: “Oft wird in kleinlichen Verhaltensmerkmalen einzelner Waldorflehrer herumgemäkelt.” Zu den Merkmalen des Abends, der hastig Waldorfpädagogik, anthroposophische Medizin und biodynamische Landwirtschaft durchging, gehörte nach meiner Erinnerung, dass über einzelne Beispiele leider so gut wie nicht gesprochen werden konnte. Am eben zitierten Satz fällt die für den ganzen Bericht typische sprachliche Merkwürdigkeit auf. Soll “in kleinlichen Verhaltensmerkmalen einzelner Waldorflehrer” herummäkeln heißen, dass über solche Verhaltensmerkmale bei Waldorflehrern gemäkelt wurde? Oder aber, dass kleinlich über solche Verhaltensmerkmale gemäkelt worden sei?

“Neukantianisches Machwerk”

Nach den eben zitierten Sätzen versteigen sich die Autoren zu folgender Pointe:

“Bei der Nennung des philosophischen Hauptwerkes Rudolf Steiners – der Philosophie der Freiheit –, charakterisiert A. Martins diese als ein „neukantianisches Machwerk“, geschrieben noch vor dem 1. Weltkrieg…”

Tatsächlich wurde dieses philosophische Hauptwerk genannt, und zwar einmal mehr vom dafür eigens aufgestandenen Wolfgang Kilthau. Zuvor war über die anthroposophische Lehrerausbildung diskutiert worden – wie gewohnt vor allem im wütenden Publikum. Kilthau fühlte sich offenbar genötigt, einzuwenden, dass die “Philosophie der Freiheit” auch zum Pflichtpensum für Waldorflehrer gehöre und einer weltanschaulichen Eingleisigkeit vorbeuge. Meine Antwort lautete, dass Steiners Freiheitsphilosophie von 1894 (wieso auch immer die Autoren daraus den Ersten Weltkrieg gemacht haben) kein Psychoratgeber für Lehrer, sondern neukantianische Philosophie sei, die man nicht zum pädagogischen Flexibilitätsgaranten umbiegen könne. Dass bei den Autoren des Berichts “neukantianisches Machwerk” hängenblieb, daran kann ich wahrscheinlich nichts ändern. Es ist aber m.E. nachvollziehbar, da im Wort “neukantianisch” Kant vorkommt, den schon Steiner  offenbar nicht leiden konnte. Bereits in seinem philosophischen Frühwerk hat er, vermutlich unter dem Einfluss Nietzsches, Kants Transzendentalphilosophie mit einer “hochproblematischen, ideologischen Verknüpfung von wissenschaftlicher und weltanschaulicher Betrachtungsweise unter den Kategorien ‘gesund – krank'” abgefertigt (Hartmut Traub: Philosophie und Anthroposophie, S. 166; vgl. Steiner, GA 3, S. 4), während ihm die Nähe seiner eigenen Moralphilosophie zum Kantischen Sittengesetz verborgen blieb.

Zu den keineswegs neuen Ansätzen gehört jedoch der Versuch, sie philosophiegeschichtlich als Neukantianismus metaphysischer Prägung zu diskutieren (vgl. für eine frühe anthroposophische Stimme Hans Büchenbacher: Erfahrung und Denken, Basel 1978, S. 7f.; für eine systematische Deutung Jaap Sijmons: Phänomenologie und Idealismus. Struktur und Methode der Philosophie Rudolf Steiners, Basel 2008). In der neukantianischen Debatte um eine “voraussetzungslose Erkenntnistheorie” liegt vielleicht auch einmal ein originärer innerphilosophischer Debattenbeitrag Steiners. Ausgangspunkt war der Wiener Philosoph Johannes Volkelt, mit dem Steiner vor allem die Apotheose des Denkens als Zugang zur Welt teilt, dem sich zunehmend aber auch die Frage nach dem “Ich” in der Erkenntnistheorie stellte.

“Wahrscheinlich wurde Volkelt auch durch die vielfältige Kritik an seinem Subjektivitätskonzept darauf aufmerksam, dass dort eine Schwierigkeit verborgen liegt … Historisch war es vielleicht der Neukantianer Rudolf Steiner (1892), der als erster den Volkeltschen Ansatz in diesem Punkte korrigierte, an den er sich im übrigen weitgehend anlehnt.” (Harald Schwaetzer: “Transsubjektivistischer Subjektivismus”, in: ders. (Hg.): Johannes Volkelt: Erfahrung und Denken (1886), Reihe Texte zum Neukantianismus, Bd. 3, Hildesheim 2002, S. XXXVII)

Sijmons und Schwaetzers Einschätzung muss man sicherlich nicht teilen. Sie machen aber deutlich, dass sich die philosophische Weltanschauung des frühen Rudolf Steiner in komplexen philosophischen Konstellationen bewegte – und dieser (eben neukantianische) Kontext macht die Entkernung und Dekontextualisierung seines Denkens zur Innovationssicherung für Waldorflehrer m.E. zu einem interpretativ verfälschenden Unternehmen. Auch Steiner selbst bestritt eine unbeschränkte Verallgemeinerung seiner Darlegungen in einem Brief zu seiner “Philosophie der Freiheit” wie folgt:

“Man kann da nichts tun für jene, welche mit einem über Klippen und Abgründe wollen. Man muß selbst sehen, darüberzukommen … Willkürlich, ganz individuell ist bei mir manche Klippe übersprungen, durch Dickicht habe ich mich in meiner nur mir eigenen Weise durchgearbeitet … Vielleicht ist aber überhaupt die Zeit des Lehrens in Dingen, wie das meine, vorüber. Mich interessiert die Philosophie fast nur noch als Erlebnis des Einzelnen.” (GA 39, 232f.)

Dieses Interesse degradiert zwar Philosophie (also das Abenteuer des Denkens) zum subjektivistischen “Erlebnis”. Aber für Anthroposophen wäre es im Sinne einer immanenten Kritik durchaus hilfreich, besonders wohl für die “stark an der Anthroposophie orientierten Waldorflehrer. Sie fürchten den Verlust der geisteswissenschaftlichen Grundlagen, nicht so sehr den Verlust ihrer Selbstbestimmung und individuellen Freiheit”, so Dirk Randoll, der einige empirische Studien zur Waldorfpädagogik (mit-)durchgeführt hat. Insofern sehe ich zwar keinen Grund, meine Aussage zu revidieren, sehr wohl aber die Darstellung von Kilthau/Schamell/Peuckert.

“There is a plan”

Zur Viertelstunde, die über die anthroposophische Medizin gesprochen wurde, haben Kilthau/Schamell/Peukert in ihrem Bericht nur zu sagen, es seien “Allgemeinplätze” mit “oberflächlicher Kenntnis” und einer “Fülle von Zerrbildern” bedient und es sei ignoriert worden, dass die “Misteltherapie” inzwischen auch von “Schulmedizinern” angewendet werde. Die Verdrehtheit des letzten Vorwurfs ist schon bemerkenswert: An diesem Abend wurde die Misteltherapie als bekanntes Beispiel angesprochen und wurden gerade umgekehrt dessen Steinersche Ursprünge erwähnt (denn um Steiners angeblich “langen Schatten” ging es ja). Dass Steiner die Misteltherapie keineswegs erfunden hat, kam im “Haus am Dom” leider nicht zur Sprache, was das ritterliche Trio aber (wie zu erwarten) offenbar nicht stört. Nicht erwähnt wird außerdem die konkrete Kritik an der anthroposophischen Medizin, die sich um eine ihrer sichtbareren Folgen drehte: die Verbindung von Karma und Krankheit, die sich besonders beim Thema “Impfen” zeigt. Seit 2001 und bis 2013 sind etliche Fälle von Masernausbrüchen an Waldorfschulen gut dokumentiert, die auch auf eine eher geringe Quote von geimpften Schülerinnen und Schülern und eine offiziell als “freie Impfentscheidung” gelabelte Impfpolitik anthroposophischer (Schul-)Ärzte rückführbar sind.

“While many anthroposophists follow ordinary vaccine programmes”, so der Religionswissenschaftler Asbjørn Dyrendal, “others clearly do not and Waldorf schools seem to have been the fulcrum of vaccine-preventable deseases more often than schould be their due. Some are generally negative towards vaccines and vaccine programmes.” Dyrandal erläutert eine beliebte Vorstellung anthroposophischer Impfgegner: “Okkulte Bruderschaften” mit “materialistischen” Absichten versuchen, inspiriert von finsteren Engeln, durch Impfprogramme die spirituelle Entwicklung von Kindern zu verhindern:

“There is a plan. It is secretive, destructive and directed against human agency by blocking children’s spiritual development, thus barring them from freedom … Thus the apparently random is made to make sense: secret ways of knowledge reveal secret brotherhoods, the evil spirits influencing them, the deeper tendencies of the time, and their connection to minute details of history. The topic of threats towards spiritual agency and human freedom, framed in Steiner’s anthroposophy, is an undercurrent through it all. But we may note that although ‘inoculations’ are mentioned as part of the materialist conspiracy of evil powers, Steiner clearly differentiates between existing vaccines against deseases, and those to come, which will be against the spirit. The conflation … is produced by later interpretation.” (Dyrendal: Hidden Knowledge, Hidden Powers. Esotericism and Conspiracy Culture, in: Egil Aspem/Olav Hammer: Contemporary Esotericism, Sheffield/Bristol 2013, S. 204ff.; vgl. GA 177, 13. Vortrag)

Dyrendals Ausgangsbeobachtung, dass das Waldorfmilieu einer impffreundlichen Einstellung nicht unbedingt offen gegenüberstehe, wird aber noch durch andere Faktoren mit bedingt. Etwa die Vorstellung von Karma, das durch Krankheiten abzutragen sei. Steiner: “Es erscheint durchaus im Karma begründet, dass die eine Krankheit ausgeht mit der Heilung, die andere mit dem Tod.” (GA 120, 90) “Es ist ja vor allen Dingen zu betonen, daß selbstverständlich nicht gegen das Karma geheilt werden kann. … das muss im wesentlichen des Arztes Gesinnung sein” (GA 316, 121) Aber: “der Wille zum Heilen … darf niemals eine Beeinträchtigung erfahren … selbst wenn man die Meinung hat, dass der Kranke unheilbar ist” (ebd., 122) Damit steht der Wille zum Heilen nahezu unvermittelt gegen die “selbstverständlich” unumgehbaren Bahnen des Karmas. Zweifellos beruht der Erfolg und gute Ruf der anthroposophischen Medizin wohl auf den Ärzten, die sich für Heilung entscheiden. Sogar der Einbezug der Krankheit als biographischer Station mag zu einer vertrauensvollen Arzt-Patienten-Beziehung und damit zu besseren Genesungsbedingungen führen. Mit der Einführung des Karmagedankens in die Medizin hat diese “Heilkunst” sich jedoch selbst die größten Steine in den Weg gelegt.

Masern, Karma und anthroposophische Medizin waren an diesem Abend, nicht aber im Bericht unseres Trios ein Thema, obwohl Kilthau und Schamell aus dem Publikum meine Darstellung in der Tat, aber ohne wirkliche Gegenargumente, angriffen. Seit Mai sind übrigens zwei weitere Masernausbrüche vorgefallen: an der Waldorfschule Erftstadt und Langen am Lech. Beide wurden kurzzeitig geschlossen. In einer Pressemitteilung des Bundes der Freien Waldorfschulen meinte Vorstandsmitglied Henning Kullak-Ublick: „Es ist immer eine Abwägung, die auch das Alter und die Gesamtkonstitution des Kindes berücksichtigen muss … Impfempfehlungen sollten den Fachleuten vorbehalten bleiben, die Entscheidung den Eltern.“ (Bund der Freien Waldorfschulen plädiert für freie Impfentscheidung)

Biodynamische Landwirtschaft: Grüne…

Kilthau/Schamell/Peuckert kommen dann zum letzten Teil, der biologisch-dynamischen Landwirtschaft.

“Sehr negative Darstellungen gaben die Referenten schließlich von der Anwendung landwirtschaftlicher Präparate und anderer Methoden der bio-dynamischen Landwirtschaft. Wer nicht wusste, um was es sich bei dieser Wirtschaftsweise handelt, gewann den Eindruck, die Landwirte bedienten sich lächerlich-okkulter Praktiken. Es wurde unterschlagen, dass dies alles seit 80 Jahren sehr erfolgreich 2 [sic!] angewandt wird. Dies ist ganz besonders A. Martins anzulasten, der es besser wissen müsste, da er ja seine Schulzeit in diesem Umfeld verbracht hat. Unverständlich auch, dass A. Martins die bio-dynamische Entwicklung mit dem Nationalsozialismus in Verbindung brachte, was natürlich ein völlig unsinniger Zusammenhang ist. Nicht ein Wort fanden beide Referenten dazu, dass aus dem Steinerschen Geistesgut bedeutende Impulse für viele nachhaltige alternative Naturströmungen hervorgegangen sind, bis hin zur Begründung der Grünen, was ursprünglich ein anthroposophischer Impuls war.”

Glücklicherweise war ja der größte Teil des Publikums allem Anschein nach aus der Hügelstraße angereist und mit biologisch-dynamischen Präparaten bestens vertraut. Dass “dies alles” seit 80 Jahren (eigentlich länger) existiert und weltweit unzählige Male gehandhabt wird, war natürlich Thema (und zwar fortgesetzt), ebenso wie meine vom Moderator eingangs erwähnte Waldorfschulzeit. Wieso ich nach dem Besuch einer Waldorfschule umfassend über die Wachstumsraten und -phasen der Anthroposophie informiert sein solle, haben die Autoren leider nicht mitgeteilt. Vielleicht stellen sich manche Anthroposophen vor, das mit der Waldorf-“Weltanschauungsschule” wäre doch die bessere Idee gewesen, aber das gibt wohl der größere Teil dieser Schulen heutzutage nicht her. Anders als gewissen Autoren kann ich den Anthroposophen unter meinen Lehrern übrigens eine sachliche, gepflegte Streitkultur zugutehalten.

Man kann darüber streiten, ob “nachhaltige alternative Naturströmungen” wirklich zu den positiven Auswüchsen oder nicht auch zum Schlimmsten gehören, das man mit der Anthroposophie in Verbindung bringen kann. Gerade der “anarchistische Aufbruch in die Freiheit”, den das philosophische Denken des jungen Steiners versprach, wurde mit der Begründung der Anthroposophie von ihm zugunsten organisatorischer und weltanschauungspolitischer Erfordernisse der neuen Gemeinde eskamotiert (vgl. Die “Optik des Geistes” und der Geist des Okkulten). Er wurde zum allumfassenden Programm verwandelt, in dem nichts der Struktur des allverwaltenden Geistes widersprechen darf:  „Das Allernotwendigste für die Gegenwart und für die nächste Zukunft in bezug auf die Entwickelung der menschlichen Geschicke ist das Hereinholen gewisser Ideen von jenseits der Schwelle…“ (GA 185a, 198)

Das mag auch manchen Tendenzen der “Grünen” entsprechen, für die dann “Natur” und “Nachhaltigkeit” anstelle der “geistigen Welt” stehen, aber diese Partei war mitnichten “ursprünglich ein anthroposophischer Impuls”. Anthroposophen gehörten zu einer von vielen Strömungen (nicht selten auch rechten), die in diese Partei eingingen, haben sich aber (oder wurden, wie Beuys) mit der Erfolgsgeschichte der Ökopartei zunehmend verabschiedet. Allenfalls gilt die Aussage unseres Trios für den frühen “Achberger Kreis”.

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Wahlplakat des anthroposophischen “Achberger Kreises” der “Grünen” (Quelle: egoisten.de)

Besonders lästig an den irreführenden Behauptungen des Trios ist wieder die verkürzte Wiedergabe meiner Aussage, die mir dann auch noch in der Verkürzung zum Vorwurf gemacht wird. Es ist keineswegs “unverständlich”, “die bio-dynamische Entwicklung mit dem Nationalsozialismus in Verbindung” zu bringen. Unverständlich ist, warum heutige Anthroposophen anscheinend so wenig Ahnung von ihrer eigenen Geschichte haben. An dieser Stelle wären an die (seit Jahren vorliegenden) Arbeiten Arfst Wagners, Uwe Werners, Christoph Kopkes, Wolfgang Jacobeits, Peter Bierls, Nicolai Fuchs’, Anna Bramwells, Christine Gerhards usw. usf. und deren ausführliche Vertiefung durch Peter Staudenmaier zu nennen – die folgenden Details verdanke ich diesen Autoren. Arfst Wagner ist übrigens der m.W. heute einzige Bundestagsabgeordnete mit anthroposophischem Hintergrund und tatsächlich bei den “Grünen”. Seine unersetzte fünfbändige Dokumentation zur Anthroposophie im Nationalsozialismus gehörte zu den frühesten Arbeiten zu diesem Thema.

… und Nazis

Die unselige Verbindung von Biodynamik und einem ökologisch interessierten Teil der Nazi-Elite halten Kilthau/Schamell/Peuckert zwar für einen “unsinnigen Zusammenhang”. Außerhalb des Mainstreams der anthroposophischen Selbstwahrnehmung ist er gleichwohl gut dokumentiert (s.o.) und ging wohl auch aus frühen Überschneidungen mit der völkischen Szene hervor. U.a. praktizierte man im “Artamanenbund” in den späten Zwanzigern Steiners Landwirtschaft. Aus dessen Reihen kam auch der nationalsozialistische Lebensreformer Herman Polzer, erklärter Befürworter dieser Landwirtschaft. Ein weiterer Fall ist Max Karl Schwarz, der sich unter den Pionieren der Steinerschen Anbaumethode am intensivsten mit Garten- und Landschaftsgestaltung befasste. Er begeisterte bei einem Einführungskurs 1931 in Loheland den idealistisch-rassistischen Ganzheitlichkeitsnostaliger Alwin Seifert, der sich als Landschaftsgestalter (u.a. der “Reichsautobahn”) und “Reichslandschaftsanwalt” nach 1933 entschieden für die biodynamische Landwirtschaft einsetzte, z.T. in Kooperation mit Schwarz. Seifert, der auch in Nachkriegsdeutschland Bestseller zu Themen wie “Gärtern ohne Gift” verfasste, war kein Anthroposoph – was übrigens Irene Wagner behauptet, die von den genannten Autoren auch nur Arfst Wagner herangezogen hat (Rudolf Steiners langer Schatten, Aschaffenburg 2012, S. 373).

Doch diese Fehlinformation teilt Irene Wagner mit manchen Anthroposophen. Zu den merkwürdigen Folgen solcher Verbindungen gehört etwa, dass der rechte Historiker Reinhard Falter eine Kurzbiographie Seiferts für die biographische Dokumentation der Forschungsstelle Kulturimpuls verfasst hat (vgl. zu Falter und Seifert Christoph Kopke: Kompost und Konzentrationslager. Alwin Seifert und die „Plantage“ im KZ Dachau, in: Arnett Schulze/Thorsten Schäfer: Zur Re-Biologisierung der Gesellschaft. Menschenfeindliche Konstruktionen im Ökologischen und im Sozialen, Aschaffenburg 2012, S. 188f.; Ulrich Linse: „Fundamentalistischer“ Heimatschutz. Die „Naturphilosophie“ Reinhard Falters, in: Puschner/Großmann: Völkisch und national. Zur Aktualität alter Denkmuster im 21. Jahrhundert, Darmstadt 2009, S. 156-178). Die Basis solcher Verbindungen legten u.a. die Biodynamiker Franz Dreidax und Erhard Bartsch. Letzterer bewirtschaftete das Hofgut “Marienhöhe” und lud dahin dutzende hochstehende Nazibeamte ein – darunter Alfred Rosenberg, Innenminister Wilhelm Frick, den “Stellvertreter des Führers”, Rudolf Hess oder den Minister für Ernährung und Landwirtschaft und “Reichsbauernführer” Richard Walter Darré, der nicht umsonst Chefideologe von “Blut und Boden” war. Das sind nur die prominenteren Namen aus einer Reihe von SS- und NSDAP-Funktionären an entscheidenden Stellen (darunter u.a. Rudi Peuckert, Otto Ohlendorf, Oswald Pohl, Hermann Reischle, Alfred Leitgen, Ernst Schulte-Strathaus und Robert Ley) die die anthroposophische Landwirtschaft zur wahrscheinlich erfolgreichsten alternativen Anbaumethode im “Dritten Reich” machten.

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Grasnarben des “Reichssportfeldes” für die Olympischen Spiele 1936, Hitlers Garten am Obersalzberg und Fricks Landgut am Starnberger See  gehörten zu den prominenteren biodynamisch bewirtschafteten Flächen – neben Heilkräutergärten (nicht nur) in den KZs Ravensbrück und Dachau. Derlei kam zustande, obwohl der SD sowie Bormann und Heydrich aggressiv gegen die Anthroposophie vorgingen. Sie verhinderten etwa, dass Schwarz und sein Kollege Carl Rehmer ein biodynamisches Projekt in Auschwitz begleiten konnten. Indessen wurde unter Regie Rudi Peuckerts, kommissarischer Leiter des „Amtes Bauerntum und Ostland“, die biodynamische Methode in den von der Wehrmacht eroberten Gebieten Osteuropas ausprobiert.

“Umfassendes Menschenbild” ist das eine…

Das Interesse der meisten Nazifunktionäre an der biologisch-dynamischen Landwirtschaft war pragmatischer Natur, auch lässt sich Überzeugung und Opportunismus bei den Biodynamikern nicht immer sicher scheiden. Dem “Reichsverband” der Landwirte traten einige Höfe nicht bei, die dann aber auch dessen Zerschlagung 1941 unbeschadet überstanden. Die Anthroposophie als alternativkulturelle Bewegung gehört zu den Opfern des NS-Regimes. In den KZs starben auch Steiner-Schüler jüdischer Herkunft, mit unglaublichem Hass kämpften rechte Steinergegner wie Jakob Wilhelm Hauer, Gregor Schwartz-Bostunitsch, die Ludendorffs und einige hochrangige Nazifunktionäre gegen die Anthroposophie. Anthroposophische Methoden fanden allerdings sehr wohl Interesse und einzelnen Anthroposophen und/oder Biodynamikern wie Georg Halbe (Unternehmer des „Blut und Boden-Verlags“) und Hans Merkel („Führer beim Stab des Rasse- und Siedlungshauptamts“) waren im “Dritten Reichs” steile Karrieren möglich, während andere, wie Ernst von Hippel, die “Entjudung” der Universitäten unterstützten oder (wie Jürgen von Grone oder die Zeitschrift “Demeter”) den Zweiten Weltkrieg enthusiastisch kommentierten. Es bleibt abwegig, im Stile Anna Bramwells durch eine “Steiner Connection” schlicht Nazis zu Anthroposophen und Anthroposophen zu Nazis zu erklären (beides aber gab es): “Grüne” Nazis und Biodynamiker rangen neben praktischen Fragen (wie der Knappeit von Kunstdünger nach dem Ersten Weltkrieg und während des Zweiten) eher beide um einen “ganzheitlichen”, integralen Ansatz, der Naturbelassenheit, kosmische und innere Harmonie förderte – für die Nazis war das essentiell mit der restlosen “Ausmerze” der Juden verknüpft, während Anthroposophen die Evaluation “rassischer” Defizite durch den Geist und eine spirituell-“christliche” “Überwindung” des Judentums postulierten.

