Quantcast
Channel: Waldorfblog
Viewing all 119 articles
Browse latest View live

Missbrauch und Reformpädagogik – Eine “Collage” zu Waldorf, Odenwaldschule und Steinerscher Sexualmoral

$
0
0

Zurzeit wird bekanntermaßen in nahezu allen Medien das Thema “sexueller Missbrauch an Schulen” diskutiert. Vor allem werden Fälle sexueller Übergriffe durch Lehrer an kirchlichen (namentlich katholischen) Schulen problematisiert, was sich mit Debatten der ohnehin zutiefst makaberen Einstellung der katholischen Kirche gegenüber Sexualität verbindet.

Nach den Vorfällen an der Odenwaldschule (OSO) und jetzt auch in drei anthroposophischen Einrichtungen hat sich zusätzlich ein eigenartiger Streit darüber entwickelt, ob das jetzt “das Ende” der Reformpädagogik sei. Ich versuche in diesem Blogeintrag eher “collagen”artig, die wichtigsten Artikel zu den wichtigsten Ereignissen zusammenzutragen.

Auch AnthroposophInnen haben zu Sexualität im allgemeinen und besonderen bekanntlich ein eher schwieriges Verhältnis. Nach dem Thema Waldorf und Missbrauchsvorwürfe will ich auch das und seine Relevanz für die Waldorfschulen kurz thematisieren (wobei ich mir freilich bewusst bin, dass ich damit zwei sehr unterschiedliche Seiten von “Sexualität in der Schule” - von denen die eine, nämlich Missbrauch, nicht sein darf und die andere, d.h. Sexualkundeunterricht sein muss - auf für beide eigentlich unangemessene Weise verbinde).

“Pädagogik und Eros” – Beispiel I: Die Odenwaldschule

Die Missbrauchsvorwürfe (eine leider unvollständige Liste von publizierten Vorfällen hier) wurden vorwiegend gegen (großenteils ehemalige) Lehrer an kirchlichen (nicht nur katholischen, vgl. fr-online.de) Privatschulen erhoben. Als dann auch Vorfälle an der berühmten Odenwaldschule kritisiert wurden, war die erste reformpädagogische Schule dabei – mit der überdies überraschend viele bekannte ReformpädagogInnen irgendwie liiert waren und sind (zu inziwschen diskutierten Fällen an der Wiesbadener Helene Lange-Schule siehe ebenfalls fr-online). Schnell stellte sich die Frage, ob mensch das nicht irgendwie mit dem Wesen von Reformschulen verbinden könne:

“An der Odenwaldschule wurde nicht einmal Geheimhaltungsdruck ausgeübt, man gab den Kindern das Gefühl, einer verschworenen Gemeinschaft anzugehören und kultivierte eine ‘platonische’ Rechtfertigungsphilosophie in der Tradition des Stefan-George-Kreises. Aber auch ein ‘einvernehmlicher’ sexueller Missbrauch kann dem Opfer schwere Wunden zufügen. Pädaophile Täter behaupten gern, sie seien von den Kindern verführt worden.” (Henning Köhler: Pädagogik braucht Eros, in: Erziehungskunst 05/2010, S. 52 – ich bitte zu beachten, dass diese Sätze ausgerechnet in der Waldorfzeitschrift “Erziehungskunst” erscheinen, eindrucksvolle Beschreibungen dieser Ereignisse, ohne dabei das Konzept als Ganzes zu verdammen, lieferte die ehemalige OSO-Schülerin Amelie Fried: Die rettende Hölle)

Die Odenwaldschule in Heppenheim-Oberhambach

Die Odenwaldschule in Heppenheim-Oberhambach

Parallelen im Schulkonzept ließen sich wahrscheinlich schnell zusammenreimen. Eine der pädagogischen Innovationen der 1910 gegründeten Odenwaldschule war (neben der Abschaffung von Jahrgangsklassen oder der damals revolutionären Neuerung, dass LehrerInnen mit “Du” angesprochen wurden) etwa der Nacktsportsportunterricht, den erst die Nazis verboten. Gründer Geheeb, der sich wie Steiner auf Fichte und Goethe berief, sah in seinen sehr idealistischen Reden über Geist und Zielsetzung seiner Schule natürlich keinen institutionell verankerten Missbrauch vor (Geheeb: Die Odenwaldschule im Lichte der Erziehungsaufgaben der Gegenwart). Die diskutierten Missbrauchsvorfälle wurden vielmehr von den “schuldigen” LehrerInnen gemäß dem “aufklärerischen” Selbstverständnis der Schule zurechterklärt, wie die ehemalige Schülerin Fried berichtete:

“Anfang der siebziger Jahre wurde bekanntlich die „sexuelle Befreiung“ ausgerufen, die Gegenbewegung zur repressiven Sexualmoral der fünfziger Jahre. So konnten diese Lehrer sich geradezu als Revolutionäre fühlen, sich vormachen, ihren Schülern etwas Gutes zu tun. Schließlich führten sie die Jugendlichen nur an eine unverklemmte, selbstbestimmte Sexualität heran – was sollte daran falsch sein? Ein gigantischer Selbstbetrug, mit dem die Täter ihr Verhalten verharmlosten und vor sich selbst rechtfertigten.” (Die rettende Hölle, siehe auch die “Erklärung aus aktuellem Anlass” der heutigen Direktorin Margarita Kaufmann)

Während die Schule sich heute bemüht, die Stimmen der Opfer zu hören und der Aufklärung der Fälle konstruktiv gegenübersteht (vgl. ebd.), wurden früher bekannte Missbrauchsfälle noch Ende der 90er recht beharrlich abgewiesen, ja die sich meldenden Opfer diffamiert:

“Es gab (…) Stimmen, die ihnen unterstellten, sie wollten den guten Ruf der OSO beschädigen. Groß war die Erleichterung im Vorstand des Trägervereins, als auch die Presse auf den Artikel der Frankfurter Rundschau nicht reagierte (…) Es wurde und wird auch versucht, die Missbrauchsopfer als „Nestbeschmutzer“ darzustellen, die mit ihrer „Kampagne“ nichts anderes im Sinn hätten, als die OSO zu zerstören – aus den Opfern sollen also Täter gemacht werden. (…) Nicht diejenigen haben der OSO geschadet, die den Missbrauch aufgedeckt haben, sondern diejenigen, die ihn begangen haben. Und die allermeisten von denen, die jetzt für eine rückhaltlose Aufklärung der Vorgänge und für eine Benennung der Schuldigen kämpfen, tun dies nicht, um die OSO zu zerstören, sondern um sie zu retten.” (Fried, a.a.O.)

Beispiel II: Missbrauchsfälle bei Waldorf

Derartige Ereignisse und ihre grauenvollen, tragischen Folgen und Nachwirkungen spielten (und sicher: spielen) sich – wenn auch in anderen Umfeldern und mit anderen Umständen – wie gesagt an zahlreichen Schulen ab, von denen einige, oft schon juristisch “verjährte” Fälle jetzt problematisiert wurden. Und das werden sie jetzt auch in drei anthroposophischen Einrichtungten, zu denen (wie bei Meldungen aller Art über anthroposophische Einrichtungen üblich) sofort allerlei Berichte und Spekulationen hochkochten.

Im Folgenden die nach meinem momentanen Kenntnissstand thematisierten Ereignisse (eine andere, etwas wirre Collage bei Werner: Missbrauch in Waldorfschule):

“schweren Missbrauchsvorwurf gegen einen Gruppenleiter an einer anthroposophischen Behinderten-Einrichtung in Köthel (Kreis Herzogtum Lauenburg): Der 44-jährige Mann steht unter dem dringenden Verdacht, sich über Jahre hinweg an Kindern sexuell vergangen zu haben. Sein eigener, minderjähriger Sohn, Freund eines mutmaßlichen Opfers, wandte sich verzweifelt ans Jugendamt.”

Laut Artikel sollen zwei geistig behinderte Schüler (heute 15 und 18) “betroffen” sein, über mutmaßliche Details ist noch nichts bekannt.

“Die Vorwürfe waren laut geworden, nachdem eine andere Frau erklärt hatte, der Sportlehrer habe sie im Jahr 1979 vergewaltigt. Ein weiteres Opfer hatte ihm sexuellen Missbrauch vorgeworfen. Die Nürnberger Waldorfschule hat den Lehrer seit den Osterferien suspendiert.” (Bayrischer Rundfunk)

Detaillierter berichteten die “Nürnberger Nachrichten” über das Prozedere. Laut dem Anwalt einer der beiden Frauen, der auch mehrere Opfer an der Odenwaldschule vertritt, ist von weiteren Missbrauchsopfern auszugehen.

Die Nürnberger Rudolf-Steiner-Schule ist augenscheinlich um eine Klärung der Vorfälle bemüht hat nach Vorschrift des Kultusministeriums eine Liste mit schulinternen AnsprechpartnerInnen und externen Anlaufstellen veröffentlicht (Prävention bei Missbrauch oder Gewalt).

Rudolf-Steiner-Schule Nürnberg: Sonst noch "Umweltschule Europas" und anerkannte UNESCO-Projekt-Schule

Rudolf-Steiner-Schule Nürnberg: Sonst noch "Umweltschule Europas" und anerkannte UNESCO-Projekt-Schule

  • Anders lief es bei einem Fall ab, der an der Waldorfschule Überlingen stattfand und zu dem sich ein ehemaliger Schüler zu Wort meldete – hier sind die Parallelen zu Vorfällen an kirchlichen Privatschulen auffällig. Die “Schwäbische Zeitung” schrieb:

“Auch an der Freien Waldorfschule in Überlingen soll es Missbrauchsfälle gegeben haben. Das berichtet ein ehemaliger Schüler, der die Einrichtung Mitte der Neunziger Jahre besucht hat. Der Pädagoge soll entlassen worden sein.” (Vorwürfe gegen Waldorfpädagoge)

Auch besagter Schüler hat sich zu gewaltsamen Ausfällen des “Pädagogen” im Unterricht und einer zu mangelhaften Aufklärung der Vorfälle inzwischen geäußert (Schläge bestimmen die Grundschulzeit), während in einer Stellungnahme der Waldorfschule von zwei belegten Missbrauchsfällen 1993 die Rede ist. In der “Aufarbeitung” sei aber deutlich geworden, dass der Lehrer gegen mehrere SchülerInnen “tätlich” geworden sei und vor seiner Tätigkeit an der Schule in der Schweiz von einer Missbrauchsanzeige freigesprochen wurde. Auf Wunsch von SchülerInnen und Eltern sei damals keine Anzeige seitens der FWS Überlingen erstattet worden, es blieb bei einer Suspendierung (Waldorfschule nimmt Stellung). Der “Südkurier” berichtete ähnlich, aber als einzige Zeitung mit mehr Details zum Missbrauchsvorfall selber (Missbrauchsfälle auch an Waldorfschule - einen Ausschnitt auch auf der Seite der FWS Überlingen).

Wer sich mit den zuletzt 2008 recht breit diskutierten Vorfällen von körperlicher Gewalt an FWSen auseinandergesetzt hat (Steiner und die Prügelstrafe), wird sich vielleicht zunächst besorgt gefragt haben, wie der “Bund der Freien Waldorfschulen” bzw. die “Landesarbeitsgemeinschaften” der FWSen auf diese Vorwürfe und diejenigen reagieren, die sie äußern. Gegen die erwähnten Fälle von Gewalt an FWSen gingen diese Interessenvertretungen in meiner (und vieler anderer) Wahrnehmung nicht selten mit Klagen vor – und zwar Klagen gegen diejenigen, die die Fälle öffentlich machten. Ähnlich wie in den 90ern im Umfeld der Odenwaldschule (s.o.) wurde gelegentlich behauptet, es handle sich um Attacken von “unzufriedenen Ehemaligen” (ebd.).

“Das Ende der Reformpädagogik”?

Promt waren deshalb WaldorfgegnerInnen nach den Missbrauchsfällen natürlich auf dem Plan. Mit originellen Äußerungen wie dieser:

“Dass nun auch eine Waldorfschule betroffen sein soll, verwundert nicht, ganz im Gegenteil, man konnte eigentlich darauf warten und man kann auch davon ausgehen, dass es nicht bei einem Fall bleiben wird. (…) Bei Waldorf-Einrichtungen stellt sich dann auch noch die zusätzliche Frage, ob überhaupt ein Interesse besteht, generell Missbrauchsfälle intern zu ahnden. Dies darf gut und gerne bezweifelt werden, denn was wäre die Anthroposophie ohne Karmalehre. Somit liegt die Schuld immer beim Kind, wenn es missbraucht wird oder nicht?” (Esowatch: Sexueller Missbrauch in Waldorfschule?)

Glücklicherweise hat der “Bund der Freien Waldorfschulen” dieses mal erleichternd adäquat reagiert: mit der Einrichtung einer “telefonischen Anlaufstelle”, der Zusicherung, mit Staatsanwaltschaft und Schulaufsichtsbehörden zusammenzuarbeiten sowie mit der Einrichtung einer “Kommission aus Pädagogen und Juristen (…), die mit der Prüfung und Aufklärung aller Vorfälle beauftragt ist.” (so eine entsprechende Pressemeldung). Die “Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Waldorfschulen in Hessen” will sogar noch ein bisschen weiter gehen:

“Am Mittwoch, den 24. März vereinbarten die Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Waldorfschulen in Hessen mit Horst Cerny, dem Vorsitzenden des hessischen Landesverbands des WEISSEN RING, und Michael Zech vom Waldorflehrerseminar Kassel eine Kooperation mit dem Ziel, dieses Thema in die Waldorflehrerausbildung zu implementieren. Noch während dieses Sommersemesters werden sich die Kasseler Waldorflehrerstudenten in verschiedenen Veranstaltungen mit der Erkennung von sexuellem Missbrauch bei Schülern und den Möglichkeiten kompetenter Hilfe für Opfer von Mobbing, Misshandlung und Missbrauch auseinandersetzen. Entsprechende Fortbildungsveranstaltungen werden auch für die hessischen Waldorflehrer angeboten.” (Pressemitteilung)

Es wird interessant sein, zu beobachten, ob und in welcher Form dieses “Pilotprojekt” tatsächlich auf die Beine kommt. Der “Weiße Ring” und die kooptierte Psychologin Katharina Mauchner scheinen ziemlich glücklich zu sein:

“Als Partner sind die Waldorfschulen im Gespräch. (…) Gemeinsam mit dem Weißen Ring hat die Psychologin und Erziehungswissenschaftlerin ein Konzept erstellt. Nach ihren Erfahrungen herrscht noch viel Unwissen. Deshalb bildet Fortbildung einen der Schwerpunkte des 14 Punkte umfassenden “Maßnahmenpakets”. Personalverantwortliche müssten auf die geschickten Täuschungen Pädosexueller bei Bewerbungsgesprächen vorbereitet sein; Kinderärzte, Lehrer, Erzieher, Sozialarbeiter und Sozialpädagogen die von betroffenen Kindern meist ausgesendeten Signale zu deuten wissen. “In keiner der genannten Berufsgruppen gehört die Vermittlung von Wissen über sexuellen Missbrauch und seiner Signale zum Pflichtausbildungsinhalt.” (…) Hinzu kämen flächendeckende und kostenfreie Kurse, in denen Eltern lernten, wie sie das Selbstbewusstsein ihres Nachwuchs es stärken könnten.” (Rippegather: Pilotprojekt – Schutz vor Missbrauch)

Indessen haben so manche Kommentatoren der Missbrauchsvorfälle “nun auch an Reformschulen” noch sehr viel “intelligentere” Kommentare von sich gegeben als “Esowatch” zu Karma und Missbrauch bei Waldorf. Der taz-Autor Christian Füller hat in einem Artikel für Spiegel-online ein “Tribunal” an der Odenwaldschule gefordert (wenn die Fälle schon juristisch verjährt sind) und vorgeschlagen, auch gleich alle anderen ReformpädagogInnen “an den Pranger stellen” – neben sexuellem Missbrauch gebe es da immerhin Antisemitismus und Kooperation mit dem Faschismus zu beklagen:

“Man sollte das im Lichte der Odenwälder Enthüllungen diskutieren, um der Reformpädagogik endlich ihren Heiligenschein zu nehmen. Ist es nicht so, dass Wyneken ein bekennender Päderast war? Ist es etwa falsch, dass Lietz, Petersen und Steiner vor antisemitischen Äußerungen nicht zurückschreckten? Will jemand bestreiten, dass Maria Montessori viele Jahre lang eng mit dem faschistischen Regime Mussolinis kooperiert hat?” (Füller: Warum wir ein Odenwald-Tribunal brauchen - zur Frage, wie weit Waldorfpädagogik überhaupt zur Reformpädagogik gezählt werden kann sowie den vorhanden reformschulischen Konzexten von Steiners Pädagogik siehe Helmut Zander: Anthroposophie in Deutschland, II, Vandenhock & Ruprecht, Göttingen 2007, S. 1369-1373, 1383-1390)

Füllers Artikel ist jetzt wirklich beeindruckend unhilfreich. Ganz zu schweigen von den Ausmaßen, die ein solches, wie auch immer geartetes “Tribunal” haben müsste, um all diese Fälle adäquat und live aufzuarbeiten. Lieber sollte mensch sich überlegen, warum mensch die Werke der genannten ReformpädagogInnen bisher so wenig öffentlich problematisiert hat. Den Vogel hat aber ein Beitrag auf faz.net abgeschossen. Jürgen Kaube sah im üblichen Vokabular der ReformpädagogInnen schon strukturell verdächtiges:

“Die Vorgänge erhalten auch Fragen an reformpädagogische Vorstellungswelten (…) Stehen doch im Vokabular vieler Reformpädagogen Worte wie ‘der ganze Mensch’, ‘das ganze Kind’, ‘Leben’ und ‘Individualität’, ‘Gemeinschaft’ und ‘Liebe’ weit oben.” (Jürgen Kaube: Dein Lehrer liebt Dich)

Reformpädagogische LehrerInnen-SchülerInnen-”Nähe”. Wegen “Missbrauchsgefahr” prinzipiell abzulehnen?

Wirklich erotische Terminologien… Und ganz zum Schluss:

“Wer sich darüber beschwert, dass Schule nur Stoff unterrichtet und gar ‘frontal’, mag es sich noch einmal überlegen.” (ebd.)

Was soll mensch dazu sagen? “Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen”? Es scheint ja nicht so, als hätte das an öffentlichen oder kirchlichen Schulen sonderlich viel an zu beklagenden Missbrauchsfällen verhindert.

“Anhang”:

Waldorf, Steiner, Sex und Liebe

Wie angekündigt noch ein paar Stichworte zum (gestörten) Verhältnis vieler AnthroposophInnen zu Sexualität und zum waldorfpädagogischen Konzept zu Sex und Sexualkunde (so vorhanden) – wobei ich nicht annehme, dass dieses irgendwelchen Einfluss auf die Missbrauchsvorfälle hat(te).

In einem, wenn nicht DEM anthroposophischen Standardwerk zur Kindermedizin wird beispielsweise zwar sexuelle Aufklärung von Kindern ausdrücklich begrüßt und als erforderlich für ein “Streben nach selbstbewussten Handeln” angesehen (Michaela Glöckler, Wolfgang Goebel: Kindersprechstunde – ein medizinisch-pädagogischer Ratgeber, Urachaus Verlag, Stuttgart 1988, S. 406). Es folgen aber sogleich die zu erwartenden Ausführungen über “Metamorphosen der Wachstumskräfte”, d.h. des “Ätherkörpers” im Kind (S. 407), über die Rolle von “Erkenntnis” und kollektivem wie individuellen “Sündenfall” oder über eine Mutter, die ihr 10jähriges Kind “aufklärte”, als es verstohlen “einen Zettel” zeigte, den es aus der Schule mitgebracht hatte und auf dem “eine obszöne Zeichnung und ein entsprechendes Gedicht” zu sehen war (S. 414). Anders als die Lehrerin des Kindes, die offenbar ausgerastet war, reagierte die Mutter waldorf-lieb und freundlich. Fest steht natürlich:

“Ein starker Triebdruck, der zur Fixierung des Bewusstseins auf die Vorgänge zwischen den Geschlechtern führt und dies überdimensional hochspielt, ist immer Folge einer Erziehung, die die seelisch-geistigen Interessen nicht genug fördert und berücksichtigt.” (S. 419 – die “geistigen” Interessen werden vorher als Interesse an Reisen, Sprachen, Musischem oder  ”ökologischen Fragen” angegeben, ebd.)

Michaela Glöckler

Steiner selbst hat Mann, Frau und beider körperliche, seelische und geistige Beziehungen im Kontext seiner Evolution der Erde zum “Göttlich-Geistigen” betrachtet. Für ihn stellten die Geschlechter eine vorübergehende körperliche und seelische Entwicklungsstufe auf dem Weg zur “Vergeistigung” dar, die “Fleisch- und Blutsliebe” werde dereinst – mit Hilfe “des Christus” durch eine allgemeine, menschheitsumspannende All-Liebe ersetzt, die er auch wirklich zutiefst poetisch zu schildern wusste. Dabei blieben diese “wahre Liebe” und Sex für ihn evolutionär nahezu antagonistische Prinzipien: An der gleichzeitigen Existenz bzw. “Erhaltung” von Liebe und Sex war ihm, der selbst zweifach verheiratet war und zu seinem Lebensende eine Affäre mit der anthroposophischen Ärztin Ita Wegmann hatte, offiziell nicht gelegen.

Manche nehmen all das heute mit "Humor" - wie diese Karikatur von Michael Eggert zu Anthros und Sex: Steiners Frau Marie Sivers (oben links), dem anthroposophischen Dichter Albert Steffen (oben rechts), der erwähnten Michaela Glöckler (unten links) und der anthroposophischen Uroberärztin Ita Wegmann (unten rechts)

Ein anthroposophiekritischer Journalist kommentierte:

“Der Doktor hat bis zu seinem Tode im März 1925 insgesamt 5965 Vorträge gehalten (…) Vorträge über nahezu alles außer Sex.” (Peter Brügge: Die Anthroposophen, Spiegel Verlag, Hamburg 1984, S. 22)

Steiners Distanz zu Sex und Körperlichkeit im Allgemeinen mag auch daran liegen, dass er sich Zeit seines Lebens immer von sexualmagischen Praktiken aus dem esoterischen Zeitgeist abgrenzte. Ebenso, wie er und andere AnthroposophInnen unliebsame Gruppierungen aber gerne mit dem Vorwurf der Sexualmagie belegten (Der Europäer, ganz unten im Abschnitt zu Karl Heise), behaupten die unseriöseren AnthroposophiekritikerInnen Verbindungen von Anthroposophie und Sexualmagie seit der Nazizeit (dokumentiert bei Uwe Werner: Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus, Oldenbourg Verlag, München 1999, S. 23ff.) ungebrochen bis heute (manchmal mutiert die angebliche Sexualmagie gar zu vermeintlichen “Kontakte[n] zu einem neosatanischen Orden”, so bei Michael Grandt: Schwarzbuch Waldorf, Gütersloher Verlagshaus 2008, S. 14, 213).

Das (gestörte) anthroposophische Verhältnis zu Sexualität und Geschlechtlichkeit hat auch dazu geführt, das vergangene WaldorfschülerInnengenerationen sich ziemlich kollektiv über das Fehlen von Sexualkundeunterricht an FWSen beschweren durften (Sylva Panyr: Was ehemalige Waldorfschüler über ihre Schule denken, in: Heiner Barz/Dirk Randoll (Hg.): Absolventen von Waldorfschulen, VS Verlag, Wiesbaden 2007, S. 275) oder teilweise gar darüber, dass sie “keine Tops anziehen” durften, weil das offenbar als liederlich oder zu freizügig galt (Barz/Randoll: Einleitung in ebd., S. 21). Erst in den letzten Jahren kippen diese Verhältnisse. Das Problem der fehlenden Sexualkunde wird zumindest breiter diskutiert (Herausforderung und Chance) und es werden “Sexualkundeepochen” durchgeführt (teilweise anstelle der in der 5. Klasse üblichen “Menschenkundeepoche”, vgl. zu anderem Rawson: Sexualkunde in der Waldorfschule) bzw. wenigstens Mal Besuche bei Organisationen wie ProFamilia.

Maris/Zech: Sexualkunde in der Waldorfpädagogik, (Cover)

Maris/Zech: Sexualkunde in der Waldorfpädagogik, (Cover)

So viel für dieses Mal. Es ist eben nichts schlimmer als die Wirklichkeit.


Einsortiert unter:Nachrichten

“Kreative Fundgrube”? – Der “neue” Steiner und die Kunst

$
0
0

“Das Kunstmuseum Wolfsburg zeigt Steiner, weil wir überzeugt sind, dass seine Ideenwelt eine noch lange nicht ausgeschöpfte, kreative Fundgrube für die Kunst ist und gerade für das kreative Denken im 21. Jahrhundert akut wird.” Markus Brüderlin, Direktor des Kunstmuseums Wolfsburg

„Steiner wäre heute ein Star in den Talkshows und auf Diskussions-Podien“, erklärte dazu der Wolfsburger Museumschef Professor Markus Brüderlin bei der überfüllten Eröffnungs-Pressekonferenz. Und Mateo Kries, Leiter des beteiligten Vitra Design-Museums, ergänzte: „Welche andere Figur hat eine solche Spanne von der Goethezeit über Nietzsche, den beginnenden Expressionismus bis hin zur Postmoderne?“ (zit. nach Jens Heisterkamp: Sternstunde für Steiner)

In den letzten Wochen wurde Rudolf Steiner (1861-1925), Begründer der esoterischen Ideenlehre Anthroposophie, die “das Geistige im Menschen zum Geistigen im Weltenall führen will”, mal wieder in allerlei Medien prächtig gefeiert. Die Ereignisse und Einstellungen im Umkreis dieser Neuinszenierung sind in vieler Hinsicht symptomatisch, weshalb ich sie in diesem Artikel behandeln möchte. Anlass des Ganzen ist eine Doppelausstellung in Wolfsburg: Unter dem Titel Rudolf Steiner – die Alchemie des Alltags wird Steiners Vita und Werk unter besonderer Rücksicht auf künstlerische und gestalterische Aspekte präsentiert, während in der Parallelausstellung Rudolf Steiner und die Kunst der Gegenwart 15 moderne und zeitgenössische KünstlerInnen Bezüge dazu herstellen (zur Veranschaulichung der buchstäblichen Presseflut habe ich im Anschluss an diesen Artikel eine Reihe von Artikeln und Essays zur Wolfsburger Ausstellung zusammengestellt).

Ich habe die Ausstellung übrigens noch nicht besucht, werde das aber wahrscheinlich noch tun und bei danach geänderten Eindrücken oder Einstellungen darüber berichten.

Das ist zwar die erste Ausstellung, auf der Steiner so stark im Mittelpunkt steht, Steiners Architektur und Malerei, besonders seine zu illustrativen Zwecken während diverser Vorträge entstandenen Wandetafelzeichnungen waren schon erstaunlich oft irgendwo ausgestellt:

“…1992 (…) stellte die bekannte Kölner Galerie Monika Sprüth erstmals (außerhalb Dornachs) zahlreiche jener großformatigen Wandtafelzeichnungen aus (…) Die Werkbezüge zum ‘Vortragskünstler’ Beuys wurden nun augenfällig.

Die Resonanz in der Kunstwelt darf erstaunen: anschließende Ausstellungen im Verlauf nur eines Jahres wurden realisiert im Frankfurter Portikus, im Lenbachhaus München, in der Albertina Wien, im Kunstmuseum Bern und im Fridericianum Kassel. Mit den Wandtafelzeichnungen geriet Steiner neu in das Blickfeld der Kunstkritiker, Kunsthistoriker und der Kunstöffentlichkeit (…) und nicht nur innerhalb eines relativ kleinen Fachpublikums, sondern mittlerweile innerhalb der western art Weltkunstszene (durch weitere Ausstellungen in Venedig, Prag, Berkely, New York, und Tokyo). Mehrere begleitende Kataloge erschienen, in den Feuilletons würdigten renommierte Kunstkritiker Steiners Zeichnungen. (…) Teilweise wurden in den Publikationen neben den Wandtafelzeichnungen auch weitere, vordem unbekannte, grafisch-malerische und skulpturale Werke des Künstlers Steiner abgebildet. Davon waren außerhalb des Goetheanums erstmals 1995 zahlreiche Originale innerhalb der großen Ausstellung Okkultismus und Avantgarde in der Frankfurter Schirn zu besichtigen.” (Johann Fäth: Rudolf Steiner Design, Dissertation, Konstanz 2004, S. 23)

Joseph Beuys: Basisraum Nasse Wäsche 1979 (Detail) - Steiners Wandtafelzeichnungen (s.u.) zum Verwechseln ähnlich...

Joseph Beuys: Basisraum Nasse Wäsche 1979 (Detail) - Steiners Wandtafelzeichnungen (s.u.) zum Verwechseln ähnlich...