Die Institutionalisierung, Professionalisierung und entsprechende Personenstärke des biodynamischen Landbaus verschwand weder 1941 mit dem offiziellen Verbot noch 1945. Die anthroposophischen Landwirte blieben ein gut aufgestelltes alternativkulturelles Segment und waren 1968 in den ersten Reihen zu finden (ob das ein Kompliment ist, darüber wäre ebenfalls zu streiten). Übrigens auch in den USA, wo biodynamische Kommunen zu den frühesten anthroposophischen Keimzellen gehörten. Diese Kontinuität ist aber in keiner Weise ein Zeugnis für ideologische Zusammenhanglosigkeit mit den Abgründen des 20. Jahrhunderts – wie bei keiner Partei, Ideologie, Gruppierung oder Weltanschauung: “Fascist ideals fostered research directions and lifestyle fashions that look strikingly like those we today might embrace.” (Robert Proctor, The Nazi War on Cancer, Princeton 1999, S. 5). Das spricht offenbar nicht für die Nazis, sondern weist auf problematische Tendenzen grünlicher Ganzheitslehren damals wie heute hin. Hier ist auch für Anthroposophen – Vorsicht geboten. Auch die Anthroposophie muss sich am sog. “Zivilisationsbruch” Auschwitz messen. (Vgl. Ralf Sonnenberg: Metahistorisches oder zeitunabhängiges Wissen?, in: ders.: Anthroposophie und Judentum, S. 24). Beide trafen sich in einem Punkt, dem Versuch, Menschen “ganzheitlich” zu erfassen – ein Theorem, das heutige Vertreter der Anthroposophie, denen in  aller Regel freilich jede Apologie der Nazis fernliegt, heute gern als besonders “zeitgemäß” vor sich her tragen. Bei unserem Trio heißt es zum Beispiel:

“Der zukunftsweisende Ansatz Rudolf Steiners, auf der Grundlage eines umfassenden Menschenbildes zu erziehen, welches in den heutigen Wissenschaften nicht mehr zu finden ist, kommt bei den Referenten nicht zur Sprache.”

…völkischer Idealismus das andere…

Wichtig an diesem Satz scheinen mir die zwei Worte “nicht mehr”: In der Tat ist dieser Anspruch in den heutigen Wissenschaften glücklicherweise meist als Ideologie enttarnt und “nicht mehr zu finden” – zumindest idealiter:  Hirnforscher und frenetische Neoatheisten vom Geisteszustand eines Dawkins, übereifrige Kinderpädagogen und sonstige allzu “grüne” “Wissenschaftler” suchen in der Tat noch nach biologistischen oder ganzheitlichen Allerklärungsmodellen. Die integrale Erfassung des Menschen, zur der im Einzelfall auch Ökologie und Spiritualität gehören konnte, ist keine Neuerung Steiners, sondern eine der verbreitetsten Tendenzen esoterischer, (neu-)romantischer, lebensreformerischer und völkischer Systeme damals wie heute. Dies ist (und auch das muss gesagt werden) nicht allen heutigen Anthroposophen entgangen. In dieser Hinsicht lässt sich auch eine Äußerung Bodo von Platos (Vorstand der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft) verstehen, aus der Erfahrung eines existenziellen „Bruchs“ der Moderne resultiere eine „anthropologische Disposition, die für die Anthroposophie wie auch für den Nationalsozialismus – ja für alle Systeme oder Versuche, die den Menschen als Ganzen ansprechen, beanspruchen oder verstehen wollen – von Bedeutung“ sei. (Bodo von Plato, in: Podiumsgespräch: Anthroposophie in der Zeit des Nationalsozialismus, Anthroposophie weltweit. Mitteilungen Deutschland, Sonderheft (2011), S. 18) „Die Anthroposophie”, so von Plato, der freilich den Nationalsozialismus für das nicht integrierbare Gegenbild der Anthroposophie hält, “fordert den ganzen Menschen, so wie auch totalitäre Systeme wie der Nationalsozialismus das tun.“ Dies trifft den Nagel auf den Kopf.

“Diese Komponenten einer Ideologie, die sich selbst ‘völkisch’ nannte, stellten die Grundlage einer Denkweise und Lebenseinstellung dar, die dann in der Entwicklung des modernen Deutschland eine ungeheure Wichtigkeit erlangen sollte … Das romantische Gedankengut sollte eine Alternative zu Fortschritt und der sich entwickelnden industrialisierten, städtischen Gesellschaft sein, die den Menschen seines individuellen, kreativen Seins zu berauben drohten, da sie ihn von seiner alten sozialen Ordnung trennten … Völkisches Denken gab diesem sozialen Gerüst durch die Kraft des Volkes neues Leben. Gleichzeitig wurde die Möglichkeit der individuellen Selbstverwirklichung wiederbelebt, weil das Individuum zu einem Teil des kreativen Prozesses einer höheren Lebenskraft gemacht wurde … Diese Verbundenheit mit etwas größerem als dem eigenen Selbst wurde als notwendige Voraussetzung für das persönliche Wohlergehen verstanden. Die Verwurzelung in beidem, der Natur … und der geschichtlichen Entwicklung des Volkes, wurde als der regenierungsfähige natürliche Zustand des Menschen betrachtet, der das Individuum zu einem schöpferischen Wesen machte.” (George L. Mosse: Ein Volk, ein Reich, ein Führer. Die völkischen Ursprünge des Nationalsozialismus, München 1979, S. 25)

Zu den Eigenheiten völkischer Denker gehörte eine Legierung von Idealismus, Individualismus und Nationalismus, etwa bei Paul de Lagarde, für Steiner “einer der deutschesten Geister”, der “materialistische” Bluts- Volkskonzepte überwunden habe und so “das Wesen der Deutschheit an seiner Wurzel” greifen konnte. (GA 64, S. 224f.) Lagardes “Prophet” (Mosse) Julius Langbehn schrieb in seinem immer wieder auch von Steiner empfohlenen Pamphlet “Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen” (7. Auflage, 1888): “Die treibende Grund- und Urkraft alles Deutschthums heißt: Individualismus.” Bei Steiner las sich das: „Darin besteht das konkret Nationale deutschen Wesens, dass es durch das Nationale über die Nation hinausgetrieben wird in das allgemeine Menschentum hinein.” (GA 174a, 72) Den kosmischen Platz des “Volkes” für die Völkischen nahm für ihn freilich jenes “Allgemeine Menschentum” ein, das die Anthroposophie darstellte:

“Heilsam ist nur, wenn
Im Spiegel der Menschenseele
Sich bildet die ganze Gemeinschaft
Und in der Gemeinschaft
Lebet der Einzelseele Kraft.” (GA 40, 298)

Dieses “Wahrspruchwort” ist für Anthroposophen m.W. nach wie vor eine der gängigen Vorstellung von idealer Gemeinschaftsbildung. Das sei ihnen unbenommen. Betrachtet man die historischen Kontexte solcher Vorstellungen und liest man Steiner im Wortlaut nach, ist diese “Forderung des ganzen Menschen” ein Grund, autoritäre, dogmatische, “ganzheitliche” Versuche aus anthroposophischen Reihen sehr genau zu beobachten.

… und Aufarbeitung ein drittes

Nimmt die Anthroposophie die kritische Reflexion auf diese Tendenz nicht auf, stellt sie sich der Beschäftigung mit ihren mannigfaltigen historischen Verwicklungen und Engagements nicht, ist eine ablehnende Position m.E. die einzig legitime. Steiner selbst, das ist ihm gegenüber seinen bewusstlos überzeugten Anhängern von heute zuzugestehen, hat dem Individuum letztlich ab einer bedeutenden und kaum berücksichtigten Stelle die Priorität zugesprochen. Der Eintritt in die Clairvoyance zerbrach jede Rückbindung an einen diffusen Abgrund der “Gemeinschaft”, weil die “Hüter der Schwelle” radikale Eigenverantwortung verlangten (vgl. GA 10, 196). Mosse hat so an anderer Stelle durchaus zutreffend feststellen können, dass Steiners Theosophie einen “neuen Humanismus” trug, “Spiritualismus mit Freiheit und Universalismus” verband. (Mosse: Geschichte des Rassismus in Europa, Frankfurt a.M. 1990, S. 119) Anstelle dessen ist jedoch unter nicht wenigen Anthroposophen die Lektüre und immer-wieder-Lektüre von Steinertexten getreten. “Das kritische Verhalten erschöpft sich im andächtigen Deuten auf den [Steinerschen] Appell, nichts unkritisch hinzunehmen.” (Taja Gut: Wie hast du’s mit der Anthroposophie?, Dornach 2010, S. 22). Diese Haltung würde selbst an Steiners Konzeption “der Schwelle” scheitern.

Michael Mentzel ist, um das klarzustellen, keineswegs an den Verlautbarungen unsers Autorentrios Schuld, die ihm wahrscheinlich einfach nur gut gefallen haben. Kilthau/Schamell/Peuckert haben in ihrer Lobpreisung des “umfassenden Menschenbildes” sicher keine Rehabilitierung von Steiners individualistischen Kollektivismen und Nationalismen geplant (die sie als solche aber zweifellos auch nicht wahrnehmen wollen würden). Die Verbindungen von Biodynamik, Nationalsozialismus und völkischer Bewegung sind ihnen womöglich einfach unbekannt und der Verweis auf die “Grünen” rührt aus einer postmaterialistisch-bürgerlichen Überzeugung, die genauso fern von faschistischer Agitation steht wie die jedes anderen braven deutschen Bürgers. Das Problem ist, dass sie die kritische Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit, die unter Anthroposophen weiterhin eine Rarität ist, den Kritikern vorwerfen, die sich ihrer annehmen. Ob die Falschdarstellung des Abends Absicht, selektive Empörung, schlichtes Unverständnis der gefallenen Argumente oder irgendetwas anderes zur Ursache hat, kann ich natürlich nicht feststellen. Feststellen durfte ich dafür, dass ich meine Aussagen an jenem Abend wohl viel schärfer, eindeutiger und kritischer hätte halten müssen. Wenn solche Verlautbarungen wie die zitierten dem Geschäftsführer der Frankfurter Anthroposophischen Gesellschaft und einem Zuständigen der anthroposophischen Öffentlichkeitsarbeit unterlaufen, ist unter Feld-, Wald- und Wiesenanthroposophen wohl nicht viel mehr an historischer Besonnenheit zu erwarten.

Mehr als ein Silberstreif in diesem Zusammenhang ist übrigens eine unter anderem auch vom Frankfurter Arbeitszentrum der Anthroposophischen Gesellschaft finanzierte, aber unveröffentlichte “Geschichte der Wissenschaftsästhetik”, die wir der Historikerin Merle Ranft verdanken. Sie macht, und das könnten dann gewisse “Steinerkritiker” lernen, deutlich, wie unnütz es wäre, die epistemischen Grundsätze der Anthroposophie pathologisierend, ridikülisierend, exotisierend oder sonstwie als schlechthin “irrational” abzuspalten. Vielmehr seien, “die Geisteswissenschaften … aufgerufen und herausgefordert”, „die Aufklärung im Sinne einer reflexiven Aufklärung kritisch weiterzuentwickeln und auch ihre ästhetischen Gegenwelten zu bedenken.“ (Ranft: Die Geschichte der Wissenschaftsästhetik. Eine Analyse von Methode und Möglichkeit moderner Geisteswissenschaften, Manuskript, Frankfurt a.M., 2013, S. 65). Dass Historiker offenbar mehr mit der Anthroposophie als Anthroposophen mit der Geschichte anfangen können, gehört wohl zu den Mysterien der Geheimwissenschaft.


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Die Mystik im Aufgang: Christian Clement liest Steiners esoterische Konversionsbiographie neu

“Und da eine von Wahrnehmung getrennt existierende Materie ein bloßes Gedankending ist … – die Erscheinungen unserer Ebene die Schöpfungen des wahrnehmenden Ich sind – die Veränderungen seiner eigenen Subjektivität – [haben] alle die Zustände der Materie, welche die Vereinigung aller wahrgenommenen Gegenstände darstellen, bloss ein verhältnismäßiges und rein der Erscheinung angehöriges Dasein … Das Zusammenwirken von Subjekt und Objekt bewirkt den sinnlichen Gegenstand, oder die Erscheinung, wie die modernen Idealisten sagen würden … Dieses Ich muss, fortschreitend auf einem Bogen im Emporsteigen der Subjektivität, die Erfahrung einer jeden Ebene ausschöpfen.”
– Helena Blavatsky: Die Geheimlehre, Bd I, S. 350f.

Er ist da: Der erste Band einer Kritischen Ausgabe der Schriften Rudolf Steiners (SKA). Die Reihe startet mit Steiners 1901 bzw. 1902 veröffentlichten Büchern “Die Mystik im Aufgang des neuzeitlichen Geisteslebens…” und “Das Christentum als mystische Thatsache…” – Zeugnissen seines Schwellenübertritts vom anarchischen Philosophen zum esoterischen Ideologen. Ein guter Startpunkt also für eine Editionsreihe, die zumindest eins verspricht: die Entwicklung, Gehalte, Quellen und Kontexte von Steiners Schriften in wesentlichen Aspekten transparenter zu machen. Die Veröffentlichung ist im prominenten Frommann-Holzboog Verlag positioniert, es werden die verschiedenen Überarbeitungsschichten der beiden Bücher dargestellt, ein ausführlicher Kommentar führt hunderte von Zitat- und Quellennachweisen sowie Zusatzinformationen an. Der Mystikforscher Alois Maria Haas hat ein umfangreiches Vorwort geschrieben und liest Steiner im Kontext mystischer und esoterischer Neuansätze um 1900. Herausgeber Christian Clement macht in einer noch umfangreicheren Einleitung Steiners Denken als erkenntnisoptimistischen Monismus subjektivistischer Prägung kenntlich – und gelangt darüber zu einer teilweise neuen, aber an dieser Stelle in jeder Hinsicht fruchtbaren Deutung des berüchtigten Anthroposophiegründers.

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Steiner und die Theosophie 1901: Die Vorträge zum “Christentum”

Einer der wichtigsten Funde dieses ersten erschienenen Bandes der “Kritischen Ausgabe” ist ein bereits publizierter. Es handelt sich um die 24 Vorträge, die Steiners Buch “Das Christentum als mystische Thatsache” zugrundeliegen (während die zur “Mystik im Aufgang…” als verschollen gelten) und die von Steiner publizierte Fassung an Ausführlichkeit beträchtlich überbieten. Ironischerweise wurden sie nicht in der umfangreichen “GA”, der Gesamtausgabe des Rudolf-Steiner-Verlags herausgegeben, sondern in einer zweibändigen Ausgabe des Archiati-Verlags, der sich unter Berufung auf abgelaufene Copyrights und mit dem Anspruch hervortut, von den edierten GA-Bänden abweichende Vortragsmitschriften als ‘Steiner im Originalwortlaut’ zu verkaufen. Clements “Kritische Ausgabe” erweist sich damit lustigerweise auch als Synopse der bisherigen Steiner-Editionen. Übrigens hat David Marc Hoffmann, Leiter der Rudolf Steiner-Archivs, sich begeistert für Clements Projekt ausgesprochen und der Archiati-Verlag sich deshalb einmal mehr im Recht gesehen, vom Archiv Manuskripte Steiners anzufordern, weil die Archiati-Versionen ja auch bekanntlich viel einfacher zu lesen seien (Offener Brief).

Wie auch immer: Clement notiert in seiner Paraphrase der ursprünglichen Vorträge zum “Christentum als mystische Tatsache”, dass diese sich bereits wesentlich ‘theosophischer’ ausnehmen als man aufgrund der Buchausgabe vermuten würde. Und das heißt: Viele Elemente von Steiners Esoterik, unter anderem auch die Überzeugung von Reinkarnation und Karma, standen offenbar bereits Ende 1901 für Steiner fest. Er kannte dabei offenbar auch bereits wichtige Positionen theosophischer Autoren zu diesem Themen. Andererseits waren auch seine philosophischen Ausgangspunkte noch wesentlich präsenter als in der gekürzten Buchfassung. Clement:

“…auf die Verbindung mystisch-religiöser Vorstellungen mit naturwissenschaftlichem und philosophischem Denken geht die Vortrags-Fassung viel intensiver ein und beschreibt in ausführlichen Exkursionen Parallelen zwischen naturwissenschaftlichen und esoterischen Vorstellungen. So finden sich etwa Ausführungen über Reinkarnation und Karma als aus modern-naturwissenschaftlichem Denken notwendig hervorgehende Vorstellungen … häufige Exkurse zu Goethe und Fichte, den geistigen Übervätern seiner philosophischen Phase… Auch Steiners frühe Vertrautheit mit theosophischen Konzepten, Begriffen und Autoren tritt in den Vorträgen deutlicher hervor als im Buch. Der Text zitiert Autoren wie Besant, Leadbeater, Sinnett und Hübbe-Schleiden, verwendet wie selbstverständlich theosophische Termini und bezieht sich immer wieder auf siebenstufige Modelle, sowohl was den Aufbau des Menschen angeht, wie auch im Hinblick auf kosmische und individuell-menschliche Entwicklungsvorgänge. Die Idee der Wiedergeburt ist allgegenwertig, während die Buchfassung eher verhalten davon handelt und statt von ‘Reinkarnationen’ von ‘Seelenwandelung’ spricht. Der Vortragende kennt also die Vorstellungswelt seiner theosophischen Zuhörer gut und spricht zu ihnen in ihrer eigenen Sprache, ja bezieht sich selbst in ihre Gemeinschaft ein…” (S. LXVI)

Der im Wortsinn bio-graphische Wert dieser Feststellung ist groß. Anthroposophischen Historikern waren die Vortragsmanuskripte zwar teilweise bekannt, aber in ihrem theosophischen Gepräge und ihrer Relevanz als Vorstufe für die später erweiterten und umgebauten Reinkarnationskonzepte wurden sie wenig einbezogen. Steiners Mitgliedschaft in der Theosophischen Gesellschaft 1902 wird vor diesem Hintergrund um einiges transparenter (vgl. zum Kontext Robin Schmidt: Rudolf Steiner und die Anfänge der Theosophie, Dornach 2010).

Relativierung des Christentums

Schließlich relativiert Clement mit seinem Hinweis den christologischen Hintergrund der Vortragsreihe: “In der Buchfassung schrumpfen all diese umfangreichen Exkurse auf kurze eingestreute Bemerkungen zusammen und es wird weniger deutlich als in den Vorträgen, dass es hier um viel mehr als eine bloße Deutung des Christentums geht.” (S. LXVI) Hierin weicht Clement deutlich von der anthroposophischen Rezeptionsgeschichte der Mystik-Schriften als in erster Linie “Christologischen” ab – dies ist nur der erste von zwei historisch-philologisch gewichtigen Einwänden gegen eine Überschätzung des “Christen” Steiner in seinen frühen theosophischen Jahren. Denn Clement sieht in Steiners Esoterik eher eine Illustration und Transformation seiner Philosopheme denn umgekehrt in den philosophischen Schriften schon Niederschläge der okkulten Christus-Deutungen. Dies wird auch im Kommentarteil deutlich:

“Steiner geht es letztlich nicht nur um eine Deutung der christlichen Vorstellungen, sondern um eine Erklärung des Prinzips aller religiösen und mythischen Vorstellungen, ja der menschlichen Vorstellungsbildung überhaupt. Angeregt hierzu wurde Steiner möglicherweise von Schellings religionsphilosophischen Schriften, die einen vergleichbaren Ansatz verfolgen und auf die Steiner sich mehrfach bezogen hat.” (S. 296)

In der Tat bezeichnete Steiner, worauf Clement hinweist, Schellings Philosophie der Mythologie in der Vortragsfassung als “die bedeutendste Schrift, die wir heute lesen können”. Mir scheint mit Blick auf die unten auszuführende Projektionstheorie Fichte als Quelle naheliegender. In den späteren Auflagen von “Das Christentum” habe Steiner die christliche Religion auf Kosten der ursprünglich wichtigeren Mysterienreligionen verselbstständigt und ausgebaut:

“Die Erstauflage stellt das Schicksal der Mysterienidee im institutionalisierten Christentum überwiegend negativ dar, nämlich als eine Geschichte des Verdrängens und Vergessens. Die Vorstellungen von der göttlichen Natur des Menschen und einem in ihm schlummernden Potenzial zur Vergottung seien zunehmend als ketzerisch gebrandtmarkt und durch Anschauungen ersetzt worden, in der die Kluft zwischen Gott und Mensch, zwischen Wissen und Glauben immer größer wurde. Die Neuauflage hingegen bewertet die Wirksamkeit des Christus-Impulses auch im bloßen Glauben deutlich positiver.” (S. LXX)

Die heute bekannte anthroposophische Christologie habe erst in den folgenden Jahren ihre Ausprägung erfahren:

“Im Vortragswerk der Jahre 1903 bis 1906 entfaltete Steiner das umrissene christologische Konzept weiter, wobei er die in ‘Mystik’ und ‘Christentum’ oft noch durchscheinende philosophische Diktion ganz aufgab und die biblischen Vorstellungen nun vollständig  im Sinne esoterisch-theosophischer Anschauungen deutete.” (S. LIV)

Clements Versuch, Steiners Deutung verschiedener Mystiker, konkret etwa Jakob Böhmes, kurzerhand zu dessen eigenen Erlebnis zu machen und daraus sein vielzitiertes persönliches “Gestanden-Haben vor dem Mysterium von Golgatha” zu erklären, greift m.E. zu kurz. (vgl. S. XLVII) Steiner sprach in dieser späten autobiographischen Schilderung eben nicht vom ‘Durchgegangen-Sein durch’, sondern von einem ‘Gestanden-haben vor’, also einem ihm externen Ereignis, einer visionären Schau jenes vermeintlich objektiv existenten ‘Mysteriums’.