Anthroposophie und

Kunst

Die Verbindung von Anthroposophie und Kunst ist intentional ohnehin keine neue Sache, sondern gehört vielmehr zum anthroposophischen Standardrepertoire. Durch das Künstlerische, die Ästhetik in allen Dingen werde Soziales, Wissenschaft und Spiritualität verschmolzen, behauptete Steiner (wie wohl vor ihm schon eine unaufzählbar lange Liste von PhilosophInnen und DichterInnen seit der Wirkungsästhetik der griechischen Antike):

“Das Goethesche Wort [wahrscheinlich Goethe: "Zahme Xenien" IX (Gedichte aus dem Nachlass) - AM] wird wahr: Die Kunst ist eine Art von Erkenntnis, – weil die andere Erkenntnis keine vollständige Welterkenntnis ist. Kunst muß erst hinzutreten zu dem abstrakt Erkannten, wenn wirkliche Welterkenntnis eintreten soll. Es bleibt doch wahr, daß dann, wenn solche Erkenntnis eintritt, die bis zum Gestalten vordringt, auch das so tief in die Menschenseele hereingeht, daß diese Vereinigung von Kunst und Wissenschaft auch die religiöse Stimmung abgibt.” (Steiner: Anthroposophie und Kunst (1923) in: GA 276 “Das Künstlerische in seiner Weltmission”, Steiner Verlag, Dornach 2002, S. 276)

Goethe: Farbkreis (1810)

Goethe: Farbkreis (1810)

Folglich hieß seine Pädagogik “Erziehungskunst”, seine Medizin war eine “anthroposophisch erweiterte Heilkunst”, die Eurythmie besteht bis heute auf den Namen “Bewegungskunst” (statt Tanz), die in Dornach bei Basel um Steiners “Goetheanum” genannten Tempelbau entstandene Wohn-, Arbeits- und Geistesgemeinschaft ließe sich als Excellence-Beispiel für das Jugendstilideal vom allumspannenden “Gesamtkunstwerk” bezeichnen. Anthroposophischen Hochschulgründungen wie der FH Ottersberg, die als eine der ersten Einrichtungen Kunsttherapie-Ausrichtungen anbot, fiel es schwer, sich von der Überlast anthroposophischer Kunstbegriffe und -ansprüche zu befreien, wie Rektor Peer de Smit in einem bemerkenswerten Vortrag zum Thema festhielt:

“Der Gründungsvorgang und auch die Entwicklung der FH, das lässt sich schwer wegreden, ist nicht frei von Tendenzen, die man als ahistorisch und konservativ bezeichnen könnte. Die FH ist über 30 Jahre weitgehend insular und isoliert aufgewachsen. Bis in die 90er Jahre hinein hat sie kaum Beziehungen zu anderen aufgenommen, hat in Theorie und Praxis keinen Dialog eröffnet (…) Es blieb bei der stereotyp vorgetragenen und auch leicht anzweifelbaren Feststellung: ‘Wir sind die ersten, die in Kunsttherapie ausbilden, die ersten, die diesen Begriff geprägt haben, ein Berufsbild formuliert haben.’ (…) Dies alles gab der FH einen unwissenschaftlich anmutenden Zug. Ich sehe in der Abschottung gegen außen ein Kennzeichen, das für anthroposophische Einrichtungen und die anthroposophische Bewegung insgesamt typisch ist. (…) Die Geschichte der FH begleitet der Versuch, sich vom Vorwurf des Anthroposophischen reinzuwaschen, zumindest aber das Verhältnis zu normalisieren, verträglich zu gestalten.” (Peer de Smit: Rückblicke für die Zukunft, Vortragsmanuskript, abgedruckt in: Seitenweise – 40 Jahre Fachhochschule Ottersberg, 2008, S. 70-75)

Dazu ist zu sagen, dass wenige genuin anthroposophische Einrichtungen diesen Weg von Konfrontation, Reflexion und Neuorientierung gegangen sind, dass die FH Ottersberg aber nach meinem bisherigen Eindruck eine der wenigen dieser Einrichtungen darstellt, die dabei zu tieferen Gedanken und erfolgreichenn Konzepten kamen – wenngleich der Prozess noch verbesserungswürdig und unabgeschlossen scheint (ebd., S. 83f.).

Und damit wären wir auch schon beim sehr umfangreichen und ausgestalteten Kunstunterricht an Waldorfschulen (vgl. dazu v.a. Michael Martin (Hg.): Der künstlerisch-handwerkliche Unterricht in der Waldorfschule, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 1991), der in der ersten Klasse mit Aquarellmalen und Plastizieren bis zum Umfallen beginnt und oft (zB in Mainz) mit einer spektakulären mehrwöchigen “Kunstfahrt” durch historisch bedeutende Orte endet (in meinem Fall von Paestum über Rom, die Toskana und der Tarotgarten von de St Phalle zur Bienale nach Venedig). Viele WaldorfschülerInnen blicken gerne und dankbar auf die kreativen Freiräume und interessanten Projekte zurück, die Waldorfschulen im Bereich der Kunst durchaus bieten. Dazu kann auch ich mich wie gesagt zählen. Andere erleb(t)en auch in diesen Bereichen anthroposophische Versteinerungsritualien, die v.a. in den erwähnten obligatorischen Aquarellmalstunden der “Unterstufe” (Klasse 1-4) zuschlägt. Etwa der Info3-Redakteur und Blogger Sebastian Gronbach (vgl. Steiner = Jesus):

“Als hätte die Welt zwischen 1919 und 2010 still gestanden. (…) In keiner Schulform wird so viel von der Tafel abgeschrieben wie in der Waldorfschule. Für Neulinge wirkt alles farbig, kreativ und sehr lebendig. Für Kenner ist dagegen überall die anthroposophische Kreativitätsschablone sichtbar.” (Anthroposophie und ihr Schatten)

Anthroposophisch inspiriert?

Diverse KünstlerInnen und ihre Verbindungen zu Steiner

Erstaunlicherweise wurde Steiner aber wohl in keinem der gesellschaftlichen und kulturellen Bereiche, in der er seine Alternativkonzepte aufbaute, so viel und so vielseitig diskutiert wie in der “Kunstszene” im weitesten Sinne – von SchriftstellerInnen über MusikerInnen zu MalerInnen. Unter diesen zu den “Kreativen” gehörenden Kommentatoren wurde Steiner vielfach abgelehnt, etwa von Kurt Tucholsky, der einen sarkastischen und sehr ablehnenden Bericht über einen Vortrag Steiners in Paris verfasste (Tucholsky: Rudolf Steiner in Paris). Hermann Hesse, der spirituellen Weltdeutungen insbesondere fernöstlicher Herkunft wahrlich nicht abgeneigt und ein Freund des Waldorfschulgründers Emil Molt war, veröffentlichte einige seiner Texte in den “Waldorf-Nachrichten” sowie der anthroposophischen Zeitschrift “Individualität”. Er war aber auch der erste, der (als inniger Verehrer des großen, großen Tao Te King) Steiners Eurozentrismus bzw. seine “Parolen gegen die Gedankenwelt des Alten Asien” kritisierte. 1935 schrieb er:

Ich kenne sehr liebe Leute, die Steinerverehrer sind, aber für mich hat dieser krampfhafte Magier und überanstrengte Willensmensch nie einen Moment von etwas Begnadeten gehabt (…) Was bei Euch [in Nazideutschland] an Geschichtsfälschung betrieben wird, bedurfte, um möglich zu sein, einer langen Auflockerung und vorbereitenden Hypnotisierung, sie geschah von vielen Seiten, seit Jahrzehnten, und Steiner war tüchtig mittätig.” (Hesse in einem Brief an Otto Hartmann, 22.03.1935, abgedruckt in: Wolfgang Vögele (Hg.): Der andere Rudolf Steiner, Pforte Verlag, Dornach 2005, S. 243 – Hervorhebungen AM)

Hermann Hesse (1905), kritisierte als erster Steiners "Parolen gegen die Gedankenwelt des Alten Asien"

Hermann Hesse (1905), kritisierte als erster Steiners "Parolen gegen die Gedankenwelt des Alten Asien"

Dagegen ist aber auch die Reihe der KünstlerInnen auf vielen Gebieten lang, die sich zu VerehrerInnen und Inspirierten Steiners rechneten: Die Regisseure Alexander Kluge und Andrej Tarkowsky (Sünner: Eine Reise ins innere Atlantis); KomponistInnen wie Viktor Ullmann (wikipedia) und Bruno Walter; ArchitektInnen wie Frank Gehry;   SchriftstellerInnen wie Selma Lagerlöf, Gabriele Reuter, Stefan Zweig, Saul Bellow, Christian Morgenstern (Belege bei Walter Kugler: Feindbild Steiner, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2001, S. 37f., 61ff.), sowie kurzzeitig Max Brod und nicht zu vergessen Michael Ende, zum dem ich noch ausführlicher komme; MalerInnen wie Andrej Belyj (ebd., S. 36), Piet Mondrian (S. 47ff.), Jackson Pollock (S. 52) und Franz Marc (wikipedia). Zitate und Würdigungen der genannten ließen sich zusammentragen wie Sand am Meer, ich verzichte auf beides und beschränke mich auf zwei interessante Beispiel.

Auf Steiner berief sich auch gelegentlich Wassily Kandinsky, der auf eine konstruktivistische Neuinspiration der Kunst als Wegweiser für eine im Entstehen begriffenen spirituelleren Welt hoffte:

“Zum Schluss möchte ich anmerken, dass meiner Ansicht nach wir der Zeit des bewussten, vernünftigen Kompositionellen immer näher rücken, dass der Maler bald stolz sein wird, seine Werke konstruktiv erklären zu können (im Gegensatz zu den reinen Impressionisten, die darauf stolz waren, dass sie nichts erklären konnten), dass wir schon jetzt die Zeit des zweckmäßigen Schaffens vor uns haben, und endlich, dass dieser Geist in der Malerei im organischen direkten Zusammenhang mit dem schon begonnenen Neubau des neuen geistigen Reiches steht, da dieser Geist die Seele ist der Epoche des großen Geistigen.” (Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst, Benteli Verlag, Bern 1952, S. 142f.)

Die Frage ist natürlich, ob diese sicher ganzheitliche und esoterisch angehauchte Ansicht als genuin anthroposophisch eingestuft werden kann oder muss (explizte Bezugnahmen auf Steiner und mehr noch die theosophische Ikone Helena Blavatsky gibt es in “Über das Geistige in der Kunst” nur auf S. 42f.). Weniger Steiners Person und konkrete Inhalte seiner Weltsicht können als Inspiration für eine solche Weltsicht herhalten als vielmehr der “ganzheitliche”, “freigeistige”, “unkonventionelle” “Geist”, der ihm zugeschrieben wird (s.u.) und ja auch gern das KünstlerInnenmilieu umgibt. Die Übereinstimmungen und Anregungen bleiben also auf einer oft sehr formalen, oberflächlichen Ebene. Historische Verbindungen und ideengeschichtliche Kontinuitäten zwischen Steiner und Kandinsky etwa zeigen sich bei historischer Überprüfung denn auch als dünn:

“Den neueren Versuchen, Esoterik nicht nur als schlechtes Gewissen der rationalisierten Welt abzuhandeln, sondern als Triebfeder künstlerischer Bewegungen zu nobilitieren, trat der Wiener Kunsthistoriker Raphael Rosenberg entgegen. Rosenberg untersuchte den Einfluss der aufklärerischen Wirkungsästhetik auf moderne Kunst und auf die Anthroposophie, wo die Kunsterfahrung auch als Ersatz für ausbleibende übersinnliche Erleuchtungen herhalten musste. Entschieden verwarf Rosenberg die These von der Geburt der abstrakten Kunst aus dem Geist der Esoterik, die daran kranke, dass die Wendung zum Abstrakten schon im 19. Jahrhundert bei Gustav Moreau erfolgt und nur nicht als solche ausgewiesen worden sei. Die Rezeption esoterischer Schriften bei abstrakten Künstlern wie Kandinsky oder Mondrian bedeute nicht notwendig einen zentralen Einfluss dieser Gedanken auf ihr Werk. Ähnlichkeiten zwischen Kandinsky und dem Esoteriker und Aurakartographen Charles Leadbeater resultierten aus ihrem gemeinsamen Interesse an der aufklärerischen Wirkungsästhetik, nicht aus einer primären esoterischen Inspiration Kandinskys.” (Thomas Thiel: Zwischen Vernunft und Geisterseherei; Bericht von einer EsoterikforscherInnentagung im März 2010 in Halle; in: FAZ vom 17.03.10. Die Beschäftigung von EsoterikerInnen mit der Kunst als Kompensation ausbleibender “geistiger” Erfahrung zeigt überdies, dass die von den Ikonen der Esoterik aufgespannten Visionen zwar sicher deren eigene, “private Wirklichkeit” waren, aber für Normalsterbliche in der Regel wenn auch faszinierende Irrlichter bleiben.)

Wassily Kandinsky (1913)

Dasselbe trifft bei den GegenwartskünstlerInnen zu, die in der aktuellen Wolfsburger Ausstellung zu sehen sind:

“Trotz sinnfälliger visueller Parallelen, was etwa die organischen Formen von Tony Craggs Wulstskulpturen angeht (früher anthroposophischer Steiner) oder die kristallinen Formen Helmut Federles (später anthroposophischer Steiner), eine inhaltliche Verbindung jenseits von Allgemeinplätzen (Tony Cragg: ‘Was uns fehlt, ist der Gesamtsinn’) lässt sich selten erkennen. (…) Viele der Künstler nutzen denn auch die Kataloginterviews, um vage auf formale Parallelen hinzuweisen, sich von der Anthroposophie selbst aber zu distanzieren. Selbst Katharina Grosse, deren farbige Raumskulpturen noch am ehesten an Waldorf-Fenstermalereien erinnern, sieht sich von Yoga und Hinduismus beeinflusst, nicht von Steiner.” (Jungen: Ordnungssinn ist abzulehnen)

Manche der von AnthroposophInnen gern und stolz aufgezählten Personen haben sich auch wieder von Steiner abgewandt, etwa Andrej Belyj, der zwar bei der Gestaltung von Steiners Erstem Goethenaum (Der Europäer) mitgewirkt hatte, in den Zwanzigern aber der anthroposophischen Gesellschaft eine “Verquickung von falscher Esoterik und von Vereinsmalerei” vorwarf (wikipedia). Max Brod interessierte sich nur 1910/11 für Steiners “Schulungsweg” und Mondrian war erst in den letzten Jahren Anhänger Steiners, vorher beschäftigte er sich mit Blavatskys Theosophie. Freilich gibt es auch ganz explizite Anhänger der Steinerschen Weltanschauung, die ihre Inspirationen und konkreten Konzepte tatsächlich aus der Anthroposophie gewonnen zu haben angaben.

“Obwohl es mehr von der Anthroposophie inspirierte Künstler gibt, als man vielleicht allgemein annimmt, ist es doch auch nicht zu leugnen, dass es oft über Schichtenmalerei und ein diffuses “Malen aus der Farbe” nicht hinausreicht. (…) In Ausstellungen weiß man oft nicht, ob man sich gerade in einer solchen befindet, oder in einem Therapeutikum. Alles, was nicht in diese Sehgewohnheiten passt, gehört in die Abteilung: Beuys. Beuys ist auf anthroposophisch gelegentlich so eine Art Synonym für alles Experimentelle, Schockierende und auf jeden Fall nciht ‘Anthroposophische’.” (Vera Koppehel: Work in progress – Rudolf Steiner und die Kunst, in: info3 – Sondernummer Frühjahr 2009, S. 37)

Joseph Beuys im Foyer der Kunstakademie während eines Ringgesprächs mit Studenten am 6.5.1969

Joseph Beuys im Foyer der Kunstakademie während eines Ringgesprächs mit Studenten am 6.5.1969

Joseph Beuys (der sich auch in der deutschen Plebiszitbewegung und im anthroposophischen “Achberger Kreis” bei der Gründung der “Grünen” engagierte und dort schließlich an einer Gegenkandidatur des ebenfalls anthroposophisch orientierten Otto Schily scheiterte) und sein von Steiners “Sozialer Dreigliederung” inspiriertes Konzept der “Sozialen Plastik”, das seinerzeit eine revolutionäre Kunstauffassung darstellte, sind denn auch das prominenteste Beispiel eines “bekennend” anthroposophischen Künstlers, der zu Weltruhm gelangte.

“Andererseits findet das Werk von Beuys seine Anerkennung nicht aufgrund dieser Symbiose [von "künstlerischer Praxis und anthroposophischer Konzeption"], sondern, weil namhafte Kunsthistoriker ihr Placet gaben. Seinen Marktwert bezieht das Beuyssche Werk nicht aus dem Fundus der Anthroposophie und doch ist das Werk durch anthroposophische Sichtweisen inspiriert.” (Peer de Smit: Rückblicke für die Zukunft, a.a.O., S. 77)

Ein weiteres und sehr interessantes Beispiel wäre der Autor Michael Ende, der in seinem unschätzbaren Kinderbuch “Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer” nicht nur mit seiner Schulzeit im “Dritten Reich” abrechnete, sondern anthroposophische Grundsatzthemen erörterte, wie die Vom “Bund der Freien Waldorfschulen” herausgegebene Zeitschrift “Erziehungskunst” jüngst wieder betonte und freilich nicht vergaß, allerlei glorreiches und völlig ahistorisches zu Anthroposophie und Nationalsozialismus zusammenzutragen (Ulrich Kaiser: Jim Knopf besiegt die Nazis).

Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer brechen von der winzigen Insel Lummerland auf und retten schließlich die Prinzessin Li Si vor dem Drachen “Frau Mahlzahn”, den sie aber aus Barmherzigkeit nicht töten, woraufhin er sich zum “goldenen Drachen der Weisheit” verwandeln kann. Im Haus des Drachen in der Vulkanstadt “Kummerland” entsprang auch der “gelbe Fluss”, der Retter und Gerettete bis in Li Sis esoterisch-luftiges Heimtland Mandala zurückbringt. Am Ende erweist sich die Insel Lummerland als oberster Gipfel des (wie Atlantis) versunkenen Landes Schamballa. Das ist ein fernöstliches (und theosophisches) Sagenland, das auch Steiner gelegentlich im Zusammenhang mit seinem “Ätherischen Christus” als verlorenes und einst wiederzugewinnendes “Land” anführte. Jim, stellt sich heraus, ist Nachfahre und Erbe von Kaspar, einem der biblischen “Weisen aus dem Orient”, den Steiner in seiner Rassentheorie mit dem wie Atlantis im Meer versunkenen ”Lemuria” verknüpfte. Vor langer Zeit hatte der Drache Mahlzahn Schamballa im Kampf mit Kaspar irgendwie versenkt und stattdessen das sturmumtoste “Land, das nicht sein darf” aufsteigen lassen. Das wiederum wird von der “Wilden 13″ bewohnt, einer Piratentruppe, die am Ende feststellt, dass sie doch nur aus zwölf Personen besteht und sich dann Jim Knopf anschließt - eine Christusmetapher.

Ende: Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer (Cover) - eine Parabel auf anthroposophisches Gedankengut

Ende: Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer (Cover) - eine Parabel auf anthroposophisches Gedankengut

All das liest sich grotesk in einer solchen Zusammenfassung, wunderbar als Kinderbuch und enthält zahllose Parallelen zur Konfrontation mit den zwei “Hütern der Schwelle” in Steiners meditativem “Schulungsweg”, vor allem seinen Evolutionstheorien und verwendeten Symbolen zu Michael, Christus und (wie gesagt) Schamballa. Dieses eine Beispiel von vielen (das Werk “Momo” und die “Unendliche Geschichte” ließen sich ähnlich interpretieren und das Werk von Christian Morgenstern und Stefan Zweig wohl noch viel gewinnbringender auf anthroposophische Themen untersuchen) muss hier erstmal genügen.

Der “neue” Steiner:

Poetry-Slammer und Stand-Up-Okkultist

Und damit schon wieder zurück zur Gegenwart. Wenn schon in der Vergangenheit eher Bruchstücke des Steinerschen Werkes inspirierend auf KünstlerInnen wirkten, selten dessen Gesamtvision, so geschieht das heute umso mehr – wie wir schon bei den KünstlerInnen der Wolfsburger Ausstellung gesehen haben (Ordungssinn ist abzulehnen). Damit einher geht eine seltsame, aber logische Wende der Wahrnehmung und Darstellung von Steiners Person. Dieser wird vom verehrungswürigen (bzw. für GegnerInnen verachtenswürdigen) “Doktor” des Okkulten zu einer dynamischen, spontanen Querdenkerfigur, die ihre Ideen und Konzepte nur zur Anregung und um des Spiels, der Inspiration willen formuliert, verworfen und neu formuliert habe. Dieser “neue” Steiner hat sicher seine Wurzeln beim “tatsächlichen” (vgl. Christian Grauer: Genie und Dilettant), ist aber auch eine arg idealisierte und beschönigte Figur. Auch der originellste und interessanteste der zur Wolfsburger Ausstellung erschienenen Artikel stimmt da mit ein. Da wird zunächst Steiners kruder Dogmatismus und “totalitärer Gestaltungswille” thematisiert. Dann heißt es:

“Wo er Kunst wollte, kam schrecklicher Unsinn heraus. Man werfe nur einen Blick auf seine Skulptur “Der Menschheitsrepräsentant” oder seine Gemälde. Umso frappierender ist der Reiz seiner Wandtafelzeichnungen. Sie sind etwa ein mal eineinhalb Meter groß. Sie haben Joseph Beuys noch stärker beeinflusst, als Steiner selbst ihn beeindruckt hat. Steiner hatte die Wandtafelzeichnungen als erläuternde Skizzen zu seinen Vorträgen gedacht. Sie waren keine Sekunde als Kunst geplant. Die ausgearbeiteten Vorträge mögen gewesen sein, wie Tucholsky sie beschrieb [d.h. unauthentisch, s.o. - A.M.]. Die Wandtafelzeichnungen dagegen scheinen spontan. Selbst das “In mir ist Gott. Ich bin in Gott”, das am Rande einer der schwarzen Tafeln steht, wirkt – krakelig hingeworfen – wie selbstverständlich wahr..” (Widmann: Buchhalter des Universums)

Tafelzeichnung Steiners. Für einige "groteske Selbstvergötterung", für manche inspirierender Pantheismus, bei Steiner zu erklären aus komplizierten "Wesensglieder"lehren
Tafelzeichnung Steiners. Für einige “groteske Selbstvergötterung”, für manche inspirierender Pantheismus, bei Steiner zu erklären aus komplizierten “Wesensglieder”lehren

Ein anderer Artikel bringt das auf den Punkt, indem er die Wahrnehmung Steiners als Okkultisten bedauert, da sie den Blick auf das Bedeutungsvolle verstelle:

“Welch eine Ironie, dass ihn die Nachwelt vor allem als Begründer einer Lehre voll mystisch-wirren Ordnungssinns kennt. (…) Ihn selbst jedoch haben seine Texte über den Augenblick hinaus nicht interessiert; Mitschriften mochte er nicht einmal durchsehen. Die vielen tausend Vorträge, die eklektisch zugreifen auf Spiritismus, Gnosis, Idealismus und auf alle damals – wie heute wieder – beliebten esoterischen Abkürzungen am mühsamen Denken vorbei, waren nie als jenes Werk gedacht, das die Beschäftigung mit Steiner heute bleischwer bedrückt. Es handelte sich eher um so etwas wie Stand-up-Okkultismus, einen ultraspätromantischen Poetry Slam: Wissenschaft der Form nach, an sich aber Mysterienspiel und Gesamtkunstwerk. (…) ‘Steiner gehört nicht den Anthroposophen allein’, sagt Markus Brüderlin, Direktor des Kunstmuseums Wolfsburg und Kurator der Ausstellung ‘Rudolf Steiner und die Kunst der Gegenwart’. Mateo Kries pflichtet bei, schätzt Steiners Werk als Phantasmagorie.” (Jungen: Ordnungssinn ist abzulehnen)

Auch dieser Steiner ist künstlich. Aber geschaffen von einem (post-)modernen, postmaterialistischen Publikum, das Steiners hierarchisch gegliederte Geisterreiche gern zu Versinnbildlichungen, rein illustrativen Skizzen, “Poetry Slam” (Jungen) im Sinne seiner Tafelzeichnungen umdeutet. Es ist der schlampige Schöngeist Steiner, kindlich, egozentrisch, provokant, und findig. Er reiht sich problemlos an Alternative, Ökologen, mentale Fitnesstrainer und Selbsthilfegurus des 20. Jahrhunderts. Ein sympathischer, ein “postmoderner” Steiner. Jeder kann sich beliebig aus seinem buchstäblich unerschöpflichen Werk bedienen. Dieser Steiner ist bei Weitem netter – und natürlich auch viel verwertbarer - als der “andere”, der “unauthentische”, verknöcherte okkulte Prediger. Frohlocken kann über diese öffentliche Wahrnehmung und Darstellung Steiners nun endlich auch mal diejenige Fraktion der AnthroposophInnen, die sich schon seit Jahren um eine liberale und kosmopolitische Präsentation und Interpretation des anthroposophischen Gedankenguts bemüht: Der “Dunstkreis” der Zeitschrift info3.

“Soviel Offenheit, Wertschätzung und Kompetenz in Sachen Anthroposophie war bei Vertretern des kulturellen Lebens selten zu spüren. Manche sprechen schon von einer Trendwende in der öffentlichen Wahrnehmung -Steiner reloaded eben. Wir von info3 haben den Eindruck, dass das auch derjenige Steiner ist, den wir seit vielen Jahren in unserem Magazin der Welt zeigen möchten. Man darf gespannt sein, welche Wirkungen von diesem Ereignis noch ausgehen.” (Jens Heisterkamp, Redaktionstagebuch, in: info3 06/10, S.1)

Vielleicht ist dieser Umgang mit seiner Person der einzig vorerst mögliche auf dem Weg zu einem allmählichen anthroposophischen ”Emanzipations-”, und das hieße auch Auflösungsprozess - ähnlich geht es in manchen entsprechenden “linken” oder “christlichen” Kreisen zu mit den Auslegungen der Werke von Marx oder der Bibel zu (ein Beispiel etwa bei Erich Fromm: Haben oder Sein (1976), dtv, München 2010, zur Marx-Interpretation S. 189-199, zur Bibel S. 66-75), – ohne diese drei jetzt in Relevanz, Inhalt und Wirkungsgeschichte miteinander vergleichen zu wollen, die Differenzen kann sich wohl jedeR denken. Aber so begrüßenswert und interessant ich die spirituelle “Degradierung” Steiners vom okkulten “Menschheitsführer” zum schöngeistig-spätromantischen “Schlamper” mit Museumstauglichkeit innerhalb dieses Prozesses auch finde - legitim und möglich ist diese Steinerinterpretation nur und einzig, wenn mensch 1. vorher den Dogmatiker  Steiner und die irrlichtelierenden Unmöglichkeiten seines Oeuvres realisiert, so benennt und sich von ihnen distanziert – und wenn mensch 2. bereit ist, Steiners “Leistungen”, gerade seines “künstlerischen Werkes”, im Licht der Kunstströmungen und -theorien seiner Zeit zu betrachten. Sonst bleibt diese Präsentation Steiners nicht mehr als (Selbst-)betrug.

Ignorierte Kontexte

Von diesen interpretatorischen Problemen abgesehen fragt sich nämlich auch, wie originell viele von Steiners oder seiner MitarbeiterInnen Beiträge, in ihren historischen Kontext gestellt, wirklich waren. Ich möchte das (um beim Thema “Anthroposophie in der Kunst” zu bleiben) am Beispiel der anthroposophischen Weltanschauungsarchitektur beschreiben, die heute noch vor allem aus Gebäuden der anthroposophienahen “Christengemeinschaft” oder Waldorfschulbauten bekannt ist und in ihrer bekannten, sehr auffälligen “organischen” Ästhetik wie zu erwarten “Geistiges” darstellen soll.

Seit den Sechzigern haben ArchitektInnen und ArchitekturhistorikerInnen pro- wie antianthroposophischer Einstellungen über anthroposophische Bauten und Bauweisen geschrieben und gestritten, wie Johann Fäth in aller Ausführlichkeit recherchiert und dargestellt hat. Das breite Spektrum der Meinungen insbesondere der großen ArchitektInnen ist äußerst lehrreich und interessant, würde aber selbst den Rahmen meiner Blogeinträge sprengen  (deshalb Fäth: Rudolf Steiner Design, v.a. S. 11, 19-22).