Exkurs: Methodisches und Quellenkritisches in der “Einleitung”

Die historisch-kritische Sichtung der beiden vorgelegten Steinerschriften bringt bald ans Tageslicht, dass aus diesen wenig über “die Mystik” und umso mehr über Steiner zu lernen ist. Clements Kommentar in der Einleitung führt unter anderem aus,

“…dass Steiner in seiner Darstellung nicht sauber auseinandergehalten hat, wo er Gedanken anderer referiert, zitiert, paraphrasiert oder interpretiert, und wo er seine persönlichen Innenerfahrungen und Ansichten mitteilt. Weite Passagen, die sich wie Steiners eigene Gedankenentwicklung lesen, erweisen sich beim Quellenstudium als unausgewiesene Paraphrasen der von ihm benutzten Sekundärliteratur. Bisweilen finden sich gar wörtliche Zitate, die in keiner Weise als solche ausgezeichnet sind. Hinzu kommt, dass Steiner sich mit dem antiken Mysterien einem Bereich der Altertumswissenschaft zuwendet, zu dem es zu seiner Zeit kaum verlässliche Quellen gab und für deren Bearbeitung er das nötige philologische Rüstzeug nicht besaß … So kann es nicht überraschen … , dass seine Kenntnisse über diese Epochen und Autoren sowie sein Zitatenschatz aus einer relativ kleinen Sammlung einschlägiger Gesamtdarstellung stammten. Mehr als 50 Zitate hat er Otto Willmanns ‘Geschichte des Idealismus’ entnommen und diese oft in derselben Reihenfolge in seiner Darstellung eingefügt.” (S. XXXI)

Davon ist nichts unerwartet und alles ein Zeichen für die Notwendigkeit, Steiners Mystik-Bücher als Ausdruck seiner Überzeugungen zu lesen, statt als historische oder “geisteswissenschaftliche” Erkundung der Mystiker, gar der antiken Mysterien. (vgl. S. XXXV) Und das tut Clement – bedauerlicherweise eher formal rekonstruierend denn problemorientiert-inhaltsbezogen. Dazu nur ein Beispiel: Clement stellt die nicht eben unbedeutende These auf, dass Steiners Esoterik bereits aus seinen Goethe-Schriften erkennbar gewesen und am Deutschen Idealismus “gedanklich gezeugt” worden sei, allerdings (und darin liegt die Bedeutung) ohne dies wie übliche anthroposophisch-ahistorische Erbauungsliteratur nur retrospektivierend zu unterstellen. Bei Steiners Auseinandersetzung mit der Mystik werde man dann Zeuge der “eigentlichen Geburt” dieser Esoterik, so Clement weiter. Dabei wird aber Steiner inhaltlich letztlich nicht ernst genommen oder auch nur am eigenen Erkenntnismaßstab kritisch gemessen: “Die im gegenwärtigen Diskurs kontrovers diskutierte Frage, ob Steiner dabei den Idealismus und die Mystik, ob er Eckart und Böhme, Goethe und Fichte ‘richtig’ oder ‘falsch’ verstanden hat, ob er deren Impulse ‘weitergeführt’ oder diese für seine Zwecke ‘instrumentalisiert’ hat, ist für diesen Befund unserer Auffassung nach ohne Belang.” (S. XLII) Die fehlende Auseinandersetzung mit Geltungs-Fragen versperrt Clement dabei aber auch die mit wichtigen Kontexten: Nämlich des aufgrund seiner Urteilsenthaltung blass bleibenden konkreten Erkenntnisinteresses Steiners an Fichte, Goethe oder diversen Theosophen, wie etwa dem in seinem Einfluss auf Steiner weithin unterschätzten Friedrich Eckstein.

Mit dem Kulturphilosophen Magnus Klaue könnte man hier entgegenhalten, dass der “pluralistische Wissenschaftsbetrieb”, “der alles diskutierbar macht und über nichts mehr urteilt, dem Aberglauben” anheimfalle,  “unabhängig von jedem Wissenschaftsanspruch ebenfalls alles gelten” zu lassen, “was ihm in den Kram passt” und damit formal selbst esoterischer Urteilsbildung verfalle. (vgl. Klaue: Praktische Idealisten, in: Bahamas, 62/2011, S. 20) Diese Warnung trifft m.E. insofern auf Clements Darstellung zu, als sie auf dem (und auch auf Steiners) normativem Auge diplomatisch jedes Urteil zurückzuhalten versucht und dann trotzdem, aber eben methodisch unreflektiert, gelegentlich metaphysische “Treffer” des Hellsehers aus dem Hut zaubert. Dazu wieder nur ein Beispiel: so wird aus formalen Ähnlichkeiten von Steiners (wie oben zitiert, äußerst dünnem) Sachwissen mit historischen Forschungsergebnissen auf eine materiale Übereinstimmung zwischen Steiners (als “These” kaschierter) Unterstellung und der Altertumsforschung geschlossen: “Ironischerweise war es gerade die von Steiner bisweilen so desavouierte historisch-kritische Forschung mit ihren Methoden, welche seine These vom Mysterien-Ursürung des Christentums im akademischen Diskurs hoffähig machte.” (S. XLVII)

Es ist unverhältnismäßig, das muss sofort hinzugefügt werden, solche in der Sache nicht das kleinste bisschen illegitimen, aber methodisch von Clement selbst ausgeschlossenen normativen Schnitzer in einer Rezension überhaupt zu erwähnen – nicht nur die Ausgabe als Ganze, sondern auch und gerade ihre Einleitung gehört vielmehr in fast jeder Hinsicht zum Besten, das zu diesem Thema jemals zu lesen war.

Gerade deshalb scheint es mir jedoch auch im Sinne der von Clement weitergeführten und angestoßenen Debatten sinnvoll zu sein, in dieser Besprechung vor allem die argumentativen und rekonstruierten Details anzuschauen. Ich erlaube mir, mich somit stärker auf seine Steiner-Deutung zu konzentrieren denn auf die Einzelfunde der quellenkritischen Ergebnisse, vor allem aus drei Gründen:

Erstens werden letztere Ergebnisse eher weniger durch ausführliche Analyse und Diskussion von Steiners Aussagen begründet sondern von Clement meistens überblicksartig paraphrasiert.

Zweitens wird auch die im weiteren Sinne historiographische Sekundärliteratur nur eingeschränkt herangezogen. Dies gilt bedauerlicherweise für den zum Thema Steiner und die Mystik eigentlich unvermeidlichen Gerhard Wehr, aber auch für den großen Steinerbiographen Christoph Lindenberg, der gleichwohl vielem zustimmen würde (vgl. etwa zum Thema Steiners “Egoismus in der Philosophie” im Verhältnis zu “Die Mystik im Aufgang…” Lindenberg: Rudolf Steiner: Eine Biographie, Stuttgart 1997, S. 315f.) Bedauerlicherweise kommen auch die philosophiegeschichtlichen Kontexte, die Hartmut Traub kürzlich benannt hat, nur in einer Fußnote mit dem Hinweis vor, dass dessen “Goethesche Weltanschauung” mehr mit Fichte und Hegel als mit Goethe zu tun habe. Dies ist verständlich, da die Goethe-Schriften auch nur eingeschränkte Behandlung im Kontext derjenigen zur Mystik erfahren können. Aber Traubs Hinweise auf die Einflüsse von J.G. und I.H. Fichte auf Steiners Theosophie- und Mystikbegriff wären einer Erwähnung zumindest im Kommentar mehr als wert gewesen. Die einzigen längeren Ausnahmen sind Klaus von Stieglitz, Werner Thiede, Helmut Zander und Lorenzo Ravagli. Zander muss als durchaus hilfreicher, aber draufgängerischer Historiker herhalten, der “nicht an scharfer Kritik” spare. (S. XLVII) Ravagli ist dem Herausgeber offenbar lieber, wobei Clement den Kontext beider Publikationen wiederum kaum umrissen hat. Hier wäre die von Ravagli als “Gegenmodell zum Macchiavellismus” präsentierte “Diskursgeschichte” ausnahmsweise an ihrem richtigen Platz. Ravaglis Buch ist eine durch ihre inhaltliche Engführung sehr eingeschränkte Konterpolemik auf den härentischen Versuch, Steiner überhaupt nur als Menschen zu sehen und der historisch-kritischen Textlektüre die Möglichkeit zu einem substanziellen Steinerverständnis abzusprechen (vgl. dazu kürzlich Katharina Brandt/Olav Hammer: Rudolf Steiner and Theosophy, in: Olav Hammer/Mikael Rothstein (Hg.): Handbook of the Theosophical Current, Leiden 2013, S. 131f.)

Drittens ist Clements Einleitung auch weniger auf eine Exegese der beiden Mystik-Schriften als auf deren Bedeutung innerhalb der intellektuellen Entwicklung Steiners fokussiert – und auch vor allem darin äußerst fruchtbar.

“Umstülpung” der Philosophie zur Esoterik

Clement betont hier, wie dann weiter en passant im Kommentar zu den beiden publizierten Schriften, die monistische Kontinuität zwischen Steiners Früh- und Späterwerk. Er überzeugt dabei mit dem wohl ersten affirmativen Steinerzugang, dem auch Kritiker in systematischer Hinsicht etwas werden abgewinnen können. Clements Interpretation von Steiners Entwicklungsgang wird von ihm selbst so zusammengefasst:

“Steiners Geist-Begriff hat … eine ähnliche Metamorphose durchgemacht, wie sein Christus-Bild: Was in der philosophischen Diktion seiner frühen Darstellungen primär als im Menschen sich realisierendes immanentes Prinzip erschien, wurde später gewissermaßen von außen angeschaut bzw. als einem Äußeren immanent vorgestellt: Der logos ‘inkarniert’ sich in Jesus, der Geist ‘manifestiert’ sich in der Natur. Die Steinersche Esoterik kann als eine zum Zweck der Anschaulichkeit vorgenommene ideelle Umstülpung seiner Philosophie verstanden werden, in welcher dasjenige, was zuvor Inneres war, als Äußeres angeschaut wird, und umgekehrt. Dass in einem solchen Denken in Umstülpungen, worauf Kritiker immer wieder hingewiesen haben, notwendig konzeptionelle Widersprüche auftreten, lässt sich nicht von der Hand weisen. Aber diese stellen aus Steiners Sicht nicht unbedingt eine Schwäche seiner Argumentation dar.” (S. LXIV)

Sieht man einmal davon ab, dass “aus Steiners Sicht” “konzeptionelle Widersprüche” nicht nur keine Schwäche darstellten, sondern überhaupt nicht existierten, ist diese “Umstülpungs”-These meilenweit entfernt von üblichen kritischen Hinweisen auf Steiners theosophische Kehre. Aber ebenso weit entfernt von den üblichen anthroposophischen Projektionen, nach denen der Schlüssel zur Deutung von Steiners philosophischem Werk in den “spirituellen” Sphären der “höheren Welten” zu suchen sei, die ihr Autor Jahre später behauptete. Clement liest Steiner immanent und beobachtet die zitierte “Umstülpung” von der Epistemologie des “frühen” zum externalisierten Wesenszoo des “späten” Steiner, wobei sich die “Mystik im Aufgang” als zentraler Umschlagpunkt zeigt. Eine solche Lesart ist übrigens keineswegs neu, sondern thesenhaft bereits von Autoren wie Christian Grauer oder Felix Hau formuliert worden. Zumindest Hau rief mit dieser allzu un-spiritualistischen Lesart überall hysterischen Widerspruch hervor – wobei den anthroposophischen Rackets genug Opportunismus zuzutrauen ist, um das zu vergessen und Clement ebenso hysterisch zu applaudieren, schon weil die SKA Popularisierung ihres Gurus verspricht. Info3-Chefredakteur Jens Heisterkamp hat übrigens als erster rezensiert und den bescherten historisch-kritischen Punktsieg des Rudolf Steiner, wie Info3 ihn seit längerem gern liest – d.h. die “Mystik als Umstülpung der Philosophie” – gefeiert.

Clement verdeutlicht besagte Dynamik in Steiners Biographie jedoch solide. Während Alois Maria Haas im Vorwort schreibt: “Der ganze Vorgang im Leben Steiners um 1900 herum spricht für die Vermutung Zanders, dass sein ‘Weg in die Anthroposophie als eine Geschichte von ‘Brüchen, Diskontinuitäten und Neujustierungen’ zu lesen sei” (S. XXI) findet Clement als eine Art Meta-Kontinuität einen ontologischen Monismus, der das subjektive Erleben zum eigentlichen Grund der Welterfahrung und jedes metaphysischen Postulats macht – während eben dieses Erleben später die metaphysischen Schauungen Steiners garantieren sollte. Genau wie diejenige Haus stellt Clements Interpretation eine Phänomenologie des Steinerschen Geistes in Aussicht, die ihren Ausgangspunkt von einem allzu selten zitierten Brief des 19-jährigen Rudolf Steiner an seinen Freund Julius Köck nimmt. Steiner schrieb darin 1881:

 “Es war die Nacht vom 10. auf den 11. Januar, in der ich keinen Augenblick schlief. Ich hatte mich bis halb ein Uhr mitternachts mit einzelnen philosophischen Problemen beschäftigt, und da warf ich mich endlich auf mein Lager; mein Bestreben war voriges Jahr, zu erforschen, ob es denn wahr wäre, was Schelling sagt: «Uns allen wohnt ein geheimes, wunderbares Vermögen bei, uns aus dem Wechsel der Zeit in unser innerstes, von allem, was von außen hinzukam, entkleidetes Selbst zurückzuziehen und da unter der Form der Unwandelbarkeit das Ewige in uns anzuschauen.» Ich glaubte und glaube nun noch, jenes innerste Vermögen ganz klar an mir entdeckt zu haben – geahnt habe ich es ja schon längst-; die ganze idealistische Philosophie steht nun in einer wesentlich modifizierten Gestalt vor mir; was ist eine schlaflose Nacht gegen solch einen Fund!” (GA 38, 13)

Steiners wechselhaftes Verhältnis zur Mystik

Der Rückzug aus dem Alltäglichen in das “geheime” Vermögen, “unter der Form der Unwandelbarkeit das Ewige in uns anzuschauen” blieb ein reflexiver Ausgangspunkt für Steiners weitere Erkenntnistheorie und Naturphilosophie. Clement sieht in diesem Brief Steiners “ein klassisches Beispiel ‘mystischer’ Erfahrung”. (S. XXXVIII) Dennoch habe Steiner diese “Erkenntniserlebnisse” zunächst in Schelling, Fichte, Hegel und Goethe projiziert und in fast allen Briefen und Schriften vor 1900 den Terminus “mystisch” vor allem negativ verwendet. In einem Brief an Eduard von Hartmann 1894 – also dem Jahr der Veröffentlichung seiner “Philosophie der Freiheit” schrieb er jedoch:

“Die ganze Schwierigkeit scheint mir darin zu liegen, daß unser Leben ein individuelles, unsere Betrachtung als denkende eine ins Allgemeine gehende ist; beide Standpunkte scheinen mir aber im höheren Sinne wieder einer Vereinigung fähig zu sein, indem wir – zwar nicht in mystischer, wohl aber in logisch-ideeller Weise – das Individuelle des Bewußtseins abstreifen und erkennen, daß wir im Denken eigentlich gar nicht mehr Einzelne sind, sondern lediglich ein allgemeines Weltleben mitleben. Obwohl ich ein Feind aller Mystik bin, scheint mir hier der logische Kern der mystischen Lehren zu liegen.” (GA 39, 227)

Clement zitiert diesen Brief nur kurz und einen weiteren, für Steiners Mystik-Verständnis zentralen, leider gar nicht. Ich meine eine Beichte aus dem Jahr 1891 aus Weimar an seine Wiener Freundin und vormalige Hausherrin Pauline Specht:

“Vorgestern nämlich war ich zum Diner beim Erbgroßherzog und gestern zum Souper bei der Großherzogin eingeladen. Es wird Sie vielleicht interessieren, wenn ich Ihnen mitteile, daß bei der Erbgroßherzogin recht flott über Yogi, Fakire und indische Philosophie gesprochen wurde. Sie können sich denken, daß ich da wieder recht gründlich untergetaucht bin in das mystische Element, in dem ich eine Zeitlang in Wien fast besorgniserregend geschwommen habe. Der Erbgroßherzog erklärte zwar, er halte «das alles für physiologisch unmöglich», da aber die Erbgroßherzogin sehr begeistert für die Sache ist, so kann es ja immerhin kommen, daß die Mystik hier noch ganz hoffähig wird. Da dies wohl das letzte Stadium vor ihrem Aussterben ist, so könnte man diese Erscheinung ja mit Freuden begrüßen.” (ebd., 86)

Steiner bescheinigte sich hier selbst, “besorgniserregend” im “mystischen Element” “geschwommen” zu haben und konstatierte “mit Freuden” ein letztes Lebens-“Stadium” der Mystik. Dass er selbst im Rückblick eine (historisch ebenfalls aufweisbare) Ambivalenz bei sich wahrnahm, sei hier nur festgehalten und weiter unten mit Blick auf sein theosophisches Intermezzo der 1880er diskutiert. Clement nimmt jedenfalls nur die anti-mystischen Äußerungen des frühen Steiner, vor allem der 1890er, wahr. Dies ist deshalb umso bemerkenswerter, als er gerade von diesen Kontinuitäten zu den Mystik-Schriften herstellen kann. Er verweist in der Folge pikanterweise auf Steiners Aufsatz “Der Egoismus in der Philosophie” als erste große Vorstufe zu diesen Schriften. Darin waren u.a. Jakob Böhme und Descartes Thema: beider richtige Einsicht, so Steiner, sei die Wichtigkeit des menschlichen “Ich” gewesen – doch Böhme habe dieses “Ich” in “den Christengott” und Descartes in die äußere Natur projiziert. Clement paraphrasiert diesen Aufsatz exzellent (ohne freilich zu erwähnen, dass Steiners Vorwurf bestenfalls völlige Unkenntnis der beiden geschmähten Denker zeigt). Er kommt zu der These, dass Steiner hier das Auseinanderdriften von “Mystik” und “Naturwissenschaft” beschrieb, das er dann zwei Jahre später in den Mystikschriften bzw. den Vorträgen, aus denen sie hervorgingen, einzuholen und zu schließen wünschte – mit dem Ich als subjektiver Bühne zur Erfahrung des Allgemeinen.In der Tat scheint dies Steiners “Mystik im Aufgang” herzugeben, wenn es (in der sich kaum von der ersten unterscheidenden Fassung letzter Hand) heißt, der Mensch…

“…erschafft in sich eine geistige Welt. Mit dieser steht er der Natur einsam gegenüber. Er ist reicher geworden; aber der Reichtum ist eine Last, die er schwer trägt. Denn sie lastet zunächst auf ihm allein. Er muss aus eigener Kraft den Weg zurückfinden zur Natur … Seine Kraft kann leicht erlahmen. Statt die Eingliederung [in die Natur, AM] selbst zu vollziehen, wird er bei solchem Erlahmen seine Zuflucht zu einer von aussen kommenden Offenbarung nehmen, die ihn aus seiner Einsamkeit wieder erlöst, die das Wissen, das er als Last empfindet wieder zurückführt in den Urschoss des Daseins, in die Gottheit.” (S. 69)

Diese “dialektische Konzeption” (Clement) von Erfahrung des Innenlebens und objektiver Naturbeobachtung lässt sich in der Tat als inhaltlicher Nucleus betrachten, den Steiner von seinen Goethestudien in seiner Haeckel-Apologien und bis in die Theosophie durchhielt. Clement fasst zusammen:

“Die Natur des Wissens selbst, so Steiner, führe das menschliche Bewusstsein an die Schwelle zur Einsicht in den ich-haften Charakter allen Erkennens, und dieser Erfahrung seien die verschiedenen Spielarten von Mythologie, Philosophie, Kunst, Mystik oder eben von Naturwissenschaft entsprungen … indem nämlich der Mensch das Wissen von seinem eigenen innerseten Wesen als Wissen von einer Transzendenz aufgefasst habe … verschiedene, gesetzmäßig beschreibbare Metamorphosen des einen Ur-Vorgangs der Projektion des ‘Ich’ in ein wie auch immer ausgestaltetes ‘Nicht-Ich’.” (XLIf.)

Religion und Projektion

Diese religionsphilosophische Projektionstheorie ist auch in der “Philosophie der Freiheit” Thema, wofür Steiner eigens ein systematisch für den Rest seiner Argumentation völlig überflüssiges Konzept der “Person” voranschickte. In der Buchfassung des “Christentums als mystische Thatsache” ist dies mit der Erschaffung von Göttern durch den Menschen noch Thema (s.u.), verliert sich aber in den folgenden Jahren zusehends, während Steiner selbst eine übersinnliche Materialität etwa der Aura oder diverser feinstofflich-topographischer Verhältnisse bestimmter spiritueller Wesen und Sphären artikulierte und ausfeilte. In den Vorträgen zum “Christentum” ist im 13. nach einer kritischen Diskussion von Feuerbachs Variante der Projektionsthese und Platons Ideenwelt folgende Psychologisierung und Esoterisierung in Steiners Idee zu finden:

“Es spürt fast jeder leicht, dass uns in unserer Ideenwelt etwas gegeben wird was über die Ideenwelt hinausgreift, wir könnten nicht einsehen, dass wir Individualitäten sind, wenn nicht ein Strahl in uns hineindränge, wenn wir nicht durch unseren Geist einsehen könnten, dass wir zum All gehören. Dieser Geist ist es, der hereinleuchtet. Das, was der Mensch als Individuellstes empfindet, das, von dem er sagen kann, dass es nur ihm angehört, das ist der Willensentschluss … Nicht nur der erkennende, der denkende, der den Pfad in der Anschauung suchende Mensch, sondern auch der tiefer Suchende lebt sich ein in das All … Nicht, dass dieses Urwesen mit dem Menschen nicht dieselbe Wesenheit hätte. Es ist, um mit Goethe zu sprechen, ein offenbares Geheimnis. Es ist immer und überall da und es kann von dem Menschen immer mehr und mehr erschaut und erkannt werden.” (13. Vortrag, in: Das Christentum als mystische Tatsache. 24 Vorträge von Rudolf Steiner, Manuskript, S. 5f.)

Diese Philo von Alexandria zugeschriebene Position wird im folgenden eine psychologische Triade von Vater, Mutter und Kind als Spezifikum der “jüdischen Mystik” zur Seite gestellt – und, man ahnt es schon, Steiner sieht in dieser ahistorischen, aber bei ihm mit dem jüdischen Kontext Philos gleichgesetzten Quelle auch den Ursprung seiner angeblichen Fehler, die zur “Unvernunft” eines unerreichbaren Gottes geführt habe.

Clement unterschlägt nicht, dass dies noch nicht die “geistige Welt” der Anthroposophie ist: In letzterer ist vielmehr das Ich Medium der Offenbarung jener Transzendenz, die der junge Steiner noch als Projektion des Ich wähnte und der späte aus persönlichem Umgang mit Christus, Luzifer, Erzengel Michael und ihren heiteren Freunden persönlich zu kennen behauptete. Zurecht aber sieht Clement in dieser Zuspitzung von Steiners subjektivistischem Monismus zum “Christentum als mystischer Tatsache” eine “zweite methodische Grundlegung all dessen … was Steiner ab 1904 als Theosoph und ab 1913 als Anthroposoph ausgearbeitet hat.” (S. XLII)

Mystik als “höhere Erkenntnis” und die Dechiffrierung der religiösen Projektion

Weniger deutlich macht Clement, dass sich Steiners Mystik-Begriff 1901/2 im Gegensatz zum vorher pejorativen deutlich verändert hatte: Zwar blieb die subjektivistische Erklärung der mystischen Erfahrungen präsent und Steiner entfaltete in diesem Buch, dass das naturwissenschaftliche Evolutionsdenken das beste Erbe dieser Einsicht sei. Aber er schrieb im Oktober 1902 an einen Freund aus dem Giordano-Bruno-Bund, Wolfgang Kirchbach: “Ich brauchte, um das zu bezeichnen, was ich unter der «höheren Erkenntnis» verstehe, ein Wort und griff zu «Mystik».” (GA 39, 420f.) Im selben Brief (S. 423) verwies Steiner auf den Brihadaranyaka-Upanishad. Sofern Steiner diesen tatsächlich gelesen und nicht erneut aus irgendeiner Sekundärliteratur gezogen hat, wäre ihm hier eine Ich-Philosophie begegnet, die seiner eigenen strukturell zutiefst verwandt war. Über die Erschaffung der Welt aus dem Âtman (als “Selbst”) heißt es darin zu Beginn (I, 4):

“Am Anfang war hier nur das Selbst; es war wie ein Mensch. Es blickte um sich und sah nichts anderes als sich selbst. ‘Das bin ich’, was sein erstes Wort. Daher erhielt es den Namen ‘Ich’ … Es fürchtete sich. Darum fürchtet sich einer, der allein ist. Es überlegte: ‘ Wenn es nichts anderes gibt als mich, vor wem fürchte ich mich denn da?’ Da wich seine Furcht … Es empfand keine Freude. Darum empfindet ein Einsamer keine Freude. Es wünschte sich einen Zweiten. Es war so groß wie Mann und Frau bei der Umarmung. Es ließ sich in zwei Teile zerfallen. So entstanden Gatte und Gattin … Er nahte ihr. Darauf entstanden die Menschen … Sie wurde eine Kuh, er ein Stier … Sie wurde eine Ziege, er ein Bock, sie eine Schafmutter, er ein Widder … In dieser Weise erschuf es alles, was sich paart, bis hin zu den Ameisen … Dass es die höheren Götter schuf, ist eine Überschöpfung Brahmans. Weil es als Sterblicher die Unsterblichen schuf, darum ist es eine Überschöpfung. Wer so weiß, ist in dieser Überschöpfung enthalten … Das (Selbst) ist (in alles) bis in die Nagelspitzen eingegangen. Wie das Messer in der Scheide verborgen liegt … so nimmt man es nicht wahr, denn es ist zerteilt … All das sind nur Namen für seine Tätigkeiten.”

Dies weist nicht nur Analogien zu Fichtes Heraussetzung des Nicht-Ich aus dem Ich als “Thathandlung” auf, sondern eben auch zu Steiners Christus-Bild um 1902, für das “die reale Christus-Einheitsgestalt nicht bloß fertiges atman, sondern lebendiges Tun, Karman, ist.” (GA 39, 423) Clement liegt viel daran, die Eigenständigkeit Steiners gegenüber der Theosophie zu betonen. Dass ihm im theosophischen Rahmen aber auch Konzepte begegneten, die seine vor der Jahrhundertwende entwickelte Philosophie der subjektivistischen Immanenz bestärkten (siehe auch die eingangs zitierten Ausführungen Blavatskys). Eine der Brihadaranyaka-Schöpfungsgeschichte verwandte Tätigkeit der Erschaffung der “Unsterblichen” als “Überschöpfung” der Sterblichen beschrieb dann auch das “Christentum als mystische Tatsache”:

“Und so hielt es der Myste mit den Volksgöttern. Er leugnete sie nicht, er erklärte sie nicht für eitel; aber er wusste, dass vom Menschen sie geschaffen sind … Er will diese götterschaffende Kraft schauen … Denn nirgends – so stellte man sich vor [der kursive Text ist ein Zusatz Steiners zur späteren Neuauflage, mit der er sich offenbar von seiner eigenen konstruktivistische Auffassung von 1901/2 distanzierte] – ist er für den bloß sinnlichen Menschen zu finden. Wende deine Blicke hinaus auf die Dinge; du findest kein Göttliches. Strenge deinen Verstand an; du magst einsehen, nach welchen Gesetzen die Dinge entstehen und vergehen; aber auch dein Verstand weist dir kein Göttliches. Durchtränke deine Phantasie mit religiösem Gefühl; du kannst die Bilder von Wesen [1. Auflage nur: “dir Bilder” statt “die Bilder von Wesen”, also weniger ontologisierend] schaffen, die du für Götter halten magst, doch dein Verstand zerpflückt sie dir, denn er weist dir nach, dass du sie selbst geschaffen und dazu den Stoff aus der Sinnenwelt entlehnt hast … Gott ist eben in der Welt verzaubert. Und du brauchst seine eigene Kraft, um ihn zu finden.” (S. 131)

Die Selbstbeobachtung des Götterschaffens durch den Mysten sieht Clement als “ideelle Metamorphose” der Selbstbeobachtung des Denkens in der “Philosophie der Freiheit” (S. XLIX) Unkommentiert bleibt die Emanationsvorstellung des in der Welt verzauberten Gottes. Ein Bild von Gott, der sich pantheistisch in die Welt ausgegossen habe und im Denken des Menschen neu entstehe, ist eine der Lieblingsvorstellungen des frühen Goetheanisten Steiners gewesen, die in den 1890ern zunehmend verstummt war.

“Ich erschaffe eine Ideenwelt…”

Dies könnte bei Clement m.E. tiefer analysiert werden, wobei sicher in den Bänden der SKA zu den Goethe-Studien viele Klarstellungen zu erwarten sind. Der “Bruch” bzw. die “Umstülpung” in Steiners intellektueller Biographie liegt nicht nur um 1900, sondern hat ein Gegenstück in den 1890ern. Der Goethe-Editor war in den 1880ern noch von einer metaphysische Ebene überzeugt gewesen. In seiner Einleitung zur wegweisenden Edition der Naturwissenschaftlichen Schriften Goethes hieß es:

“Wer dem Denken seine über die Sinnesauffassung hinausgehende Wahrnehmungsfähigkeit zuerkennt, der muß ihm notgedrungen auch Objekte zuerkennen, die über die bloße sinnenfällige Wirklichkeit hinaus liegen. Die Objekte des Denkens sind aber die Ideen. Indem sich das Denken der Idee bemächtigt, verschmilzt es mit dem Urgrunde des Weltendaseins; das, was außen wirkt, tritt in den Geist des Menschen ein: er wird mit der objektiven Wirklichkeit auf ihrer höchsten Potenz eins. Das Gewahrwerden der Idee in der Wirklichkeit ist die wahre Kommunion des Menschen. Das Denken hat den Ideen gegenüber dieselbe Bedeutung wie das Auge dem Lichte, das Ohr dem Ton gegenüber. Es ist Organ der Auffassung.” (GA 1, 125f.)

Für den frühen Steiner hatte das Denken eine rezeptive Funktion, die ab der Mitte der 1890er zunehmend zu einer konstruktiven bzw. konstruierenden wurde. Der oben zitierte Mystik-Schwimmer Steiner war in der Wiener Zeit nicht nur mit Goethe, sondern auch mit Friedrich Eckstein bzw. über ihn mit Blavatskys Theosophie in Berührung gekommen und mit theosophischen Vorstellungen allermindestens rudimentär bekannt (vgl. Schmidt: Rudolf Steiner und die Anfänge der Theosophie, a.a.O, S. 83-106) Noch 1890 hatte Steiner seinem theosophischen Mentor Eckstein, dem er sich nicht anschloss, sehr wohl aber produktiv austauschte, geschrieben:

“Ich glaube, Goethe versteht nur der, welcher den Sinn dieser Worte versteht. Mir ist klar, daß Goethe mit seinem «Teilhaftigsein am Weitprozesse» unmittelbar die Selbstauflösung des Individuums und dessen Wiederfinden im Weltall meinte, die Vergottung des Menschen. Charakteristisch für ihn ist in dieser Hinsicht, daß er einmal offen sagte: Ich habe etwas zu hüten als mein Geheimnis, und wer mich von außen sieht, der hat nichts von mir gesehen … Dies alles sind mir fortlaufende Beweise dafür, daß Goethe ein Esoteriker in des Wortes bester Bedeutung war.” (GA 39, 52/54)

Dies sind die kosmisch-pantheistischen Ausläufer einer von Steiner in seiner theosophischen Ära wieder warmgemachten Position. 1894, im oben ebenfalls zitierten Brief an Eduard von Hartmann, hat Steiners das behauptete trans-subjektive Element dann nur noch im Denken und vor allem in der Logik gesehen und seine Philosophie als eine “Philosophie der Immanenz” bezeichnet (a.a.O.).  Das “Wiederfinden im Weltall” war verschwunden. In “Welt und Lebensanschauungen des 19. Jahrhunderts” hieß es 1900:

“Wenn ich mit meinen Gedanken die Dinge durchdringe, so füge ich also ein seinem Wesen nach in mir Erlebtes zu den Dingen hinzu. Das Wesen der Dinge kommt mir nicht aus ihnen, sondern ich füge es zu ihnen hinzu. Ich erschaffe eine Ideenwelt, die mir als das Wesen der Dinge gilt. Die Dinge erhalten durch mich ihr Wesen. Es ist also unmöglich, nach dem Wesen des Seins zu fragen. Im Erkennen der Ideen enthüllt sich mir gar nichts, was in den Dingen einen Bestand hat. Die Ideenwelt ist mein Erlebnis. Sie ist in keiner anderen Form vorhanden, als in der von mir erlebten.” (S. 188)

Und wenig früher:

“Die Erziehung der verflossenen Jahrhunderte hat energisch daran gearbeitet, das Bewußtsein nicht aufkommen zu lassen, daß die Welt des Idealen ein Geschöpf des Menschen ist … Das ist nun anders geworden. Die Wirklichkeit hat sich in unserem Bewußtsein als Siegerin erwiesen. Das Ideale findet bei uns nur insofern Verständnis, als wir seine Wurzeln in dem Rein-Natürlichen finden können. Sind solche Wurzeln nicht nachzuweisen, dann erscheint das Ideale uns als Daseinslüge oder als Idol, die der Menschengeist erfindet, weil er den Hang hat, eine Befriedigung, die er im unmittelbaren Leben nicht finden kann, sich in der Sphäre des Illusorischen zu suchen.” (GA 32, 254)

Auch hier hat eine “Umstülpung” stattgefunden, die Steiner nach 1900 sukzessive wieder rückgängig zu machen begann, indem er seine eigene “geistige Welt” erfand und erlebte. In den Vorträgen zum “Christentum als mystische Thatsache” war, aus dem strukturalistischen Allgemeinen des ‘Ich’ wiederum der menschliche “Logos” als ein Erkenntnissubjekt geworden, das jenseits von ‘Ich’ und ‘Natur’ stand. Er umgriff beide, wie das Denken für den jüngeren Steiner:

“Der Logos fängt an zu reden, wenn die Natur in einer höheren Natur wiedergeboren wurde. Sie tritt dann auf als Selbsterkenntnis. Aber diese liefert nicht das Selbst des Menschen, sondern das Wesen, das allem zugrunde liegt … [und folglich den Menschen, der] sich mit den Dingen innig vereint hat … so dass dieses kleine Selbst sich zum allgemeinen Weltselbst erweitert.” (1. Vortrag, in: Das Christentum , Manuskript, a.a.O., S. 12)

Helmut Zander spricht deswegen auch von einer spiritualistischen Rekonversion Steiners in den Mystik-Schriften zu den idealistischen Vorstellungen seiner Wiener Zeit (Anthroposophie in Deutschland, Göttingen 2007, S. 552). Es ist bedauerlicherweise der “frühe” Steiner, der bei Clement zu kurz kommt, auch wenn sich sein Erkläungsansatz ohne jeden Abstrich auf diesen erweitern ließe. Objektiv existente Ideen und ein in die Welt ausgegossener Gott wurden kurz vor der Jahrhundertwende in das projizierende, “eine Ideenwelt” selbst erschaffende Ich zusammengezogen. Um 1900 war Steiner die Natur kein Ausfluss Gottes mehr, sondern erst im “Christentum als mystische Thatsache” kehrte Steiners alte Emanationsvorstellung gänzlich wieder. Das macht Clement indirekt deutlich, indem er die erste Auflage von “Die Mystik im Aufgang” mit Steiners fast nur in diesem Punkt revidierter Neuauflage desselben Buchs an seinem Lebensende vergleicht. Nach seiner Darstellung lässt sich “eine deutliche Revision seines früheren Geist-Begriffs erkennen”:

“So heißt es etwa in der Erstauflage, dass man den Geist ‘nicht in der Wurzel der Natur, sondern nur in ihrer Frucht’ zu suchen habe, dass der ‘Geist ein Entwicklungsergebnis’ und dass ‘ein thatsächlich existierender Geist nur im Menschen zu finden’ sei (MA, 119). Damit klingt ein Motiv an, welches an verschiedenen Stellen der Schrift auftaucht und und sich auch anderweitig in Steiners Texten kurz vor der Jahrhundertwende nachweisen lässt … Diesen Aussagen entspricht auch der ganze Gestus des ‘Ausklangs’ mit seinen Huldigungen an Haeckel und die zeitgenössische Entwicklungsbiologie. Die Neuauflage hingegen schlägt einen ganz anderen Ton an, wenn es dort nun heißt, dass es sehr wohl einen ‘Geist in der Natur’ gebe, nur eben keinen ‘sinnenfälligen’ …” (LXII)

Reinkarnation, Evolution, Esoterik

1890, um erneut auf den oben schon mehrfach umschrittenen Punkt in Steiners Biographie zurückzukommen, erschien außerdem ein Buch von Wilhelm Hübbe-Schleiden, der “grauen Eminenz der deutschen Adyar-Theosophie” (Peter Bierl). Unter dem Titel “Das Dasein als Lust, Leid und Liebe” versuchte der Autor, aus einem “individualistischen Monismus” die Evolutionsvorstellung Ernst Haeckels abzuhandeln und die biologistische Vorstellung der Höherentwicklung mit derjenigen des spirituellen Subjekts zu verbinden, das an der Entwicklung via Reinkarnation partizipiere. Steiner, der ähnliches über zehn Jahre später selbst behaupten sollte, rezensierte ein Jahr später:

“Wer im Individuum den Allgeist, im Einzelwesen die Summe von Existenzen, die dasselbe zu durchlaufen hat, erkennen will, der muß vor allen andern Dingen begreifen, daß dies nur durch Vertiefung in sein Inneres geschehen kann, nicht durch eine äußerliche Betrachtungsweise. Wer seine eigene Individualität als Menschenwesen versteht, der findet alle niederen Daseinsformen in sich; er sieht sich als oberstes Glied einer weiten Stufenleiter; er weiß, wie alles andere lebt, wenn er es nachzuleben, wiederzuleben versteht. Ein höheres Leben vermag jedes niedere in sich aufzunehmen und in seiner Art wieder zu vergegenwärtigen. Darauf beruht die Möglichkeit des Verstehens der Welt durch den Menschen. Diesen Gedanken als eine in der Zeitenfolge vor sich gehende Verkörperung des Individuums in verschiedenen, immer vollkommeneren Formen vorzustellen ist bloß bildliche Darstellung. So meint es die Esoterik. Wer die Bilder für die Sache nimmt, weiß nichts von Esoterik.” (GA 30, 511)

Steiner bejahte also die Höherentwicklung und die Manifestation der “niederen Daseinsformen” im menschlichen Subjekt. Im Hintergrund steht hier Haeckels “biogenetisches Grundgesetz”, nach dem das Individuum vom Embryo zum erwachsenen Menschen noch einmal die gesamte stammesgeschichtliche Evolution wiederholt, die er im späteren Leben fortentwickeln soll. Dies sei ein bildlicher Zugang des “Verstehens der Welt”, keine in der historischen Zeit tatsächlich stattfindende “Verkörperung des Individuums in verschiedenen … Formen”, letztere vielmehr “bildliche Darstellung”. Der reinkarnationsgläubige Theosoph nehme als solcher “die Bilder für die Sache” und missverstehe damit die “Lehren der Inder”, wisse “nichts von Esoterik”. Im oben zitierten Brief Steiners an Wolfgang Kirchbach von 1902 nahm er die gegenteilige Position ein: nun deutete er, wie Hübbe-Schleiden, Gespräche über die Reinkarnation in den Upanishaden als Belege für deren Kenntnis der Evolution: “Und das, wovon sie sprachen, war die Evolution, und das, was sie priesen, war die Evolution (Karman).” (GA 39, 423)

Steiner sah in der Erkenntnis der Evolution und des Karmas eine Synthese von “Augustinismus und Haeckelianismus” (ebd., vgl. Clement, S. XL). Dieser Hinweis von Ende 1902 ist bedeutend, weil er die Richtung zeigt, in die der schon immer evolutionsbegeisterte Steiner seinem subjektivistischen Monismus nun überführte. War vor allem bis in “Die Mystik im Aufgang” das Ich der ‘eigentliche’ Grund von Naturforschung und Mystik und waren letztere eher schlechte des ‘Icj’ Projektionen nach außen – so rückte in den folgenden Jahren die Evolution an die hermeneutische Stelle des Ich. Letzteres verlor seine anthropologische Zentralstellung durch die analog zu und im Dienste der kosmischen Evolution stattfindende Reinkarnation. Schon “Das Christentum…” wurde damit auch zur Quelle der Steinerschen Entwicklungs- und Rassentheorie (vgl. Martins: Rassismus und Geschichtsmetaphysik, S. 52f.). In der Vortragsfassung kannte Steiner, und das macht Clement deutlich, schon die theosophische Kulturgeschichte, die sich als genetische Kette der kollektiven Entwicklung von Indien über Persien und Ägypten nach Europa gewälzt habe:

“Von Apollonius [von Tyana] wird uns erzählt, dass er weite Reisen gemacht hat, auf denen er weniger seine eigene Weisheit zu bereichern suchte, die ihm ja zur Verfügung war, da er auf höherer Stufe der Reinkarnation stand, als die verschiedenen Religionen durch ein geistiges Band zu verbinden. Es wird ihm eine kosmopolitische Reformationstätigkeit zugeschrieben. Bei den Indern soll er gewesen sein, bei persischen Magiern und ägyptischen Priestern. Bei den indischen Weisen wurde er sogleich erkannt als eine vergöttlichte Persönlichkeit. Es wird uns auch erzählt, dass er die ägyptische Religion in ihren verschiedenen Formen kennengelernt hat, dass er aber den ägyptischen Priestern mehr hat sagen können als sie ihm. Er konnte ihnen mitteilen, dass sie ihre religiösen Vorstellungen von Indien haben müssen. Er hat ihnen in dem Indischen ihr Eigenes wiederzeigen können. So sehen wir, wie Apollonius bemüht ist, in den verschiedenen Religionen das Gemeinsame zu sehen und so erscheint er uns in dieser Zeit als der Träger eines wirklichen theosophischen Strebens. Er stellte sich geradezu die Aufgabe, in allen Religionen das Gemeinsame zu suchen. Daher erscheint uns seine Lehre, wenn wir uns in dieselbe vertiefen, als ein Extrakt aus allen damals bestehenden religiösen Lehren. Er hatte den Extrakt aus allen gesammelt.” (Vortrag 20, in: Das Christentum, Manuskript, a.a.O., S. 2)

In der ersten Auflage des Buchs wurde die Evolution als Stufenprozess ebenfalls reinkarnatorisch gedeutet, wobei Steiner hier den Terminus “Seelenwandelung” verwandte, den er in späteren Auflagen durch “Wiederverkörperung” ersetzte. An prominenter Stelle erklärte Steiner, übrigens unter egalitärer Einreihung Jesu unter andere “Eingeweihte”, deren Geschäft er freilich mit einer neuen Evolutionsstufe aktualisiert und zu ihrem damaligen Höhepunkt geführt habe, Essäer und Therapeuten:

“Aus dem Vorhandensein solcher Sekten wird die Persönlichkeit Jesu völlig verständlich. Sie boten die Möglichkeit, dass in einem Menschen, in dem geistig-höchste Eigenschaften waren, diese ganz in Wirklichkeit umgesetzt werden konnten … Eine Buddhanatur ist dadurch von der eines gewöhnlichen Menschen verschieden, dass sie auf einer höheren Entwicklungsstufe des Seelenlebens steht. Sie übernimmt eine größere geistige Erbschaft, sie hat mehr  g e i s t i g e  Ahnen als eine andere … Der Glaube an die Seelenwandelung ist Voraussetzung einer solchen Lebensführung, wie sie bei Essäern und Therapeuten zu finden ist. Die höher entwickelte Seele wird auf eine höhere Stufe der herrschenden Hierarchie steigen.” (S. 209)

Und, die ganze normative Schlagseite der “herrschenden Hierarchie” entfaltend:

“Soll der vollkommene Geist ebensolche Voraussetzungen haben wie der unvollkommene? Soll Goethe die gleichen Bedingungen haben wie ein beliebiger Hottentotte? So wenig wie ein Fisch die gleichen Voraussetzungen hat wie ein Affe, so wenig hat der Goethesche Geist dieselben geistigen Vorbedingungen wie der des Wilden.  G e w o r d e n  ist der Geist wie der Leib. Der Dämon in Goethe hat mehr Vorfahren als der in dem Wilden. Man nehme die Lehre von der Seelenwandelung in diesem Sinne.” (S. 138)

Die von Clement beschriebene Geste der “Umstülpung” als Verhältnisbestimmung von Steinerscher Philosophie und Esoterik lässt sich somit in zweifacher Hinsicht produktiv weiterdenken: Eine monistische, an die Erfahrung des Subjekts rückgekoppelte Erklärung der Welt und des Menschen blieb die Kontinuität. Bereits um 1890 hat darin eine solche “Umstülpung” stattgefunden. Zuvor hatte der Goetheanist Steiner den “Ideen” einen objektiven und dem Denken einen im Verhältnis zu ihnen rezeptiven Status zugesprochen. In den späten 1890ern war dagegen das Ich Schöpfer der Ideenwelt, der kein außersinnliches Korrelat zugrundeliege. Steiner deutete Geist und Welt rein immanent, mithin a- und antitheistisch. In “Die Mystik im Aufgang” reaktivierte Steiner eine pantheistische Sicht, sprach aber weiterhin von der konstruktiven Rolle des ‘Ich’ in der sog. Erschaffung von Göttern. Dieser Faden versickerte in “Das Christentum als mystische Tatsache” allmählich. Das ‘Ich’ bleib zentraler Akteur, aber Movens und metaphysischer Kontext seiner Erfahrungen war ab 1902 immer mehr die unterstellte theosophische Kosmogonie und von Anfang an hierarchisch-elitär gedachte Evolution.

Die fulminante Eröffnung der “Kritischen Ausgabe” lässt auf die Fortsetzungen gespannt sein. Das Editionsprojekt ist offenbar in kundigen Händen und man darf zweifellos auf weitere derart fruchtbare Interpretationsansätze gespannt sein.


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Schwierigkeiten und Chancen einer Vermittlung von Philosophie und Anthroposophie im Werk Rudolf Steiners

von Hartmut Traub

Am 7. Oktober 2013 fand an der Alanus-Hochschule Bonn/Alfter ein Kolloquium “Die Anthroposophie seit 1925. Entwicklung und Transformationen” statt. Neben Marcelo da Veiga (“Zum Verhältnis von Inhalt und Methode in der Anthroposophie”), Helmut Zander (“Wie kann man mit Rudolf Steiner sprechen? Transformationsprozesse der Anthroposophie nach Steiners Tod”) und David Marc Hoffmann (“Zur Problematik der Lagerbildung im Umgang mit der Anthroposophie”) sprach Hartmut Traub über die philosophischen Frühschriften Steiners, deren Überstrapazierung durch anthroposophische Interpreten und die Möglichkeiten, die Anthroposophie aus dem idealistischen und existenzialistischen Duktus des Steinerschen Frühwerks herzuleiten.