Manche KritikerInnen, die auf die Präsentation Steiners als geistesgestörten Wahnsinnigen ebenso versessen sind, wie die meisten AnthroposophInnen auf seine Darstellung als keuschen Heiligen, entwickeln bei der Beschreibung von Steiners Architektur ihrerseits eine an die Rhetorik mystisch-”höherer Wahrnehmung” erinnernde Phantasie:

“Das zweite Goetheanum (…) Gigantisch gemeinter und so ungefähr auch wirkender Betonbau. (…) Jedermann kann an dem merkwürdigen Gebäude ein Inversionserlebnis ästhetischen Empfindens an sich selbst erproben. Der Schauder des Erhabenen, das Gefühl anthroposophischer Geborgenheit unter Steiners zu Beton geronnener ‘ätherischer Schädeldecke’ kippt um in das Gänsehaut erzeugende Erlebnis des eisigen Anhauchs einer anderen Welt. Wegen seiner Einäugigkeit taufte ich das zyklopische Horrormonster ‘Totenschädel des Polyphem’” (Wolfgang Treher: Hitler, Steiner, Schreber: Gäste aus einer anderen Welt – die seelischen Strukturen des schizophrenen Prophetenwahns, Oknos Verlag, Emmendingen 1990, S. 304)

Das "Zweite Goetheanum" (fertiggestellt 1928), nach Entwürfen von Rudolf Steiner

"Totenschädel des Polyphem"? Das "Zweite Goetheanum" (fertiggestellt 1928), nach Entwürfen von Rudolf Steiner

Die meisten AnthroposophInnen – sowie einige KünstlerInnen der Wolfsburger Steiner-Ausstellung – sehen das natürlich anders. Auch sie halten an der beeindruckenden Einzigartigkeit von “Steiners” Baustil fest:

“Auch wenn ich nicht den anthroposophischen Ideen nicht folgen kann, zeigt das ganze Phänomen Steiner doch, was für eigenartige Formen generiert werden, wenn sie sich innerhalb eines eigenständigen Ideengebäudes entwickeln.” (Hilma af Klint laut dem Katalog zur Ausstellung, zit. nach Angelika Wiehl: Durchbruch: Zeitgenossenschaft, in: info3, 06/10, S. 58; vgl. die Aussagen von Helmut Federle im ORF-Beitrag zur Wolfsburger Ausstellung).

Psychologisch ist das natürlich verständlich:

“Das entscheidende Problem scheint mir die Furcht der Anthroposophie vor einem legitimationsgefährdenden Domino-Effekt zu sein: Wenn ein Teil von Steiners Weltanschauung fällt, weiß niemand, was am Ende noch stehen bleibt.” (Helmut Zander: Anthroposophische Rassentheorie, in: Stefanie Schnurbein/Justus Ulbricht: Völkische Religion und Krisen der Moderne, Königshausen & Neumann, Würzburg 2001, S. 340)

Aber so poetisch es auch wirkt, die Gestaltungen aus “anthroposophischem Geist” auch als Gestaltungen höherer Wirkmächte (oder vom gegnerischen Standpunkt nach Belieben Ausformungen einer größenwahnsinnigen schizoiden Psyche) zu interpretieren: Die Wahrheit sieht wie üblich im anthroposophischen Zusammenhang weit ernüchternder aus, als BefürworterInnen und GegnerInnen es gerne hätten. Die anthroposophische Architektur mit ihren stereometrisch-kristallinen Verwinkelungen und schwer lastenden Dachbauten erweist sich – in den historischen Kontext gestellt – als Devirat der expressionistischen Architektur des frühen 20. Jhdts vor und nach dem 1. Weltkrieg:

Fritz Kaldenbach: Große Villa (Entwurf), 1914

Fritz Kaldenbach: Große Villa (Entwurf), 1914

Ein Beispiel, das Steiner bekannt gewesen sein muss, ist die “Große Villa” von Kaldenbach, der bis 1913 (also vor der Begründung “anthroposophischer” Architektur) auch mit der Theosophical Society, deren Leiter Steiner in diesen Jahren war, zu tun hatte. Die Vermeidung rechter Winkel zugunsten kristalliner Verwinkelungen, die massive Gebäudefront “zwischen Jugendstil und Bunker” (Peter Brügge), das lastende Dach, die strenge Symmetrie, deren Mittelachse durch ein großes Fenster betont und aufgebrochen wird – all das sind Parallelen zwischen dem “Goetheanum” bzw. vielen Anthrogebäuden und diesem oder anderen expressionistischen Bauten. Und auch die konkav-konvexen Wölbungen und Spannungen, die das “Goetheanum” von der “Villa” Kaldenbachs noch unterscheiden, erweisen sich als Gestaltungsmerkmale expressionistischer Architektur:

Erich Mendelsohn: Einsteinturm, Potsdam, 1919-1921 (Foto von Wolf Rabe)

Erich Mendelsohn: Einsteinturm, Potsdam, 1919-1921 (Foto von Wolf Rabe)

Genau wie der “organische” “Schwung” des Gebäudes:

Mendelsohn: Einsteinturm (s.o.)

Mendelsohn: Einsteinturm (s.o.)

Aus dieser historisch-kritischen Perspektive erweisen sich viele Konzepte Steiners als lediglich mit einer esoterischen Kunsttheorie überformte Gedanken oder Ideen seiner Zeit – und das auf den allermeisten Gebieten (siehe das Mammutwerk von Zander: Anthroposophie in Deutschland, Göttingen 2007, 2 Bde, der überdies zeigt, dass auch die esoterische Kunsttheorie zu großen Teilen aus der Theosophie übernommen wurde). Mensch kann das positiv deuten:

“Die anthroposophischen Architekten partizipierten an einem kunsttheoretischen Diskurs, den sie kaum steuern konnten, aber mit wachen Augen wahrnahmen. Sie standen mit ihren Bauten zwar nicht in der ersten Reihe der Avantgarde, waren aber ganz nahe am Puls der Zeit.” (ebd., II, S. 1177)

Oder die trotzdem existenten Einflüsse des “Goetheanums” auf ArchitektInnen wie Frank Gehry (s.o.),  Le Corbusier, Hans Scharoun (der das Zweite Goetheanum für den bedeutendsten Bau in der ersten Hälfte des 20. Jhdtss hielt) und Frank Lloyd Wright herausstellen (ebd., siehe auch und schon wieder Rudolf Steiner Design).

Gehry: Das Guggenheim-Museum in Bilbao, Spanien (1991–1997)

Gehry: Das Guggenheim-Museum in Bilbao, Spanien (1991–1997)

Aber mensch muss auch negativ darauf hinweisen, dass die “Entwicklung” der anthroposophischen Kunst- und auch Architekturonzepte offenbar seit den 20ern bei ihrer expressionistischen Formensprache stehengeblieben, “versteinert” ist – im architektonischen Bereich ausgenommen von denjenigen anthroposophischen ArchitektInnen, die eine “zeitgemäße” Anknüpfung an Steiner in der Tradition des “Ökologischen Bauens” sehen. Das führte zu Hässlichkeiten wie dem folgenden von Karlheinz Flauentworfenen anthroposophischen “Auto”:

Auto in "anthroposophischer" Formensprache von Karlheinz Flau

Auto in "anthroposophischer" Formensprache von Karlheinz Flau

Oder klobig-kubistischen Klötzen aus Rudolf Steiners Entwürfen für Thronsockel (im “Ersten Goetheanum”):

"Thronsessel" im Ersten Goetheanum

"Thronsessel" im Ersten Goetheanum

Der “Bund der Freien Waldorfschulen” fühlte sich offenbar sogar zu einer Presseerklärung mit vielen großformatigen bunten Bildern nicht-typisch-”unrechtwinkliger” Waldorfschulbauten aufgelegt, um dem Klischee der Anthroarchitektur zu entkommen (PM: Nicht nur abgerundete Ecken und sanfte Linien).

Es ist legitim, bestimmt auch in manchem bereichernd, sich den sicher faszinierenden architektonischen oder sonstwie künstlerischen Umsetzungen von Esoterik und Anthroposophie zu nähern – ungenügend erforscht sind heute noch etwa die Einflüsse okkulter Lebenskonzepte auf die Bauhausarchitektur oder das Ökologische Bauen. Aber all das wird zum peinlichen Selbstbetrug, wenn unangenehme umliegende Fakten ausgeblendet, ja: geleugnet werden.

Anhang – Berichte und Artikel zur Wolfsburger Ausstellung

  • Das innere Schauen: ”Künstler, Philosoph und Guru: Wolfsburg entdeckt Rudolf Steiner. Es geht ihm um die Zusammenführung der wissenschaftlichen und der künstlerischen Erkenntnis und zugleich um beider „Verwirklichung“ in einem ganz wörtlichen Sinne. (…)” (Tagesspiegel, 19.05.2010)
  • Steiner reloaded: “Rudolf Steiner? Man denkt an Waldorfschulen, Eurythmie, esoterische Zirkel. Dass der Begründer der Anthroposophie nicht nur Pädagoge war, sondern auch Einfluss auf die Kunst hatte, geriet in Vergessenheit. Nun zeigen Ausstellungen in Wolfsburg und Weil am Rhein Steiner als ak tuellen Denker und Künstler. (…)”(Art – das Kunstmagazin, 26.05.2010)
  • “Jesus der kleinen Mannes”: “Ob Waldorfpädagogik oder anthroposophische Medizin, ob biologisch-dynamische Landwirtschaft oder organische Architektur – Rudolf Steiner war einflussreich und umstritten zugleich. (…)” (Deutsche Welle, 19.05.2010)
  • Missionar der Gestaltung: “Stuttgart – Mit farbiger Kreide sind schwungvolle Linien auf eine schwarze Wandtafel gemalt. “Das Äußere wird Inneres. Das Innere wird Äußeres”, steht in krakelig-markanter Handschrift daneben. Handelt es sich um eine der berühmten Wandtafelzeichnungen von Joseph Beuys? Nein, auch der charismatische Vortragsredner Rudolf Steiner hat seine Gedanken der Zuhörerschaft gern bildlich vor Augen geführt (…)” (Stuttgarter Zeitung, 18.05.2010)
  • Ordnungssinn ist abzulehnen: “Wissenschaft als Mysterienspiel und Gesamtkunstwerk: Zwei Wolfsburger Ausstellungen weisen Rudolf Steiner, dem Begründer der Anthroposophie, einen neuen Ort in der Kulturgeschichte zu. (…)” (FAZ, 18.05.2010)
  • Buchhalter des Universums – Rudolf Steiner-Ausstellung in Wolfsburg: “Die Moderne war nicht modern. Sie ist auch kein Projekt, das darauf wartet abgeschlossen zu werden. Die Aufklärung gibt es nicht. Allenfalls die Aufklärung über etwas. Der Prozess, in dem man sich klar wird über das Eine, verdunkelt den Blick auf das Andere. Je schärfer man etwas sieht, desto mehr verwischen die Konturen der anderen Dinge. (…)” (Frankfurter Rundschau, 20.05.2010)
  • Lichtwolken und Kuhhörner: “Steiner (1861 bis 1925), der Begründer der Anthroposophie, war nicht nur einer der großen Irren der deutschen Kultur – geschichte. Aus ihm wurde auch ein mainstreamtauglicher Wellness-Philosoph, dessen Goetheanum in Dornach heute ein Wallfahrtsort ist. Nicht einfach, beides unter einen Hut zu kriegen.” (Spiegel, 10.05.2010)
  • Die Werkstatt des Rudolf Steiner: “Im Kunstmuseum Wolfsburg ist zurzeit die erste umfassende Ausstellung über den Universalisten zu sehen. Steiner (1861–1925) ersann die Anthroposophie und die Waldorfpädagogik, doch hinterließ er Spuren auch in Medizin und Theologie, Landwirtschaft, Kunst und Architektur. (…)” (Rheinische Post, 19.05.2010)
  • Rudolf Steiner wird “entsteinert”: “Die vom Vitra Design Museum konzipierte Ausstellung „Rudolf Steiner – Die Alchemie des Alltags” stellt die Vielfältigkeit des umstrittenen Künstlers Rudolf Steiner dar. Deutlich wird in dieser Ausstellung, welche Quellen Steiner für seine Arbeit und sein Weltbild hatte und in welcher Art und Weise sie sich in seinem Tun widerspiegeln. (…)”(Öffentliche, 17.05.2010)
  • Seele ohne Menschen: “Wie schon in seiner Pädagogik und seiner Medizin verarbeitete der Spiritist Rudolf Steiner (1861–1925) auch in seiner Kunst nichts, was über die eklektizistische Deutung zeitgenössischer irrational-esoterischer Tendenzen hinaus ging. (…)” (Junge Welt, 02.06.2010)
  • Rudolf Steiner und die Kunst der Gegenwart: “Das zweiteilige Großprojekt zum Thema ‘Rudolf Steiner’ greift ein Phänomen auf, das zu einem der spannendsten Kapitel der modernen Kunst und Geistesgeschichte gehört. (…)” (Monopol Magazin, 20.05.2010)
  • Radio- und Fernsehbeiträge

  • Impulsgeber für Kunst, Design und Architektur: “Ausstellung im Kunstmuseum Wolfsburg: ‘Rudolf Steiner und die Kunst der Gegenwart’ – Ein Gespräch mit Walter Kugler, Leiter des Rudolf-Steiner-Archivs in Dornach.” (Radiobeitrag auf WDR3, 14.05.2010)
  • Rudolf Steiner und die Alchemie des Alltags: “Rudolf Steiner gilt als einer der einflussreichsten Reformer des frühen 20. Jahrhunderts. Eine Doppelausstellung in Wolfsburg widmet sich seiner Philosophie und der Resonanz bis in die Gegenwart.” (Radiobeitrag auf WDR 5, Sendung vom 14.05.2010)
  • Wo ist der Geist heute? (Radiobeitrag auf Bayern 2, 14.05.2010)
  • Rudolf Steiner und die Kunst der Gegenwart: ” (…) Doch Steiner hat auch Künstler wie Piet Mondrian, Wassily Kandinsky oder Joseph Beuys inspiriert. Sein eigenes künstlerisches Werk umfasst zahlreiche Kunstmappen,1.100 “Wandtafelzeichnungen” und viele Skizzen, darunter allein etwa 1.500 zur Eurythmie, einer expressiven Tanzkunst, die Steiner erfand.” (NDR- Kulturjournal, 10.05.2010)
  • Rudolf Steiner und sein Einfluss auf die Kunst: “Umfassend wie nie zuvor erforscht die Doppelausstellung im Kunstmuseum Wolfsburg den Kosmos Steiner und seinen Einfluss auf die Kunst. Mit einer Performance übersetzt Ansih Kapoor Steiners Gedanken: ein Massageraum, in dem sich Körper und Seele verbinden sollen.” (3-Sat-Kulturtipp, 18.05.2010)
  • Ideen-Welt: Kosmos Rudolf Steiner: “Esoteriker, Denker, Künstler – zwei Ausstellungen in Wolfsburg Nietzsche donnerte “Gott ist tot”, das klang Rudolf Steiner ebenso in den Ohren wie der der Lärm der Granateneinschläge des ersten Weltkrieges. (…)” (ORF Kulturmontag, 17.05.2010)

  • Einsortiert unter:Anthroposophie & Philosophie, Hintergründe, Nachrichten

    „Masern werden von Waldorfschule zu Waldorfschule übertragen …“

    $
    0
    0

    Auszug aus dem Artikel “Drei Gründe für die Waldorfschule”, erstveröffentlicht von Ruhrbarone.

    Vorwort von Ansgar Martins 

    „Dieses integrative Heilkonzept verbindet die Erfolge moderner Medizin systematisch mit menschenkundlicher Erkenntnis (…) Das Entwicklungspotential der Krankheit anzunehmen, ist oft der erste Schritt zur Genesung und der Aktivierung der Selbstheilungskräfte.“ („medizin indivdiduell – Zeitschrift für ein modernes Gesundheitswesen“, Sonderausgabe Herbst 2003, S. 5) 

    Ebenso populär und umstritten wie die Waldorfpädagogik ist Rudolf Steiners „Anthroposophische Medizin“. Zusammen mit der Ärztin Ita Wegmann entwickelte Steiner seine anthroposophische „Heilkunst“ aus Homöopathie und Romantischer Medizin des 19. Jahrhunderts, die er in seine Mitteilungen über Karma und Evolution aus „feinstofflichen Geisterwelten“ verpackte. Die anthroposophische Medizin nimmt für sich in Anspruch, die universitäre Medizin durch einen Fokus auf das „Geistige“ zu ergänzen und den Menschen „als Individuum, nicht nur als Fall“ (ebd.) zu behandeln. Hält dieser Anspruch der Realität stand? 

    Zur Diskussion gestellt sei hier ein Text von Andreas Lichte, der Voraussetzungen und Konsequenzen anthroposophischer „Impfkritik“ hinterfragt. Mit Lichte, dem derzeit aktivsten Kritiker der Anthroposophie, teile ich zwar nicht alle Überzeugungen und Folgerungen, wohl aber die Besorgnis gegenüber manchen Auswüchsen anthroposophischer „Reformkonzepte“. Ich danke Andreas Lichte für die Genehmigung zur Wiedergabe und hoffe auf eine anregende – und falls genehm: sachliche - Debatte.

     

    Von Andreas Lichte 

    Wie ermittelt man, ob eine bestimmte “Soziale Gruppe” die selben Überzeugungen teilt? Mit umfangreichen Befragungen? Für die Waldorfschule – bzw. Anthroposophen – könnten das beispielsweise solche Fragen sein:

    • “Glauben Sie an Karma?”
    • “Glauben Sie, dass Ihr Kind, als es noch ein Geistiges Wesen war, Sie für seine Inkarnation als Eltern ausgewählt hat, weil Sie ihm die besten Voraussetzungen für die Erfüllung seines Karmas bieten?”

    Wer antwortet darauf wahrheitsgemäss? Dieses Verfahren scheint doch sehr fehleranfällig. Gibt es vielleicht irgendein objektives, gemeinsames Kennzeichen, das man wissenschaftlich, statistisch, erfassen könnte? Ja:

    Im März 2008 reist das Schulorchester einer Schweizer Rudolf-Steiner-Schule, der “Freien Oberstufenschule Baselland” in Muttenz, zu einem Konzert in die Salzburger Rudolf Steiner Schule. Der Gastauftritt findet internationale Beachtung: Nicht nur in Salzburg, nein, in ganz Österreich, in Deutschland und Norwegen – überall brechen die Masern aus.[1]

    Im April 2010 lese ich von Masern in Mettmann, NRW.[2] Als ich der Pressestelle des Kreisgesundheitsamtes sage, dass ich mich für den Masernausbruch interessiere, fragt man: “Wieso? Die Masern sind doch schon wieder vorbei.” Ich sage: “Das mag sich vielleicht merkwürdig anhören, aber ich möchte wissen, ob eine Waldorfschule betroffen war.” Am anderen Ende der Leitung macht es “aaah”, man weiss sofort Bescheid und sagt: “Dann ist es wohl am besten, wenn Sie Frau Kohnert zurückruft.” Das tut Regina Kohnert, stellvertretende Leiterin des Kreisgesundheitsamtes Mettmann, und bestätigt mir, dass alle Masernfälle in Waldorfschulen aufgetreten sind. Die Kinder hätten Kontakt zur Waldorfschule in Essen gehabt, auch dort gibt es die Masern …[3]

    “Masern werden von Waldorfschule zu Waldorfschule übertragen …”, aber da sage ich Frau Kohnert wirklich nichts neues. J E D E R der mit Impfprävention zu tun hat, weiss das.

    So warnt Dr. Axel Iseke vom Gesundheitsamt Münster Ende April: “Es ist nicht ausgeschlossen, dass es über die Waldorfschule auch in Münster zu einem größeren Masernausbruch kommt.” Denn in Essen sind die Masern ja schon, und Zitat Presseerklärung Münster: “Familien aus dem Umfeld von Waldorfschulen seien häufig überregional vernetzt.” [4]

    Doch wer weiss genaueres über die Infektionskette Waldorfschule? Doch sicher das “Robert Koch Institut” (RKI), “die zentrale Einrichtung der Bundesregierung auf dem Gebiet der Krankheitsüberwachung und -prävention”.[5] Dort müssen seit der Einführung der Masern-Meldepflicht im Jahr 2001 alle Fälle gemeldet werden. Ich spreche mit der Epidemiologin Dr. Anette Siedler. Doch sie überrascht mich, meint, dass das RKI nicht den Verursacher der Krankheit ermittetele, der weltanschauliche Hintergrund einer Schule nicht berücksichtigt werde. Auch die entscheidende Information kann Dr. Siedler nicht liefern, sie sagt:

    “In Deutschland gibt es keine verlässlichen Zahlen zur Impfrate in Waldorfschulen bzw. öffentlichen Schulen.”

    In der medizinischen Fachzeitschrift “The Lancet”[6] werden Zahlen genannt, sie sollen hier als Orientierung dienen, auch wenn sie sich auf Schweden beziehen:

    Geimpft waren gegen MMR (Masern-, Mumps-, Röteln- Kombinationsimpfung):

    •  in öffentlichen Schulen: 93 %
    • in Waldorfschulen: 18 %

    61 % der Waldorfschüler hatten eine Masernerkrankung durchgemacht.

    Warum untergraben Waldorfschulen das Ziel der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die Masern bis 2010 in Europa auszurotten? Und warum werden Menschen dem Risiko einer Infektion mit einer schweren Krankheit ausgesetzt?

    Masern[7] sind nämlich keinesfalls eine “harmlose Kinderkrankheit”:

    • bei etwa 20–30 % der Masern-Fälle kommt es zu Komplikationen. Durchfall, Mittelohrentzündungen und Lungenentzündungen sind dabei am häufigsten, oft ist eine stationäre Aufnahme erforderlich.
    • Die Meningoenzephalitis ist selten (bei 0,1 % der Erkrankungen), verläuft jedoch in 15–20 % der Fälle tödlich. In weiteren 20–40 % bleiben dauerhafte Schädigungen des Gehirns zurück.
    • Die subakute sklerosierende Panenzephalitis (SSPE) ist eine sehr seltene Spätkomplikation nach Maserninfektion, verläuft nach langem Siechtum aber immer tödlich[8].

    In Waldorfschulen treffen sich 2 Gruppen von Impfverweigerern, Zitat Dr. Georg Vogt, Gesundheitsamt Duisburg: die “ideologisch verhärteten Anthroposophen” und die “oberkritischen Gebildeten”[9].

    Anthroposophen – natürlich auch der anthroposophische Schularzt der Waldorfschulen – folgen Rudolf Steiner. Steiner begründet, warum die Masern eine Krankheit sind, die man durchmachen muss, so:

    Ein Mensch hat in seinem letzten Leben zu viel “gegrübelt”, was zu einer “Schwäche der Seele” führt. Die Masern sind die “physisch-karmische Wirkung” dieses Fehlverhaltens im letzten Leben. Die Masern macht man durch, “um organische Selbsterziehung zu üben”, “die Krankheit kann in einen geistigen Prozeß zurückverwandelt werden” …

    Wer meint, dies sei aber eine völlig idiotische Zusammenfassung, der überzeuge sich selbst: Im “Anhang” gibt es Steiners Karma-Masern-Quacksalberei im Original zu bestaunen.

    Und was ist mit der zweiten Gruppe der Waldorf-Impfverweigerer, den “oberkritischen Gebildeten”, für die Entscheidungen von Medizinern und Gesundheitsbehörden nicht gelten?

    Im Januar 2010 durften rund 260 Kinder der Rudolf Steiner Schule Berlin zu Hause bleiben[10]. Als Quarantäne-Massnahme wurde der Schulbesuch vom Gesundheitsamt Steglitz-Zehlendorf untersagt, nachdem in der Waldorfschule Masern aufgetreten waren. Ein Vater, von Beruf Anwalt, klagte gegen den Ausschluß der Schüler beim Verwaltungsgericht und verlor:

    “Das Gericht gab der Behörde Recht. Die Kinder könnten bei einer Erkrankung Mitschüler anstecken, bevor sie selbst sichtbare Symptome zeigen, hieß es zur Begründung. Ihr Interesse am Schulbesuch müsse angesichts der Ansteckungsgefahr der mitunter sogar tödlich verlaufenden Krankheit zurücktreten.”[11]

    Vorher hatte der Vater der zuständigen Berliner Stadträtin in einem Brief geschreiben:

    “Allein die Tatsache, dass Masern auch tödlich verlaufen können, gibt der Gesundheitsverwaltung meines Erachtens nicht das Recht, derartig einschneidende Maßnahmen zu ergreifen.” [12] 

    Anhang:

    Rudolf Steiner begründet, warum Masern eine Krankheit sind, die man durchmachen muss: 

    “Nehmen wir an, im späteren Leben bekommt eine Persönlichkeit Masern, und wir suchen nach dem karmischen Zusammenhang dieses Falles. Wir finden dabei, daß dieser Masernfall aufgetreten ist als eine karmische Wirkung von solchen Vorgängen in einem vorangegangenen Leben, die wir etwa so beschreiben können: Die betreffende Individualität war in einem vorhergehenden Leben eine solche, die sich nicht gern um die äußere Welt bekümmert hat, sich nicht gerade im grob egoistischen Sinne, aber doch viel mit sich selber beschäftigt hat; eine Persönlichkeit also, die viel nachgeforscht hat, nachgedacht hat, aber nicht an den Tatsachen der äußeren Welt, sondern die im inneren Seelenleben geblieben ist. Sie finden auch heute sehr viele Menschen, welche glauben, daß sie durch In-sich-abgeschlossen-Sein, durch Grübeln und so weiter zur Lösung von Welträtseln kommen können. Bei der Persönlichkeit, die ich meine, handelte es sich darum, daß sie mit dem Leben so fertigzuwerden suchte, daß sie innerlich nachgrübelte, wie man sich in diesem oder jenem Falle verhalten soll. Die Schwäche der Seele, welche sich daraus ergeben hat im Verlaufe des Lebens, führte dazu, daß im Leben zwischen Tod und neuer Geburt Kräfte erzeugt wurden, welche den Organismus in verhältnismäßig später Lebenszeit noch einem Masernanfall aussetzten.

    Jetzt können wir uns fragen: Wir haben auf der einen Seite den Masernanfall, der die physisch-karmische Wirkung ist eines früheren Lebens. Wie ist es denn aber nun mit dem Seelenzustand? Denn das frühere Leben gibt ja als karmische Wirkung auch einen gewissen Seelenzustand. Dieser Seelenzustand stellt sich so dar, daß die betreffende Persönlichkeit in dem Leben, wo sie auch den Masernanfall hatte, immer wieder und wieder Selbsttäuschungen unterworfen war. Da haben Sie also die Selbsttäuschungen anzusehen als die seelisch-karmische Folge dieses früheren Lebens und den Eintritt der Masern als die physischkarmische Folge jenes Lebens.

    Nehmen wir nun an, dieser Persönlichkeit wäre es gelungen, bevor der Masernfall eintrat, etwas zu tun, um sich gründlich zu bessern, das heißt, um eine solche Stärke der Seele sich anzueignen, daß sie nicht mehr ausgesetzt wäre allen möglichen Selbsttäuschungen. Dann würde diese dadurch heranerzogene Seelenstärke dazu geführt haben, daß die Masernerkrankung hätte unterbleiben können, weil das, was im Organismus schon hervorgerufen war bei der Bildung dieser Organisation, seinen Ausgleich gefunden hätte durch die stärkeren Seelenkräfte, welche durch die Selbsterziehung herangezogen worden wären. Ich kann natürlich nicht ein halbes Jahr über diese Sachen reden; aber wenn Sie weit im Leben herumschauen und alle Einzelheiten, welche sich als Erfahrungen darbieten, von diesem hier gegebenen Ausgangspunkt aus betrachten würden, so würden Sie immer finden, daß das äußere Wissen voll bestätigen würde – bis in alle Einzelheiten -, was hier gesagt worden ist. Und was ich jetzt gesagt habe über eine Masernerkrankung, das kann zu Gesichtspunkten führen, die erklären, warum Masern gerade zu den gebräuchlichen Kinderkrankheiten gehören. Denn die Eigenschaften, die genannt worden sind, kommen in sehr vielen Leben vor. Insbesondere in gewissen Zeitperioden haben sie in vielen Leben grassiert. Und wenn dann eine solche Persönlichkeit ins Dasein tritt, wird sie so schnell wie möglich Korrektur üben wollen auf diesem Gebiet und in der Zeit zwischen der Geburt und dem gewöhnlichen Auftreten der Kinderkrankheiten, um organische Selbsterziehung zu üben, die Masern durchmachen; denn von einer seelischen Erziehung kann ja in der Regel in diesem Alter nicht die Rede sein.

    Daraus sehen Sie, daß wir wirklich davon sprechen können, daß die Krankheit in gewisser Beziehung wieder zurückverwandelt werden kann in einen geistigen Prozeß. Und das ist das ungeheuer Bedeutsame, daß wenn dieser Prozeß in die Seele als Lebensmaxime aufgenommen wird, er eine Anschauung erzeugt, die gesundend auf die Seele wirkt. In unserer Zeit braucht man sich nicht besonders zu wundern, daß man so wenig auf die Seelen wirken kann. Und wer die Zeit heute vom geisteswissenschaftlichen Standpunkt aus durchschaut, der wird es begreifen, daß so viele Mediziner, so viele Ärzte Materialisten werden (…)”

    Rudolf Steiner, “Die Offenbarungen des Karma”, GA 120, FÜNFTER VORTRAG, Hamburg, 20. Mai 1910, S. 102ff[13]

    IDS – Vortrag – 5.5.2010


     [1] Eurosurveillance: “An ongoing multi-state outbreak of measles linked to non-immune Anthroposophic communities in Austria, Germany, and Norway, march-april 2008″

    [2] “Kreis Mettmann – Acht Kinder an Masern erkrankt”

    [3] “Ausbruch von Masern in Essen. Derzeit 54 Masernfälle in NRW”

    [4] “Gesundheitsamt: Masern-Schutz überprüfen”

    [5] Robert Koch Institut (RKI)

    [6] The Lancet, “Atopy In Children Of Families With An Anthroposophic Lifestyle”

    [7] Masern, Wikipedia

    [8] “Natalie, 10 Jahre, erkrankt an Masern-SSPE”

    [9] SPIEGELOnline

    [10] Berliner Zeitung

    [11] Berliner Morgenpost

    [12] Berliner Zeitung

    [13] Rudolf Steiner, “Die Offenbarungen des Karma”, GA 120, FÜNFTER VORTRAG, Hamburg, 20. Mai 1910


    Einsortiert unter:Andreas Lichte, Nachrichten

    Plötzlich “EX-Waldorfschüler”– Rückblick und Danksagung

    $
    0
    0

    Jeder Abschied fällt schwer, auch wenn’s ein lang ersehnter war.