Einleitung: Das “Alleinstellungsmerkmal” der Frühschriften

Am 27. März 1895 erhält Rudolf Steiner einen Brief von Ernst Haeckel, in dem ihm der berühmte Biologieprofessor aus Jena folgendes mitteilt:

„Hochgeehrter Herr Doktor, bevor sich Magnifizenz der hiesigen Universität sowie der zuständige Minister unseres Landes mit einem formalen Schreiben an Sie wenden, ergreife ich vorab die Gelegenheit einer Mitteilung an Sie und komme ohne weiter Erklärung der näheren Umstände sogleich zum Kern der Sache. Das Kollegium der philosophischen Fakultät der Universität Jena erwägt nach dem Abgange des Kollegen Julius Lange nach Kiel die Vakanz seiner Professur durch Sie zu ersetzten. Ihre kürzlich erschienene Philosophie der Freiheit sowie Ihre zahlreichen anderen Schriften philosophischen Inhalts haben die Fakultät von der Originalität Ihrer Philosophie überzeugt und diese Arbeiten als formale Erfüllung der Berufungsvoraussetzungen anerkannt. Dass ich – nach unseren Gesprächen während meines sechzigsten Geburtstags, bei dem Sie die Güte hatten, anwesend zu sein – an der Entscheidungsfindung der Fakultät nicht ganz unbeteiligt war, können Sie sich denken. Darüber aber, lieber Steiner, Stillschweigen. Rechnen Sie also in Kürze mit Ihrer Berufung nach Jena.

Ich beglückwünsche Sie zur Erfüllung dieses, Ihres Herzenswunsches. Endlich ist es Ihnen vergönnt, – wie Sie einmal so schön sagten – ‚im heiteren Himmel der reinen philosophischen Lehrtätigkeit fliegen zu können‘. Ich freue mich auf die gemeinsame Arbeit an der Sache des Monismus, die uns beiden ja so am Herzen liegt.

Hochachtungsvoll, Ihr ergebener Ernst Haeckel.

Jena, 27. März 1895“

Im Wintersemester 1895/96 tritt Steiner dann die Professur für Moderne Philosophie und Weltanschauungsfragen in Jena an und liest dort über die Grundlagen der Erkenntnistheorie sowie über das Thema Pessimismus und Optimismus. Steiner hat endlich das Ziel seiner schriftstellerischen Bemühungen erreicht.

So hätte es kommen können. Und ganz unwahrscheinlich wäre es nicht gewesen, wenn es so gekommen wäre. Jedoch: Haeckels Brief gab es nicht, und auch Steiners Berufung nach Jena erfolgte – zu seiner Enttäuschung – leider nicht. Der Flug „in den heiteren Himmel philosophischer Lehrtätigkeit“ fiel aus. Ob zu Steiners Glück oder Unglück, das war damals noch nicht abzusehen.

Was lehrt uns dieses Gedankenexperiment?

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Mehr zum Thema:

Rudolf Steiner und Baruch de Spinoza. Ein Diskussionsbeitrag (Hartmut Traub)

Die “Optik der Geistes” und der Geist des Okkulten. Ein Gespräch mit Hartmut Traub

Philosophie und Anthroposophie. Zu Hartmut Traubs Steiner-Exegese (Rezension)

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Hartmut Traub
Dr. Hartmut Traub ist Studiendirektor am Seminar für schulpraktische Lehrerbildung in Essen und Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der Johann-Gottlieb-Fichte-Gesellschaft. Promotion über Fichtes Populärphilosophie und Herausgeber u.a. des Briefwechsels zwischen Schelling und Fichte, der Fichte-Studien und der Fichte-Studien Supplementa. Lehraufträge in Philosophie und Philosophie-Didaktik an der Mercator Universität Duisburg, der Universität Duisburg/Essen und der Alanus-Hochschule Alfter.


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Die Farbe des Astralleibs ist Privatsache. Über eine gewisse Differenz von Geographie, Zoologie, Esoterik und Ideengeschichte

Eine Antwort auf und fünf Fragen an Christian Clement und die “SKA”

“It is high time for scholars to drop the apologetic agenda and acknowledge that esoteric worldviews are products of historical circumstance and human invention just like anything else in the field of religion and philosophy.”
– Wouter Hanegraaff: Textbooks and introductions to Western Esotericism, in: Religion 2/2013, S. 193

Vor Kurzem habe ich über das interessante Projekt einer historisch-kritischen Ausgabe von Rudolf Steiners Schriften (SKA) berichtet (vgl. Historisch-kritische Steinerausgabe erstmals erschienen; Die Mystik im Aufgang). Herausgeber Christian Clement macht im ersten bisher erschienenen Band die Mystik-Schriften des Anthroposophengurus quellenkritisch zugänglich: Wie haben sich Steiners Ideologeme zwischen den unterschiedlichen Ausgaben verändert? Aus welchen Büchern bezog er seine Mystik-Kenntnisse? Wie fügen diese sich in sein eigenes ‘mystisches’ Programm? Anthroposophen haben den Wert einer solchen Ausgabe im Wesentlichen anerkannt: Fast alle Rezensionen waren positiv. Nur Randfiguren wie Willy Lochmann und Irene Diet sowie die rechtsanthroposophische Zeitschrift “Der Europäer” haben die üblichen Verschwörungstheorien gegen sog. “Anthroposophiegegner” ausgebreitet. Clement dokumentiert sämtliche Rezensionen hier. Markiert die positive Aufnahme wissenschaftlicher Methoden, dass sich die Anthroposophie im Übergang aus der apologetisch-hagiographischen zu einer tragbaren Steinerdeutung befindet? Weit gefehlt, vielmehr kämpft anscheinend die SKA mit theosophisch-antihistoristischen Kinderkrankheiten. Da hier ein Problem der gesamten Debatte sichtbar wird, im Folgenden einige Überlegungen.

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ska_facebook

Die (lesenswerte) Facebook-Seite der SKA präsentierte heute einen Textausschnitt aus dem nächsten Band. Der wird 2014 erscheinen und sich um Steiners Schriften zum esoterischen “Schulungsweg” (“Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?” und “Die Stufen der höheren Erkenntnis”) drehen. Unter anderem verhandelt Steiner darin in Auseinandersetzung mit der theosophischen Literatur das Aussehen des “Astralleibes”. Die wenig erstaunliche Tatsache, dass Steiner hier innerhalb einer esoterischen Debatte zum Thema stand, veranlasst Clement zu folgendem Kommentar:

„Innerhalb der Farbentsprechungen, mit denen Steiner die Inhalte der imaginativen Erkenntnis charakterisiert, lässt sich eine Systematik erkennen, die im Wesentlichen derjenigen folgt, die von Annie Besant und Charles Leadbeater in den Schriften Thought Forms und Man Visible and Invisible vorgegeben worden war. Diese wiederum entspricht weitgehend den Vorgaben, die H. P. Blavatsky in ihrer Schrift Secret Doctrine formuliert hatte. Steiner hat auf diese Ähnlichkeit selbst verschiedentlich hingewiesen [1] und sie damit begründet, dass sowohl seine wie Leadbeaters Darstellungen auf genuiner seelischer Beobachtung beruhten; Kritiker hingegen haben diesen Punkt immer wieder als »Beweis« dafür angeführt, dass Steiner bei seinen theosophischen Vorläufern einfach abgeschrieben habe. [2]

[1] So in der Erstauflage der Theosophie: »Ich möchte ausdrücklich betonen, daß ich mich gerne korrigieren lasse von anderen Forschern. Die Beobachtungen auf diesem Feld sind natürlich unsicher. Und diese Unsicherheit läßt sich gar nicht vergleichen mit der, die schon auf dem physischen Feld möglich ist, obwohl doch auch diese – Forscher wissen es – eine sehr große ist. Ich mache zur Vergleichung mit meinen Angaben auf die Schrift C. W. Leadbeaters: ’Man visible and invisible‘ aufmerksam, die 1902 in London, Theosophical Publishing Society, erschienen ist« (TH, 149; in GA 9 nicht nachgewiesen).

[2] Vgl. Zander, der davon ausgeht, dass »die Kongruenz der Inhalte« in den Beschreibungen Leadbeaters und Steiners das »Abhängigkeitsverhältnis« eindeutig belege (2007 I, 578).“

Auf der Seite heißt es nach dem Textausschnitt weiter:

Zur Formulierung dieser Aussage und der Fußnote schreibt mir ein Kommentator (sinngemäß):

„Ist nicht die Deutung Zanders, gemäß der Texthermeneutik des wissenschaftlichen Paradigmas, selbstverständlich? Und könnte die Neutralität Ihrer Formulierungen in dieser Frage nicht als Ausdruck einer Voreingenommenheit gegenüber Steiner aufgefasst werden?“

Dazu meine Gegenfrage: Wenn Dr. Stanley und später Dr. Livingstone beide ein Buch veröffentlichen, dass die Fauna Zentralafrikas beschreibt, und die Beschreibung beider Bücher sich im Wesentlichen deckt, dann wird man wohl nicht, im Paradigma wissenschaftlichen Denkens, für „selbstverständlich“ annehmen, dass Livingstone zwingend von Stanley abhängig ist. Man wird vielmehr annehmen, dass die Ähnlichkeiten daher rühren, dass beide Forscher tatsächlich Zentralafrika bereist haben – es sei denn, dass die Beschreibungen Livingstones nicht nur dieselben Beobachtungen enthalten, sondern auch sprachlich, stilistisch oder kompositorisch deutliche Ähnlichkeiten mit Stanleys Darstellung aufweisen.

Ist es, innerhalb des wissenschaftlichen Paradigmas, tatsächlich selbstverständlich von einer solchen Abhängigkeit auszugehen, nur weil es sich um die Beschreibung nicht äußerer sondern innerer Landschaften handelt, wie bei Leadbeater und Steiner? Nimmt man dadurch, dass man völlig neutral Steiners Selbstanspruch und die Deutung der Kritiker auflistet, bereits Partei für Steiner und seine Auffassung?

Stellen und Überlegungen dieser Art gehören zu den bedauerlichen und inkonsequenten Schnitzern der SKA. Eine Behauptung, die von Clement eloquent abgewiesen wird, sobald anthroposophische Hardliner sie gegen ihn richten (dass Steiner nämlich mieser Absichten und Praktiken “überführt” oder sonstwie niedergemacht werden solle usf.): Er selbst überträgt sie leichtfüßig auf Helmut Zander. Der hat sich vor allem seit 2007 tatsächlich als der historisch-kritische Steinerforscher präsentiert.  Indem Clement ideengeschichtliche Abhängigkeit mit stupidem “Abschreiben” gleichsetzt, wird dagegen der dokumentarische Wert Zanders mit Kind, Bad und Wasseranschluss ausgeschüttet und obendrein die Scheinalternative: “spirituelle Authentizität” vs. “Plagiat” aufgemacht.

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Der chaotische Astralleib eines “Wilden” (in: Leadbeater: Man Visible and Invisible, London 1902): Auch für rassistische Vorlieben durfte bei Theosophen und Anthroposophen gern die Aura herhalten.

Das kennt man von einem vielgelesenen anthroposophischen Gegenwartsautoren: Lorenzo Ravagli, der keine Gelegenheit auslässt, um die historische Aufarbeitung der Anthroposophie als steinerhassende Verführung der Jugend zu brandmarken (vgl. Was hat man dir, du armes Kind, getan). Clement allerdings erhebt die Fehldeutungen und Vertuschungen Ravaglis zur seriösen Gegenthese zu Zanders religionshistorischen Deutungen. Währenddessen fallen wichtige Autoren wie Christoph Lindenberg, Robin Schmidt, Hartmut Traub oder Gerhard Wehr so gut wie unter den Tisch – zumindest im ersten bisher erschienenen Band. Solche Vorbehalte, die m.E. dem anthroposophischen Mainstream eher ähneln als wissenschaftlicher Philologie, gehören zu den Schwächen dieser handwerklich zuverlässigen und in ihren Interpretationshypothesen äußerst wertvollen Edition. Nichtsdestominder verspricht die Klärung der von Clement aufgeworfenen Frage interessante Aufschlüsse, auch wenn die Fragestellung m.E. verwirrend ist. Vor einer Beantwortung wäre mindestens das Folgende zu klären:

1. “Abhängigkeitsverhältnis” bedeutet keineswegs “einfach abschreiben”, wie Clement Zander unterstellt, sondern eben schlicht und simpel: Abhängigkeitsverhältnis. Die ‘Abhängigkeit’ ist nicht moralisch als Unoriginalität, sondern intellektuell als historische Konstellation zu verstehen. In historischer Perspektive wären die angeführten Dr. Stanley und Dr. Livingstone freilich ebenfalls nebeneinander zu halten und etwa Wissenschafts- und Ideenpolitik, kontingenten wissenschaftshistorischen Paradigmen- und Methodenwechseln uvm nachzugehen. Wenn, um ein anderes Beispiel zu nehmen, Ethnographen im späten 18. Jahrhundert von Göttingen in die weite Welt zogen, und “fremde Völker” kartieren wollten: natürlich, dann muss man (wenn man historisch arbeitet) ihre Abhängigkeit von den Thesen eines Blumenbach oder Haller (und wer noch so in Göttingen lehrte) untersuchen. Clements Vergleich zwischen Astralleib- und Afrikaforschung halte ich nicht für einleuchtend: Selbstverständlich werden ideengeschichtliche Verbindungen und sonstige Kontexte weder bei inneren noch bei äußeren “Landschaften” irrelevant. Was veranlasst Clement, zumindest in einem der beiden Bereiche, vom Gegenteil auszugehen?

2. gibt es tatsächlich eine nicht zu leugnende Differenz zwischen Kontinenten und Auren. Und eine noch größere zwischen den epistemologischen Verfahren, die uns erlauben, sie zu untersuchen (wenn man davon ausgeht, dass letzteres möglich sei – auch das hätte Clement, der beide als ‘Landschaften’ beschreibt, die sich lediglich durch ‘äußere’ bzw. ‘innere’ Zugänglichkeit unterschieden, zu erweisen). Wie kommt Clement zu einer solchen Einheitswissenschaftsthese? Warum sollte für den ‘Astralleib’ gelten, was für die Zoologie gilt? Warum sollte für den Erzengel gelten, was für ein Zwergmungo gilt?

3. Wird im zitierten Beispiel die “Deutung der Kritiker” eben nicht wiedergegeben, sondern eine Ravagli’sche Zanderdeutung. Heißt: Die (m.E. leicht zu widerlegende) Unterstellung eines anthroposophischen Kreuzritters an “die materialistische Wissenschaft”. Das darf Ravagli selbstredend tun, wie er Lust hat, aber sein Geltungsanspruch dekontextualisiert historische Analyse und spannt sie vor den Wagen ideologischer Apologetik. Und das ist das Gegenteil offener Forschungswissenschaft. Was spricht dagegen, dass ‘spirituelle’ Erfahrung im nunmal historisch gegebenen Rahmen stattfindet? Gibt es ein Beispiel von einer so extramundanen Offenbarung, dass diese sich einer historischen Kontextualisierung schlichtweg entzöge? Steiner ist es jedenfalls nicht.

4. bewegen wir uns bei den spirituellen Angelegenheiten von Steiners “Schulungsweg” in einem schwer diskutierbaren Bereich: Ob wir es mit einer christlichen Leib- und Seelenlehre, einer sehr viel monistischeren jüdischen, einer komplexen theravadabuddhistischen Ontik des Schein-Ichs, daoistischen Konzepten des leeren Herzens, lukrez’schen Atommodellen der Seele, mittelalterlich-mystischen Gottesschauen, Wilber’schen Strukturebenen des Bewusstseins, platonischer Ideenschau usw. usf. oder einer so konkretistisch-dinghaften Aurenschilderung wie in der Theo-/Anthroposophie zu tun haben – sie alle sind Gegenstände des Glaubens bzw. der eigenen religiösen oder spirituellen Evidenz. Heißt: Die Farbe des Astralleibs ist Privatsache von Anthroposophen. Oder es gelte (während jedermensch Afrika besuchen kann), sie religionsphilosophisch grundsätzlich zur Diskussion zu stellen. Dann müsste sich die Behauptung eines Astralleibes vor allen anderen Konzepten intersubjektiv einsehbar auszeichnen – oder fallengelassen werden, wenn sie das nicht tut: Lukrez’ epikureische Atomlehre würde beispielsweise wohl niemand mehr systematisch vertreten. Diese Option sieht Steiner aber nicht vor, weshalb mir das Konzept des Glaubens der für alle Seiten der attraktivere Modus zu sein scheint. Auch Zander wählt diesen Weg einer Urteilsenthaltung, auch wenn Ravagli und Clement (aus welchen Gründen auch immer) das Gegenteil behaupten: “Insoweit seine [Steiners] persönliche Spiritualität berührt” sei, entzöge sich seine Esoterik “einem abschließenden analytischen Zugriff und forderte Respekt vor Steiners forum internum.” Der “Blick” ins Letztere entziehe sich, so Zander, “als konfessorische Formulierung einer systematischen Kritik und hat Anrecht auf eine nicht weiter befragte Akzeptanz…” (Zander: Anthroposophie in Deutschland, S. 855, 486). Clement spielt (gegenüber Ravagli freilich in homöopathischen Dosen) diese unterschiedlichen Bekenntnisse gegeneinander aus, wenn er behauptet, ein einziges davon entspreche einer ‘inneren Landschaft’, die so allgemein beobachtbar sei wie diejenige Afrikas. Wenn letzteres der Fall sei, warum wird dann eine kritische Edition von Steiners Schriften angestrebt, statt dass wir eine Schilderung der Aura durch Christian Clement zu lesen bekommen?

5. Davon ausgehend, dass historische Abhängigkeiten und religiöse Erfahrung sich nicht ausschließen, und mit der Überzeugung, dass auch der Herausgeber der SKA dies vertreten würde, scheint mir eine andere Frage viel wichtiger: Wann entwickelt endlich jemand ein adäquates Verfahren religionswissenschaftlicher Hermeneutik, das weder in religionsphänomenologische Projektion noch in historistische Entkernung oder “religionistischen” (Hanegraaff) Essentialismus zurückzufällt? Und: was müsste es beinhalten?


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Anthroposophischer Geschichtsrevisionismus: Wie England den Deutschen Volksgeist zerstörte

Rudolf Steiner war vieles, aber kein Freund weltanschaulicher Kompromisse. Im Ersten Weltkrieg lief der esoterische Vollzeitpatriot zur völkischen Höchstform auf: Alle Welt habe sich gegen das ehrliche, freiheitsliebende Deutschland verschworen. Seine völker- und rassentheoretischen Positionen hat der Anthroposoph niemals zu revidiert. Umso bemerkenswerter, dass er nach dem Ersten Weltkrieg die vorher apodiktisch abgelehnte Schuld Deutschlands an diesem Krieg eingestand: “Die Welt will ein ehrliches Wahrheitsbekenntnis des deutschen Volkes … Und diese Wahrheit, sie ergibt, recht gelesen, die restlose Verurteilung der deutschen Politik. Eine Verurteilung, die schärfer nicht sein könnte.” (GA 24, 387)

Trotz dieser (impliziten Selbst-)Kritik Steiners haben sich seine Gedanken während der Zeit des Krieges in Anthroposophistan bis heute nicht erledigt. Wer denkt, geschichtsrevisionistisches und verschwörungstheoretisches Gedankengut spiele in heutigen anthroposophischen Kreisen keine Rolle mehr, kann sich jedenfalls in der aktuellen Ausgabe von “Anthroposophie weltweit – Mitteilungen Deutschland” (11/2013, S. 6) eines Besseren belehren lassen. Dort wird über eine Tagung der deutschen Anthroposophischen Gesellschaft berichtet, die vom 3. bis zum 6. Oktober 2013 in Kassel stattfand. Der Pathos, mit dem im Mitteilungsblatt über die Veranstaltung berichtet wird, zeigt, wie sehnsuchtsvoll anscheinend auch viele heutige Anthroposophen am deutschen Wesen genesen möchten:

“Die mit Recht groß angekündigte Kassler Herbsttagung zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges und zu Rudolf Steiners diesbezüglichen Aussagen war nicht nur für die Veranstalter, die AGiD und den Kassler Zweig, ein großartiger Erfolg, sondern auch für die etwa 250 Besucherinnen und Besucher ein einmaliges, unvergessliches Erlebnis.” (Verlust der Mitte – das tragische Schicksal Mitteleuropas, ebd.)

Zweifellos. Denn die 250 Besucherinnen und Besucher hörten Thesen, die auch Steiner schon im Ersten Weltkrieg von sich gab: Der kosmpolitische “deutsche Geist” und seine Inkarnationsplattform “Mitteleuropa” stehen für den universellen Frieden. Der wurde verhindert, und zwar von allerlei Geheimbünden, die sich hinter konkurrierenden esoterischen Fraktionen (namentlich der Theosophie), den USA und England verstecken. Letztere beherrschen die Welt mehr oder weniger vollständig, haben aber zumindest die deutsche Mission (deren wichtigstes Medium natürlich die Anthroposophie ist) erfolgreich an seiner weltumspannenden Sendung gehindert.

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heise-karte

“In den geheimen Zirkeln der englisch sprechenden Welt” ersonnene “Neugestaltung Europas”: Verschwörungstheoretische Karte Steiners, abgedruckt bei dessen Schüler Karl Heise: Entente-Freimaurerei und Weltkrieg (Basel 1918). Heise, Anhänger der Ariosophie, arbeitete später mit Alfred Rosenberg zusammen und wurde auch von Himmler geschätzt.

Vom romantischen Protest gegen die Aufklärung zum reaktionären gegen die Weimarer Demokratie haben einsame deutsche Seelen sich mit solchen Elementen aus dem nationalen Verschwörungsbaukasten die wärmende Brust ihrer “Volksseele” zusammengezimmert. Solchermaßen vor kritischen Einsichten in Geschichte und Gesellschaft geschützt, ließ sich das Modell auch problemlos ins 20. und 21. Jahrhundert übertragen. Zwar ist in der anthroposophischen Bewegung ständig von “Menschheitsentwickelung” und einem fortschrittsoptimistischen Konzept der Bewusstseinsgeschichte die Rede. Die Geschichte seit 1918 scheinen die Referenten oder jedenfalls der zitierte Berichterstatter der Tagung zwar abstrakt zur Kenntnis genommen, aber, mit Verlaub, nicht wirklich nachvollzogen zu haben: Wenn im eingangs erwähnten Tagungsbericht die “80er Jahre” angeführt werden, bezieht sich das auf das 19. Jahrhundert. Wenn Stephan Stockmar (s.u.) in einer Paraphrase des Hauptredners Markus Osterrieder von “den Juden” spricht, dann, um an deren sog. “Heimatlosigkeit” zu erinnern – als wäre nicht zwischenzeitlich Israel gegründet worden. Wenn der Flyer der Tagung “die europäische Katastrophe des 20. Jahrhunderts” erwähnt, ist damit nicht etwa die Shoa oder der Zweite Weltkrieg gemeint, sondern das “geschichtliche Geschehen” des Ersten, in dem Rudolf Steiner sukzessive ab 1917 seine sog. “Friedensinitiative” der Sozialen Dreigliederung entwickelte.