    - Autor (mir) unbekannt

    Ich beginne diesen Artikel am 1. Juli 2010 um ziemlich genau 19.00 Uhr. Heute Morgen wurde meine aus 24 SchülerInnen bestehende Klasse nach ihrem 13. Schuljahr und von allen bestandenen Abiprüfungen offiziell entlassen. Voll realisiert habe ich das wohl immernoch nicht, aber das kommt sicher in absehbarer Zeit.

    Damit sind wir nun (logischerweise) keine Waldorfschüler mehr, haben alle eigene und unterschiedliche Wege zu gehen und werden die der anderen wahrscheinlich doch noch eine ganze Weile mit Anteilnahme verfolgen. Denn wir waren – oder: sind – nach all den Jahren, die wir miteinander verbracht haben, insbesondere nach den im 13. Jahr genommenen Hürden vor dem Abitur, eine sehr sehr starke Gruppe. Ich würde sagen: Ein Freundeskreis. Für den Rückhalt, den ich in verschiedensten Situationen bei meinen Klassen”kameradInnen” hatte, bin ich jedenfalls zutiefst und ehrlich dankbar.

    Am Montag haben wir unser – jetzt ehemaliges – Klassenzimmer ausgeräumt, dabei alte Epochenhefte (vgl. hier zum Epochenunterricht), verstaubte “Kunstwerke”, Zeichenmappen unserer 12.Klassfahrt, jede Menge Lexika und alte Zeitschriften freigelegt und an die eigentlichen InhaberInnen verteilt, und dabei hatte zumindest ich das objektiv betrachtet banale, aber ungewohnte Gefühl, jetzt offiziell keinen “Raum” mehr in dieser Schule zu haben. Und ich habe gemerkt, dass ich nicht nur meinen Jahrgang, sondern auch meine Schule vermissen werde. Es war eine Zeit, die mich nicht nur sehr geprägt hat, sondern aus der ich auch bewusst unheimlich viel an Positivem mitnehme – neben Kontakten die Erfahrungen aus Praktika, Klassenspielen, dem Organisieren von Flohmärkten und SV-Angelenheiten, um nur einiges zu nennen.

    Ich möchte mich (auch) auf diesem Wege bei allen Menschen aus meiner Klasse bedanken, aber auch bei vielen meiner LehrerInnen – mit ein paar (würde ich behaupten), bin ich bzw. sind auch viele meiner MitschülerInnen, inzwischen auf freundschaftlichem Niveau. Positiv muss ich hier auch eine sehr hohe Offenheit und Diskussionsbereitschaft zu allen möglichen Themen verbuchen, die mir auch nach Beginn und Bekanntwerden meines anthroposophiekritischen Engagements noch entgegenschlugen (entgegen der Prognosen und Warnungen mancher AnthroposophiekritikerInnen). Trotzdem wird mich der mir von dem ambitionierten Anthroposophen Michael Mentzel sicher in abwertender Absicht beigelegte Spitzname “Waldorfschüler mit der Lizenz zum Klugscheißern” (TdZ), der auch in unsere Abizeitschrift einzug hielt, wahrscheinlich (zurecht) noch über Jahre begleiten.

    Natürlich schreibe ich all das hier nicht nur, weil ich damit besagten SchülerInnen oder LehrerInnen dieses Gefühl von Verbundenheit und Dankbarkeit mitteilen will, sondern weil ich versuche, auf diesem Blog die “Waldorfwelt” zu spiegeln. Bei der überwiegenden Kritik an Methoden (zB der Epochenunterricht, s.o.) und Grundlagen (Erziehung und Evolution, Typen, Themen, Temperamente) der Waldorfschulen blicke ich auf eine schöne, sehr bereichernde Schulzeit zurück. Das hier zu verschweigen wäre genauso “lügenhaft”, unehrlich und verzerrend  wie das Verschweigen der problematischen Grundlagen.

    Die große – vielleicht größte – Stärke der Waldorfschulen, jedenfalls, so weit ich sie erlebt habe, sind weder der spezifische “Lehrplan” noch die üppig vorhandenen künstlerischen Fächer, sondern die menschlichen Beziehungen, die Vertrautheit, die sich zwischen den SchülerInnen und zwischen SchülerInnen und LehrerInnen aufbauen können (wobei besonders letzteres natürlich auch schief laufen kann, vgl. Erziehung und Evolution). Der Rückhalt, den einem eine (Lern-)Gruppe von vertrauten und einem größtenteils auch sehr sympathischen Menschen gibt, ist der persönlichen Entwicklung und auch dem Aufnehmen von Lernstoffen selbstverständlich sehr förderlich.

    Damit wird mir wieder bewusst, was ich auch schon an anderer Stelle geschrieben habe (Der Schatten einer Seifenblase): Menschliche Beziehungen, ohne alle sonstigen “Inhalte”, jede Metaphysik oder “Menschenkunde”, sind das, und vermutlich das einzige, was viele Waldorfschulen wirklich in einem signifikanten Maß positiv vor anderen Schulen auszeichnet. Damit sind zutiefst SINNLICHE, keinesfalls die behaupteten “Über-SINNLICHEN” Bestandteile das eigentliche Lebenselement der Waldorfpädagogik. Steiner hat in seinen amateurhaften Suchbewegungen im Pädagogischen hier unwissentlich eine ”Goldader” angekratzt, und wenn er sie auch nicht ausschöpfte, sondern durch seine Projektion ins “Übersinnliche”, Außerweltliche methodisch fast wieder verschüttete, hat er sie immerhin gestreift.

    Für meine Biographie würde ich das einen verdammt glücklichen Zufall nennen – ich habe gerade durch genau diese Mischung mein spezielles Interessengebiet zwischen Philosophie, Geistes- und Ideengeschichte, Schul- und Esoterikkritik auftun können. Andere hatten an Waldorfschulen und mir dieser Thematik sicher weniger Glück.

    Erziehung auf Beziehung aufbauen, eine “Schule für Menschen”, möglichst ohne Trennung in Lehrende und Lernende, die physischch und zeitlich aus Freiräumen für Begegnung und gegenseitiges Lernen und (Be)Lehren besteht, scheint mir auch die kürzeste Formel und der größte Wunsch für eine “Pädagogik der Zukunft” zu sein.

    Die Waldorfschulen haben es bisher nicht geschafft, diese Schule zu werden, und werden es vermutlich auch nie – solange sie sich den Zugang zum Menschlichen dadurch verbauen, dass sie letzteren aus einer übersinnlichen Komponente herleiten wollen.

    “Die Liebe zum Menschen darf keine abgeleitete sein; sie muß zur ursprünglichen werden. Dann allein wird die Liebe eine wahre, heilige, zuverlässige Macht. Ist das Wesen des Menschen das höchste Wesen des Menschen, so muß auch praktisch das höchste und erste Gesetze die Liebe des Menschen zum Menschen sein. Homo homini Deus est – dies ist der oberste praktische Grundsatz – dies der Wendepunkt der Weltgeschichte” - (Ludwig Feuerbach in: Das Wesen der Religion. Ähnlich übrigens Marx hat in seinen von “kritischen Linken” wie so vieles zu schnell verworfenen “frühen Schriften”, wo er einen gewissen Edgar Bauers kritisiert: “Herr Edgar verwandelt die ‘Liebe’ in eine ‘Göttin’, und zwar in eine ‘grausame Göttin’, indem er aus dem liebenden Menschen, aus der Liebe des Menschen den Menschen der Liebe macht, indem er ‘Liebe’ als ein apartes Wesen vom Menschen lostrennt und als solches verselbstständigt.”, Marx: Frühe Schriften, Bd. I, hrsg. von H.J.Lieber und P. Furth, Cotta-Verlag, Stuttgart 1962)

    Trotzdem bieten die Waldorfschulen mit all ihren Eigenheiten doch auch interessante Refugien und haben vielen Menschen – meine Klasse und mich eingeschlossen – eine gewinnbringende “Jugend” eröffnet.

    Ich bin jedenfalls – wie gesagt - den Menschen, die mich während dieser Zeit begleitet haben, sehr, sehr dankbar und wünsche ihnen alles Gute, wo immer ihre Wege noch lang- und hinführen mögen!


    Einsortiert unter:Anthroposophie & Philosophie, Identität

    “Wie durch eine dünne Wand”– Schizotypie und Sublimierung in Steiners “Lebensgang”, Pädagogik und den “Mysteriendramen”

    $
    0
    0

    Wer sich  mit der Anthroposophie und ihrem Begründer Rudolf Steiner (1861-1925) auseinandersetzt, trifft eher früher als später auf die Beschreibung der einen als “Wahnwelt” und des anderen als geistesgestörten Irren, der erstere herbeiphantasiert haben soll.

    In zwei Artikeln (das hier ist dann logischerweise der erste), will ich mich mit verschiedenen Eindrücken und Einschätzungen zu diesem Thema befassen.

    Irrationalität und scheinbarer Wahnsinn

    Angesichts der erstaunlichen Absurdität vieler seiner Aussagen (vgl. “Masern werden von Waldorfschule zu Waldorfschule übertragen…”, Steiner und die Prügelstrafe) ist es erstmal eine naheliegende Option, Steiner einfach für verrückt zu halten. Oft beruht das einfach nur, wie in vielen Artikeln auf diesem Blog gezeigt, und wie wir auch weiter unten sehen werden, auf schlichter Nichtkenntnis der historischen Kontexte und der Entstehungsbedingungen von Steiners Werk, hauptsächlich (spätromantisch-haeckelianische) Wissenschaftsphilosophie und (theosophischer) Okkultismus, und ist zunächst eine Reaktion von Menschen, die sich mit diesem eher abgelegenen und auch reichlich absonderlichen Seitenzweig der Geistes- und Ideengeschichte  noch nicht sehr viel beschäftigt haben.

    Der Musiker und Autor Gary Lachman hat in einer für mich sonst nicht umwerfend erhellenden, aber durchaus interessanten, jüngst erschienenen  Steiner-Biographie (Lachman: “Die Rudolf Steiner-Storyaus dem Englischen von Richard Everett, info3 Verlag, Frankfurt 2010) seinen ersten Eindruck von Steiners Schriften ähnlich beschrieben:

    “Ich hatte schon schwierige Bücher gelesen, das war nicht das Problem. (…) Hegel ist schwierig nicht – oder nicht nur – aufgrund seines schlechten Stils. Wenn das der Fall wäre, würde sich niemand die Mühe machen, ihn zu lesen. Hegel ist schwierig, weil die Gedanken, denen er versucht Ausdruck zu verleihen, so komplex sind. Aber Steiner kam mir einfach stumpfsinnig vor. (…)

    Wie kann ich mir über die Tatsache Rechenschaft ablegen, dass auf der einen Seite Steiner eine kraftvolle und originelle Kritik der Erkenntnistheorie Kants formulieren kann (…) und gleichzeitig, ein paar Seiten weiter, bei aller Achtung seiner Person, total fremdartige, und genauer gesagt, ziemlich unbeweisbare Aussagen über das Leben auf der alten Atlantis trifft? Ich befand mich in einer ähnlichen Position wie der Dramatiker und Nobelpreisträger Maurice Maeterlinck vor rund siebzig Jahren.  (…) in einem Kommentar über eines von Steiners Büchern bemerkt Maeterlinck, nachdem er ”ihm mit Interesse durch Einführungen gefolgt ist, die sich durch einen extrem abgewogenen, logischen und umfassenden Geist auszeichnen”, dass er plötzlich über eine Stelle stolpert, die ihn zu der Frage zwingt, ob Steiner ‘nicht überraschend wahnsinnig geworden ist (…)’ ” (ebd., S. 11-13)

    Gary Lachman: Die Rudolf Steiner-Story (Cover)

    Gary Lachman: Die Rudolf Steiner-Story (Cover)

    Eine ausführlichere Beschäftigung mit den Aussagen Steiners ändert nichts an deren oft grotesken Inhalten und Metaphern, lässt aber, wie die moderne Esoterikforschung zeigt, die Unterstellung von “Wahnsinn” zunächst sehr sehr ungenau erscheinen. Wer von Verrückthiet redet, übersieht schnell die expliziten Charakteristika der damit belegten Lehren :

    „Irrationale Systeme [gehorchen] einer internen Logik (…). Bereits diese Tatsache sollte jeden Interessierten, der glaubt, der Begriff ‘Irrationalismus’ sei gleichbedeutend mit ‘spinniert’ oder ‘wahnsinnig’, eines besseren belehren. Der Begriff Irrationalismus, statt Arationalismus wurde benutzt, weil ein Hauptcharakteristikum der untersuchten Systeme die aktive Oposition zum rationalen ist (…) Vernunft und Aufklärung waren die “Ideologie” Westeuropas vom späten 17. bis zum späten 19 Jahrhunert. Dennoch war es dieses System, das ausgedehnt, kodifiziert und schließlich zum Dogma gemacht wurde: zum Dogma des spätviktorianischen Materialismus (…). Gegen das, was möglicherweise eine Karikatur der Vernunft war, lehnten sich die Irrationalisten auf.

    Es scheint eine gewisse Wahrheit in dem Argument zu stecken, dass ‘der Mensch nicht vom Brot allein lebt’, sondern neben der Gewissheit, mit den Problemen des physischen Überlebens fertigzuwerden, eine weitere Sicherheit braucht. (…) Hier ist nicht der Ort, um über die persönliche Suche der Okkultisten zu urteilen. Es bleibt jedoch der Eindruck, dass die meisten in ihren privaten Welten gefangen waren und nur traurig schwache Beweise für die Macht der Phantasie hervorbrachten.“ (James Webb: Das Zeitalter des Irrationalen, a.a.O., S. 560 – 588 – Hervorhebungen A.M.)

    James Webb: Das Zeitalter des Irrationalen (Cover)

    James Webb: Das Zeitalter des Irrationalen (Cover)

    “Der Fremdling”

    Aber spätestens bei der Lektüre von Steiners autobiographischer Aufsatzreihe “Mein Lebensgang” stößt mensch auch wieder auch bemerkenswerte Selbstzeugnisse, die einen doch grundlegende soziale und kommunikative Handicaps Steiners vermuten lassen. So schrieb an seinem Lebensende in seiner (unvollendet gebliebenen) Autobiographie:

    “Ich lebte ganz intensiv mit dem, was andere sahen und dachten; aber ich konnte in diese erlebte Welt meine innere geistige Wirklichkeit nicht hineinfließen lassen. Ich mußte mit meinem eigenen Wesen immer in mir zurückbleiben. Es war wirklich meine Welt wie durch eine dünne Wand von aller Außenwelt abgetrennt.

     Mit meiner eigenen Seele lebte ich in einer Welt, die an die Außenwelt angrenzt; aber ich hatte immer nötig, eine Grenze zu überschreiten, wenn ich mit der Außenwelt etwas zu tun haben wollte. Ich stand im lebhaftesten Verkehre; aber ich mußte in jedem einzelnen Falle aus meiner Welt wie durch eine Türe in diesen Verkehr eintreten.” (Steiner: Mein Lebensgang, GA 28, Steiner Verlag, Dornach 2000, S. 235)

    Schon als Kind hatte Steiner sich – durch eine wesentlich dickere, nicht von ihm verursachte ”Wand” – von anderen abgeschieden gefühlt. Er hatte in jungem Alter kaum Kontakt zu Gleichaltrigen, die Kinder in seinem zeitweiligen Heimatdorf Neudörfl schlossen ihn als “Fremden im Dorfe” von Spielen aus. Steiners Vater scheint Fragen abgewiesen zu haben – so dass Steiner sich alsbald in eine “eigene Welt” zurückzog. Dagegen will Steiner im Mathematikunterricht sein Vergnügen gefunden haben, so meinte er, “dass er an der Geometrie zuerst das Glück kennengelernt habe.” (Die Mächte des (L)ICH(ts) – Symptome der Steinerschen “Geisterkenntnis”). 

    Diese innerliche Isolation Steiners haben nahezu alle seiner Biographen erkannt: In Christoph Lindenbergs Steiner-Biographie (Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 1997) heißt das erste, Steiners Kindheit betreffende Kapitel bezeichnend “Der Fremdling”, in der eben und auch weiter unten ausführlich zitierten Biographie von Gary Lachman heißt das Kapitel über Steiners Kindheit “Der Hüter der Schwelle” – beide Autoren, die Steiner ausdrücklich positiv gegenüber stehen, wählen Namen, die Entrücktheit von der Umwelt, ja eine Fremdheit ausdrücken.

    Schizotypie und Kreativität

    Der ganz oben zitierte jüngste Steinerbiograph Gary Lachman geht noch ein bisschen weiter. Er bringt mit Steiners Isolationsempfinden, seine daraus resultierende Ich-Wahrnehmung und das damit so innig verknüpfte Erkenntnissuchen mit der Bezeichnung “Schizotypie” in Verbindung:

    “Viele Fragen über die Welt, die ihn bewegten, blieben unbeantwortet. Alle anderen schienen sich keine Sorgen deswegen zu machen und waren perplex über seine Entschlossenheit, Antworten auf sie zu finden. Steiner hatte ein hartnäckiges Bedürfnis, Sachverhalte zu ergründen, einen Hang zur Vertiefung, den manche vielleicht als Besessenheit betrachteten. Ein solch ungesunder Drang – zumindest aus der Sicht eines durchschnittlichen Menschen – kann der Anfang von dem sein, was Anthony Storr eine ‘schizotypische’ Persönlichkeit nennt. Das ist ein Typus von Personen, die zwar keine voll ausgebildete Schizophrenie erleiden, aber doch einige Charaktermerkmale mit schizophrenen teilen.” (Lachman: Die Rudolf Steiner-Story, a.a.O., S. 31 f.)

    Rudolf Steiner als Maturand

    Rudolf Steiner als Maturand

    An einem Beispiel erläutert Lachman die Anwendbarkeit auf Steiners Biographie näher. Im Alter zwischen 11 und 18 Jahren besuchte Steiner die Realschule in Wiener-Neustadt. Sein Vater hatte einen Gymnasiumsbesuch verboten, weil der Sohn später Eisenbahnangestellter werden sollte. Der junge Steiner machte sich so jeden Morgen zu einer einstündigen Wanderung zu seiner Schule auf. Die machte dem wissbegierigen Kind, das er zweifelsohne war, keinerlei Probleme. Wohl aber die Kleinstadt Wiener-Neustadt. Lachman:

    “Dieses Erlebnis war für ihn verwirrend. Die Reihen von Häusern und Wohnblocks überwältigten ihn. Steiner konnte sich überhaupt nicht vorstellen, dass jemand so wohnen könnte. Hatte Steiner schon Schwierigkeiten, mit der äußeren Welt in der verhältnismäßig einfachen Naturumgebung zurechtzukommen, sah er sich jetzt einem ziemlich bedrohlich erscheinenden Chaos gegenüberstehen. Er fand es nahezu unmöglich, eine irgendwie geartete Beziehung zu seiner neuen Umgebung zu knüpfen.” (ebd., S. 42)

    Lachman kommentiert in einer längeren Fußnote:

    “In diesem Zusammenhang ist erneut auf Anthony Storrs Konzept der ‘Schizotypie’ hinzuweisen. Hierbei ist eine der Eigenschaften eine gewisse Unfähigkeit, die eingehenden Reize aufzunehmen, wie auch das Empfinden, von Eindrücken überlastet zu sein. Eine andere Eigenschaft, die ebenfalls auf Steiner zutrifft, ist das Bedürfnis, die Gedanken zu klären. Steiners jugendlicher Drang, tiefe, existenzielle Fragen zu lösen und seine spätere Betonung der absoluten Wirklichkeit des luziden, klaren Denkens können aus einem Gefühl stammen, dass sein Verstand von Ideen überfüllt war. Es ist auch wichtig darauf hinzuweisen, dass Storr erörtert, wie viele ‘schizotypische’ Eigenschaften auch im Zusammenhang mit Kreativität stehen und dass sie deshalb nicht nur als abweichende Merkmale angesehen werden sollen.” (ebd., S. 266)

    Noch ein letztes Zitat aus der Biographie von Lachman, der zu einem positiven Fazit für Steiners Leben kommt und zeigt, dass sich die Ergebnisse dieser möglichen Schizotpyie keineswegs negativ auswirken müssen (ob diese Darstellung trifft wäre eine eigene Diskussion):

    “Wir mögen einige seiner esoterischen Einsichten mit mehr oder weniger Vorbehalt betrachten und viele von ihnen sogar als Erzeugnisse seiner Phantasie abweisen. Das macht kaum etwas aus. (…) Steiners Hingabe an dem menschlichen Geist und das Gute, das dadurch entstanden ist – dies bleibt unleugbar und in unseren sorgenvollen Zeiten etwas, nach dem man streben sollte.” (Lachmann, a.a.O., S. 261)

    Auch James Webb mit seiner Theorie der “privaten Wirklichkeiten” kommt zu dem im vorletzten Zitat gezogenen Schluss auf eine Verknüpfung okkulter Neigungen oder Erlebnisse mit einer eigentümlichen Kreativität, die sich bereichernd, aber auch destruktiv für die Umwelt der “Erleuchteten” auswirken könne:

    “Wenn die Vorstellung wahr ist, dass die ‘Erleuchteten’ – ob sie nun Okkultisten oder Politiker sind – auf ihrer Suche nach anderen Wirklichkeiten eine besondere Beziehung zur Phantasie haben, dann sollten wir eigentlich bei solchen Leuten eine große Zahl von schöpferischen Werken finden. Das ist tatsächlich der Fall [es folgen und gehen voran zahlreiche Beispiele vor allem aus dem Bereich der Literatur - AM] (…) Der schöpferische Geist macht Ausfälle aus dem Universum der allgemein anerkannten Wirklichkeit in private Welten der Phantasie mit dem Vorsatz, Teile dessen, was er dort entdeckt, mitzubringen und zur Erweiterung der etablierten Sichtweise zu benutzen. Die Eskapisten [Webb unterscheidet Eskapismus von "schöpferischer Phantasie" - AM] – deren bestes Beispiel die von der Angst getriebenen Okkulten Extremisten sind – sind gefangen in ihren eingebildeten Welten, selbet wenn sie früher einmal den Wunsch gehegt haben sollten, zurückzukehren und ihre Mitmenschen zu befruchten.” (James Webb, a.a.O., S. 587f.)

    Daran schließen sich quasi lückenlos Überlegungen des Philosophen, Bloggers und Info3-Autors Christian Grauer an:

    “Ob man diesen Vorgang als Erleuchtung oder als Psychose bezeichnet, ist letztlich im Rahmen des hier dargestellten (…) Ansatzes gleichgültig. Beide kennzeichnet eine radikale Auflösung der gewöhnlichen Wirklichkeitsbedingungen, wenngleich in der Psychose das Subjekt diesem Vorgang nicht souverän gegenüber steht, sondern ihm passiv ausgeliefert ist. Steiners Beispiel zeigt, dass mit dieser Erkenntnispraxis (…) erstaunliche individuelle Welten möglich werden, deren Ausleben sich keineswegs auf Theorie und Phantasie beschränken…” (Christian Grauer: Am Anfang war die Unterscheidung: Der ontologische Monismus. Eine Theorie des Bewusstseins im Anschluss an Kant, Steiner, Husserl und Luhmann, info3-Verlag, Frankfurt a.M. 2007, S. 82)

    Dabei fragt sich natürlich wieder, ob Steiner – auf den ich mich von all den interessanten zu untersuchenden Persönlichkeiten hier beschränken muss – so kreativ denn wirklich war (vgl. etwa “Kreative Fundgrube”, unten im Abschnitt zur Architektur).

    Das ICH und das “Schelling-Erlebnis”

    Vielleicht ist Steiner “Ur-Erfahrung” der vor ihm verborgenen Wirklichkeit, über die ihm Fragen nicht beantwortet wurden, die auf den vielleicht “schizotypisch” veranlagten in einer für ihn unerträglichen Intensität eindrang, der Grund für ihn gewesen, sein Erleben dem “Seeleninnern” zuzuwenden. Mit 19 schrieb er einem Freund folgendes: 

    “Es war die Nacht vom 10. auf den 11. Januar, in der ich keinen Augenblick schlief. Ich hatte mich bis halb ein Uhr mitternachts mit einzelnen philosophischen Problemen beschäftigt, und da warf ich mich endlich auf mein Lager; mein Bestreben war voriges Jahr, zu erforschen, ob es denn wahr wäre, was Schelling sagt: ‘Uns allen wohnt ein geheimes, wunderbares Vermögen bei, uns aus dem Wechsel der Zeit in unser innerstes, von allem, was von außen hinzukam, entkleidetes Selbst zurückzuziehen und da unter der Form der Unwandelbarkeit das Ewige in uns anzuschauen.’ Ich glaubte und glaube nun noch, jenes innerste Vermögen ganz klar an mir entdeckt zu haben – geahnt habe ich es ja schon längst -; die ganze idealistische Philosophie steht nun in einer wesentlich modifizierten Gestalt vor mir; was ist eine schlaflose Nacht gegen solch einen Fund!” (Brief an Josef Köck vom 13. Januar 1881, in: GA 38, Dornach 1985, S. 13)

    Dieses Erlebnis des luziden, reinen Ich begleitete Steiner durch alle Phasen seines Werkes – tatsächlich als “Rückzugspunkt” (wie Schelling es scheinbar verstand) - aber später auch als Bezugspunkt für die anthroposophischen “Praxisfelder”: Immer geht es da um die “optimale Entfaltung” des menschlichen Ich und seine Einwirkung auf die Umwelt (wie weit das konzeptionell gelungen ist, ist eine andere Frage). In seiner Goethe-Phase in den 1880ern suchte Steiner den Zugang von diesem “geistig” Erlebten zu der von Goethe ebenfalls als ideengeleitet beschriebenen Natur, in seiner anarchistischen Nietzsche-Stirner-Phase der späten 1890er sah er das Individuum als radikal autonomen Gestalter seiner Welt und auch dieser selbstproduzierten “Ideenwelt” an – eine Art positive Bejahung von Webbs These, nach der jedeR die eigene “Private Wirklichkeit” schafft (vgl. “Spirituelle Grundlagen”, Mal wieder ein bisschen Geschwelge…).

    In seiner theosophischen Phase nach 1900 verfiel Steiner selbst dem Konstrukt einer sehr mächtigen, eben der theosophischen, Ideenwelt, die er weiterformte und als plausibilisierenden Überbau für seine Reformbestrebungen nach dem 1. Weltkrieg benutzte. Zentral stand – so meine These, auf die aber auch die genannten AutorInnen hinweisen – der Versuch der Vermittlung des luzide empfundenen Ichs, der “privaten Wirklichkeit” und seiner Umwelt. Ihm aus dieser Wahrnehmung heraus unliebsame Haltungen (“kalter” mechanistischer Positivismus oder “hitzige” Emotion) wurden personifiziert und in seiner Dämonologie als Ahriman und Luzifer (vgl. Ahriman, Avitchis und die Apokalypse) benannt, zwischen denen Christus – das kosmische Ich – vermittle. Nicht zuletzt lassen sich auch Parallelen zu den Vorstellungen von Degeneration und Höherentwicklung in Steiners Rassentheorie finden (zu all dem ausführlich und mit Belegen der Artikel Die Mächte des (L)ICH(ts)).

    Steiner Christus - hält die Waage zwischen "Ahriman und Luzifer"

    Steiner Christus - hält die Waage zwischen "Ahriman und Luzifer"

    Zwei Beispiele:

    Erziehungslehre und Mysteriendramen

    Wenn sich auch in vielem, etwa den von ihm empfohlenen Anbauweisen (“biologisch-dynamische Landwirtschaft”), Medikamentvorschlägen (“anthroposophische Medizin”) oder natürlich in seiner Hüllenathropologie, eindeutige Abhängigkeiten von der damaligen Reformszene bzw. (bei letzterem) der Theosophie finden, sind anderswo doch auch genug “geistige Ratschläge” Steiners Erfahrungen aus seiner Biographie, die er theosophisch aufbereitete:

    Etwa einzelne Elemente der Waldorfpädagogik: Steiner war als Kind von Bilderbüchern mit beweglichen Elementen fasziniert - ebenjene empfahl er als theosophisch vorzüglich kindgerecht in “Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft” (S. 18). Er empfand, nachdem sein Vater ihn aus der Dorfschule abgemeldet hatte und privat unterrichtete, weil  er von einem Lehrer geschlagen worden war (vgl. Christoph Lindenberg: Rudolf Steiner. Eine Biographie,  Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 1997, S. 28), diesen Vater als eine nachzueifernde Autorität und lernte vieles darüber, dass er dem Bahntechniker alles nachmachte (Lachman, a.a.O., S. 27) - ebendiese “geliebte Autorität” hat Einzug in Steiners Entwicklungspsychologie gehalten (Erziehung und Evolution). Außerdem hat Steiner, wie er selbst zugibt, vor dem Alter von zehn Jahren weder buchstabieren noch grammatikalisch richtig schreiben gelernt – auch in der Waldorfpädagogik wird Schreiben die ersten beiden Schuljahre eher nebenbei und langsam angegangen.

    Steiner: "Die Erziehung des Kindes..." in neuester Auflage

    Steiner: "Die Erziehung des Kindes..." in neuester Auflage

    Natürlich wäre auch die umgekehrte Deutung plausibel, dass Steiner seine Ansichten zur Entwicklung des Kindes erst rückblickend in seine Biographie hineindichtete, um seine Thesen auch für die eigene Entwicklung als zutreffend darzustellen (so die Deutung bei Stephan Geuenich: Die Waldorfpädagogik im 21. Jahrhundert, LIT Verlag, Berlin 2009, S. 38f.). Dagegen spricht, dass sich auch andere Elemente von früheren schulischen und erzieherischen Erfahrungen Steiners später im Waldorfkonzept wiedergefunden haben – zum Beispiel viele Ansätze der österreichischen Realschule, wie er sie besucht hatte. Steiners erste Entwürfe fürdie Waldorfschule kopierten – teils explizit – deren Konzept (vgl. Helmut Zander: Anthroposophie in Deutschland, Bd. II, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2007, S. 1369ff., sowie E.A.K. Stockmeyer: Aufzeichnungen, in: Emil Molt: Entwurf meiner Lebensbeschreibung, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 1972, S. 256).

    Das zweite Beispiel von in Esoterisches verandelten biographischen Elementen Steiners, das mir einfällt, wären Steiners sogenannte Mysteriendramen. Zur ästhetischen Plausibilisierung seiner Meditationsangaben und Lehren über die Einweihung des Menschen in die “Geistige Welt” schrieb er vier (geplant waren mindestens sieben) Theaterstücke, in denen Personen mit theologisch wertvollen Namen wie Maria, Johannes-Thomasius, Sophia (Weisheit), Estella (Sterngeborene), Theodosius (Gottesgabe) und Capesius (Kopfmensch) sich in zahlreichen Monologen und meditativen Erlebnissen nach und nach dem Spirituellen annähern. Im Mittelpunkt des 1. Dramas steht der Maler Johannes Thomasius, im 2. der Professor Capesius, im 3. der bis dahin skeptisch-scientizistische Wissenschaftler Strader, im 4. die misslingende Bewirtschaftung eines Unternehmens. In den Personen der Mysteriendramen finden sich dabei erstaunlich viele Entsprechungen zu Steiner und seinem Umfeld (Zander: Anthroposophie in Deutschland, II, a.a.O., S. 1037-1040).

    Johannes Thomasius (Die Pforte der Einweihung), Foto von Jochen Quast (Goetheanum-Bühne)

    Johannes Thomasius in "Die Pforte der Einweihung", Foto von Jochen Quast (Goetheanum-Bühne), 2010

    So ähnelt die Beziehung von Maria und Johannes Thomasius der von Steiner und seiner zweiten Frau Marie von Sievers, die ihn nach 1900 zur Theosophie führte – so wie Maria Johannes Thomasius in die Geistige Welt. Steiner gilt übrigens bis heute unter AnthroposophInnen als Reinkarnation von Thomas von Aquin (etwa bei Thomas Meyer: Rudolf Steiners ‘eigenste Mission’, Perseus Verlag, Basel 2009, S. 79) und wurde 1909 kurz auch als reinkarnierter Täufer Johannes gehandelt (Norbert Klatt: Theosophie und Anthroposophie, Verlag d. Autors, Göttingen 1993, S. 96f.) - das würde jedenfalls die Wahl des Namens “Johannes Thomasius” erklären (vgl. auch Steiner = Jesus). Aber auch der Professor Capesius der Mysteriendramen, der sich, wie Steiner einmal ausführte, vor seinem spirituellen Weg u.a. mit dem Haeckelianismus beschäftigt habe (so Steiner in GA 147, 1997, S. 85), trägt biographische Züge Steiners, der vor der Wende zur Theosophie um 1900 ein großer Haeckel-Fan war. 

    Auch manche prägende Gestalten aus Steiners Biographie tauchen in den Mysteriendramen wieder auf, was Steiner sogar teilweise explizit zugab: So etwa der Kräutersammler Felix Kogutzki, der den erkenntnissuchenden jungen Steiner (s.o.) stark beeindruckte, unter dem Namen Felix Balde (GA 28, 2000, S. 45) oder ”einige Züge” von Steiners Lehrer Karl-Julius Schröer, der ihn mit Goethe vertraut machte, wieder in Professor Capesius (GA 238, 1991 S. 163), der andererseits aber auch Parallelen zu Steiner selbst aufwies (s.o.).

    “Diese Optionen bedürften einer sorgfältigen Studie, vielleicht wie sie Kurt R. Eissler für Goethe vorgelegt hat. Sowohl eine polyvalente (positiv gesagt) als auch eine schizoide Selbstauslegung Steiners (negativ gedeutet) scheint für die Mysteriendramen möglich. Ob die Verteilung und Beurteilung verschiedener Persönlichkeitsmerkmale Steiners in verschiedenen Rollen als Bearbeitung einer hybriden Vielfalt zu deuten ist oder als nur mühsam integrierte Züge von Steiners Persönlichkeit, ist noch kaum diskutiert.” (Zander: Anthroposophie in Deutschland, II, a.a.O., S. 1040)

    Noch eine Szene aus dem 1. Mysteriendrama - Foto von Jochen Quast, 2010

    Noch eine Szene aus dem 1. Mysteriendrama - Foto von Jochen Quast, 2010

    Den in den beiden Beispielen zutage tretenden Prozessen gab Sigmund Freud den Namen Sublimierung – die Verwandlung oder Umlenkung von unbewussten Prozessen in eine “höhere”, geistige, kulturelle Ebene.

    Auch AnthroposophInnen sollten sich fragen, ob nicht manches, was Steiner zum Ausdruck brachte, diese Verarbeitung seiner Biographie darstellt, wie weit schließlich autistische oder “schizotypische” Züge in seine Wahrnehmungen hineinspielten. Dass die Anthroposophie im Ganzen aber als Reaktion auf die plural und vielfältig, aber auch (zumindest scheinbar) “sinnleer” werdende Wissenschaft des 19. Jahrhunderts darstellt und sich dabei ganz klar – wie schon gesagt – zahlreicher zeitgenössischer Gedanken bediente, lässt sich in meinen Augen trotzdem nicht leugnen. Beide Sichtweisen sind jedenfalls außerordentlich aufschlussreich.

    Der Nervenarzt Dr. Wolfgang Treher und der Religionspsychologe Dr. Harald Strohm würden da wohl nicht mitgehen. Sie vertreten, Steiners Weltbild sei nicht mal nur in Details oder Ausformungen, sondern als Ganzes, Produkt einer handfesten Geisteskrankheit: Entweder eine Psychose (Strohm) oder eine Schizophrenie (Treher). Mit deren Darstellungen werde ich mich demnächst in einem anderen Artikel auseinandersetzen.


    Einsortiert unter:Anthroposophie & Philosophie, Identität

    „Eine kritische Diskussion“ – Stephan Geuenich und sein neues Buch zur Waldorfpädagogik

    $
    0
    0

    Sommerloch?

    Die Sommerferien sind ein Weilchen um, im Gegenteil steht der Herbst nicht mehr nur vor der Tür, inzwischen ist der Schulalltag auch an den 220 deutschen Waldorfschulen wieder angelaufen. Die mediale Berichterstattung darüber ist in der letzten Zeit eher verhalten – seit dem Tumult um die Wolfsburger Steiner-Ausstellung (“Kreative Fundgrube“) und außer häufiger, aber bedauerlicherweise tagesaktuelle Themen immer seltener aufgreifender kritischer “Enthüllungen” von Andreas Lichte (sowie seltener und dabei sichtlich ironischer werdender anthroposophischer Entgegnungen) hat es nicht viel Lesbares gegeben. Dabei häufen sich die relevanten Themen:  so gibt es seit Kurzem die erste staatlich anerkannte Ausbildung zum “biologisch-dynamischen” Landwirt (Medienstelle Anthroposophie), die Nürtinger Waldorfschule hat stellvertretend für alle anderen FWSen in BaWü gegen das Land wegen zu geringer Zuschüsse geklagt – und recht bekommen (waldorf-bw.de), am 1. Oktober findet ein groß angelegter WOW-day statt (an dem Waldorfschülis in allerlei selbst zu organisierenden Aktionen Geld für Waldorfinitiativen in Entwicklungsländern sammeln), das Waldorflehrerseminar Berlin feiert (wohl aus anthroposophischen Gründen) seinen einundzwanzigsten Geburtstag (vgl. “erziehungsKUNST – Waldorfpädagogik heute”, 09/2010, S. 37) und WaldorfkritikerInnen kritisieren die vom ebenda interviewten Dozenten Wilfried Jaensch leider nicht wirklich vorgenommene “Anthroposophische Vergangenheitsbewältigung”.

    Bei leichter intellektueller Lähmung durch solche und ähnliche Anekdoten fand ich eines Nachmittags in der Mainzer Unibibliothek, 3. Stockwerk der “Freihand-Ausleihe”, gänzlich unerwartet und in einem anderen Zusammenhang (ich war auf der Suche nach einem Buch mit Texten von Arendt und Adorno jeweils über den/die andereN) ein kleines, grünes, unscheinbares Buch von Stephan Geuenich, erschienen 2009, das mir immerhin das Vertrauen in die Möglichkeit einer seriösen Diskussion des Komplexes “Waldorfpädagogik” kurzfristig zurückgab.

    Stephan Geuenich: Die Waldorfpädagogik im 21. Jhdt - Cover

    Der Titel “Die Waldorfpädagogik im 21. Jahrhundert – eine kritische Diskussion” erschien vielversprechend, und die Lektüre erwies sich dann auch als sehr informativ. Auf 152 Seiten fasst Stephan Geuenich neben einigen Stimmen aus dem anthroposophischen  und anthroposophiegegnerischen Raum (siehe Anhang bzw “Fußnoten”), die weltanschaulichen Grundlagen, wie Steiners Entwicklungspsychologie (vgl. Erziehung und Evolution), seine Temperamentenlehre (vgl. Typen, Themen, Temperamente), “Karma und Strafe” (vgl. Steiner und die Prügelstrafe) oder das verklemmte Verhältnis zur Sexualität (vgl. den Anhang zum Artikel Missbrauch und Reformpädagogik) zusammen, und vergleicht sie mit den Anforderungen an eine “Schule von morgen”. Damit ist ganz nebenbei auch der von WaldorfvertreterInnen nicht gänzlich zu Unrecht manchen KritikerInnen entgegengebrachte Vorwurf, doch selbst überhaupt nicht pädagogisch gebildet oder tätig zu sein, aus dem Weg geräumt.

    “Schule von Morgen”

    Folgende Punkte werden von Geuenich für eine zukunftsfähige Pädagogik aufgezählt:

    1. “Erziehung zur und das Leben in einer Demokratie … Eben dieses Leben in einer Demokratie und damit verbunden die notwendige Erziehung zur Partizipation soll hier als oberster Anspruch an Bildung angesehen werden.” Um ”plurale” Erfahrungen und ständigen Veränderungen  gerecht zu werden, müsse besagte demokratische Gesellschaft durchlässig für “die Mitbestimmung und-gestaltung aller Menschen” sein bzw. werden, Demokratie nicht nur ein Wahlsystem, sondern “Essenz des Sozialen” (John Dewey) darstellen (S. 11f.). Entsprechend wichtig sei auch SchülerInnenpartizipation bereits in der Schule.
    2. Bildung müsse gesellschaftlich produziertem “Sinndefizit” sowie der im Kapitalismus erzeugten Funktion von Schule als “Selektions- und Berechtigungswesen” (S. 14) entgegenwirken. Sonst komme es durch “die Kopplung des Lernens an sachfremde Belohnungen [d.h. die "künstliche" "Motivation" durch Zensuren und Prüfungen - AM] zur Entfremdung und dem – zusätzlich zum gesellschaftlich erzeugten Sinndefizit – möglichen Verlust von Sinnhaftigkeit … des Lernens” – “oder einer Vorgabe des Sinns durch die jeweilige Institution” (S. 16). Statt standartisierter Urteile “im Zuge von Reihungen, Rankings, Evaluationen und Tests” müsse “das eigene, wirkliche Interesse an einer Sache” befördert werden, und zwar durch “Selbsttätigkeit, Selbstbestimmung und die damit verbundene Anteilnahme am eigenen Handeln.” (S. 21 – auch hier lässt die Demokratie als “Essenz des Sozialen” grüßen).
    3. Bildungseinrichtungen müssten sich “gegenüber den außerschulischen Wirklichkeiten und sozialen Kontexten des Lernenden öffnen und damit Platz für Erfahrungen und Kontroversen schaffen” (S. 26) – hier sieht Geuenich auch die konzeptionelle Nähe zu dem hauptsächlich durch Rüdiger Iwan in den waldorfpädagogischen Diskurs eingeführten “Portfolio”-Ansatz (m.W. zuerst in Iwan: Fähigkeiten statt Wissenskontrolle, in Das Goetheanum, Nr. 46, Nov. 2001, S. 844ff. und ausführlicher in Ders.: Die neue Waldorfschule – ein Erfolgsmodell wird renoviert, Rowohlt Verlag, Reinbek 2007, v.a. S. 129-130, 219ff.; die Rezeption bei Geuenich auf S. 27, zu seiner Kritik an Iwan siehe meinen Artikel: “Bewährtes überdenken”).

    Notwendige, wenn auch relativ allgemein bleibende Bemerkungen, aber zugleich hohe Ansprüche, an Schule insgesamt, deren gesellschaftlichen Kontext - und natürlich die Waldorfschule, die sogleich mit diesen Punkten verglichen wird. Jede halbwegs “linke” Person würde diesen Forderungen mutmaßlich zustimmen (wenn sie sie auch nicht so prägnant formulieren und materialreich belegen könnte), sie stünden sicher auch ganz weit oben auf der Prioritätenliste von heutigen WaldorflehrerInnen sowie Eltern, die ihr Kind auf eine Waldorfschule schicken wollen (vgl. Dirk Randoll: Eckdaten der Fragebogenerhebung, in: Heiner Barz/Dirk Randoll: Absolventen von Waldorfschulen, 2007, S. 41f., dort auch die Tabelle über “Elterliche Motive zur Schulwahl”).

    Primat der Theorie

    Die heutige Schulwirklichkeit an Waldorfschulen streift Geuenich - auch wenn er die “Vorreiterrolle” der ersten Waldorfschule 1919 in puncto “sozialer Koedukation  und Koedukation der Geschlechter, durch die fehlenden Zensurenzeugnisse und die Abschaffung des Sitzenbleibens, sowie die Einbeziehung vielfältiger, mehrere Sinne ansprechender Tätigkeiten” sachlich anerkennt (Geuenich: Die Waldorfpädagogik im 21. Jahrhundert, S. 134) – aber nur am Rande, mit dem Argument:

    “Auch wenn, wie erwähnt, sehr wohl positive Ansätze und auch Unterschiede in verschiedenen Schulen aufzufinden sein werden, ist die weltanschauliche Theorie konstitutiv für ihre Praxis … Auch wenn aus erziehungswissenschaftlicher Sicht der Erfolg der Waldorfschulen anerkannt werden muss, bedarf es der Kenntnis der hinter der gesamten Waldorfpädagogik stehenden Theorie sowie einer kritischen Auseinandersetzung damit.” (S. 148-150)

    Diese “Theorie”, die Anthroposophie, versteht Geuenich im Einklang mit den Thesen der heutigen universitären Esoterikforschung, betreffend esoterische Weltanschauungsproduktion im 19. und frühen 20. Jahrhunderts – als eine Antwort auf die auch von Geuenich polyvalent eingeschätzte Veränderung der Gesellschaft in diesem Zeitraum in Richtung Pluralisierung, aber auch Sinnentlehrung. Diesem Sinndefizit stellte die von Helena Blavatsky unter dem Namen “Theosophie” (Weisheit vom Göttlichen) begründete und von Steiner mit Elementen goethescher Naturmystik und Versatzstücken christlicher Symbolik zur Anthroposophie modifizierte Weltanschauung eine “höhere Wahrheit” mit dem Anspruch auf absolute Größen entgegen. Da sich hier Geuenichs zentrale Kritik, aktuelle Debatten der religionswissenschaftlichen Esoterikforschung, das zentrale Kern- und Begründungsproblem der Waldorfpädagogik und (das muss ebenfalls gesagt werden ;-) ) mein ganz besonderes Interessengebiet überschneiden, seien diesem Grundgedanken der Anthroposophie zwei längere Zitate gewidmet:

    “Esoterik ist einer der Katalysatoren aufgeklärten Denkens, wird attraktiv eben auch dadurch, dass die Anhänger dieser Glaubensform ihr eigenes Weltbild nicht als Religion, sondern als Wissen verstehen, als eine priveligierte, ‘höhere’ Form des Wissens. … Esoterik weist in ihrem Selbstverständnis Wege zur Entgrenzung menschlichen Wissensgewinns, des Wissens über die Schöpfung.” (Monika Neugebauer-Wölk: Aufklärung – Esoterik – Wissen. Transformationen des Religiösen im Säkularisierungsprozess. Eine Einführung, in Dies.: Aufklärung und Esoterik – Rezeption, Integration, Konfrontation, Niemeyer Verlag, Tübingen 2008, S. 27f.)

    “Wer eine ,richtige’ wissenschaftliche Praxis zum falschen historischen Zeitpunkt betreibt, wird zum wissenschaftlichen Paria. … Wer um 19oo jahrhundertelang akzeptierte Formen der Wissensgewinnung und Wissensdeutung pflegte, konnte sich zu Recht auf kulturell hoch geschätzte, von wissenschaftlichen Leitfiguren beglaubigte Praktiken berufen und fand sich dennoch, meist unerwartet, unter die Pseudowissenschaftler eingereiht. Ein prominentes Beispiel für diese Verschiebung ist die ‘wissenschaftliche’ Esoterik, die durch diese Verschiebung von Normalitätsgrenzen überhaupterst entstand. … Das dahinter stehende anthroposophische Wissenschaftsverständnis gründete in dem Anspruch auf epistemologische Objektivität, die eine an die naturwissenschaftliche Erkenntnis angelehnte ,höhere’ Erkenntnis ermöglichen und in der kulturellen Anwendung die Unsicherheiten historischer Kritik durch Einsicht in das transhistorische Weltgedächtnis überwinden sollte. Dieses Programm objektiver Erkenntnis hatte Steiner … in seinem Idealismus der 1880er Jahreentwickelt, aber er hat es mit theosophischer Hilfe in ein esoterisches Programm überführt. Dessen Herzstück war die Annahme einer ‘geistigen Welt’, die Steiner glaubte, ‘objektiv’ erkennen zu können und durch deren Wirkungen er die Lebenswelt (also auch die Praxisfelder) ,befruchten’ wollte. Dies war eine explizit gegen den Materialismusdes 19. Jahrhunderts gerichtete Position. Die hier interessierende wissenschaftshistorische Pointe war sein Anspruch, diese ‘Erkenntnis der höheren Welten’ prinzipiell mit der gleichen Verlässlichkeit wie die Naturwissenschaften erreichen zu können. Die Naturwissenschaft mochte andere Verfahren und andere Erkenntnisbereichebesitzen, aber in ihrer strukturellen Empirizität solltedie ,höhere Erkenntnis’ der naturwissenschaftlichen nicht nachstehen. Aus Glaube sollte Wissen, aus Weisheit Wissenschaft werden, ‘Anthroposophie’ eine quasi naturwissenschaftliche Geisteswissenschaft sein. Steiner gehört damit in den Kontext jener Versuche im19. Jahrhundert, die angesichts der Dominanz und der Erfolge naturwissenschaftlicherMethoden Geisteswissenschaft unter Rückgriffauf naturwissenschaftliche Begründungs- und Geltungsansprüchekonzipierten.” (Helmut Zander: Esoterische Wissenschaft um 1900 – “Pseudowissenschaft” als Produkt ehemals “hochkultureller Praxis”, in: Dirk Rupnow u.a. (Hg.): Pseudowissenschaft -Konzeptionen vonNichtwissenschaftlichkeit in der Wissenschhaftsgeschichte, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2008, S. 77-81 – Hervorhebungen AM)

    Was so als religiöse und auch wissenschaftshistorische Erscheinungsform selbstverständlich Teil der abendländischen, gerade auch modernen Kulturgeschichte anzusehen ist, taugt aber schlecht als absoluter Maßstab für eine Erziehung in unserer nunmal leidlich pluralistischen Gesellschaft, gar eine demokratische Erziehung, eben weil beansprucht wird, sich an absoluten, metahistorischen Größen und nicht an aktuellen sozialen Umständen zu orientieren. So in etwa lautet jedenfalls Geuenichs Fazit - nach einer ausführlichen, sachlichen und angenehm unpolemischen Darstellung der waldorfpädagogischen Anthropologie und Lehrpläne natürlich (eine ausführlichere inhaltliche Zusammenfassung habe ich in einer Rezension für info3 geschrieben: “Bewährtes überdenken” – Waldorf und die “Schule von Morgen” aus der Sicht eines Demokratiepädagogen), die sich neben der Analyse von einigen Vorträgen Steiners v.a. auf die Erziehungswissenschaftler Klaus Prange und Heiner Ullrich, die Waldorfpädagogin Caroline von Heydebrand, die sicher überzogen angriffslustigen, aber anthroposophische Problembereiche nahezu seismographisch abtastenden Darstellungen von Peter Bierl und den auch von mir gern zitierten Wissenschaftshistoriker Helmut Zander stützt. Dabei fördert die Analyse nichts fundamental Neues über die bekanntlich bereits sehr ausführlich diskutierte Waldorfpädagogik zutage, zeichnet sich aber durch eine umfassende und zugleich schlichte, souverän auf wichtige Kerntmotive reduzierte  Darstellung aus.

    “Hier soll es nicht darum gehen, die genannten positiven Aspekte der Waldorfpädagogik zu verdrängen oder zu negieren. Wie jedoch dargestellt wurde, können diese teilweise durchaus positiven Praktiken nicht losgelöst von der theoretischen Basis betrachtet werden. … Den in dieser Arbeit gestellten Anforderungen an Bildung und Schule kann die Waldorfpädagogik höchstens partiell in einzelnen Praktiken des schulischen Alltags erfüllen, jedoch widersprechen Teile der ihr zugrunde liegenden theoretischen Konzeption einer Ausrichtung der Pädagogik an Aspekten einer im hier definierten Sinne demokratischen Erziehung zur kritischen Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen. … Die Sicht auf die Individuen entspricht nicht deren vielfältigen Erfahrungen, sozialen Kontexten und unterschiedlichen Stärken und Schwächen, sondern der Passung zu diesen als allgemeingültig angenommenen Gesetzen.” (Geuenich: Die Waldorfpädagogik im 21. Jahrhundert, S. 144-157 – Hervorhebungen AM)

    Über so manche Einzelheit von Stephan Geuenichs “kritischer Diskussion” könnte mensch sicherlich und zurecht streiten, etwa die mangelnde Berücksichtigung der Relevanz von Steiners Dreigliederungskonzept für die Waldorfpädagogik, oder, wie sinnvoll es ist, sich bei der ansonsten und wohl aus diesem Grund sehr sachlichen Darstellung von Steiners Rassenlehre (vgl. Die Philosophie der Un-Freiheit, Rudolf Steiners Rassenlehre) ausschließlich auf Helmut Zanders “Anthroposophie in Deutschland” zu stützen, ohne aber auch nur einen einzigen rassentheoretischen Text Steiners selbst zu begutachten. Aber das sind, wie gesagt, Details: Das Buch bleibt eine handfeste Auseinandersetzung.  Auch, wer sich mit den aktuellen Ereignissen und Debatten in der Diskussion um Waldorfpädagogik und Anthroposophie interessiert, kommt auf seine Kosten: Schon im Vorwort, aber auch im weiteren Verlauf seiner Untersuchung kommentiert Geuenich sehr differenziert, wenn auch teils mit spitzer Feder allerlei Publikationen von KritikerInnen und BefürworterInnen der Waldorfschulen bis ins Jahr 2008, wie das von Jens Heisterkamp und Ramon Brüll verfasste “Frankfurter Memorandum” (vgl. Ausrutscher oder Rassenlehre), das viele KritikerInnen als unzureichend und viele AnthroposophInnen als überzogen kritisch empfanden [1] oder das heiß diskutierte, aber in Darstellung und Inhalt (wie auch Geuenich darlegt) sachlich schwache bis unseriöse und in der Polemik nurnoch anstrengende ”Schwarzbuch Waldorf” von Michael Grandt [2] (vgl. Pleiten, Plagiate, Pech und Pannen und zu Grandt allgemein nicht minder polemisch, aber aufschlussreich den Eintrag bei esowatch.com).

    Es bleibt abschließend zu hoffen, dass diesem Buch künftig ein wenig mehr Aufmerksamkeit zuteil wird, als bisher, sowohl für die öffentliche als auch die universitäre Debatte – ganz zu schweigen von der waldorfinternen Auseinandersetzung, wo zwar die kritische Reflexion der Praxis inzwischen eingekehrt, aber die Beschäftigung mit der pädagogischen Theorie noch in den “Kinderschuhen” ist.

    Siehe auch meine auch im Artikel schon mehrfach verlinkte Rezension in info3 10/10 sowie die zwei als “Anhang” angefügten Zitate in den Fußnoten.


    Anhang in Form von “Fußnoten” …

    … und als Beispiel für Stephan Geuenichs fundierten Überblick zur “Waldorf-Debatte” an zwei Beispielen aus dem Jahr 2008.

    [1] Stephan Geuenich über das “Frankfurter Memorandum” von Ramon Brüll und Jens Heisterkamp: “In diesem Memorandum setzen sich zwei Anthroposophen mit dem Vorwurf auseinander, ‘der Gründer der Anthroposophie Rudolf Steiner … sei Rassist gewesen oder habe rassistisch gefärbte Ansichten vertreten’ (Memorandum, S. 3) … die Reaktionen aus der anthroposophischen Bewegung auf dieses Vorhaben sind interessant: Von der generellen Ablehnung des Vorhabens, sich mit Rassismus-Vorwürfen auseinanderzusetzen …, über die Position, das Problem möglicher(r) diskriminierende(r) Äußerungen Steiners anzuerkennen, jedoch dies nicht öffentlich zu diskutieren und stattdessen die konstruktiven Beiträge Steiners hervorzuheben, bis zur Einstellung, eine eigene kritische Aufarbeitung des Themas zu fokussieren und auszuarbeiten, ist alles vertreten (Memorandum, S. 16).” (Geuenich: Die Waldorfpädagogik, S. 4) “Demgegenüber (der bis heute auffindbaren anthroposophischen “Rechtfertigung” von Steiners rassistischen Äußerungen, vgl. dazu u.a. “Der Europäer”Ravagli, die Rassen und die Rechten - AM) steht jedoch die beginnende Auseinandersetzung mit problematischen Äußerungen: Als aktuellstes Beispiel ist das Frankfurter Memorandum zu nennen, in dem … diverse Aussagen Steiners betrachtet und teilweise als ‘bedauerlich’, aber auch irreführend, fraglich und diskriminierend angesehen [werden]. Das größte Problem an diesem Memorandum sehe ich darin, dass hier zwar einzelne Aussagen aus dem Gesamtwerk, das 89.000 Seiten umfasst, kritisch betrachtet werden, jedoch eine darüber hinausgehende kritische Beschäftigung mit Steiner, auf Basis einer bewusst eingenommenen Distanz, nicht geschieht. Zwar werden seine als diskriminierend erlebten Äußerungen in den historischen Kontext gestellt, wobei eine generelle Einordnung …, wie zum Beispiel die Tatsache, dass Steiner seine (Rassen-)Theorie auf die Basis populärwissenschaftlicher Literatur stellte, … nicht vorgenommen wird. Trotz dieser teilweise fraglichen Äußerungen und Ansichten, die in diesem Memorandum vertreten werden, muss der Verweis auf die Gefahren des potentiellen Chauvinismus (Memorandum, S. 13), sowie auf einen ‘latenten Antisemitismus’ (ebd., S. 6) in der Anthroposophie anerkannt werden. … Erste Schritte in diese Richtung sind somit gemacht worden, jedoch darf hier nicht stehen geblieben werden, gerade mit Blick auf eine plurale, demokratische Gesellschaft, in der Kritikfähigkeit und -bereitschaft fundamental für eine auf gesellschaftskritischer Basis stehender aktiver Beteiligung aller sind.” (Geuenich, S. 131f.).