Deren faktische Irrelevanz ist natürlich auf das ‘Angloamerikanertum’ zurückzuführen. Dass der Westen sich gegen “Mitteleuropa” verschworen habe, ist jedenfalls für den Berichterstatter in “Anthroposophie weltweit” eine zentrale Botschaft der Tagung gewesen:

“Gehen wir ein wenig in die Details von Osterrieders und Boardmans Darstellungen, dann zeigte sich vor allem Eines: die zielsichere Instinkthaftigkeit derer, die von westlicher, vor allem britischer Seite aus seit den 80er Jahren an der Vorbereitung der Neuordnung Europas durch die Inszenierung nicht nur des Ersten, sondern auch des Zweiten Weltkrieges mitgearbeitet hatten. Fast blieb einem bei manchen Darstellungen Boardmans, die britische Seite betreffend, angesichts der Eindeutigkeit des hier Enthüllten der Atem stehen. Könnte Boardman vor englischem Publikum solche Enthüllungen ungehindert aussprechen? Man war geneigt, solches zu bezweifeln.” (ebd.)

Nicht nur den Ersten, sondern auch den Zweiten Weltkrieg hatte also die ‘westliche’, ‘britische’ Welt zu verschulden. Dies ist Geschichtsrevisionismus in mindestens zwei wohl bekannten Kategorien: Die Verschwörungstheorie einer “Kriegsschuldlüge” wird ebenso aufgetischt wie eine (gleichwohl implizite, auf Verschweigen beruhende) Relativierung der Alleinschuld der Nazis am Zweiten Weltkrieg. Dazu kommen diverse abstruse Vorstellungen über ‘okkulte Logen’ auf der Hinterbühne des Weltgeschehens. Der pauschale Ausdruck Geschichtsrevisionismus ist aber schwammig, weil die Geschichte hier auf spezifisch anthroposophische Weise revidiert wird. So werden, und das ist durchaus bemerkenswert, keine klassisch-revisionistischen Argumente angeführt: Zweifellos würden die Referenten solche in ihren vulgären, etwa rechtsradikalen Formen, auch deutlich ablehnen. Vielmehr überlagert eine theosophisch-okkultistische Geschichtsdeutung so gut wie alles, was wir heute über die behandelten Ereignisse wissen. Nationalsozialismus, Kaiserreich, Deutschnationalismus, Antisemitismus, Militarismus usw. usf. werden nicht etwa willentlich einer Apologie unterzogen, sondern schlicht und ergreifend ausgeblendet. In der anthroposophischen Geschichtsmetaphysik ist allem Anschein nach angesichts der Steinerschen Verschwörungstheorien für die reale Geschichte Deutschlands kein Platz.

Erster und Zweiter Weltkrieg sind vielmehr in erster Linie Beiprodukte der englischen Herrschaftspläne, durch die an der sog. “Neuordnung Europas” “mitgearbeitet” worden sei. Was genau da “enthüllt” wurde, liest sich in der Paraphrase von Stephan Stockmar, Chefredakteur der Zeitschrift “Die Drei”, wie folgt: Wikinger und Araber haben den englischen Geist zur Weltherrschaft geführt und dieser hat die Regierung inzwischen an die USA abgetreten. Oder ausführlicher:

“Terry Boardman, Autor und Dozent aus England, zeichnete in seinem Vortrag den Weg »Vom englischen zum amerikanischen Weltreich« nach. Auch er nahm im frühen Mittelalter seinen Ausgangspunkt, als England von Norden her dem Einfluss der rücksichtslos erobernden, seefahrenden Wikinger ausgesetzt war und von Süden her dem der arabischen Welt, der seinen Niederschlag in der Intellektualität von Oxford und Cambridge fand. Über den Hundertjährigen Krieg und die imperiale Epoche, als sich die Engländer als von Gott erwähltes Volk verstanden, die Gründung des englischen Geheimdienstes im 16. Jahrhundert, der über lange Zeit durch die bis heute im Oberhaus aktive Adelsfamilie der Cecils getragen wurde, führte Boardmans Darstellung schließlich in die Zeit des Ersten Weltkriegs, in der England den Stab der globalen Vorherrschaft an die USA abgeben musste. Zum Schluss kam er noch besonders auf die Rolle von Sir Edward Grey zu sprechen: Seiner Auffassung nach hätte dieser den Ersten Weltkrieg verhindern können, wenn er Deutschland über Englands Verhalten im Falle eines Einmarsches in Belgien nicht im Unklaren gelassen hätte.” (Stockmar: Rudolf Steiner, der Erste Weltkrieg und das Schicksal Mitteleuropas)

Neben Boardman und Osterrieder redete Hartwig Schiller, Generalsekretär der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland. Der hat viel Enthusiasmus für die “Mysterien des Nordens” und (sofern Stockmars Zusammenfassung das Wesentliche trifft) auf der Tagung Thesen wiederholt, die er auch andernorts schon ausführlich ausgebreitet hat, etwa 2007 in der Waldorf-Zeitschrift “Erziehungskunst”. Neben einer Dreiheit von geographisch in Nord, Süd und Ost zentrierten Mysterien geht es unter anderem um eine Urgeschichte der Germanen, in der neolithische Felsenzeichnungen Symbole des Ersten Goetheanums zeigen und gotische Heerführer das Wort dazu gefunden haben sollen: “Ich”. Osterrieder enthüllt andere geschichtsmetaphysische Sepkulationen, die ‘nur’ ins 9. Jahrhundert zurückreichen. Aber fest steht für alle: Der Individualismus und der freie Mensch seien geistig Produkte Deutschlands, d.h. “Mitteleuropas” – eine Idee, die Fichte und der (von Steiner immer wieder gelobte) völkische Prophet Julius Langbehn auch schon vertraten. Der Wert des Individuums und des Internationalismus wird keineswegs über Bord geworfen, sondern mit dem “Deutschtum” in eins gesetzt, während England eine kollektivistisch-kapitalistische Schreckensherrschaft verkörpert.  Deutschland kommt dem gegenüber nurmehr eine “Mitschuld” am Ersten Weltkrieg zu, die im “Nichtergreifen” seiner globalen “Aufgabe” bestehe. Zwischenzeitlich habe sich immerhin eines geändert: sogar Nichtdeutsche können nun “im eigentlichen Sinne Mensch werden”:

“So stand am Ende dieser vielschichtigen Darstellung der Eindruck, dass gerade im Nichtergreifen einer menschheitlich-geistigen Aufgabe Deutschlands Mitschuld am Kriegsausbruch liegt. Natürlich könne man auch weiterhin das Mitteleuropäische immer wieder beschwören. Doch die Gelegenheit, im eigentlichen Sinne Mensch zu werden, besteht heute allerorten. Und Osterrieder hält es für möglich, dass im Zuge beider Weltkriege eine speziell für Mitteleuropa bestehende Entwicklungschance unwiederbringlich verloren gegangen ist.” (Stockmar, a.a.O.)

Auf den “Geheimdienst” Englands und die Überzeugung einer britischen Auserwähltheit wird mit Empörung reagiert, dagegen ist die Auserwähltheit Deutschlands offenbar Selbstverständlichkeit. Es bedurfte anscheinend zweier Weltkriege, um einen anthroposophischen Vortragsredner davon zu überzeugen, es sei auch nur “möglich”[!], dass “Mitteleuropa” eine “Entwicklungschance”[!] verpasst haben könne. Dass “Mitteleuropa” dem Rest der Welt besagte Kriege und Auschwitz brachte, wird wieder nicht erwähnt. Und auch das ‘Verpassen’ der ‘Chance’ liege selbstverständlich daran, dass man nicht deutsch (denn das heißt ja “menschheitlich”) genug gewesen, sondern dem Vorbild Englands gefolgt sei. Stockmar über Osterrieder:

“Es geht ihm also nicht um ein Volk und seine Kanzlerin, sondern um Kultur und Sprache als innere Heimat. Die Fragen nach der seelischen Mitte Europas und nach dem, was es ausmacht, ein Deutscher zu sein, entwickelte er aus der Stimmung der Heimatlosigkeit, wie sie auch bei den Juden zu finden ist. Allerdings, frei nach Fichte: Als Deutscher ist man nicht geboren! Und genau hier beginnt die Problematik auch im Sinne Steiners: Das Seelische muss aus dem Ich heraus wieder neu geboren werden. Doch gerade das offizielle Deutschland war zu Anfang des 20. Jahrhunderts mit ganz anderen Fragen beschäftigt, die es England nacheifern ließ und dadurch in den Nationalismus trieb.” (ebd.)

Ob die Erwähnung der ‘heimatlosen’ Juden den Umstand demonstrieren soll, dass man möglichst schnell über diesen Status hinauskommen müsse, ob damit etwas Glanz vom auserwählten Volk geborgt, eine besondere geistige Flexibilität behauptet oder aber der vermeintliche Opferstatus der Deutschen beschworen werden soll: ich vermag es nicht zu sagen. Klar ist nur, dass die Anthroposophie der von allen anderen verhinderte Nucleus des deutschen Wesens ist, das bestimmt war, den freien, schöpferischen “eigentlichen Menschen” zu erschaffen: Das Seelische kommt aus dem Ich und das Ich aus Deutschland, das Deutschthum liegt nicht im Geblüthe, sondern im Gemüthe. Die zitierten Positionen sind schlichte, aber konsequente Ergebnisse einer in die Gegenwart verlängerten anthroposophischen Geschichtsdeutung: Alle Augen sind auf Steiner gerichtet, der mit seinem “mitteleuropäischen” Okkultismus alles ganz anders hätte machen können, wären die Mächte von Ost und West nicht gewesen.

“Denn immer wieder wurde auf eindrückliche Weise deutlich: Der mitteleuropäische Okkultismus eines Rudolf Steiner, das hier in Kassel bereits vor Ausbruch des 30-jährigen Krieges vergeblich wirksame Rosenkreuzertum, die Anthroposophie rechnet mit dem freien Willen des sich entwickeln wollenden Menschen – weder durch Manipulation, noch durch Suggestion, sondern durch das frei angebotene «Erkenne dich selbst» wirkt der mitteleuropäische Einweihungsweg, während von Ost und West mit manipulativen, das freie Erkenntnisvermögen und den freien Willen übergehenden, letztlich unmenschlichen, ja Menschen verachtenden Methoden gearbeitet wurde und weiterhin gearbeitet wird.” (Bericht in Anthroposophie weltweit, a.a.O.)

Diesen Gedanken hat Lorenzo Ravagli zu seinem zynischen, antihumanen Ende weitergedacht. Bei ihm müssen weniger “Ost und West”, dafür aber die Nazis und nicht näher definierte Linke als “Archonten”, gnostische Schattengötter, herhalten, die den Weg der anthroposophischen Mission blockieren:

“Die alten Mächte, die Archonten dieser Welt, bäumten sich umso mehr gegen das Licht auf, das in ihre Finsternis schien, als dieses Licht in immer mehr Menschen zu leuchten begann … wie auf der einen Seite das Licht einer friedenstiftenden, menschheitsversöhnenden Erkenntnis durch das Wirken Rudolf Steiners aufleuchtete, während sich auf der anderen Seite die individualitätsauslöschende, hasserzeugende Finsternis durch das Wirken von Gegenmächten ausbreitete. Diese geistigen Gegenmächte bedienten sich kollektivistischer und totalitärer gesellschaftlicher Formationen, die sich in offener Feindseligkeit gegen die alles umfassende Generalreformation des Abendlandes stellten, auf welche die Anthroposophie hinzielte und strebten die Auslöschung jener spirituellen Strömung des christozentrischen Individualismus an, die ihre eigene Herrschaft untergrub. In seltener Einmütigkeit verbündeten sich schließlich der autoritäre Konservatismus kirchlicher und nationalistisch-völkischer Provenienz und der kollektivistische Progressismus der Linken, um die einzige geistige Strömung zu vernichten, die den Untergang des Abendlandes hätte verhindern können, den sie durch ihren eigenen Antagonismus am Ende herbeiführten.” (Ravagli: Peter Selgs Steiner-Biographie)

An dieser Aussage Ravaglis lässt sich einmal mehr demonstrieren, wie anthroposophischer Geschichtsrevisionismus funktioniert: Da der Weltenlauf sich ausschließlich um Steiner dreht, der nicht nur “Geisteswissenschaftler” ist, sondern (Stichwort: Anthroposophie – eine Religion?) auch das ultimativ erlösende Wissen verkündet, fällt alles Gegenläufige anscheinend unter den Tisch. Jede Katastrophe wird zur “Feindseligkeit gegen die alles umfassende Generalreformation” Steiners, während dessen Ressentiments akzeptiert und zur Rasterfahndung nach Feinden verwendet werden. Und Steiner hielt die Anthroposophie nicht nur für abendländisch, sondern eben auch primär: für “deutsch”, den Ersten Weltkrieg für “angloamerikanisch” usw. usf. Dies öffnet Tür und Tor für historische Verdrehungen. So schlimme Sachen wie Krieg können mit dem ‘wahren Deutschtum’ nichts zu tun haben: Was nicht sein darf, kann nicht sein – ein Spruch, dessen Gegenteil das 20. Jahrhundert mehrfach in schrecklichen Ausmaßen gezeigt hat. Die Realitätsresistenz der Anthroposophie verhindert freilich jeden Zweifel an einer der Geschichte immanenten Vernunft, an die Stelle von Entsetzen tritt eine ultimative kosmische Geschwätzigkeit.

Zum Ersten Weltkrieg und Steiners Ansichten dazu hat Osterrieder, promovierter Historiker, offenbar auch noch ein 1400-seitiges Buch geschrieben, 14 Jahre dafür recherchiert – all das finanziert von der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland. Ob sich darin valide historische Forschung findet oder derselbe Unsinn, wie ihn die zwei zitierten Tagungsberichte nahelegen, sei mal dahingestellt: Ich würde mit ersterem nicht mehr rechnen. Der Tagungsbericht in “Anthroposophie Weltweit” schließt mit der sorgsam als Frage formulierten Andeutung:

Das Rosenkreuzertum im Zeichen Michaels wurde hier in seiner ganzen Größe, aber eben auch Tragik sichtbar. Denn was alles hätte verhindert werden können, wenn mehr Menschen sich zum Ersten Goetheanum, dem kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges als Wahrzeichen des in der Äthersphäre der Erde anwesenden Friedensbringers errichteten Menschheitsbaus gefunden und daran mitgearbeitet hätten, diesen Friedensimpuls in Europa auszubreiten?” 

Aber bevor wir dazu möglicherweise nicht erst 2033 neue Märchen hören werden, die die Verschwörungstheorien zum Ersten Weltkrieg alt aussehen lassen könnten, steht erst 2014 an, das von weiteren Tagungen dieser Art nicht verschont bleibt. In “Anthroposophie Weltweit” findet sich direkt unter dem Tagungsbericht ein Aufruf zur Gestaltung einer weiteren, auf der es um Helmuth von Moltke gehen soll. Für die wird das Team Boardman und Osterrieder noch um Thomas Meyer erweitert, Chefredakteur der Zeitschrift “Der Europäer”. Von Osterrieder erfährt man noch, dass er “auch bereit ist, für Schüler ab der 12. Klasse vorzutragen (interessierte Geschichtslehrer mögen sich melden).” (ebd.) “Erkenntnisse” ähnlich den zitierten sind also nicht dem Arkanbereich der Anthroposophischen Gesellschaft vorbehalten. Geht es nach deren Aktivisten, sollen sie offensichtlich auch bald an der einen oder anderen Waldorfschule Thema sein. Derweil ist mit einer adäquaten Kritik des universalistisch-nationalistischen “Deutschtums” nicht zu rechnen: Die üblichen Möchtegernkritiker der Anthroposophie beschränken ihre “Rassismuskritik” in aller Regel auf das Zitieren von Steiners pittoresken “Neger”-Tiraden.

Aktualisierung: Offenbar gab es auch schon eine kritische inneranthroposophische Reaktion von Ramon Brüll (Info3). Darin wird auch der Name des Berichterstatters für “Anthroposophie weltweit” genannt: Andreas Neider. Brüll schließt: “Etwa 100 Jahre, nachdem jene „zielsichere Instinkthaftigkeit“ sich formierte, die Neuordnung Europas vorzubereiten, in der Friedensbewegung der 1980-Jahre, tauchte der auf Bertolt Brecht zurückgehende Spruch auf, ‘Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin’. Denkt man Neiders ‘Geflunker’ (Steiner a.a.O.) zu Ende, kann es sich dabei nur um eine Umdeutung durch die eine oder andere schwarzmagische Loge handeln. Der Slogan hätte lauten sollen: ‘Stell dir vor, es droht Krieg, und alle gehen nach Dornach!'”


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Neues Buch. Hans Büchenbacher: Erinnerungen 1933-1949

“Die Goetheanumleitung wird sich doch immer mehr und mehr identisch erklären mit dem Nationalsozialismus … Der Dr. Rascher, der gute Beziehungen hat zu dieser Richtung, wird jetzt funktionieren als derjenige, der nun in Deutschland die Dinge zu tun hat … Da geht schon die Richtung der Machthaber in Deutschland und der Leitung hier in der gleichen Linie. Das sind schwerwiegende Dinge.“
– Ita Wegman an Fried Geuter und Michael Wilson, 14. Oktober 1933

Der Anthroposoph Hans Büchenbacher (1887-1977) hat an seinem Lebensabend “Erinnerungen” verfasst, die eine immer wieder hysterisch erwähnte, aber erst anfänglich aufgearbeitete Beziehungsgeschichte thematisieren: Die Beziehung von Anthroposophie und Nationalsozialismus. Mit großer Verbitterung beschrieb der promovierte Philosoph und glühende Steiner-Anhänger, was er als ideologischen (Selbst-)”Verrat” seiner geliebten Anthroposophischen Gesellschaft im nationalsozialistischen Deutschland erlebte. Der als “Halbjude” ab 1933 sukzessive aus dem Vorstand der deutschen Anthroposophen Gedrängte hatte ironischerweise bereits im Mai 1922 einen deutschnational motivierten Anschlag auf Rudolf vereiteln können.

Seine bewegte Biographie führt tief in den Untergrund des alternativkulturell-okkultistischen Labyrinths von Kaiserreich und Weimarer Republik – und in die abgründigen Positionen deutscher Anthroposophen im Hitler-Fieber, von denen manche gar das Verbot der Anthroposophischen Gesellschaft durch die Nazis 1935 begrüßten, so Büchenbacher: “Dass die Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland verboten worden sei, wäre ja schliesslich nicht schade, denn sie sei doch imgrunde nur ein Verein von alten Tanten gewesen. Aber jetzt würde eben eine richtige Anthroposophische Gesellschaft entstehen.” Aber Büchenbacher berichtet auch von antinazistischen Steiner-Schülern wie Johannes Hohlenberg, die sich, wie er selbst, 1933 oft nicht nur im Fadenkreuz des Judenhasses, sondern auch zunehmend im Konflikt mit ihren Glaubensgenossen wiederfanden. Schließlich warf Büchenbacher seinen Mitbrüdern Versagen vor dubiosen “okkulten Mächten” im Nazismus vor, die die kosmische Mission der Anthroposophischen Gesellschaft unheilbar aus der Bahn geworfen hätten. Die Erkenntnis sei nach 1945 Verdrängung gewichen – “Sie müssen das doch nicht mehr wissen”, hatte ihm 1946 Ernst Aisenprais offiziös verlauten lassen.

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Hans Büchenbacher: Erinnerungen. Die ersten Auszüge wurden bereits 1999 in “Info3″ abgedruckt

Büchenbachers Anschuldigungen und esoterische Spekulationen fordern eine historische und ideologiekritische Klärung heraus. Im Frankfurter Info3-Verlag werden 2014 Büchenbachers “Erinnerungen 1933-1949″ veröffentlicht (hier zum Spendenaufruf). In fünf umfangreichen Anhängen habe ich die Ehre und das Vergnügen, eine weitere historische Einordnung vorzunehmen – zunächst wird das Buch auch eine erste Biographie dieses wendigen Denkers enthalten. Sein Weg führte vom freistudentischen Kreis um Philipp Berlin und Karl Korsch ins Zentrum der “Dreigliederungsbewegung”, vom scharfen binnenanthroposophischen Kritiker zum Vorsitzenden der Dornach-treuen Anthroposophen 1931, von der psychologischen Ästhetik Theodor Lipps’ zum Bemühen um eine philosophische Anthroposophie, die auch zu Schmuel Hugo Bergman, Herbert Witzenmann und Heinz Zimmermann ausstrahlte.

Büchenbachers Kontakte, etwa zu dem Mediziner und Nazi Hanns Rascher (Vater des berüchtigten KZ-Arztes Sigmund Rascher) werfen weiter die Frage nach Kontakt und Vernetzung zwischen anthroposophischen und völkisch-theosophischen Gruppen vor 1933 auf, die in einem weiteren Anhang angerissen werden. Anhang 3 und 4 gehen schließlich der anthroposophischen Geschichte in Deutschland und der Schweiz 1933-1945 nach. Büchenbachers Kommentare zu den sog. “nazistischen Sünden der Dornacher” erweisen sich dabei großenteils als belastbare Hinweise auf die Dynamiken der Anthroposophen im Schatten des Nationalsozialismus.

Hierzu liegen bereits fundierte Publikationen (vor allem Arfst Wagner 1991ff., Uwe Werner 1999, Peter Bierl 2005, Ida Oberman 2008 und Peter Staudenmaier 2010) vor. Diese scheinen aber zumindest in zweierlei grundsätzlicher Hinsicht ergänzt werden zu müssen: Im Hinblick auf die faktische Vielfalt der anthroposophischen Positionen zum deutschen Faschismus und unter Beachtung der personellen und Machtstrukturen, die sich 1933 in der Anthroposophie etablierten. Hierbei kommt dem erwähnten Rascher sowie Roman Boos (1889-1952), manischer Fan der “deutschen Erneuerung” in der Dornacher Zentrale, mehr als nur eine Schlüsselrolle im Herzen der organisierten Anthroposophie zu. Last but not least ist die Geschichte jüdischer Anthroposophen ungeschrieben: von kulturzionistischen Zirkeln und den kabbalistischen Interessen eines Albrecht Sellin, Adolf Arenson oder Ernst Müller (der im Sohar das “Geistige und Geistigste der Anthroposophie” sah) über zerrissene Figuren jüdischen Selbsthasses wie Ludwig Thieben, Norbert Glas oder Karl König zu Flucht, Emigration und Ermordung jüdischer Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft.