    [2] Stephan Geuenich über Michael Grandts “Schwarzbuch Waldorf” (Gütersloh 2008): “Aus mehreren Gründen ist das Buch dazu geeignet, exemplarisch den aus wissenschaftlicher Sicht nicht zu vertretenden, sowie in der Debatte wenig weiterführenden Umgang mit der Waldorfschule in populärer Sachliteratur aufzuzeigen: 1. Grandt arbeitet methodisch fraglich; so beachtet er beispielsweise den Kontext von Zitaten nicht, generiert auf Basis einzelner Aussagen umfassende Urteile und die Quelenarbeit ist mangelhaft. 2. Grandt bezeichnet sich selbst als ‘Fachberater für die Themenbereiche Nationalsozialismus, Scientology, Sekten, Satanismus und Anthroposophie’ [Buchumschlag des "Schwarzbuchs" - AM]. Dem entgegen steht seine Tätigkeit: neben zahlreichen populären Sachbüchern schreibt Grandt Artikel für den Kopp-Verlag. Dabei geht es z.B. um den Beweis der Existenz von UFOs, oder um das verschwörungstheoretische Gerede von einer “Israel Lobby”. Passend dazu vertreibt der Kopp-Verlag diverse verschwörungstheoretische und esoterische Bücher. Vor diesem Hintergrund mutet es dann doch merkwürdig an, wenn bei Grandt selbst zu lesen ist: ‘Die Anthroposophie … ist aufgrund ihrer okkult-esoterisch-kosmischen Ausrichtung wissenschaftlich nicht haltbar.’ ["Schwarzbuch", S. 209]. Auch wenn Grandt einen ersten Einblick in die Waldorfschule (…) gibt, sind Aussagen wie folgende auf Basis der erwähnten fragwürdigen Vorgehensweise verständlich: ‘Einziges Ziel der Publikation von Grandt ist es, mit exotischen Zitaten zur Anthroposophie die Waldorfschulbewegung zu verunglimpfen und damit Geld zu verdienen.’ [PM des BdFW, 5.9.2008]. Für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung ist dieses Buch auf keinen Fall geeignet. Auch das Gütersloher Verlagshaus, in dem das Buch erschienen ist, vertreibt überwiegend religiöse Literatur und kann einem pädagogischen Anspruch nicht genügen.” (Geuenich: Die Waldorfpädagogik, S. 4f. )


    Einsortiert unter:Literarisches

    Bilder und Sachen. Wege und Irrwege zeitgenössischer Anthroposophie

    $
    0
    0

    “…aber wie, wenn eure Verehrung eines Tages umfällt? Hütet euch, dass euch nicht eine Bildsäule erschlage! … Nun heiße ich euch mich verlieren und euch finden; und erst wenn ihr mich alle verleugnet habt, will ich euch wiederkehren.” (Nietzsche: Also sprach Zarathuistra, I, Von der schenkenden Tugend, Atlas-Verlag, Köln, 2. Auflage, S. 64) )

    Am 04.11. wurde in Dornach feierlich das Jubiläumsjahr zu Rudolf Steiners 150. Geburtstag eröffnet. Was nach außen den “Kulturimpuls” seiner Anthroposophie (“Weisheit vom Menschen”) popularisieren soll, birgt doch hinter aller äußerlichen Einheitlichkeit allerlei Anlass für inneranthroposophische Reflexionen über Vergangenheit, Zukunft und gegenwärtiges Selbstverständnis. Darüber entstehen die im anthroposophischen Umfeld üblichen heftigen Diskussionen und H(/M)ysterien. Im Vorfeld sind dieses Jahr neben vielem anderem drei Bücher (von Cordula Mears-Frei, Taja Gut und Robin Schmidt) erschienen, die ich in diesem (zugegeben mal wieder zu langen) Artikel vorstellen möchte, weil sie Reaktionen von AnthroposophInnen auf die problematische Situation ihrer “Bewegung” im 21. Jhdt in drei charakteristischen Typen zeigen.

    Während Cordula Mears-Frei sich überzeugend und unaufdringlich an einer Reinterpratation von Steiners Meditationsanweisungen vor dem Hintergrund aktueller, jungianisch angehauchter Meditationstechniken versucht, hat Taja Gut (“Wie hast du‘s mit der Anthroposophie”) die anthroposophische “Szene” auf gleichzeitig unterhaltende wie unumwunden kritische, vor allem: treffende Art gespiegelt und sich schließlich gefragt, wie weit das Kritisierte strukturell schon bei Steiner angelegt ist. Robin Schmidt schließlich hat in seinem Buch mit dem vielleicht erst irreführenden Titel “Rudolf Steiner und die Anfänge der Theosophie” eine wahrlich brilliante und durch keinerlei anthroposophische Dämonenbrille getrübte Geschichte von Spiritismus und Theosophie vorgelegt, die viele Detailkorrekturen zu bisherigen Darstellungen v.a. der deutschen Theosophie und Rudolf Steiners Kenntnis dieser Bewegung vor seiner eigenen theosophischen Karriere vornimmt. Auf den letzten beiden liegt thematisch der Schwerpunkt.

    Anschließend gehe ich bei den Büchern von Gut und Schmidt einigen Rezensionen in anthroposophischen Zeitschriften nach, die zeigen, wie die Befunde in der anthroposophischen Gesellschaft aufgenommen werden. Den Abschluss bilden Überlegungen zu einer Stellung von Esoterik und Anthroposophie in einer integralen Gesellschaftsverstädnis – angestoßen durch einen diesbezüglichen Fehlgriff meines besonderen Freundes Lorenzo Ravagli.

    Unverständliche Traditionen

    Wer heute auf die Suche nach einem “Spirituellen”, dem Absoluten, einem “Heiligen” im “Profanen” geht, wird nur selten unmittelbar an die Anthroposophie Rudolf Steiners geraten (oder erst recht an dieser hängen bleiben?). Zu verschlungen sind ihre Vorstellungen und Konzepte, zu weit entfernt die gesellschaftlichen, philosophischen und (esoterik-)szene-internen Debatten, zu denen Steiner Stellung bezog, um heute noch zu interessieren oder ursächlich anzuregen – wenn mensch nicht selbst familiär aus einem anthroposophischen Umfeld kommt oder im anthroposophischen Kontext arbeitet und sich aus verständlichen Gründen mit dem doch immer wieder präsenten Gründer auseinandersetzen will.

    Strukturelle Parallelen genuin anthroposophischer Konzepte zu einem zeitgeschichtlichen Mainstream – und das meine ich gar nicht despektierlich – finden freilich noch immer eine steigende Zahl von AbnehmerInnen: “Ganzheitliche Krebstherapie”, wie Steiner sie imaginierte, wird von vielen Schulmediziner_innen gutgeheißen, während anthroposophische Ärzt_innen buchstäblich aussterben. Waldorfschulen wachsen weiter, auch wenn die Zahl der Besucher_innen der Waldorflehrer_innenseminare zurückgeht, großer, wenn nicht überwiegender Teil der Lehrer_innen an Waldorfschulen sind “Quereinsteiger”, die ohne anthroposophischen, dafür aber mit “reformpädagogischem” Anspruch arbeiten. Die Anthroposophische Gesellschaft steckt neben der Überalterung in einer finanziellen Krise nie dagewesenen Ausmaßes, aber Steiners künstlerische Vorstellungen werden, aufgrund rein formaler Parallelen zu einigen heutigen Künstler_innen und ihres holistischen Anspruchs als “kreative Fundgrube” für die Moderne ausgestellt (Kreative Fundgrube)

    Ein Interesse am eigentlichen “spirituellen” Kern des Ganzen gibt es allerdings, wie auch die zahlreiche Zeitungs- und Fernsehberichte, die sich mit der Steinerausstellung in Wolfsburg befassten und lediglich einen “Pionier” für ökologisch-holistische Themen präsentierten, kaum – auch wenn manche AnthroposophiekritikerInnen gerade im Zusammenhang mit der Wolfsburger Steiner-Ausstellung, weiterhin annehmen, es würden darüber “viele Besucher … vor allem aus nicht anthroposophisch angehauchten Bevölkerungsanteilen” “rekrutiert” (Michael Ibach: Ein Lügen-Kosmos). Andererseits aber beschweren sich traditionell orientierte Anthroposoph_innen seit Jahren darüber, dass die anthroposophischen Einrichtungen nur pragmatisch genutzt und gedultet würden, während keine_r sich für den dahinterstehenden Geist interessiere. Mit der Einschränkung, dass statt “keine_r”, “kaum eine_r” stehen müsste, scheint mir letztere Einschätzung tatsächlich die treffendere zu sein.

    Diesen gern blinden Verteidiger_innen der Anthroposophie, die in jeder Kritik eine versuchte Vernichtung wittern, sollte vielleicht Peter Staudenmaiers (im Kontext der Diskussion um Steiners vieldiskutierte Rassentheorie) zum grundsätzlichen Umgang mit Anthroposophiekritik gemachte  Bemerkung öfter zu Gemüte geführt werden:

    “Es gibt sicherlich Kritiker der Anthroposophie, die [eine] vollständige Ablehnung Steiners erwarten, aber das ist kaum eine grundlegende Forderung der Nicht-Anthroposophen als ganzer – ganz zu schweigen von den Nicht-Anthroposophen, die Steiners Rassenlehren (racial doctrines) im Einzelnen untersucht haben. Für Forscher wie Helmut Zander, Georg Otto Schmid, Jana Husman-Kastein und meine Wenigkeit liegt der Kern des Bestrebens nicht in der Verdammung der gesamten Anthroposophie als solcher, sondern im geschichtlichen Verständnis der Rolle des rassischen Diskurses innerhalb der Anthroposophie. Dieses mag allerdings mit der Hoffnung gekoppelt sein, dass Anthroposophen letztendlich dahin kommen, die rassistischen Teile der Lehre Steiners zurückzuweisen, aber das ist kaum dasselbe, wie Steiner als Ganzes abzulehnen. Ein fruchtbarer Dialog über den Gegenstand wird schwierig sein, sofern diese Unterscheidungen ignoriert werden.” (Staudenmaier zum Frankfurter Memorandum, S. 2)

    Losgelöst von der “Rassendiskussion” mag das heißen: Der Kern des Bestrebens liegt nicht in der Verdammung der Anthroposophie, sondern ihrem historischen Verständnis (“deutend verstehen und … dadurch ursächlich erklären” heißt es auch in Max Webers berühmter Soziologie-Definition), was mit der Hoffnung gekoppelt ist, dass Anthroposoph_innen sich selbst einem reflektierten, distanzierten Umgang (siehe im letzten Abschnitt des Artikels) mit der Anthroposophie widmen. Dazu braucht es “fruchtbaren Dialog” statt kindischen Schlagabtausch.

    Binnendiskurse

    Diese Dialoge gibt es glücklicherweise immer wieder und immer mehr – wie etwa mit dem gerade zitierten Peter Staudenmaier, der einige sehr wertvolle, quellengesättigte kritische Artikel zur anthroposophischen Rassismusdebatte für Michael Eggerts Egoisten-Blog beisteuerte, sich in seiner jüngst vorgelegten, umfangreichen Dissertation (zur Anthroposophie “between Occultism and Fascism” in Deutschland und Italien bis zum Jahr 1945) aber auch (neben vielen anderen) bei Anthroposophen wie Tom Mellet, Jens Heisterkamp und Eggert bedankte – “…For various forms of support, encouragement, and critical response”.

    Die mit Abstand spannendste Frage ist aber, wie Anthroposoph_innen selber und intern mit diesem lastenden Erbe, der dieses immer wieder treffenden Kritik, den faktisch drastisch schwindenden Mitgliederzahlen einer überalternden Anthroposophischen Gesellschaft, auch dem internen Plausibilitätsverlust der bisherigen Inhaber_innen einer Deutungshoheit reagieren. Die Inhalte und Themen beispielsweise der sog. infoseiten anthroposophie geben darüber Auskunft, dass es sich keineswegs um den Versuch, auf möglichst heimtückische Weise PR zu betreiben, sondern um eine inneranthroposophische Kontroverse handelt, wie mensch sich zu Steiner als Person und “spirituelle Autorität” stellt, wie die Anthroposophie die Verankerung in einer modernen Gesellschaft schafft.

    I. Cordula Mears-Frei: Ein Weg “nach innen”

    Und damit endlich zur ersten der angekündigten Besprechungen. Dem Buch von Cordula Mears-Frei (von der ich bereits zu Anfangszeiten dieses Blogs habe feststellen dürfen, dass sie meine Vorliebe für den meditativen “Anarchisten” Jiddu Krishnamurti teilt), das Mitte Oktober im anthroposophischen info3-Verlag erschienen ist. Der Titel ersetzt eigentlich eine Inhaltsangabe:Die Alchemie der Seele – Gedanken und Übungen auf dem inneren Weg in Anknüpfung an Rudolf Steiner”. Angeknüpft wird an das anthroposophische Grundlagenwerk “Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten”, dessen Titel wiederum selbsterklärend ist.

    Cordula Mears-Frei: "Die Alchemie der Seele"

    Cordula Mears-Frei: "Die Alchemie der Seele"

    Wer den Anblick des eindeutig missglückten Covers verkraftet und die erste Seite aufgeschlagen hat, darf sich über ein Geleitwort des Esoterikforschers Gerhard Wehr freuen, der sich in der Vergangenheit, selbst kein Anthroposoph, doch in einer erstaunlich langen Reihe sehr empathischer Publikationen mit zahlreichen religiösen Strömungen und Personen aus dem jüdisch-christlichen Kulturkreis, u.a. mit Böhme, Buber, Jung oder eben auch Steiner, auseinandergesetzt hat. In seinem Geleitwort widmet Wehr sich v.a. der sich bei einem Buch, das über 100 Jahre alte Meditationsanweisungen nachvollzieht, zwangsläufig stellenden “Guru-Frage”.

    “Zum einen kann es sich nicht darum handeln, auf die Worte des Meisters zu schwören oder sich von einem bestimmten Geisteslehrer abhängig zu machen. Es kann nicht darum gehen, als habe allein dieser oder jener den einzig gangbaren Weg nach innen gezeigt, dem man unbesehen folgen dürfe.” (Wehr: Geleitwort, S. 10)

    Darin ist gleich noch ein Stichwort angesprochen – der Weg “nach innen”. Cordula Mears-Frei interpretiert Steiners Konzepte zu Meditation und “höherer Wahrnehmung” nicht – wie das Anthroposoph_innen leider oft und gerne tun – als die Aneignung und Beeinflussung feinstofflicher Welten und “Wesenheiten”. Statt “höhere Kräfte” (und damit  unterschwellig letztlich “okkulten” Besitz und Macht) zu versprechen, beschreibt sie einen “Weg nach innen”, “Von der Fülle der Welt zur Stille im Geist” (wie eine Kapitelüberschrift heißt), unter Wahrung von “Geduld und Liebe zum Alltäglichen” (S. 54).

    Basis für diese Interpretation bilden zwei hinzugezogene nichtanthroposophische Ansätze: Die im Grunde, aber auf überraschende Weise agnostische, auf “die Wahrheit” als “pfadloses Land”, “Unendliches im Endlichen” hinweisende, Weltsicht Jiddu Krishnamurtis (v.a. S. 111-133) und die “Psychologie der Selbste” von Hal und Sidra Stone (v.a. S. 92-110), die im Verlauf des Buches immer wieder einfließen und in drei Anhängen ausführlicher vorgestellt werden. Krishnamurti wird hinreichend bekannt sein. Der psychologisch-psychotherapeutische Ansatz der Stones ist recht jung und entstand vor dem Hintergrund der Jungianischen Psychologie, deren Methode der “aktiven Imagination” “wissenschaftliches Experiment, religiöse Andacht, Therapeutikum und ästhetisch-reativer Akt in einem” war, wie Karl Baier in seiner Habilitationsschrift “Meditation und Moderne” dargestellt hat (Königshausen & Neumann, Würzburg 2009, S. 625f. Die “analytische Psychologie” hat seit ihren Anfangstagen als “Nährboden neuer Übungsweisen” meditativer Praxis gedient, “wobei sie mit ihren Wurzeln im Okkultismus nicht einfach eine schlecht getarnte Religion mit therapeutischen Zügen darstellt, wie einige Kritiker das behaupten.”, ebd.).

    Die Psychologie der Selbste  nun widmet sich dem Vorhandensein verschiedener “Teilselbste” in der menschlichen Psyche. Dass der Mensch in verschiedenen Zusammenhängen ganz automatisch “Rollen” spielt bzw sich in verschiedenen Umfeldern verschieden inszeniert, um zu gefallen bzw als kompetent zu erscheinen und anerkannt zu werden, ist eine alte, nichtsdestominder wichtige psychologische Entdeckung. “Wir alle spielen Theater”, nannte das der Soziologe Erwing Goffman in seinem gleichnamigen Buch (Piper Verlag, München 1973, siehe v.a. S. 19-34, 65-71). Die verschiedenen Rollen werden in der “Psychologie der Selbste” “Teilselbste” genannt, in die mensch nicht nur situativ einsteigt, sondern die v.a. aus Verletzungsängsten in der Psyche selbst entstehen und diese prägen – Alchemie der Seele eben. Sie zu integrieren ist dann (logischerweise) Aufgabe der Therapie. Vor diesem Hintergrund liest sich der Steinersche “Schulungsweg” auf ganze andere, zumindest für mich deutlich klärende und erhellende Art. Dem werden Meditationsübungen, fast ausführlicher als der Text selbst, beigesellt, die jedes Kapitel beenden.

    Nicht devachanische Widersacherdämonen, luziferische Gespenster und ahrimanische Teufelchen hindern diesen Weg, sondern höchstens die “Schwierigkeit eines drängenden Willens, der ‘etwas Geistiges schauen’ möchte”, “die Problematik einzelner Teilselbste” oder “die Tendenz des Phantasierens”.

    “Dies ist gemeinhin die größte Schwierigkeit in der Loslösung von der Vorgabe eines äußeren Lehrers oder seiner Lehre hin zu einer echten, eigenen Erkenntnis. Wir suchen aber eine Wahrheit in unserer eigenen Seele, die weder der Willkür noch subjektiver Phantasie unterworfen ist. … den reinen, unbeschränkten Geist … Dazu muss ich meine eigenen Empfindungen und Gefühle als solche erkannt und aus meinem Innenraum geläutert haben. Nicht sie zu überwinden ist dabei das Ziel, sondern mich in meinem eigenen Verhältnis zu mir selbst wiederzuerkennen.” (S. 62f. – Hervorhebungen AM)

    Ebenso konsequent wie die Verankerung im reinen Gewahrsein, “absoluter Stille und Formlosigkeit” fordert Mears-Frei auch eine ungebrochene Bejahung von Um- und Mitwelt, fortwährende Pflege von Mitgefühl (S. 52, 89f.) und warnt vor der Tendenz zur “Kälte”, die diese “innerlich distanzierten Introspektion mit sich bringen kann”, wenn nicht auch ein “willentliches Interesse an der Welt” bewahrt und intensiviert wird (S. 53).

    Ich will mich hier ungern zu meinen religiösen Ansichten äußern (die Darlegungen auf diesem Blog sollten möglichst verallgemeinerbar und nachvollziehbar bleiben), aber ich habe diese Meditationen,  obwohl oder weil ich mit Steiner diesbezüglich herzlich wenig anfangen kann, als sehr klar und tief erlebt. Dass Esoterik bzw. jede Art spiritueller Praxis in erster Linie Religion (Freuds “ozeanisches Gefühl” und Schleiermachers “Sinn und Geschmack fürs Unendliche”) ist, setze ich voraus. Ebenso aber, dass es meditative wie Gebetserfahrungen von Entgrenzung, Weite und unglaublicher Intensität als Erfahrungen gibt, die genuin keineswegs pathologisch (ebensowenig Reisen in außerkörperliche “Welten”, sondern auch neurologisch nachweisbare, innerkörperliche, “nichtduale” Zustände) sind (vgl. zur durchgehenden historischen Kontinuität und teilweise autonomer Neuentdeckung meditativer Praktiken z.B. im Mesmerismus auf der Suche nach Hypnose  im Autogenen Training Baier: Meditation und Moderne, a.a.O).

    Auch, wer mit Meditation nichts anfangen kann, muss die Klarheit und v.a. die vermittelnde Haltung zwischen unterschiedlichen Weltanschauungsrichtungen und -ausrichtungen, die hier integriert werden, ferner mit dem geglückten Anspruch, ein Werk Steiners quasi “neu” zu schreiben, als ungewöhnliches Phänomen innerhalb der “anthroposophischen Szene” würdigen können. Hier wird eine undogmatische Anthroposophieinterpretation zu einer Art Moderation und Plattform für verschiedene zeitgenössische Ansätze. Schon angesichts der wenigen Aufmerksamkeit, die eine tatsächliche meditative Praxis in der Anthroposophie nach Steiners Tod (welche “in der Regel darin” “besteht … anhand von Steiner-Zitaten abzuleiten, was der große Meister beispielsweise zu Techno-Musik oder Computern gemeint habe könnte. Das Ergebnis ist ein hoher Ausstoß an bedrucktem Papier…”, Peter Bierl: Wurzelrassen, Erzengel und Volksgeister, Konkret Literatur Verlag, Hamburg 1999, S. 13) erfahren hat, ist das Buch zumindest ein interessantes Novum.

    Spannend wäre es zusätzlich (vielleicht aber auch nur für meine spezifischen Fragestellungen) gewesen, die psychologischen Muster zu erhellen, die einen “Teilselbste” noch weiter abspalten und zu autonomen “Wesenheiten” verselbstständigen lassen. Aber das wäre ein psychopathologischer Ansatz und außerhalb des Radars, den ein Buch mit meditativen Übungen einschlagen will und muss.

    (Auch) Daran zeigt sich: Es ist eigentlich verfehlt, ein Meditationsbuch “politisch” zu deuten oder vereinnahmen bzw. journalistisch verarbeiten zu wollen. Das eingestanden, tue ich es in diesem Kontext trotzdem, und zwar aus zwei Gründen:

    1. Weil das Buch selbst schon vor seinem Erscheinen so “politisch” relevant wurde. Es war zunächst einem anderen anthroposophischen Verlag angeboten worden, der sich allerdings über die Frage, ob ein_e heutige_e anthroposophische_r Autor_in tatsächlich “auf Augenhöhe” mit Steiner eines von dessen Meditationsbüchern völlig umschreiben und aus anderer Perspektive neu erschließen dürfe, intern zerstritt, so dass die Publikation unmöglich wurde. Der diesbezüglich offenere info3-Verlag sprang schließlich ein (mündlicher Hinweis von Cordula am 06.07.2010). Wo liegt das Problem? Im vermeintlichen “Kratzen” am Heiligenschein der Autorität? Darin, der Autorität andere Ansätze gleichberechtigt an die Seite zu stellen? Oder vielmehr darin, dass hier jemand einen eigenen Zugang zu dem “eigentlich” für besagte Autorität reservierten “Geist” gefunden hat? Angst davor? Letztlich ein Eingeständnis des Ausbleibens eigener relevanter spiritueller Erfahrungen (vgl. Janos Darvas: Spirituelle Praxis als Einigungsprozess, in: Ralf Sonnenberg: Anthroposophie und Judentum, S. 142)?
    2. weil es meiner Meinung nach zeigt, dass und wie anthroposophische Inhalte vor zeitgenössischen Hintergründen aufgebrochen, durchleuchtet und transzendiert werden können, den Autismus abwerfen, ohne die Kraft zu verlieren. Isoliert können sie das nicht.  Dass es nichtsdestominder möglich ist, zeigt “Die Alchemie der Seele”. Ich muss allerdings auch, wie so oft, betonen, dass ich eine liberale spirituelle Re-Interpretation bei einem Geist wie Steiner, der abstruse und deutlich problematische Theoreme oft genug expliziert hat, nur bei vorhergehender gründlicher Auseinandersetzung und Distanzierung als unproblematisch bewerten kann (Dazu siehe den letzten Abschnitt des Artikels).

    II. Taja Gut im Sebstgespräch

    Und mit dem Stichwort “Auseinandersetzung” sind wir im Kern des nächsten zu besprechenden Buches angelangt. Und zwar dem von Taja Gut: “Wie hast du‘s mit der Anthroposophie? – Eine Selbstbefragung” (Pforte Verlag, Dornach 2010), der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar übersandte. Der Autor, Jahrgang 1949, der diverse Artikel und Bücher, u.a. zu Steiner und dem zeitweise anthroposophisch engagierten russischen Symbolisten Andrej Belyj geschrieben hat, ist seit 1999 an der Erstellung der Steiner-Gesamtausgabe (“GA”) beteiligt sowie seit 2003 Lektor des Dornacher Rudolf Steiner- und Pforte-Verlags. Ein wahrer “Insider” also, der in seinem als eine Art Selbstgespräch zwischen einer eher konservativen und einer kritischen “Stimme” verfassten Buch trotzdem (oder erst recht?) mit deutlichen Worten formuliert, was da teilweise so alles schiefläuft.

    Taja Gut: Wie hast du's mit der Anthroposophie? (Cover)

    Taja Gut: Wie hast du's mit der Anthroposophie?

    In sieben Kapitel werden Klischees, und solche, die es werden sollten, sowie die aktuellen und/oder immerwährenden Diskussionen um die Anthroposophie abgehandelt. Ringen nicht nur mit dem Habitus der Anthroposoph_innenschar, sondern auch mit Steiner himself, dessen philosophisches Frühwerk Gut in der folgenden Passage zitiert:

    “‘Es ist allein des Menschen würdig, dass er selbst die Wahrheit suche, dass ihn weder Erfahrung noch Offenbarung leite’ – Wie stellt sich sein [Steiners - AM] späteres Wirken in das Licht dieser Einsicht? Die erdrückende Masse seines Vortragswerks ist doch, man mag es drehen und wenden, wie man will, reine Offenbarung.

    Er verwirft hier die Offenbarung ja nicht. Sonst müsste er auch die Erfahrung zurückweisen, was widersinnig wäre. Im Übrigen bekniet er seine Zuhörer fortwährend, nichts auf Glauben hinzunehmen.

    Ein Lieblingsargument von Gläubigen , mit dem sie den Vorwurf ihrer Gläubigkeit widerlegt zu haben glauben. Das kritische Verhalten erschöpft sich im andächtigen Deuten auf den Appell, nichts unkritisch hinzunehmen. … Überprüfen ist gut! Eine seiner penetranten Redewendungen lautet doch: ‘Nur wer die Dinge wirklich versteht, der kann…’ oder: ‘wer Einsicht in die Dinge hat, der weiß…’ (…)

    Das ärgert dich?

    Ich finde es beleidigend. Für ihn und für mich. Die Rhetorik jedes dahergelaufenen Wanderpredigers, der nicht auf die Evidenz dessen vertraut, was er zu sagen hat. Es … entzieht jedem kritischen Denken, das er in seiner ersten Wirkensphase als philosophischer Publizist wie kaum ein anderer gefördert hat, die Grundlage.” (ebd., S. 22f.)

    “Dieser unsägliche Hang zum absoluten! Egal ob Feldweg oder Autobahn, er fährt unbeirrbar mit Bleifuß, auch da, wo er sich selber als Geisterfahrer entgegenkommt.” (S. 77)

    Gut versucht sich nichtsdestominder, teils hadernd, teils sehr sicher an einer Einschätzung und Erschließung des Werts und der Integrität von Steiners Lehre. Er beschreibt auch sehr intensiv, wie er zur Anthroposophie kam. Ein Bild des “Propheten der Moderne” (Miriam Gebhard) hat ihn berührt und bald darauf kaufte er sich und las Steiners Buch “Das Christentum als mystische Tatsache” (das mit der Bejahung der Mystik und dem Verzicht auf theosophische Termini einen interessanten Übergang zwischen Steiners anarchistischer und theosophischer Lebensphase darstellt) und fühlte sein vorher gepflegtes Christentumsverständnis getroffen. Aber welches Bild bleibt von Steiner in Guts “Selbstbefragung”? Ein vielschichtiges: Steiners Bemühen um “das Spirituelle”, v.a. die Christologie, wird durch ein Zitat von Nicolás Gómez Dávila, “Der Wert einer Metaphysik ist abhängig von ihrer Poesie” (S. 40) eingeordnet und aus dieser Warte auch sehr ernstgenommen. Steiner erscheint als “ein Sucher, der sich permanent als Finder ausgibt“, dessen Macken und verschiedenen weltanschaulichen Umbrüche Taja Gut grundsätzlich anerkennt, deren nachträgliche Kaschierung durch Steiner selbst und seine Epigonen er scharf kritisiert.

    …es sind gar nicht die Widersprüche, die mich stören, sondern die Absolutheit seiner Behauptungen und ihre nachträgliche Beschönigung und Rechtfertigung. Warum sollte Steiner denn widerspruchsfrei sein? Warum will man ihn widerspruchsfrei haben, selbst um den Preis von Vertuschungen?