An und mit Büchenbacher lässt sich über ein halbes Jahrhundert anthroposophischer und eben auch: deutscher Geistesgeschichte schreiben. An Einzelbiographien und in der historischen Analyse zeigt sich, dass sicher geglaubte Fronten von rechts und links, von Wissenschaft und religiöser Inbrunst, von bürgerlicher Sicherheit und okkultistischer Avantgarde, Politik und Geisterseherei und schließlich von Mystik und Massenmord weit weniger aufrecht erhalten lassen, als uns das allen lieb wäre.

Helfen Sie mit, dieses Buchprojekts zu realisieren! Für die Drucklegung des Manuskripts bitten wir noch um Spenden.


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Willy, Thomas und der Wolf im Schafspelz

“Um einer wachsenden, den eigenen Absichten gefährlich scheinenden geistigen Bewegung den Garaus zu machen, verbanden sich die sonst sich gegenseitig befehdenden Parteien. Alldeutsche, Katholiken, protestantische Pastoren, Kommunisten und Vertreter der Wissenschaft waren in diesem Bestreben einig. Und die finanzmächtigen und pressegewaltigen jüdischen Kreise taten alles, um durch Hetzartikel den Vernichtungswillen der Feinde zu stützen und zu schüren.”
Marie Steiner 1944 über die “Gegner” der Anthroposophie

Der Angreifer hat viele Namen und Gesichter. Juden, Katholiken, Protestanten, Alldeutsche, Kommunisten, Wissenschaftler – und neuerdings: Mormonen. Eine Hand voll anthroposophischer Konspirationstheoretiker versucht erfolglos, eine historisch-kritische Edition der Hauptwerke Rudolf Steiners zu desavourieren. Da sachliche Argumente nicht zu finden sind,  muss die ganze Galerie anthroposophischer Ur-Feindbilder herhalten (vom Antisemitismus lässt man sorgsam die Finger). Steiner historisch-kritisch zu edieren, sei Einfluss der erzdämonischen “Wesenheit Ahriman”, die “die Geisteswissenschaft” attackieren wolle, findet etwa Thomas Meyer, Chefredakteur von “Der Europäer”. Solche dummdreisten Diffamierungsversuche stehen natürlich in alter Tradition, die Frage ist, wie weit die (über Clement mehrheitlich erfreuten) anthroposophischen Medien dem derzeit entwachsen.

“Feuer und Flamme”

“Dass von anthroposophischer Seite hilfsbereit und begeistert darauf reagiert wird, wie das schriftliche Werk eines Mannes, dessen Goetheanum schon mal von Gegnern abgebrannt wurde, dessen Werk also ohne jeden Zweifel wachsamen Schutz braucht, in den Händen unverbindlicher Menschen liegt, mutet eigenartig, weltfremd und gar skurril an. Es braucht Menschen, die in Feuer und Flamme stehen für die Anthroposophie und dessen [!] Schöpfer, die offen zu diesem Werk stehen, und die sich keine überlebten wissenschaftlichen Maßstäbe auferlegen lassen.”

Alles klar? Wir sind einmal mehr zurück im tiefsten Akasha-Dschungel, der Autor der zitierten Zeilen heißt Arnold Sandhaus und Objekt seines Hasses ist die sog. “SKA”, die erste historisch-kritische Ausgabe von Rudolf Steiners Werken. Dass bei einer so grässlichen Sache wie einer Steinerausgabe, in der die Textüberarbeitungen ihres Autoren kenntlich gemacht sind, niemand an den Brandanschlag auf’s “Erste Goetheanum” denkt, findet Sandhaus “eigenartig, weltfremd und gar skurril”. Denn nichts Besseres haben auch die “unverbindlichen Menschen” als “Gegner” zweifellos im Sinn. Makabererweise will unser kosmischer Feuermelder statt Gebäuden lieber eine anthroposophische Gesinnung “in Feuer und Flamme” haben.

Was zuvor geschah

Das Sakrileg: Die “SKA” wird sukzessive Steiners Hauptwerke nach wissenschaftlichen Standards herausgeben. Im ersten Band hat Herausgeber Christian Clement die Textveränderungen in verschiedenen Auflagen nachgewiesen. Überdies hat er hunderte Quellen Steiners aufgetan – und gezeigt, welcher Vorstellungen der Esoteriker sich für seine Interpretation der christlichen Mystik bediente. Quellenarbeit, wie sie jede historisch-kritische Edition erfordert. Dass dabei die Sprünge in Steiners Argumentation, die zeitgenössischen Wurzeln vieler seiner Vorstellungen, die Ungenauigkeit vieler seiner Recherchen zum Vorschein kommt, sollte niemanden überraschen. Steiner selbst betonte in einem Brief, er habe das unter den Begriffen “Mystik” oder “Christentum” Behandelte absichtlich nicht im historisch üblichen Sinne verwendet, sondern damit eigene Konzepte verschlagwortet:

“Mein «Christentum» nehmen Sie bitte für nicht mehr, als es sein will. Ich kenne seine Fehler, namentlich die historischen, ganz genau. Der Zusatz «als mystische Tatsache» will ganz ernst genommen werden. Und ich wollte mir den Eindruck nicht dadurch verderben, daß ich an gewissen Punkten auf andere, zum Beispiel auf Strauß hinwies. Ich lege den Wert auf die Erkenntnis-Gesinnung, die ich zum Ausdruck bringe.” (GA 39, 422)

Clements interpretativer Trick besteht denn auch darin, Steiners “ideogenetische” “Erkenntnis-Gesinnung” den Kontingenzen seiner philologisch-historischen Arbeit gegenüberzustellen. Es sei Steiner um die Illustration seiner eigenen Einstellung gegangen, nicht um eine geistesgeschichtlich korrekte Abhandlung zur Mystik. Wie weit das schon die Grundbotschaft Steiners gewesen ist, wäre allerdings zu diskutieren. (vgl. zu Clements Thesen auch Helmut Zander: Zeitwende)

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Juden, Jesuiten, Freimaurer und – Mormonen!

Die großen anthroposophischen Zeitschriften reagierten erfreut: In “Info3″, “Die Drei” und “Das Goetheanum” lobten Jens Heisterkamp, David Marc Hoffmann und Johannes Kiersch Clements Steiner-Deutung und seine philologische Arbeit. Sogar mein besonderer Freund Lorenzo Ravagli war glücklich. Hoffmann, Nietzsche-Experte, ehemaliger Leiter des Basler Schwabe-Verlags und gegenwärtiger des Rudolf Steiner-Archivs, gefiel Clements Steinerdeutung so gut, dass er den Steiner-Verlag zur Kooperation mit dem fromann-holzboog-Verlag aufforderte, der die “SKA” druckt. Das Kooperationsprojekt kam zustande. Ein Aufschrei über diesen “Verrat” des Steinerverlags ging durch’s fundamentalistisch-anthroposophische Lager. Wilfried Hammacher fühlte sich sogar bemüßigt, das frommann-holzboog in einem mehrseitigen Brief mitzuteilen. Clement pflege einen “aggressiven Ton” und “pharisäische Verdrehungen”, mache Steiners Werk zum “Kriminalroman” usw. usf.

Die positiven Stimmen werden (kaum qualitativ, sehr wohl aber quantitativ) von einem lautstarken Splitter der Steiner-Anhänger übertönt, der die Anthroposophie als letzte Insel des Lichts in einer “angloamerikanisch”-freimaurerischen Weltverschwörung sieht. Freilich, solche Verschwörungstheorien sind unter vielen Anthroposophen noch mehrheitsfähig (vgl. Anthroposophischer Geschichtsrevisionismus). Sie auf einen Steiner so geneigten Forscher wie Clement anzuwenden, blieb jedoch dem rechten Rand der heutigen Anthroposophie vorbehalten. Zwei Umstände dienen als Grundgerüst der kunstvollen Kampagne: 1. Clement arbeitet an der mormonischen “Brigham Young University”, 2. der Steiner-Verlag unterstützt und fördert das Editionsprojekt. Willy Lochmann, der in Kooperation mit Ravagli schon dem anthroposophischen Shoa-Banalisierer Gennadij Bondarew ein Forum verschafft hat, zog daraus den Schluss:

“Wer mit der Anthroposophie Rudolf Steiners vertraut ist, der weiss, dass es neben den Jesuiten vor allem die Freimaurer sind, die ausschliesslich deren Zerstörung mitsamt dem Ansehen Rudolf Steiners beabsichtigen. Und dazu ist ihnen jedes Mittel und auch jede Allianz recht. Im Moment sind es die Mormonen, die ihren Assistant-Professor Christian Clement dafür finanzieren, dass er eine sog. „Kritische Textausgabe“ Rudolf Steiners herausgeben kann … Doch es ist dies nur ein taktisches Verwirrspiel … Er betäubt uns, damit wir sein Machwerk nicht durchschauen. Und er wird solche Unterstellungen selbstverständlich wieder als „paranoide Phantasien“ brandmarken … Clement ist natürlich ein Wolf im Schafspelz … [der sich] als ein „Verständiger“ darzustellen versucht, als einer, der sich in die Gedankenwelt der Anthroposophie eingearbeitet hätte. … Er betäubt uns, damit wir sein Machwerk nicht durchschauen.”

Pietro Archiati hat gar ein Buch über Clements “Willen zur Vernichtung der Anthroposophie” geschrieben.

Aus der fabelhaften Welt des Thomas Meyer

Thomas Meyer vom “Europäer” konstatierte dann auch noch Bezüge zum weltpolitischen Zeitgeschehen. Im Oktober war das für ihn der syrische Diktator Assad, der gegen die bösen machthungrigen Amerikaner (die selbstverständlich in Wirklichkeit von schwarzmagischen Geheimlogen regiert werden) beschützt werden musste. Klar, dass auch 9/11 (natürlich von der hinterlistigen Bush-Regierung inszeniert) irgendwie eine Rolle spielt. Meyer:

Das Kesseltreiben gegen Assad schaukelt nach wie vor um einen gefährlichen Höhepunkt herum, an dem eine reale Kriegsgefahr besteht. Atomsprengköpfe wurden für den Ernstfall in aller Heimlichkeit von Texas an die Ostküste verlegt. Wenn auch Präsident Obama die Kongress-Abstimmung über eine Militärintervention in seiner Rede an die Nation vom 10. September verschob und der diplomatischen Lösung den Vorzug geben wollte – das mit Lügen angefüllte Pulverfass Syrien bleibt explosiv: Die fortwährenden Behauptungen von Assads «mutmaßlichen» Giftgas-Einsätzen erinnern an die mutmaßlichen «Massenvernichtungswaffen» von Saddam Hussein, deren angebliche Existenz sich als verlogener Kriegsvorwand herausstellte …”

Für Meyer war es sachlich offenbar naheliegend, einen Absatz später zu Christian Clement und zur “SKA” überzugehen. Der Umstand, dass Clement Professor an der Brigham Young University ist, hat auch bei Meyer Phantasien über den Zugriff “der Mormonen” ausgelöst. Diese ohne jede Begründung (die ja auch nicht existiert) zuzugestehen, besitzt auch er die Chuzpe.

“Wir hatten zu Clement und seinen Aktivitäten bereits im Editorial vom Juli 2012 – zur Zeit der Präsidentschafts-Kandidatur des Mormonen Mitt Romney – berichtet. Wir schlossen das damalige Editorial mit einer durchaus berechtigten Frage: «Anthroposophie und Mormonentum? Eine (…) sich anbahnende neue Allianz? Sie würde jene von Kirche und ‹Anthroposophie› noch in den Schatten stellen.»

Denn ja: “Die Kirche” ist ebenfalls nicht anthroposophisch und außerordentlich böse, überhaupt muss man ja auch immer wieder mit den fiesen Jesuiten rechnen. Aber Clement besaß auch noch die Frechheit, dieser “durchaus berechtigten Frage” zu widersprechen. Meyer weiter:

Diese Bemerkung hat Clement jüngst auf Facebook folgendermaßen kommentiert: «Für Freunde von Verschwörungstheorien: nachdem zuerst Thomas Meyer öffentlich die kritische Steiner-Edition als Zeichen einer ‹unheiligen Allianz› zwischen Dornach und Salt Lake City gedeutet hat http://www.perseus.ch/archive/3021, hat sich nun auch Willy Lochmann angeschlossen und überbietet Meyer noch an Detailreichtum seiner paranoiden Phantasien (…)» … Dass sich der neue kritische Steiner-Herausgeber mit der Universalphrase «Verschwörungstheorien» in solcher Art als Verunglimpfer von Leuten betätigt (inkl. des Autors Wood des abgebildeten Buches!), die ihrerseits kritische Fragen stellen, ist, gelinde gesagt, erstaunlich. … Freunde der Geisteswissenschaft Steiners, die sich für deren sachgemäße Ausbreitung in der Welt mitverantwortlich fühlen, sollten sich die sich hier anbahnenden «pro-anthroposophischen Allianzen», die Steiners Werk historisieren, psychologisieren und «kontextualisieren», genau ansehen, bevor sie sie als unbedingten Fortschritt preisen. Nicht nur Kerry’s und Obamas Phrasen gegenüber, auch solchen neueren publizistischen Entwicklungen gegenüber tut geistige Wachheit und Klarheit not. Die Frage ist: Wes Geistes Kind sind sie?”

Was nicht sein darf, kann nicht sein

Auch diese Frage beantwortet Meyer sich selbst. Denn der einmal aufgekommene Verdacht wird von Clement niemals ausgeräumt werden, Verschwörungstheorie ist ja auch nur so eine “Universalphrase”. Thomas Meyer ist nicht nur Ankläger, sondern zugleich auch Richter der geistigen Welt. Den seiner Meinung nach “vielleicht bedeutendsten Schüler Steiners im Westen”, D. N. Dunlop, zitierend, erklärt er jüngst, welcher (Un-)Geist hinter der “SKA” steckt: Ahriman, der neurotisch-materialistische Finsternis-Dämon in Steiners Geisterkabinett. Der, so Dunlop, wird “stärker werden und einen noch hinterhältigeren Charakter annehmen” … und, wie es scheint, schließlich die hinterhältige Philologie ausbrüten, zum Ende aller esoterisch-christlichen Clairvoyance. Keiner von Clements anthroposophischen Möchtegernkritikern hat auch nur einen relevanten Fehler in dessen Arbeit gefunden. Ein Grund mehr, dem bösartigen Mormonenspitzel die wissenschaftliche (erst recht “geisteswissenschaftliche”) Befähigung schonmal vorsorglich abzusprechen. 

Clement hatte darauf hingewiesen, dass dem Realschüler, Naturwissenschaftsstudenten und späteren Herausgeber, Archivar und Journalisten Steiner das “nötige philologische Rüstzeug” fehlte, um “sich auf dem Felde klassischer, hellenistischer, mittel-alterlicher und frühneuzeitlicher Literatur” (SKA V, S. XXXI) in dem Maße umzutun, dass er sein “Christentum als mystische Thatsache” auf Originalquellen hätte aufbauen können. Meyer widerspricht allen ernstes mit dem Hinweis darauf, dass Steiner in seiner Autobiographie erwähnt, er habe nach autodidaktischem Lernen Latein- und Griechischnachhilfe gegeben. Dass Meyer 1. die Qualifikation eines Hauslehrers und Studienabbrechers mit einer philologisch-religionsgeschichtlichen für identisch hält und diesen einzigen (auch noch auf einem Missverständnis seinerseits beruhenden) “Fehler” 2. zum Anlass nimmt, Clements gesamtem Werk die Wissenschaftlichkeit abzusprechen, ist charakteristisch für die Argumentationen im “Europäer” wie das Verschwörungsdenken Marie Steiners. Wer braucht schon Beweise, wenn er die “wahre” Natur der mit Nettigkeit getarnten “Feinde” kennt.

Dass Clement Steiner hunderte von freien Paraphrasen, Übernahmen und Plagiaten nachweist und vielmehr noch erklärt, warum dies seiner Originalität nicht schade, wird weder kritisiert noch honoriert – sein beschönigendes Fazit “Saubere Quellenarbeit, Methodenschärfe und sachliche Distanz zum Gegenstand… waren Steiners Sache nicht” halten die orthodoxen Anthroposophen für “Vorurteile”, Unterstellungen und “Gegnerschaft”. Was nicht sein darf, kann nicht sein. Lieber den Überbringer der Botschaft ohne Gründe diffamieren, als sich mit Steiner zu beschäftigen.

Rotkäppchen, der Wolf und die Erreger

Dass Meyer, Sandhaus, Lochmann, Pietro Archiati, Irene Diet, Marcel Frei usw. den von ihnen über Clement verbreiteten Unsinn wirklich für die Realität halten, ist vielleicht schwer zu glauben. Zu beachten ist allerdings, dass “Der Europäer” seit vielen Jahrgängen zu einem großen Teil mit “angloamerikanischen” finsteren Plänen vom Ersten Weltkrieg zu 9/11 und “dem kosmopolitischen wahren deutschen Geist” beschäftigt ist. Meyers Behauptungen zur “SKA” wenden den Gehalt der sonstigen Artikel nur auf einen neuen Gegenstand an. Dass Thomas Meyer sich jedoch mit etwas so Garstigem wie dem unqualifizierten Mormonenfreimaurerjesuitenahrimanamerikaner Clement überhaupt beschäftigen muss, hält offenbar mancher Stammleser trotzdem für eine große Zumutung (hier zu den Leserbriefen). Ein “Dr. med Olaf Koob” schrieb in einem dreispaltigen “Europäer”-Leserbrief:

“Ich wünsche Thomas Meyer, dass er sich nicht zu sehr von den Lügen und Verdrehungen fesseln lässt und so andere Aufgaben vernachlässigt. Aber es ist gut, dass dies oben Genannte einmal im Europäer klar gestellt wurde und schon Kafka meinte treffsicher: ‘Einer muss wachen…'”

Der Dr. med hat natürlich auch eine Erklärung dafür, wie es Clements in jeder Hinsicht affirmativer Steinerdeutung gelingt, trotzdem perfideste Perfidie zu sein:

“…wie der Wolf im Rotkäppchen mit einer Stimme spricht, die der Großmutter ähnelt – um die innerste Substanz der Anthroposophie und Rudolf Steiner selber zu diskriminieren und zu zersetzen … Erreger können nur dann in einen Organismus eindringen und ihn zerstören, wenn sie sich tarnen, um das ohnehin schon geschwächte Immunsystem zu umgehen…”

Und Leser Alois Ratzlin schreibt:

“Christian Clements Kritische Ausgabe ist ein Symbol, das Symbol einer Krankheit. Fein, wie die Europäer-Redaktion wacker gegen diese Kritische Ausgabe, diesen «Morbus CC» mit all seinen Fiebersymptomen angeht. Frau Diet hat die Hilflosigkeit des Mormonen, Steiner zu beurteilen, sauber herausgearbeitet, erfrischend die Karikatur von Dilldapp. Clement hat sie bereits auf seine Fratzenbuchseite («Facebook-Homepage») genommen.”

Statt dass unseren “Europäern” die von ihrer Hetze gezeugten Pathologisierungsversuche peinlich wären, werden letztere sogar noch abgedruckt. “Krank” ist alles, was nicht auf Linie liegt. “Krank”, wer Steiner philosophisch gelehrt deutet. “Einer muss wachen”, “gut” dass Thomas aufpasst, dass niemand die anthroposophische Bewegung aus ihrem dogmatischen Schlummer weckt.

1914 – 2014: Hundert Jahre Hass

Wer die Geheimnisse der göttlichen Hierarchien und des Elementarreichs kennt und weiß, dass Erster und Zweiter Weltkrieg hauptsächlich von dämonisch-“materialistischen” Dunkelmännern (mit Sitz in der englischsprachigen Welt) vorbereitet wurden… wer jeden Menschen in die nächstliegende ideologische Schublade (hier eben: “Mormone”) einsortiert, um dann einen “geisteswissenschaftlichen” Kübel Dreck über dessen Haupt auszugießen, wer dabei noch meint, eine “Freiheitsphilosophie” zu vertreten – der kann es anscheinend auch schlicht nicht ertragen, wenn jemand den großen Menschheitsführer Steiner als beweglichen Menschen darstellt, der für seine Bücher und Vorträge sogar recherchieren musste.

Die überaus freundliche, ja bis in die Terminologie der Anthroposophie verwandte, aber liberale Steinerdeutung Clements gebiert Ungeheuer. Keine tatsächliche ideologische Entgegensetzung, sondern die Konkurrenz um die Deutung Steiners ruft die orthodoxesten Steinerjünger auf den Plan, die solange weitermachen werden, bis Clement selbst zu Steiner schweigt. Als “Morbus C[hristian]C[lement]” erscheint er in der Tat für jene, denen das Universum eine notwendig gefügte Enzyklopädie ist, deren erbarmungs- und lückenlose Identität von einem ins Maßlose verzerrten Rudolf Steiner garantiert wird. Sie fordern ideologisch (mitnichten realpolitisch) ein, was Max Horkheimer als “Welt ohne Unterschlupf” bezeichnete. Jeder Riss im Beton und die Blüten, die daraus für eine deviante Steinerlektüre treiben könnten, müssen weggewischt, die “Erreger” ausgerottet werden – auf dass wieder Eindeutigkeit einkehre. Um die versteinerte Geisteswüste wieder in ein hellsichtig-durchsichtiges Panoptikum zu verwandeln, in dem nichts außen vor, transzendent, intim oder geheim bleibt – außer okkulten Logen und ihren dämonischen Herren, gegen die “einer wachen muss”. Der deus absconditus ist der deus malignus. Es ist eine Welt von Freund, der das heilige Wissen teilt oder zumindest hineinpasst – oder Feind.

Das Verschwörungsdenken, zu dem unsere “Europäer” neigen, ist kein Unfall, sondern zutiefst mit alteingesessenen anthroposophischen Selbstwahrnehmungen verflochten. Die ganz oben zitierten Worte Marie Steiners stehen dafür exemplarisch. Ihre Einkreisungsphantasie wird von den “Europäern” letztlich geteilt, die freilich den Seitenhieb gegen die “finanzmächtigen jüdischen Kreise” heutzutage kaum noch bemühen werden (und Steiner wahrscheinlich für den größten Anti-Antisemiten halten). Dieselben dunklen Mächte, die den deutschen Propheten Steiner vernichten wollen, wollen auch Deutschland vernichten. Alldeutsche, Katholiken, Protestanten, Juden, Kommunisten – so leicht wie Steiners Witwe halluzinierte, sie alle hätten sich verbündet, um Steiner zu schaden, so leicht wurde diese anthroposophische Ungeschichtsschreibung seit 1944 weitergesponnen (unterbrochen in der Tat von Interventionen wie denen Christoph Lindenbergs oder, zu ganz anderen Themen, Hoffmanns).

Der ahrimanische Christian Clement, die bösartigen Alliierten und ihre freimaurerisch-jüdischen Geheimlogenherren, die den unschuldigen, friedliebenden Deutschen zwei Weltkriege zugejubelt haben, sind, so die pathische Projektion, ontologisch-kosmologisch letztlich identisch: “Widersachermächte”. Die angeblich verbündeten und verschwisterten “Anthroposophiefeinde” sind austauschbar und duplizieren sich munter, je nach Anlass. Aus diesem (von Clement selbst nicht zu Unrecht als paranoisch bezeichneten) Kern sind alle Phantasien über Mormonen und heimliche Gegner, die geistigen “Erreger” usw. usf. vielleicht unbewusst, aber konsequent abgeleitet. Die Mehrzahl seiner anthroposophischen Rezensenten steht solchen Gedanken zumindest im Hinblick auf Clement fern. Nur Ramon Brüll und Jens Heisterkamp (Info3) haben allerdings ausführlich gegen die Gerüchte von Diet, Lochmann, Meyer und Co Stellung bezogen (Brüll auch gegen jüngst neu aufgelegte Verschwörungsthesen zum Ersten Weltkrieg). In gewisser Hinsicht steht hier die anthroposophische Bewegung selbst an einem Scheideweg: Der Ball liegt im Feld der durchaus prominenten Herren Heisterkamp, Hoffmann, Ravagli oder Kiersch. Wird eine esoterische Strömung, die sich selbst die höchsten moralischen und spirituellen Güter und Tugenden zuschreibt, Mittel, Motiv und Mut aufbringen, sich mehrheitlich von diesem Konspirationsgeraune zu distanzieren? Ich fürchte, die Chancen stehen schlecht. Das Jahr 2014 wird vermutlich eine weitere von erstaunlich vielen verpassten Chancen sein.


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Rosa steht ganz oben. Zur Verdummung der Anthroposophiekritik

Kritische Bücher über die Anthroposophie gibt es ja schon. Was bringt Ihres an Neuem?
Irene Wagner: Bei meinem ist neu, dass ich alle drei Praxisfelder verarbeitet habe, auf die sich andere nur einzeln beziehen: Waldorf-Pädagogik, biologisch-dynamische Landwirtschaft und anthroposophische Medizin.
- Irene Wagner: “Die anthroposophische Ideologie ist eine Verdummung der Menschen” (Interview, telepolis, 26.11.2013)

Mit diesen Worten ist tatsächlich fast alles ausgesprochen, was Irene Wagner, promovierte Pädagogin, ehemalige Lehrerin, kurzzeitige Waldorfkindergartenmutter und: neuester Stern am derzeit ziemlich leeren Himmel der Anthroposophiekritik, über den Gegenstand ihrer Kritik zu sagen hat (sieht man einmal davon ab, dass auch die Behandlung dieser drei Praxisfelder kein Novum ist). Die Kürze des zitierten Interviews verdeckt, dass das von Wagner benutzte Verb – “verarbeitet” – den traurigen Rest ihrer Möchtegern-Anthroposophiekritik ausmacht. Denn systematisch analysiert wird selten, eher kompiliert.

Munteres Rätselraten

Wer ihr Buch “Rudolf Steiners langer Schatten. Die okkulten Hintergründe von Waldorf & Co” (Aschaffenburg 2012) aufschlägt, wird darin kein Kapitel über die “anthroposophische Ideologie” finden, die sie so aufsehenerregend als “Verdummung der Menschen” ankündigt. Kein Kapitel über kosmische Evolution, okkulte Erkenntnistheorie und esoterische Hintergründe – die zwar in langen Paraphrasen von Steinervorträgen vorkommen, aber Wagners Kommentare und Analysen fallen etwa so aus:

“Eine vorgeburtliche Erziehung lehnt [Stein]er ab, weil sich da die Erziehung auf die Mutter beziehen müsste. ‘Und im Übrigen soll man nicht in das Werk der Götter eingreifen.’ Vorher hatte er noch erklärt, dass selbstverständlich in das Karma eingegriffen werden müsse … Interessant ist, dass hier von Göttern die Rede ist, obwohl Steiner sich sonst immer auf das Christentum beruft, in dem es nur einen Gott gibt.” (S. 316)

Steiner hatte zwischen dem unvermeidlichen erzieherischen Eingriff ins “Karma” der Zöglinge und dessen angeblicher Unangebrachtheit in der Schwangerschaft schlicht unterschieden. Wagners Zusammenfassungen bleiben oft in der exemplifizierten Weise oberflächlich und machen aus Zusammenhängendem Widersprüchliches und umgekehrt. Auch der Bemerkung über die “Götter” wäre ähnliches beizugesellen: Offenbar hat Wagner sich weder die christologischen noch die kosmologischen noch Emanations- und Hierarchienlehren der Anthroposophie angeschaut, geschweige denn deren evolutionären Zusammenhang. Entsprechend dünn sind auch die “kritischen” Bemerkungen zu Steiners Rassismen, entsprechend ihre seltsame Literaturauswahl, in der ein Heiner Ullrich, Klaus Prange oder Peter Bierl gar nicht oder nur am Rande auftauchen – zugunsten von Stimmen wie dem Völkischen Jakob Wilhelm Hauer und den befremdlichen Geisteskranke-beherrschen-die-Weltgeschichte-Thesen Wolfgang Trehers. Helmut Zander kommt zwar im Literaturverzeichnis vor, aber nirgends zur (bei Wagner fast immer fehlenden) gesellschafts- und ideengeschichtlichen Rekonstruktion. So begegnet die Autorin den zusammengelesenen Daten zur Anthroposophie nicht selten mit munterem Rätselraten.

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Wagner versucht, der anthroposophischen Szene durch die Analyse von allerlei aktuellen Flyern und Internetfundstücken gerecht zu werden – die sie dann einer sehr kreativen Interpretation unterzieht. Dabei stellt sie zum Beispiel fest, dass es interne Veranstaltungen der Anthroposophischen Gesellschaft gibt, zu denen nur Mitglieder dieser Gesellschaft zugelassen sind. Das findet sie unvorstellbar und verdächtig. “Im Veranstaltungskalender”, erklärt Wagner, “steht extra dabei: ‘Nur für Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft (bitte rosa Mitgliedskarte nicht vergessen!)’ Möglicherweise gibt es verschiedenfarbige Mitgliederausweise, rosa steht in der anthroposophischen Hierarchie bestimmt ganz oben.” (S. 33) Eine Google-Recherche hätte hier abgeholfen.

“Anvisierte Weltherrschaft” und Unterwanderung

Stattdessen drängt die Autorin ihren Lesern immer wieder anekdotisch antiimperialistische Ideologie auf, die derjenigen einiger Anthroposophen ganz genau entspricht:

“Die Devise, immer mehr, immer schneller und individueller, führte bereits in die Sackgasse. Trotzdem wird der Wettlauf um die vorderen Plätze im Weltmarktgeschehen fortgesetzt … Der ehemalige Präsident Horst Köhler hat offen ausgesprochen, was seit Jahren betrieben, aber mit humanitären Motiven bemäntelt wird; nicht unsere Freiheit wird am Hindukusch verteidigt, sondern der Zugang zu Rohstoffen soll durch Bomben gesichert werden. Das gilt gleichermaßen für die anderen von den Westmächten angezettelten Kriege. Hochriskante Technologien wie Atomkraftwerke kommen einer kleinen einflussreichen Minderheit zugute.” (Wagner: Rudolf Steiners langer Schatten, S. 375f., vgl. zum Kontext solcher Überzeugungen Dan Diner: Feindbild Amerika. Von der Beständigkeit eines Ressentiments, München 2002, v.a. 163-206)

Die Autorin kritisiert keineswegs die Logik “des Kapitalismus” (nur daran, dass jemand “vordere Plätze” will), noch zieht sie daraus soziologische Schlüsse (etwa zu den Ursachen von Esoterik). All das steht in seltsamer Unverbundenheit zu ihren offensichtlich so bemüht kritischen Spekulationen zur Anthroposophie. Die Marktförmigkeit der Religion im Spätkapitalismus etwa analysiert unsere offenkundig so “kapitalismuskritische” Autorin nicht. Auch die Funktionsweise der Anthroposophie legt ihr derlei nicht nahe. Warum seit Steiners Zeiten Zehntausende peripheres oder randständiges Interesse an dessen Denkformen entwickelt haben – diese Frage stellt sie gar nicht. Vielmehr sieht sie in den Nachfolgern Steiners, was sie auch hinter den “Westmächten” und Atomkraftwerken vermutet: eine “kleine einflussreiche Minderheit”. Obwohl Frau Wagner vollmundig von “Irrationalität” spricht, kann sie mit diesem Konzept allem Anschein nach nichts anfangen. So entgeht ihr die gesellschaftliche Rationalität der “Irratio” und diese erscheint als schlechthin “Anderes” zur arglosen Gesellschaft. Und so sehr ihr die breite Rezeption anthroposophischer Theorie und Praxis dunkel bleibt, so sehr argumentiert sie sich um Kopf und Kragen, um dafür eine Erklärung zu finden: Hinter den Kulissen des Weltgeschehens  arbeiten Anthroposophen auf die Beherrschung des Planeten hin.

“Nein, ihr anthroposophisches Netz umspannt die ganze Welt. Deshalb gibt es mittlerweile weltweit 1000 Waldorfschulen, das ist immerhin ein Anfang für ihre anvisierte Weltherrschaft.” (S. 381)

“Alles, was alternativ aussieht, wird von den Anthroposophen unterwandert” (S. 14)

“Das Imperium der Anthroposophen weitet sich immer stärker aus, natürlich mit Hilfe der Politik … Aber es stecken in vielen Bewegungen Anthroposophen drin, z.B. in der Friedensbewegung und der Ökobewegeung. Vielleicht ist das die neue Strategie, um der anthroposophischen Bewegung mehr Unterstützung zu verschaffen.” (S. 382)

Dass es spezifisch anthroposophische Gründe gibt, ihre Bewegung und Inhalte genau so und nicht anders zu organisieren wird nicht einmal diskutiert. Bei einer so praxisorientierten wie sozial- und lebensreformerisch engagierten okkulten Bewegung wie der Anthroposophie ist deren Diffundieren in andere “alternative” Milieus nahezu unausweichlich. Nicht für Wagner, die dahinter vor allem kalt-berechnendes Propagandakalkül, “Pragmatiker im feinen Zwirn”, vermutet: “Die Anthros” wollen Geld, Macht und alles andere ist Beiwerk, um arme Seelen zu fangen.

“peripheral curiosities”

So entgeht die gesamte anthroposophische Ideologie der Analyse und am Ende kann Wagner ihre Zustimmung zur realen anthroposophischen Praxis, deren ideologische Grundlage sie übersieht oder wegerklärt,  doch nicht verhehlen:

“Was Steiner hier als Hineinschauen in das Karma bezeichnet, ist nichts anderes als der Versuch, herauszufinden, ob vielleicht eine Schwäche in der Familie vorliegt, also Vererbungsfaktoren, die er ansonsten ja für unmaßgeblich hält.” (S. 311)

“Kosmischer Rhythmus und biologisch-dynamische Präparate spielen eine Rolle. Abgesehen von diesem anthroposophischen Hintergrund mit reichlich seltsamen Ritualen hat das Konzept aber durchaus etwas für sich. Es ist nämlich an einen Kreislauf der Herstellung und Verwertung gedacht, so dass die Umwelt weniger belastet wird. Deshalb sind Demeter-Höfe nicht einseitig ausgerichtet. Sie müssen sowohl einen Viehbestand haben als auch Ackerland bearbeiten, denn das Vieh liefert den Dünger, den man für die Felder braucht. Diese Idee ist aber nicht allein bei biologisch-dynamischer Wirtschaft anzutreffen … Trotz mancher Spinnereien muss man zumindest anerkennen, dass die Anthro-Bauern eine andere Einstellung zu ihren Tieren haben als die Betreiber von Massentierhaltung, weshalb bei ihnen das Kupieren verboten ist. Selbst auf Öko-Höfen wird das anders gehandhabt.” (S. 359ff.)

Wo die Kernelemente der Ideologie und ihre Durchdringung der Praxis als “reichlich seltsame Rituale” abgespalten werden, hat die Anthroposophiekritik ihren Gegenstand verloren, bevor sie begonnen hat. Nicht umsonst hat Peter Staudenmaier seine Dissertation zur Geschichte der Anthroposophie im deutschen und italienischen Faschismus mit den Worten beendet:

“In view of the current popularity of anthroposophical values and practices, it would be a mistake to relegate this problematic history to the margins, safely removed from the mainstream. The temptation to hold both occultism and fascism at arm’s length, to see them as merely eccentric and peripheral curiosities from yesteryear, is a way of avoiding straightforward engagement with the disconcerting persistence of the past within the present. Resisting this temptation, and looking squarely at these phenomena in historical perspective, can yield a more lucid understanding not just of an ill-fated earlier era but of our own time.” (Staudenmaier: Between Occultism and Fascism, Diss., Connell University 2010, S. 524f.)

Wagner hat Staudenmaier nicht gelesen. Das wäre ihr kein bisschen übel zu nehmen, würde sie sich nicht seitenweise auf zweifelhaftestem Forschungsstand zum Thema Anthroposophie und Faschismus ausbreiten. Fast die gesamte neuere, durchaus auch die kritische Literatur zur Anthroposophie ist an Wagner allem Anschein nach vorbeigegangen (oder umgekehrt). Unsystematisch taucht einiges selektiv auf, so stößt man etwa urplötzlich auf ein Kapitel über die Barz/Randoll-Waldorf-Ehemaligenstudie von 2007 (S. 93-113). Aber weder wird der Informationsgehalt der behandelten Studie wirklich ausgeschöpft noch das inzwischen durchaus breite Spektrum solcher empirischer Untersuchungen auch nur erwähnt.

Kirche im Dorf – Wagner auf dem “Martinsmarkt”

Um die Kirche im Dorf zu lassen: Manches an Wagners Buch ist durchaus vertretbar, aber wenig neu und zu wenig sauber dargestellt. Nicht ganz so abwegig wie die oben zitierten freien Assoziationen ist das Buch, wenn Wagner Steiner zusammenfasst. Sehr detailliert und kritisch gibt sie auf gut fünzig Seiten einige seiner waldorfpädagogischen Vorträge wieder (S. 143-198), etwas kürzer fallen die Paraphrasen zu Landwirtschaft, Medizin und Heilpädagogik aus. Auch die eine oder andere originelle Reformulierung von Kritiken an der Waldorferziehung (etwa zur Frage von Autorität und Antidemokratismus) ist ihr gelungen.

Zwischendurch wird’s auch lesenswert und lustig – Wagner berichtet mit der dem ganzen Buch eingentümlichen Urteilssicherheit von mehreren Besuchen an Waldorfschulen. Offenbar hat sie sich die Oberuferer Weihnachtsspiele, mehrere “Tage der offenen Tür”, etwa einen “Martinsmarkt 2008″ zu Gemüte geführt. Ihre Berichte gehören (manchmal wohl unfreiwillig) in die Kategorie bessere Anthroposophie-Satire. Gemeinsam mit der mutigen Erkunderin fragt man sich, warum Kinder Elfenbilder beschreiben müssen, folgt einem “kompetent wirkenden” Lehrer durch die Schülerexponate, ärgert sich, weil “jüngere Schüler” bedienen und an einer Kasse sitzen  – noch nicht mal mit Stift und Papier! – und wagt sich sogar in die Nähe der Schulschmiede, wo “Jungen” an “Kupferschalen” arbeiten. “Wegen des fürchterlichen Lärms sah ich nur von weitem zu. Die Schüler hatten immerhin Ohrenschützer auf. Mädchen waren in diesen Bereichen nicht zu entdecken.” (S. 139f.) Wäre das Waldorf-Verbandsmagazin “Erziehungskunst” mit ein bisschen (Selbst-)Humor gesegnet, man würde Irene Wagner eine Kolumne mit Undercoverberichten über Waldorfevents anbieten.

Erschienen ist das Buch im Aschaffenburger Alibri-Verlag, der als “Forum für Utopie und Skepsis” eine Menge religions- und esoterikkritischer Publikationen vertreibt. Hausrezensent und Historiker Armin Pfahl-Traughber bescheinigte dem Buch, es zeige die “bedenklichen Folgewirkungen” Steiners auf, neige “mitunter zu nicht unproblematischen Verallgemeinerungen” und biete trotz einer vordergründigen “Betroffenheit” der Autorin eine Fülle an Material.


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Waldorf in Taiwan. Ein Beispiel interkultureller Innovationsresistenz?

“When we look at the Waldorf curriculum, we can find a further example of cognitive and normative constructs … The curriculum remains remarkably unchanged, even under the last decade’s pressures to disavow Eurocentrism … even in inner-city Milwaukee, the Waldorf teachers continue to tell Norse myth of Odin and Thor … At this point, we must establish the relevant cultural context: where do processes of adaption take place? What institutions other than the school itself play a role in creating Waldorf’s coherence and construction?”
– Ida Oberman: The Waldorf Movement in Education from European Cradle to American Crucible, Lewiston/Queenston 2008, S. 13

“The New Yorker” schrieb kürzlich über die wachsende Waldorfschul-Bewegung in China. Diese ist kein Einzelfall: Im letzten Jahrzehnt schießen weltweit und gerade auf dem asiatischen Kontinent immer mehr dieser Schulen aus dem Boden. Wie ein dezidiert an “christlichen Jahresfesten” und einer eurozentrischen “Kulturepochen”-Lehre orientiertes Modell sich global differenziert und regional variiert, ist schwert zu überschauen. 2010 hat Kung-Pei Tang eine ausführliche Dissertation zu drei taiwanesischen Waldorfschulen vorgelegt. Zwei Faktoren sind dabei wichtig: Die taiwanesische Abgrenzung von China und ein stark prüfungsorientiertes öffentliches Schulsystem. Letzterem begegnet der “sanfte” Anspruch der Steiner-Pädagogik, ersterer eine proklamierte “Taiwanisierung” derselben.

Gerade zum letzteren Bereich finden sich viele interessante Überlegungen bei Tang, etwa zur (Un-)Vereinbarkeit von anthroposophischer Architektur und Feng Shui, oder zur Beziehung von choreographischen Darstellungen chinesischer Kalligraphie und Eurythmie – diese von Tang aufgeworfenen möglichen Schnittstellen seien jedoch von den taiwanesischen Waldorflehrern nicht bedacht worden. Tang geht ausführlich Lehrpläne, Schulhefte, Details der Schuleinrichtung und -architektur, bisweilen einzelne Veranstaltungen durch – und kommt zu einem sehr ernüchternden Fazit. Zum einen mit Blick auf das straffe Lernen an den staatlichen Schulen. So werde “der prüfungsorientierte Unterricht als rigide gesellschaftliche Vorgabe trotz der Übertragung der Waldorfpädagogik nicht über Bord geworfen.” (S. 143)

“Im Hinblick auf die Gründung der ersten Waldorfschule in Stuttgart und in Bezug auf deren Übertragung auf Taiwan ist das Waldorfschulkonzept von ‚einem radikalen Reformversuch’ [Rüdiger Iwan] zu einer musterhaften, aber wenig genügenden Alternativschule Taiwans geworden.” (S. 121)

Vor allem behauptet Tang eine tiefgreifende kulturelle Ignoranz der Waldorfpädagogen – taiwanesische Waldorfschüler müssten wie ihre deutschen Kommilitonen germanische Runenstäbe schnitzen, keltische Flechtbandmuster malen usf., zum Jahresende würden die in den chinesischen Minnan-Dialekt übersetzten “Oberuferer Weihnachtsspiele” aufgeführt. (S. 76) Die weltanschaulichen Züge der Pädagogik scheinen an den taiwanesischen Waldorfschulen viel offener kommuniziert zu werden als hierzulande: Nach Tang erscheinen Berichte über die Meditations-”Hausaufgaben” der Lehrer sogar in den Schulzeitschriften. Aus dem Kunstunterricht bildet die Dissertation ein Epochenheft mit dem Titel “The color theories of Steiner and the concepts of line – with example of four temperaments” ab. (S. 124)

“Mit den Wörtern von Rudolf Grosse: das Kind sei im zehnten Jahr ‚Germane’, dann ‚Grieche’, dann absolviere es die Wanderung vom Osten bis ans Mittelmeer und werde als Zwölfjähriger ein Römer, im dreizehnten ein Ritter und Klosterbruder, ein Columbus und es sei mit der Geschlechtsreife in seiner Gegenwart angekommen. Entsprechend dieser Konzeption durchlaufen die taiwanischen Waldorfschüler ihren Geschichtsunterricht. Anstatt sich an der Zeittafel Chinas zu orientieren, wird die chinesische Kulturgeschichte im Geschichtsunterricht vereinzelt behandelt, so dass das oben genannte Muster der kulturgeschichtlichen Epochen, die der abendländischen Geschichte zugrunde liegt, zum Vorschein kommt.” (S. 103)

“Der Universalanspruch des europäischen Weltbilds ist auch in die an der Leichuan Waldorfschule stattgefundenen Vorträge eingebettet. Auf einem Vortrag diskutiert der Referent den Frohsinn des Weihnachtsfestes. Nach seiner Auffassung sollte die feierliche Stimmung des Weihnachtsfestes von dem Christentum enthüllt werden und auf den tiefen Winter zurückzuführen sein. Damit begründet er, dass die im Weihnachtsfest verborgene Feierlichkeit an der taiwanischen Waldorfschule auch gelebt werden sollte. Für die taiwanischen Waldorfpädagogen ist die Weihnachtsfeier nicht nur ein Anzeichen für das Bekenntnis zum Christentum, sondern eine wichtige Aktivität nach dem von Anthroposophen aufgezeichneten Jahresrhythmus.” (S. 35)

Die Dissertation “Kulturübergreifende Waldorfpädagogik, Anspruch und Wirklichkeit – am Beispiel Taiwan” ist online abrufbar. Die ausführliche Analyse lohnt eine Lektüre.


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“Die nazistischen Sünden der Dornacher”?

Hans Büchenbacher, seine „Erinnerungen 1933-1949“ und die Vorstände der Anthroposophischen Gesellschaft(en) in der Nazizeit

«…dass etwa zwei Drittel der deutschen Anthroposophen weniger oder mehr auf den Nationalsozialismus hereingefallen waren», behauptet in seinen Memoiren der Anthroposoph Hans Büchenbacher, 1931 bis 1934 Vorstandsvorsitzender der deutschen Landesgesellschaft. Nach dem Wahlsieg Hitlers wurde Büchenbacher wegen der jüdischen Herkunft seines Vaters nicht nur von den Nazis angefeindet, sondern bald auch anthroposophischerseits von seinem Posten gedrängt. Um die anthroposophische Geschichte der Jahre 1933 bis 1945 historisch angemessen zu deuten, muss man die ideologische, personelle und organisatorische Kontinuität und Transformation der Anthroposophie im frühen 20. Jahrhundert analysieren – und diskutieren.

Hier zum Vortrag

In Kürze erscheinen im Frankfurter Info3/Mayer-Verlag die “Erinnerungen” Büchenbachers. Der hier veröffentlichte Vortrag wurde auf Einladung von Philip Kovce am 1. März 2014 anlässlich der 19. Rudolf-Steiner-Forschungstage (Philosophicum Basel) gehalten.

Es handelt sich um eine Kurzzusammenfassung meiner für die Büchenbacher-Edition angestellten Recherchen im Dornacher Rudolf Steiner Archiv, dem Archiv der Anthroposophischen Gesellschaft am Goetheanum und der “Forschungsstelle Kulturimpuls”.


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