    Vertuschungen?

    Die zum Teil bis in die Editionspraxis der ‘Gesamausgabe’ hinein wirkten. Harmloses wie etwa das Unterschlagen von brieflichen Äußerungen über seine Säufereien in der vortheosophischen Zeit durch die Herausgeber oder das Eliminieren zärtlicher Anreden in den Briefen an Marie von Sivers (‘Mein Liebling!’, ‘Mein liebes Mausichen’) aber auch verfänglicher Satzteile … in der ersten Ausgabe von 1967. … Auf keinen Fall zulässig aber ist das Eliminieren unliebsamer Stellen wie Steiners früherer Lobpreisung auf Annie Besant als religiöses Genie in einem Vortrag über ‘Monismus und Theosophie’ im Giordano-Bruno-Bund am 8. Oktober 1902: Der ganze betreffende Absatz fehlt in der GA.  … man fragt sich natürlich, ob da sonst noch Dinge unterschlagen sind.” (S. 45-48)

    Eindrucksvoll demonstriert und demontiert Taja Gut das erwähnte Buch “Das Christentum als mystische Tatsache”, indem er verschiedene Auflagen vergleicht und die doch massiven Meinungsveränderungen Steiners mit Zitatvergleichen dokumentiert (S.77-84). Interessant ist gerade für eine Betrachtung “von außen” der Versuch, eine Beziehung zu Steiners Lehre zu gewinnen:

    “…man soll Steiner nicht zu etwas stilisieren, was er nicht war, ein guter Stilist beispielsweise. … Er war kein Philologe. Kaum ein Zitat, das er wiedergibt, ist exakt. Versteh mich bitte nicht falsch! Ich meine nicht, dass das besonders wichtig ist.

    Dass er eine spirituelle sprachliche Gestaltung aber nicht nur behauptete, sondern auch erstrebte, verneinst du aber nicht?

    Nein. Und zweifellos ist es ihm in vielem auch gelungen. Ihm ging es stets ums Ganze, nicht als Zustand, vielmehr als Bewegung; er wollte etwas in Gang setzen. Darauf muss man achten und darf ihn nicht in jeder Einzelheit beim Wort nehmen. Auch nicht in seinen notorischen Übertreibungen. Steiner ist sowas wie ein progressives Gesamtkunstwerk.

    Und die ‘Geisteswissenschaft’?

    Der imposante Begriff kaschiert, dass sie nur aus ihm besteht. (…)” (S. 105)

    Das “progressive Gesamtkunstwerk” gleicht bis in die Formulierung Äußerungen aus Tageszeitungen zur Wolfsburger Steiner-Ausstellung, in denen nichtanthroposophische Journalist_innen versuchten, sich Steiner anzunähern (etwa so: “Ihn selbst jedoch haben seine Texte über den Augenblick hinaus nicht interessiert; Mitschriften mochte er nicht einmal durchsehen … Es handelte sich eher um so etwas wie Stand-up-Okkultismus, einen ultraspätromantischen Poetry Slam” – Jungen: Ordnungssinn ist abzulehnen, FAZ 18.05.2010). Während Anthroposophiegegner_innen diese Neuinszenierung Steiners in “den Medien” als perfide anthroposophische Missionierungsstrategie werteten, zeigt sich m.E. nach u.a. bei der Lektüre von Taja Guts Buch das Gegenteil: Anthroposoph_innen versuchen, selbst ein neues, solchermaßen undogmatisches Verhältnis zu Steiner gewinnen, ihn sozusagen als geistige “Open Source” zu erschließen. Das ist – wie gesagt –  nur und ausschließlich dann legitim, wenn dem eine gründliche und distanzierte Auseinandersetzung mit den manifesten und nicht gerade spärlichen Problematiken in Steiners Schriften vorangeht.

    Taja Gut versucht sich aber auch an einer solchen Auseinandersetzung mit den Problemen, v.a. bezüglich Steiners Offenbarungs- und Erwähltheitsanspruch, seine Leugnung von Widersprüchen, vieler obskurer Details seiner Weltanschauung, auch die Diskussion um Steiners Rassentheorie wird nicht ausgespart (S. 117-127), wenngleich ich, das muss ebenfalls gesagt werden, (nicht nur) hier wieder einiges zu kritisieren hätte (der Bezug der Rassismen zur anthroposophischen Entwicklungslehre wird zwar erwähnt, aber nicht konsequent thematisiert). Der Weisheit letzter Schluss sind die von Taja Gut diskutierten Thesen also nicht, was er aber auch gar nicht behauptet: Es geht um die Offenheit, den Wunsch “Anstöße [zu] geben zu weiterführenden Dialogen, zu vertiefter Diskussion und einer beherzten und zugleich wissenschaftlich nüchternen Auseinandersetzung mit den offenen Fragen.” (S. 10). Der Wert des Buches liegt darin, dass die Probleme mit unumwunden zur Sprache gebracht und erklärt, aber auch mit einem (für die Anthroposophie wohl lebensrettenden) Humor behandelt werden. In meiner heimlichen Hoffnung, dieser Umganston würde sich in der Anthroposophischen Gesellschaft etablieren (das Buch ist immerhin im hauseigenen Pforte-Verlag erschienen), wurde ich allerdings schon im Vorfeld enttäuscht – und zwar von Taja Gut selbst:

    “Dass ich das Buch als ehemaliger Mitarbeiter des Rudolf Steiner Archivs und seit 2003 in Teilzeitarbeit im Steiner und Pforte Verlag Tätiger schrieb und da herausbrachte, lässt nicht nur den von Ihnen trefflich aufs Korn genommene[n] sogenannte[n] “Europäer” schäumen… Es ist lächerlich und ekelerregend, wie dumm und selbstgerecht da vom Leder gezogen und mein Befund dabei ironischerweise durch schlagende Beispiele erhärtet wird. Erhielte ich nicht auch einige rührende, zustimmende Briefe von erstaunlicherweise oft älteren Mitgliedern der anthroposophischen Gesellschaft, sähe ich für diese schwarz. … Die Fragen … glaubte ich, seien nicht bloß meine eigenen. Da habe ich mich offenbar getäuscht. Das Buch verkauft sich kaum. Eine Diskussion, und eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den darin aufgeworfenen Fragen, wie ich sie mir erhoffte, hat sich nicht ergeben. Für die einen ist die Thematik wohl zu selbstverständlich, als dass sie noch darüber lesen mögen, für andere genügt der Umstand, dass ich mich überhaupt erdreiste, Steiner selber frag-würdig zu finden.” (Mail von Taja Gut am 13.10.2010; Erlaubnis, aus dieser Mail zu zitieren, erteilt am 03.11.2010 – Hervorhebungen AM)

    Die Resignation beim Autor selbst ist für die Anthroposophie selbst desillusionierend – und erklärbar. Denn: Das Buch wurde im anthroposophischen Umfeld natürlich zur Kenntnis genommen. Reaktionen konnten nicht ausbleiben.

    Lorenzo Ravagli - Autorenbild bei "Urachaus"

    "Erziehungskunst"-Redakteur Lorenzo Ravagli: vermutet bei Taja Gut schizoide Züge.

    Grabenkämpfe

    Zunächst die positiven Reaktionen: Jens Heisterkamp schrieb unter dem Titel “Zwei Seelen für die Anthroposophie” eine durchweg zustimmende Rezension, die allerdings auf der info3-Webseite bereits wieder verschwunden ist [Anmerkung am 15.11.10: natürlich sollte das keine "Verschwörungstheorie" sein, sondern lediglich eine Feststellung. Mittlerweile ist der Artikel auch wieder da]:

    “Kritisch, dialogisch und dabei noch unterhaltsam geht ein überzeugter Anthroposoph mit Rudolf Steiner und sich selbst ins Gericht. Das neue Buch von Taja Gut ist ein wichtiges Signal an die Szene, dass sich kritische Eigenständigkeit gegenüber Steiner und Leidenschaft für die Anthroposophie nicht ausschließen müssen. „Die Anthroposophie der Gegenwart leidet an einem ungesunden Steiner-Glauben“ – ein harter Satz. Und nur einer unter vielen ähnlichen aus einem neuen Buch zum Thema Anthroposophie. Der Autor: Eine neue Kritiker-Stimme, wieder mal einer, der sich „nicht richtig mit Steiner auseinandergesetzt“ hat, ein „Gegner“ gar oder ein „Verwässerer“ der Anthroposophie? All das lässt sich vom Autor des neuen Buches ‘Wie hast du’s mit der Anthroposophie?’ schwerlich sagen. Denn Taja Gut zählt seit Jahrzehnten zu den profunden Kennern von Steiners Werk…” (ganzer Artikel zitiert hier)

    In der Zeitschrift “Die Drei” las sich eine Besprechung von Andreas Laudert ähnlich, wenn auch mit mehr Reflexionen zu Stil und Aufmachung des Büchleins. “Geniale Charakterisierungen und (An-)Sätze” liefere das Buch, Stoff für weitere Publikationen und gut angesetzte Kritiken an der anthroposophischen Anhängerschar “unter der Käseglocke ihrer Szene” (Laudert: Freies Geleit für Rudolf Steiner!, Die Drei 5/2010, S. 95-61). Gut habe “gut provoziert”, fand auch Michael Mentzel in seinen Themen der Zeit.

    Anerkennend, aber deutlich unzufrieden mit Stil und Art der Darstellung äußerte sich dagegen im anthroposophischen Zentralorgan “Das Goetheanum” Sebastian Jüngel:

    “Taja Gut diagnostiziert ambivalente Themen des persönlichen Verhältnisses zu Rudolf Steiner, die wohl viele durchgemacht haben, darunter Theosophische Gesellschaft, Christus, Wissenschaftlichkeit, Rassismus und Weihnachtstagung. Dabei formuliert Gut immer wieder dicht an der Grenze zum Vorwurf: Steiner beherrsche die Mimikry als Anpassung an das jeweilige Milieu, habe die Theosophie als Maske benutzt. Auf dem Weg der Dankbarkeit und der Enttäuschung wird aus Guts feinsinniger spitzer Feder ein Hammer.” (Jüngel: Leben mit Widersprüchen)

    Bemühte Auseinandersetzung ohne Erkenntnisgewinn oder Wissenszuwachs oder auch einfach schlecht gelungene Parodie scheint mir dagegen die zu erwartende Reaktion des anthroposophischen Publizisten Lorenzo Ravagli zu sein. Jedenfalls vermag der, sonst immer sehr phantasievoll und keineswegs dumm, in Guts dialogischer Schreibweise kaum mehr als ein “gespaltenes Selbst” zu erkennen. Immerhin gelangt er messerscharf zu dem Schluss, dass Gut sein Buch “wirklich Ernst” meint:

    “Das alles scheint keine Scharade zu sein, sondern Taja Gut – oder sein fiktives gespaltenes Selbst – meint es wirklich Ernst, – glaube ich zumindest. … Womöglich hat dieses ganze Gerede, das an Fernseh-Talkshows erinnert, etwas mit jener ‘Krise’ ‘der anthroposophischen Bewegung’ zu tun, von der in der Vorbemerkung die Rede ist. Oder vielleicht ist diese Selbstbefragung auch eine Persiflage auf das anthroposophische Gerede, das ein Symptom dieser Krise ist. Oder sie ist selbst ein Symptom jener Krise, von der man sich allerdings auch fragt, ob es sie wirklich gibt, wird doch der (fiktive?) Autor nicht müde, von den Erfolgen ebendieser anthroposophischen Bewegung zu sprechen. Das Selbst Taja Guts wird es vermutlich wissen …” (Ravagli: Ein Vexierspiel)

    Ich würde diesem Selbstzeugnis gern glauben, dass Ravagli Menschen, die Kritisches zur Anthroposophie zu sagen haben, schlicht nicht versteht. Da gibt es keine gemeinsame Erfahrungsgrundlage, über die gesprochen werden könnte. Wäre das der Fall, dann wären auch seine meist inhaltlich vernachlässigbaren und in der Polemik für mich durchweg unerträglichen publizistischen Angriffe auf Anthroposophiekritiker_innen endlich erklärt. Die Wahrheit ist aber vermutlich viel unspektakulärer: Ein Nicht-Wahrhaben-Wollen dessen, was Taja Gut berechtigterweise bemängelt – das Eingehen auf Inhalte wird daher sorgfältig vermieden, und da, wie Jens Heisterkamp schon festgestellt hat (s.o.), auch die üblichen Argumente gegen “die Kritiker” nicht ziehen, muss eine psychologisierende Ablehnung ohne Eingehen auf die Inhalte her, das wäre jedenfalls meine Einschätzung. Anders sieht das freilich Rüdiger Blankertz, Betreiber der Seite menschenkunde.com, der auf Ravaglis Seite Anthroweb noch eigene Anmerkungen zu Taja Gut veröffentlichte. Aus Ravaglis Vermutung eines “gespaltenen Selbst” wird in Blankertz’ Text eine tatsächliche “Nervenkrankheit”.

    Zum Kampf gegen Gut als “Inneren Gegner” blies selbstverständlich auch die orthodoxanthroposophische Zeitschrift Der Europäer, die allen Ernstes titelte: Gut versus Steiner. Chefredakteur Thomas Meyer echauffierte sich da über eine Detailaussage zur Reinkarnation, die ihn schon bei dem Anthroposophen Christoph Lindenberg störte, der sich als Erster daran wagte, widersprüchliche Haltungen Steiners in verschiedenen Schaffensphasen festzustellen (Hat Rudolf Steiner den Reinkarnationsgedanken je verworfen?, Der Europäer, Juli/August 2010, S. 8-10), Europäer-Redakteur Marcel Frei reihte auf den zwei folgenden Seiten nach einleitenden Sätzen ein paar zusammenhanglose Zitate aus Taja Guts Buch aneinander – um sich ironischerweise anschließend zu beschweren:

    “Zitate aus dem Zusammenhang zu reißen und aneinander zu reihen, so wird durch das ganze Buch verfahren.” (Frei: “…außer der maßlos mystifizierten Philosophie der Freiheit”, ebd., S. 11)

    Das war freilich nicht alles. Die Baseler “Euopäer” nahmen das Buch als Symptom und gingen in sich: Warum, fragten sie sich, veröffentlichte ausgerechnet der der Rudolf Steiner-Nachlassverwaltung verpflichtete Pforte-Verlag ein Buch, das in ihren Augen nur eine offene Verunglimpfung, “purste Frivolität” (Marcel Frei) sein konnte? Schnell war ebendas auch als “Offener Brief” in der Oktober-Ausgabe zu lesen. Die eurṓpē-sophischen Verfasser hatten allerdings ursprünglich “nur” einen Brief an die Nachlassverwaltung und die Zeitung “Das Goetheanum” geschrieben, waren ihnen doch merkwürdige “Parallelen” aufgefallen:

    “In der Basler Zeitung vom 24.11.2007 berichtete der Präsident der Rudolf Steiner Nachlassverwaltung wie des Rudolf Steiner Verlags, Cornelius Bohlen, über die GA 32, einen Band mit gesammelten Aufätzen Steiners zur Literatur, in dem sich angeblich antisemitische Stellen finden sollen: ‘Die Auslieferung dieses Buches wurde von uns gestoppt.’ Bis heute sind also diese Texte von Steiner nicht mehr lieferbar (nur in der elektronischen Ausgabe der GA zu finden), vernichtet oder entsorgt [!], während dagegen eine im selben Verlagszusammenhang erscheinende Gegner-Schrift [d.h. das Buch von Taja Gut - AM] nicht nur eifrig beworben wird, sondern trotz mancherlei Protesten weiterhin lieferbar ist. Die bei uns eingegangenen Reaktionen gehen von ‘geistigem Verrat’ über ‘Skandal’ bis zur ‘Katastrophe’ etc.” (Frei: Rudolf Steiner am Dornacher Pranger, Der Europäer, September 2010, S. 9)

    Dass die kommentierte Neuauflage des gerichtlich unter Kommentarzwang gestellten Bandes der Steiner-Gesamtausgabe (“GA”) keineswegs aus Boshaftigkeit auf sich warten lässt, oder, weil Cornelius Bohlen Lust hatte, irgendwas zu “vernichten” und zu “entsorgen”, sondern, weil die Nachlassverwaltung doch weit weniger Geld hat als vermutet, auch für Neuauflagen, übersehen hysterische Steinerverteidiger_innen (und hysterische Steinergegner_innen) freilich nach Kräften.

    Aber zurück zum Thema: Auf diese Anschuldigungen und Spekulationen sowie den an sie geschickten Beschwerdebrief hin bewiesen “Das Goetheanum” und Sebastian Jüngel, dessen Rezension zu Guts Buch im “Europäer” als “Tiefstpunkt an Wahrhaftigkeit und Verantwortung” bezeichnet wurde (ebd), immerhin die Souveränität, nicht zu antworten.

    Die Nachlassverwaltung dagegen reagierte: Auf ihrer Seite findet sich jetzt neben zwei “Stellungnahmen zum Vorwurf angeblicher rassistischer Äußerungen im Werk R. Steiners” und einer ebensolchen zu dem von AnthroposophInnen gefürchteten Buch von Helmut Zander jetzt auch eine zu Taja Gut. Ein Platz, den außer Zander bisher auch noch kein_e Kritiker_in der Anthroposophie erobert hat. Autor der “Stellungnahme” ist Walter Kugler, Steiner-Archivar und Kollege Guts, der sich allerdings nicht sonderlich kollegial äußerte, sowie er selbst offenbar Guts  Buch unkollegial fand:

    Eine kritische Beleuchtung der Editionspraxis – auch im Fall der Rudolf Steiner Gesamtausgabe – ist ohne Zweifel wichtig und notwendig. Nur sollte dies auf gleicher Augenhöhe geschehen, das heisst mit der nötigen wissenschaftlichen Umsicht und Verantwortlichkeit. Davon ist aber in den Ausführungen von Herrn Gut nichts zu spüren. Da ist die Rede von ‘Vertuschung’, vom ‘Eliminieren unliebsamer Stellen’, von ‘Unterschlagung’ und ‘Spurenverwischung’.  ’Geschichtsfälschung’ wäre wahrscheinlich ein zu harsches Wort’ (S. 49) gesteht er immerhin ein.” (Kugler: Stellungnahme)

    Eher verhaltene Zustimmung bis Kritik vom “Goetheanum” sowie heftige Angriffe durch einen Lorenzo Ravagli oder die “Europäer” waren bei einem solchen Buch zu erwarten. Kuglers Reaktion erinnert zwar an frühere Ereignisse (Stichwort: Helmut Zander, der sich im Nachwort seiner Geschichte der “Anthroposophie in Deutschland” herzlich bei der Steiner-Nachlassverwaltung und besonders Kuglers Offenheit bedankte. Letzterer zog es anschließend allerdings vor, ein Vorwort zu der Polemik “Zanders Erzählungen” von Lorenzo Ravagli zu schreiben), ist aber nichtsdestominder außerordentlich bedauerlich und bitter enttäuschend.

    Die Energie und Zeitverschwendung, die manche Anthroposoph_innen aufbringen, um noch die freundlichsten, verständnisvollsten Kritiker_innen bzw. um ein differenziertes Verständnis bemühten Anthroposoph_innen unlautere Motive und mangelhafte Arbeit anzudichten (wobei Kugler hier eigentlich deutlich zu den moderaten Kräften gehört), sagt wohl weniger über die Diffamierten als über die “Dichter” aus. Nicht selten sind gerade auch “spirituell” interessante und v.a. eigenständige Gestalten, von Valentin Tomberg bis Fritz Beckmannshagen, aus anthroposophischen Kreisen rausgeekelt oder gar rausgeworfen worden.

    “Man kann bloß froh sein, dass die [Anthroposophische] Gesellschaft so wenig wie der Vatikan über Divisionen verfügte und im Gegensatz zu diesem auch niemals über eine Inquisition.” (Taja Gut: Wie hast du’s mit der Anthroposophie, a.a.O., S. 132ff.)

    Mit dem gerade erwähnten Beckmannshagen wünsche ich AnthroposophInnen, die sich entschlossen haben, gegen diesen Wind anzukämpfen und einem differenzierten Umgang mit Steiner den Weg ebnen wollen zwei Dinge: Klugheit und Mut.

    III. Robin Schmidt und die Anfänge der Theosophie

    Ich will noch ein drittes Buch erwähnen, das ebenso begrüßenswert daherkommt wie die Publikationen von Taja Gut und Cordula Mears-Frei, aber in eine ganz andere Richtung geht: in eine historische. Der Autor, Robin Schmidt, tätig bei der Dornacher “Forschungsstelle Kulturimpuls”, teilt mit den beiden anderen die mir leider völlig fernliegende Gabe, Gedanken kurz und systematisch zusammenzufassen.

    Robin Schmidt: Rudolf Steiner und die Anfänge der Theosophie

    Robin Schmidt: Rudolf Steiner und die Anfänge der Theosophie

    Das Buch widmet sich einer Geschichte der Theosophischen Gesellschaft, ihrer Herkunft aus dem Spiritismus und legt einen besonderen Fokus auf die Formation theosophischer Bewegungen und Gruppierungen im deutschsprachigen Raum bis 1902. Eingeschaltet wird ein Blick auf Rudolf Steiners Biographie und seine frühen Kontakte mit der Theosophie, v.a. in Gestalt Friedrich Ecksteins, bevor er um 1901 dann in den Dunstkreis der Theosophischen Gesellschaft wanderte. Aus der philosophisch-idealistischen Schaffensphase Steiners liegen auch ein paar Rezensionen aus seiner Feder zu theosophischen Büchern vor, die zeigen, dass Steiner sich mit der theosophischen Esoterik, allerdings radikal kritisch, doch um einiges intensiver auseinandergesetzt hat als bisher angenommen. Vor allem aber bemüht sich Robin Schmidt das dämonisierte Bild der Theosophie, das im anthroposophischen Umfeld meist vorherrscht, durch ein sachlich-historisches zu ersetzen:

    Die “spätere konfliktreiche Trennung verschleierte bisher vielfach den positiven Einsatz in einer Tätigkeit, die nicht nur die Entfaltung seiner eigenen geistigen Forschung beinhaltete.” (Rudolf Steiner und die Anfänge der Theosophie, Rudolf Steiner Verlag, Dornach 2010, S. 190)

    Vor einem ausführlicheren Blick auf den Inhalt möchte ich allerdings noch einmal zu dem Buch des Wissenschaftshistorikers Helmut Zander, “Anthroposophie in Deutschland”, zurückkommen, das erstmalig versucht hat, den Inhalt von Steiners Weltanschauung auf das verfügbare Wissen zu dessen Lebzeiten zurückzuführen und sich damit zur Zielscheibe für anthroposophische Pamphletist_innen und zum Zitatensteinbruch für Anthroposophiegegner_innen gemacht hat. In einem Nachwort zu seinem Buch gab Zander einen Überblick über die Zeit seiner Recherchen und kam dabei auf Schmidt zu sprechen.

    “Ganz am Schluß hat sich ein intensiver Austausch mit Robin Schmidt von der ‘Forschungsstelle Kulturimpuls’ am Goetheanum ergeben, und ich kann nur bedauernd festhalten: Wäre er mir mit seinem profunden historischen Wissen und seiner undogmatischen Offenheit doch früher begegnet! Meine Deutung der Anthroposophie wäre dann in jeder Hinsicht verständnisvoller ausgefallen.” (Zander: Anthroposophie in Deutschland, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2007, S. 1718)

    Und diese “verständnisvolle” Ergänzung und durchaus auch Verbesserung zu dem, was Zanders profunde Studie über Steiners Beziehung zur Theosophie vor 1900 und die Gründung der Deutschen Sektion der Theosophical Society unter Steiners Mitwirkung zu sagen hat, stellt Robin Schmidts Buch dar. Einige bisher allgemein fälschlich angenommene Daten und Datierungen aus diesem Umfeld werden korrigiert und (meist) früher angesetzt, als bisher vermutet. Dabei werden zur Gründung der deutschen Theosophischen Gesellschaft Materialien aus dem Rudolf Steiner-Archiv verwendet und ausführlich zitiert, die bisher noch unveröffentlicht waren und u.a. sehr aussagekräftig zu Rudolf Steiners anfänglich sehr einvernehmlichem Verhältnis zu seiner späteren Erzkonkurrentin Annie Besant sein dürften. Einige dieser Daten habe ich bei einem eigenen Dornach-Besuch im September selbst überprüfen können, die sehr korrekt wiedergegeben sind.

    Es ist nebenbei erbaulich zu sehen, dass diese kongeniale Untersuchung Zanders Werk (wenn auch selbstverständlich nur in den erwähnten Themenbereichen) ergänzt, korrigiert und erweitert, was den zahlreichen anthroposophischen Autor_innen, die dezidiert gegen Zander agitierten, nicht gelingen wollte. Schmidt selbst führt Zanders Buch in zahlreichen Fußnoten als Quelle v.a. zu den theosophischen Splittergruppen im deutschsprachigen Raum auf, widmet sich der anthoposophischen Debatte um dieses Buch aber nur kurz im Vorwort näher, und zwar als dem eigentlichen Grund für die Veröffentlichung seines Buchs, das eigentlich das erste Kapitel einer “eigenständigen Geschichte der Anthroposophie” bzw. “Zander auf anthroposophisch” (Felix Hau) werden sollte, der allerdings Zanders Publikation zuvorkam. Glücklicherweise hat Schmidt sich entschlossen, dieses erste Kapitel zu einer eigenen Publikation “auszuarbeiten”. Zunächst ist Robin Schmidts Versuch, historisch-kritisches Arbeiten mit anthroposophischen Überzeugungen fruchtbar zu verbinden (was vor ihm allerdings auch Ralf Sonnenberg zum Thema “Anthroposophie und Judentum” getan hat), erwähnenswert:

    “Die Frage nach dem Wert und der Gültigkeit der Anthroposophie ist keine historische. Sie lässt sich immer nur aus dem gegenwärtigen Leben mit der Anthroposophie beantworten … Anthroposophie ist aber auch eine historische Erscheinung geworden. Ihre Entstehung ist selbstverständlich im Zusammenhang mit den vielseitigsten kulturellen Verhältnissen um die vorletzte Jahrhundertwende zu sehen. Sie ist mit ihrer Zeit entstanden…” (Schmidt: Rudolf Steiner und die Anfänge der Theosophie, a.a.O., S. 7 – Hervorhebungen AM)

    Die anthroposophische Perspektive bleibt natürlich letztlich die dominante in der Untersuchung. Steiners Selbstdeutung als “Geistesforscher” wird beibehalten (vgl. das erste Zitat in diesem Abschnitt, Schmidt, S. 190) und nicht mit alternative Deutungsmöglichkeiten abgeglichen. Aber Darstellung und Inhalt bewegen sich stets auf argumentativer und quellenbezogener Ebene, also durchaus nachvollziehbar und vertretbar für einen Blick aus der “Außenperspektive”, berufen sich nie auf die “tiefere Einsicht”, sondern bleiben auf historische Darstellungen beschränkt. Während das Buch mit einer detaillierten, auf Tage genauen Rekonstruktion von Steiners Weg in die Theosophie endet, beginnt es mit einem weit gefassten Blick auf das Entstehungsfeld des Spiritismus, seine Einwirkungen auf Psychoanalyse und Populärkultur, seine Wurzeln in dem Versuch,

    “sich unter den Bedingungen des 19. Jahrhunderts mit den alten Themen wie Körper und Geist, Leben und Tod, Endzeit und Fortschritt, Jenseits und Diesseits zu befassen.  Der Spiritismus war eine Antwort auf die Sehnsucht, die im 19. Jahrhundert sich vollständig trennenden Erfahrungswelten von Wissenschaft, Lebenswelt und Religion neu zu verbinden – und dies unter den Aspekten der Moderne selbst…” (S. 18)

    “Mit Sigmund Freud könnte man den Spiritismus dahingehend interpretieren, dass er de Kampf gegen die drei großen Kränkungen der Eigenliebe aufgenommen hatte, die dem Menschen durch die Ergebnisse seiner eigenen wissenschaftlichen Betätigung widerfuhren…” (S. 15)

    1875 entstand im spiritistischen Umfeld die Theosophical Society, die sich bald zum Ziel setzte, eine universale Bewegung zum Studium und zur Verinnerlichung einer verborgenen “Urreligion” zu begründen. An ihrer Spitze stand die berühmte Okkultistin Helena Blavatsky, die in ihrer “Geheimlehre” einen kosmologischen Entwurf synthetisierte, aus dem die Esoterikszene bis heute zehrt. An Tiefe, Verstiegenheit und befremdlichem Detailreichtum wird selbst Steiners Kosmogonie hier noch überflügelt (ich vertrete, dass Blavatsky zahlreiche Inhalte, wie das Atlantismythologem und die “Rassengeschichte”, von dem Martinisten Antoine Fabre d’Olivet und seiner “Histoire Philosophique du Genre Humain” übernahm, vgl. meinen Artikel “Jenseits der Namen”, info3 04/2010, S. 49-54. Karl Baier: Meditation und Moderne, a.a.O., hat gezeigt, dass viele theosophische Lehren aus hinduistisch überformten Annahmen der hypnotisch-magnetischen Heilmethoden des Mesmerismus entstanden).

    Nach einigen Betrugsskandalen, die dem Ruf Blavstkys und der T.S. nicht unerheblichen Schaden zufügten, begann ein allmählicher Kurswechsel. “Das neue Paradigma war: Spirituelle Erfahrungsbildung im Innenleben … fortan wurden … Meditation, innere Schulung und Ausbildung des eigenen Hellsehens zentral.” (S. 47) Aber auch hier gab es bald Uneinigkeiten, die nach dem Tod der Oberhoheit Blavatsky zu erbitterten Machtkämpfen führten. Dabei entstanden so interessante theosophische Projekte wie das kalifornische “Point Loma” unter Katherine Tingley (der einzigen Theosophin übrigens, die sich im Ersten Weltkrieg nicht zu chauvinistischen Positionierungen hinreißen ließ). Die Frage, an welcher Religion, ob Christentum, Buddhismus oder Hinduismus, die T.S. sich ausrichten solle, ließ nach und nach und bereits lange vor Steiners unter ähnlichen Umständen erfolgter Trenung von der Theosophie Teil- und Splittergesellschaften aus der theosophischen “Mutter”gesellschaft herausbrechen. Bemerkenswert ist die Objektivität, mit der Schmidt diese Vorgänge abhandelt, v.a. in Anbetracht seines anthroposophischen Hintergrundes. In den meisten Publikationen von anthroposophischen Autor_innen wird Blavatsky und die von ihr initiierte Bewegung zu einer unheimlichen, dämonischen, von “östlichen Bruderschaften” beeinflussten Seherin, der erst Rudolf Steiner die richtige Deutung gegeben habe.

    “Spieltrieb” – Rudolf Steiner und die deutsche Theosophische Gesellschaft

    Während sich die Theosophie international formierte und veränderte, sorgte in der lebhaften Vielvölkerstadt Wien ein gewisser Altersgenosse Steiners, Friedrich Eckstein, für Aufsehen.

    Friedrich Eckstein (1861-1939)

    Friedrich Eckstein (1861-1939)

    Eckstein, Theosoph, auch mit Blavatsky persönlich bekannt, wird durchgängig als “herausragende Persönlichkeit” (Helmut Zander, a.a.O.), “brillianter Universalgelehrter” (Nicholas Goodrick-Clarke. Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus (1982), Marix Verlag, Wiesbaden 2004, S. 31) beschrieben, “Der Privatsekretär des Komponisten Anton Bruckners … versammelte die führenden Denker, Schriftsteller und Gelehrten Wiens um sich” (ebd., S. 31), unterrichtete Sigmund Freud in Yoga (vgl. dessen “Unbehagen in der Kultur”) und gründete mit Marie Lang einen theosophischen Lesezirkel, der berühmt-berüchtigte Figuren des österreichischen Kunst- und Kulturlebens anzog und in dem sich in den frühen 188oern auch der mit Eckstein gleichaltrige Rudolf Steiner, zu dieser Zeit in einigen politischen und philosophischen Kreisen von liberal bis rechts aktiv, aufhielt. James Webb nennt

    “Eckstein eine graue Eminenz im Wiener Kulturleben, der fast nichts von seinem okkulten Werk publizierte, doch dessen private Vorträge einen beträchtlichen Einfluss auf all jene ausgeübt zu haben scheinen, die – wie Gustav Meyrink – ihm zuhörten.” (Webb: Das Zeitalter des Irrationalen (1979), Marix Verlag, Wiesbaden 2008, S. 41)

    So auch auf Steiner.

    “Man darf die Kontakte und den Austausch in diesem Kreis in ihrer Auswirkung für Rudolf Steiner … nicht zu gering einschätzen; er spricht von einem „freundschaftlichen und intimen Verkehr“, der für ihn biografische und spirituelle Relevanz hatte. Möglicherweise waren das für ihn überhaupt die ersten freundschaftlichen und herzlichen Beziehungen mit Gleichaltrigen, bei denen er sich heimisch und verstanden fühlen konnte. Auch wenn sich die Wege dann bald trennen sollten, kam Steiner später immer wieder auf Eckstein, Mayreder und Marie lang zurück. Es handelte sich in dieser Phase für ihn sicherlich nicht nur um eine rein philosophische Auseinandersetzung mit interessanten Querdenkern.” (Schmidt, a.a.O., S. 101 – Hervorhebung AM)

    Die Trennung der Wege kam allerdings bald und intensiv. In einem Brief an Pauline Specht, in deren Haus er ab 1884 Hauslehrer gewesen war, reflektierte Steiner am 21.03.1891 rückblickend eher kritisch-distanziert über “das mystische Element, in dem ich eine Zeitlang in Wien fast besorgniserregend geschwommen habe.” (GA 39, S. 86, vgl. Schidt, S. 102). Ein Jahr später legte er eine Rezension zu einem Buch des Theosophen Wilhelm Hübbe-Schleiden vor, in dem er dessen theosophisch-esoterische Entwicklungstheorie zerpflückte.

    “Zeus im Frack mit weißer Binde, das ist der Eindruck, den uns die indische Evolutionslehre, als moderner Darwinismus drapiert, macht. Man braucht nur zweierlei Bedingungen zu erfüllen: die Esoterik der Inder grobanschaulich zu nehmen und den Darwinismus … missverständlich über das Reich der Körperwelt auszudehnen, dann kann man ein philosophisches Ungeheuer schaffen, wie es dieses Buch ist. Die intuitive Weisheit des Orients strömt in einem tiefen Bette. … Er muss daher den Fluss in ein breites, seichtes Bett ableiten. Das ist ihm gelungen. Man kann ohne geistige Schwimmkunst bei dem Werke auskommen. …Ein höheres Leben vermag jedes niedere in sich aufzunehmen und in seiner Art wieder zu vergegenwärtigen. Darauf beruht die Möglichkeit des Verstehens der Welt durch den Menschen. Diesen Gedanken als eine in der Zeitenfolge vor sich gehende Verkörperung des Individuums in verschiedenen, immer vollkommeneren Formen vorzustellen ist bloß bildliche Darstellung. So meint es die Esoterik. Wer die Bilder für die Sache nimmt, weiß nichts von Esoterik.(Steiner: Das Dasein als Lust, Leid und Liebe - Hervorhebung AM. Ähnliche Interpretationen der Reinkarnation nehmen übrigens liberale Anthroposoph_innen heute vor, wie Michael Eggert, der dazu einmal sogar meine Wenigkeit, wenngleich ohne mich um Erlaubnis zu fragen, zitierte; vgl. Spieltrieb . Steiners Kommentar “Zeus im Frack mit weißer Binde” lässt sich natürlich auch auf viele Figuren seiner eigenen Esoterik nach 1900 übertragen)

    In den späten 1890ern, seiner anarchistischen Phase, war Steiner schließlich zu einem radikalen Atheisten geworden, in dem der goetheanische Idealismus nurmehr im Duktus, in der Sprache und den gewählten Metaphern mitschwang. Wie der starke Ausdruck “wer die Bilder für die Sache hält, weiß nichts von Esoterik” zeigt, verfügte Steiner aber schon damals über einen eigenen Esoterikbegriff, den Robin Schmidt herauszuarbeiten versucht – wenn auch die Relevanz dieses Esoterikverständnisses für Steiners Weltanschauung dieser Jahre m.E. nach überschätzt wird. Umgekehrt hat die Untersuchung dieses existenten Esoterikverständnisses in kritischen Außenbetrachtungen von Steiners Biographie bisher zu wenig Beachtung gefunden.

    Steiners Weg in die Theosophie

    “Vor diesem Hintergrund erscheint es auch nicht mehr als ein Wunder, dass Rudolf Steiner in der [Theosophischen] Gesellschaft so rasch mit einem spezifischen Profil hervortreten konnte.” (Schmidt, a.a.O., S. 121)

    Das tat Steiner 1901/2. Noch 1897 hatte er in einer Glosse im “Magazin für Literatur” behauptet, die inneren Erlebnisse der Theosoph_innen seien “nichts als Heuchelei”.

    “In dieser Situation wurde Steiner 1900 als Referent über Nietzsche in den theosophischen Zirkel von Sophie Gräfin und Cai Graf Brockdorff eingeladen, während er von Zeitgenossen [namentlich Eduard von Hartmann - AM] im Winter 1900 / 1901 als ‘führender Philosoph’ wahrgenommen wurde.” (Helmut Zander: Anthroposophie…, a.a.O., S. 124)

    Nachdem Steiners Vorträge über den jüngst verstorbenen Nietzsche einigen Anklang fanden, wurde er gebeten, diese Vortragstätigkeit fortzusetzen und über deutsche Mystiker zu sprechen. Nach und nach erwuchs hieraus sein erneutes idealistisch-esoterisches Interesse. Aber zu Beginn war das nur ein Standbein. Um die Jahrhundertwende hatte Steiner sich (was er noch bis 1905 tat) in der von Wilhelm Liebknecht bergündeten Berliner Arbeiter-Bildungsschule engagiert, er wirkte im Dichterischen Kreis “Die Kommenden” mit und bewarb sich als Redakteur für eine Wiener Wochenzeitung “Die Zeit” (Schmidt, a.a.O., S. 145).

    “Das war – wenn man den Ausdruck gebrauchen darf – die ‘alternative Szene’ der Jahre 1900-1904. … Nur unter den Theosophen fanden sich im Laufe der Zeit Menschen, die mehr als Wohlwollen und Interesse zeigten. Hier begegnete Rudolf Steiner … Marie von Sievers, die spätere Frau Marie Steiner.” (Christoph Lindenberg: Künstler, Proletarier, Theosophen – Rudolf Steiner in Berlin, in: Angelika Oldenburg (Hg.): Zeitgenossen Rudolf Steiners im Berlin der Jahrhundertwende, Verlag am Goetheanum, Dornach 1988, S. 26)

    Was in Steiner selbst zu dieser Zeit vorging, ist nicht völig rekonstruiert. Während manche eine Wandlung von Saulus zu Paulus annehmen, er selbst in autobiographischen Vorträgen im Nachhinein so manch Mytifizierendes erzählte und manche Kritiker_innen, denen nichts plausibles einzufallen vermag, spekulieren heiter, er sei eben einfach verrückt geworden. Bald wurde jedenfalls offiziell eine Landesgesellschaft der Theosophical Society gegründet und Steiner kurz darauf zum Generalsekretär.

    “Zu vermuten ist indessen, dass Steiner sich nicht selber aktiv um den Posten bemühte und keine äußeren Aktivitäten dafür entfaltete – was man ja sich ja durchaus in Form von Briefen, Gesprächen, Reisen oder Publikationen, die ihn im Kreis der Theosophen bekannt machen würden, hätte vorstellen können. – Sobald aber klar feststand, dass die Gesellschaft ihn ahben wollte, wurde er von sich aus aktiv.” (Schmidt, S. 145)

    War damit, wie Zander vermutet, “die Theosophie … ein Teil seiner Suchbewegungen nach Arbeit und Sinn” (Zander, Anthroposophie…, a.a.O., S. 550). Oder ergriff der in seiner philosophisch-akademischen Karriere und in der Künstlerszene um “Die Kommenden” gescheiterte und in der Arbeiterbewegung auf einem unsicheren Lehrerposten verbliebene Steiner hier einfach eine günstige Gelegenheit, um einen Job zu erhalten? Steiners vormalige Freunde haben dem im Nachhinein ernüchternde Kommentare gewidmet. Während sein Jugendfreund und zeitweiliger finanzieller Unterstützer Moritz Zitter ihm “die Theosophie” als Geldgeber “verzieh”, urteilte Steiners frühe Weggefährtin Rosa Mayreder, die noch an seinem philosophischen Hauptwerk “Die Philosophie der Freiheit” mitgewirkt hatte, hart:

    “Bei seinem letzten Besuch vor seinem Übertritt zur Theosophie sagte mir Steiner: ‘Ja, gnädige Frau, ich bin Zufallsanbeter geworden; das Leben hat es mich gelehrt.’ Aber wie verträgt sich die Karmalehre mit Zufallsanbetung? Ist da nicht doch ein Sprung in Steiners Weltanschauung, die er so überzeugend als eine organische Entwicklung darstellt? … Um mich von Steiners ‘Lebensgang’ zu erholen, nahm ich Goethes ‘Wahrheit und Dichtung’ wieder vor. Was für ein herrlicher Mensch redet da aus jeder Zeile!” (Rosa Mayreder, Tagebucheintrag Oktober 1936,  in: Wolfgang G. Vögele: Der andere Rudolf Steiner, Pforte Verlag, Dornach 2005, S. 51)

    Zu diesem Themenkomplex werden sicher die für 2010 erscheinenden kritischen Biographien neues beizutragen haben. Ein letztes Zitat aus dem Buch von Robin Schmidt noch. Der hat zwar in erster Linie historisch gearbeitet, ist aber scheinbar auch nicht blind für die Vorgänge und Positionen in der gegenwärtigen Anthroposophie, wie sie oben exemplarisch über Taja Gut zusammenschwappten:

    “Angesichts der gegenwärtigen Debatten in der anthroposophischen Bewegung war ich sehr versucht, die Parallelen und Kontinuitäten der historischen Vorgänge und Probleme in der Gegenwart genauer herauszuarbeiten. Doch ein mit den Fragen der Gegenwart bekannter Leser wird diese leicht selbst erkennen.” (S. 10)

    “Die Geschichte hiervon würde – auch im Hinblick auf die heutige Lage der Anthroposophie – zweifellos vielerlei interessante Einsichten bringen.” (S. 190)

    Ich fürchte, dass mein ganz erklärter Einbezug dieser Debatten, gerade der heutigen, nicht gerade Robin Schmidts Geschmack trifft. Dass das aber nur mein Erliegen gegenüber einer “Versuchung” ist, kann ich guten Gewissens bestreiten!

    Auf die Arbeit von Robin Schmidt wurde in der anthroposophischen Presse mehrfach, aber, verglichen mit Taja Guts Buch, verhalten reagiert. Eine gute Besprechung aus der Feder von Wolfgang G. Vögele, der v.a. die Stellung des Buches zu Helmut Zanders Opus magnum und dessen Kritik durch Lorenzo Ravagli (vgl. Leitmotiv Zertrümmerung) in den Blick nahm, fand sich etwa in der Zeitschrift “Die Drei” (Vögele: Zur Geschichte der Anthroposophie, DieDrei 10/2010, S. 80ff.). Wider Erwarten hat aber auch niemand anderes als der Lorenzo Ravagli mit einer begeisterten Besprechung auf Schmidts Buch reagiert, die auf seinem Anthroblog erschien und dann von der an allen Waldorfschulen offiziell verteilten Zeitschrift “Erziehungskunst – Waldorfpädagogik heute”, in deren Redaktion Ravagli arbeitet, übernommen wurde.

    IV. Blüten “philosophischer” Esoterik

    Warum “wider erwarten”? Weil sich – vor dem Hintergrund von seinen gewöhnlichen Äußerungen über Steiner und die Geschichte der Anthroposophie – Ravaglis Besprechung, gelinde gesagt, wie ihre eigene Parodie liest. Das ist ein harter Vorwurf, den ich aber für berechtigt halte und  mit Vergnügen sogleich an einigen Beispielen belege. Dass ausgerechnet Ravagli wieder mein “Sezierobjekt” sein muss, ist eher Zufall, aber an seiner Rezension lässt sich auch das “Brgüdnungsproblem” der Anthroposophie in anderswo selten auffindbarer Klarheit geradezu lehrbuchartig einfangen (siehe dazu v.a. den nächsten Abschnitt – Glaube und Wissen). Wie auch immer: In Ravaglis “Philosophische Esoterik” betitelten Rezension heißt es unter anderem (und übrigens zurecht), Robin Schmidt habe mit einem weitverbreiteten Vorurteil aufgeräumt:

    “Das Vorurteil besteht in der Annahme, Steiner habe vor 1900 weder mit ‘Theosophie’ noch mit Esoterik etwas anfangen können und kaum mehr als oberflächliche Kenntnisse beider besessen.” (Ravagli: Philosophische Esoterik)

    Das ist zunächst eine treffende Zusammenfassung. Allerdings überraschend im Vergleich mit früheren Verlautbarungen Ravaglis zu Rudolf Steiners Verhältnis zur Theosophie vor 1900, die genau gegenteilig lauten:

    “Steiner begann sich erst Ende 1902 intensiver mit den Werken der großen Autoritäten der Theosophie zu beschäftigen. … Der gerade erkorene Generalsekretär hatte … abgesehen von einem kurzen Intermezzo Ende der 1880er Jahre [tatsächlich: Anfang der 1880er Jahre - AM] in Wien, keinerlei Beziehung zu Theosophen und zur Theosophie…” (Ravagli: Unter Hammer und Hakenkreuz – Der völkisch-nationalsozialistische Kampf gegen die Anthroposophie, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2004, S. 251)

    Und nicht nur das. Ravagli hat, entgegen Schmidts auch solide untermauerten Ausführungen über Steiners Verhältnis zur Theosophie  in seinen Veröffentlichungen bis 2009 behauptet, Steiners erste esoterische Werke seien vor dem Kontakt mit entsprechenden theosophischen Schriften verfasst worden und diesen Voraus gewesen:

    “Dass Steiner im Juli 1903 Annie Besants eben erschienene Übersetzung des ‘Esoterischen Christentums’ … in der Zeitschrift ‘Lucifer’ anzeigte, besagt rein gar nichts hinsichtlich Zanders These der Abhängigkeit … Besant zeige [so Steiner - AM], wie das Christentum als Werk der Einweihung verstanden werden könne – also etwas, was Steiner bereits selbst in seinem ‘Christentum als mystische Tatsache…’ 1902 getan hatte…” (Ravagli: Zanders Erzählungen, S. 148f. – Hervorhebung im Original)

    Robin Schmidt nun drehte dieses Abhängigkeitsverhältnis um. Zu Steiners Vorträgen über “Das Christentum als mystische Tatsache” schreibt er:

    “Bemerkenswert zu diesen Vorträgen ist vielleicht, dass Steiner im September 1901 Annie Besants Buch ‘Esoterisches Christentum’ gelesen hatte. Darin unterscheidet Besant ein historisches, ein mythisches und ein mystisches Christentum. Der Titel seiner Vorträge konnte direkt dort anschließen. Ein Kalender-Eintrag [vom 15.9.1901, unveröffentlicht, Steiner Archiv, Notizbuch 34] Rudolf Steiners legt diese inhaltliche Anregung auch zeitlich nahe.” (Schmidt: Rudolf Steiner…, S. 136)

    Während Ravagli in seiner Rezension versucht, die Werke von Zander und Schmidt gegeneinander auszuspielen, hat letzterer, wie erwähnt, nicht nur drei Schriften Zanders im Quellenverzeichnis (S. 202), sondern führt zwei davon (Anthroposophie in Deutschland und Die Geschichte der Seelenwanderung in Europa) auch ausgiebig als Quelle in den Fußnoten an. Noch öfter übrigens Norbert Klatts zumindest zum Zeitpunkt ihres Erscheinenes revolutionäre Veröffentlichung “Theosophie und Anthroposophie” (Selbstverlag, Göttingen 1993). Dieses Buch hat u.a. zentrale Thesen Zanders – über Steiners Verschleierung seiner Quellen oder die Rolle von Machtkämpfen und -querelen bei der Trennung von Theosophischer und Anthroposophischer Gesellschaft – vorweggenommen und aus theosophischen Briefwechseln zwischen 1900 und 1913 belegt. Gegen diese war freilich wenig aufzubieten, so dass Ravagli das Buch nur zähneknirschend als “tendenziöse Arbeit” bezeichnen konnte, deren Autor “gegenüber Steiner voreingenommen ist” (Unter Hammer und Hakenkreuz,  a.a.O., S. 390).

    Ich will hier nicht den gleichen Fehler machen und umgekehrt Robin Schmidt und Lorenzo Ravagli gegeneinander ausspielen (so hat Schmidt sich auch auf einen mir bisher unbekannten Text Ravaglis zu “Theosophie und Anthroposophie” bezogen, S. 107), aber die Diskrepanzen scheinen mir doch irritierend und Ravaglis Zustimmung zu den ihm ganz widersprechenden Thesen auch ausgesprochen unverständlich. Wenn sich Ravagli positiv auf Schmidts Buch bezieht, hat er dann eine inhaltliche 180°-Wende vollzogen und wird sich demnächst von anstrengenden Polemiken zurückhalten? Gar konstruktive und sachtaugliche Diskussionsbeiträge liefern? Oder handelt es sich nur um ein klassisches “name dropping”? Ich befürchte leider letzteres (lasse mich aber gern positiv überraschen ;-) ), und zwar aufgrund folgender Gründe:

    Ravagli betitelte seine Rezension “Philosophische Esoterik”. Der Grund findet sich ganz unten in einer Fußnote auf S. 122 des besprochenen Buches. Dort schließt Schmidt seine Schilderung von Steiners Beschäftigung mit Esoterik vor 1900 ab und endet, in einer Fußbote, mit einer ausdrücklich gekennzeichneten Spekulation:

    “In diesem Sinne steht eine esoterische Interpretation von Steiners Auseinandersetzung mit Esoterik vor der Jahrhundertwende noch aus. … Dies jedenfalls sind Fragestellungen, die weiterer Forschung bedürfen.”

    Diese ausdrücklich gekennzeichnete Vermutung (und “dass er Vermutungen immer als solche kennzeichnet”, hat spaßigerweise Vögele, a.a.O., S. 81,  als besondere Qualität von Schmidts Büchlein beschrieben) wurde bei Ravagli nicht nur zum Titel, sondern auch zum weiteren Programm der Rezension erhoben: Es geht ihm, tatsächlich wie Steiner (zumindest nach 1900), und die hier untersuchte Rezension ist nur eine Plattform dafür, um die Aufhebung der Trennung von Religion und Wissenschaft, bzw den Versuch, den der Religion zugewiesenen Bereich des Mythischen, Heiligen, durch “esoterische Wissenschaft” “objektiv” und objektiv-allgemeingültig hinzustellen:

    “Die Kluft zwischen Glauben und Wissen besteht auch noch heute in der exoterischen Kultur und insofern ist diese Auffassung von Esoterik so aktuell wie vor hundert Jahren. … Auch die gegenwärtige Esoterikforschung hat mit genau diesem Problem zu kämpfen: ihre Methodendiskussionen zeigen, dass die Dualität von Glauben und Wissen, Wissenschaft und Offenbarung nach wie vor nicht überwunden ist. Dass es eine wissenschaftliche Esoterik bzw. eine esoterische Wissenschaft gibt, diese Einsicht beginnt sich erst allmählich durchzusetzen.” (Ravagli, a.a.O.)

    Glauben und Wissen

    Diese angebliche “Einsicht” ist in Wirklichkeit die existenzielle Täuschung, und zwar in überraschend vielfältiger Hinsicht. Zunächst verweist Ravagli im eben zitierten auf einen spannenden Prozess in den modernen Religionswissenschaften. In deren Diskursen hat sich das nicht selten inhaltlich vernachlässigbare Gefuchtel der “Anti-Sekten-Bewegung” schon durch  das Beharren auf dem “Sekten”-Begriff, der in diesem Zusammenhang meist sowohl historisch (vgl. Johann Figl: Handbuch Religionswissenschaft, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2003, S. 458ff., zur Nichtanwendbarkeit auf Theo- und Anthroposophie Zander: Anthroposophie…, a.a.O., I, S. 418-432) als auch soziologisch (vgl. Hubert Seiwert: Das “Sektenproblem”, in: ders. (Hg), Massimo Introvigne: Schluss mit den Sekten! Die Kontroversen über “Sekten” und neue religiöse Bewegungen in Europa, diagonal-Verlag, Marburg 1998, S. 9-38) schlicht unsinnig ist, erfolgreich ins “Aus” befördert.

    Die heutige religionswissenschaftliche Esoterikforschung hat ihren Gegenstand inzwischen auf bemerkenswert hohem und differenzierten Niveau erfasst: Die in Halle Neuere Geschichte lehrende Monika Neugebauer-Wölk zum Beispiel wies etwa auf die bis dato unterschätzte Rolle der frühneuzeitlichen Esoterik für Reformation und Aufklärung hin: “…die neuzeitliche Wissenschaft hatte ihren Ursprung im Zaubergarten des Hermetismus.” (Neugebauer-Wölk u.a. (Hg.): Aufklärung und Esoterik – Rezeption, Integration, Konfrontation, Niemeyerverlag, Tübingen 2008, S. 26)

    All das sollte aber keinesfalls eine Ermutigung dafür sein, die Grenzen von Mythos und Wissenschaft, von Glaube und Rationalität aufzuheben (diesen Fehlschluss zog vor Ravagli und auch noch unter Berufung auf das eben zitierte Buch etwa Johannes Kiersch: Esoterik ist gesteigerte Vernunft, in: ErziehungsKUNST – Waldorfpädagogik heute, 03/2010, S. 48f.) - egal zugunsten welcher der beiden Seiten.

    “Wenn es erst einmal dazu kommt, begehen Menschen den einen oder anderen von zwei großen Fehlern. Entweder sie reduzieren sämtliche trans-rationalen Realitäten auf prä-rationales kindisches Gebrabbel (denken Sie an Freud) oder sie verleihen prä-rationalen, kindischen Bildern und Mythen einen trans-rationalen Glorienschein (denken Sie an Jung).” (Ken Wilber: Integrale Vision – eine kurze Geschichte der Integralen Spiritualität (engl. 2007), Kösel Verlag, München 2009, S. 124)

    Die erste Form nennt der Bewusstseinsphilosoph Ken Wilber Reduktionismus, die zweite Elevationismus. Ravagli – der natürlich nur ein Beispiel für zahlreiche Religiöse aus Esoterik, Neo-Buddhismus, “liberalen” Christen usw ist – gehört zweifellos zur Gruppe der Elevationist_innen (lat. elevare – erheben), wie sich an seinem Buch “Aufstieg [!] zum Mythos” (Urachaus Verlag, Stuttgart 2009) beeindruckend plastisch zeigt.

    “..Ravagli vertritt die Ansicht, das der Mythos nicht hinter uns und unter uns liegt, sondern vor und über uns … Nicht die Rückkehr der Religionen, sondern der Aufstieg zum Mythos wird uns heilen.” (Klappentext ebd.)

    “Zwar wird die Erde, wie wir sie kennen, zu Staub werden, aber aus ihrer Asche wird, wie der Phönix aus der seinen, eine neue Erde hervorgehen…” Das menschliche Bewusstsein “wird in den Wogen dieses Lebens schwimmen, mit lebendigen Organen schauen, in lebendigen Bildern sich bewegen, so wie heute manche Meereslebewesen fluoreszierend, vom Wasser, das sie beherbergt, kaum zu unterscheiden, als Wogen des Lichts, durch die Tiefen der Ozeane schweben. Dieser Ozean wird sich in den Kosmos ausdehnen, alles wird wieder zu jenem Wasser werden, aus dem es entstanden ist, die Menschheit wird … in leuchtenden, gewichtlosen Bildern zwischen oben und unten hin und herschwingen, engelhaft unter Engeln… Die Erde ist also doch noch zu retten” (Ravagli, ebd., S. 184)

    "Aufstieg zum Mythos": Die Erde zerfällt zu Staub und wir entschweben engelhaft in den kosmischen Ozean

    Wenn die Grenzen von Glaube und Wissenschaft fallen: "Aufstieg zum Mythos" - Die Erde zerfällt zu Staub und wir entschweben engelhaft in den kosmischen Ozean

    Diese Explikationen elevatorisch-levitatorischen Schwebegefühls (Ravagli selbst würde sie bei anderen wohl “luziferisch” nennen) sind als Meditationen sicher eingängig, als reale Zukunftsvision allerdings höchstens Stoff für Roland Emmerich und als wissenschaftliches Leitmotiv nicht gerade produktiv. Statt die besagte Mythos-Logos-”Grenze” aufzuheben, um, von der bösen Ratio geheilt, zum “geistselbstischen” Mythos emporzuschweben, oder zumindest um die Vereinigung von Glauben und Wissen und ihre Verflüssigung in phosphoreszierendes Meerestierbewusstsein zu ringen, sind gerade die Pionier_innen einer realistischen bzw. sogar erklärt positiven Einordnung der Esoterik in die Religionsgeschichte keinesfalls auf eine Verschmelzung von Glaube und Wissenschaft aus:

    “Esoterische Religiosität ist ein Teil der abendländischen Kultur, nicht deren Verhängnis. Sie ist aber auch nicht die eigentliche Modernität, die geheime Ratio der Neuzeit. Beiden Wahrnehmungen, denen man häufig genug in der Literatur begegnet, setzt die Forschergruppe eine große Nüchternheit der Rezeption und Distanz zum Gegenstand entgegen – eine Selbstverständlichkeit wissenschaftlicher Arbeit, deren Notwendigkeit man in diesem Kontext nicht oft genug betonen kann.” (Neugebauer-Wölk u.a. (Hg.): Aufklärung und Esoterik – a.a.O, S. 26 – Hervorhebungen AM)

    V. Mythische Traditionen – Rationale Distanzen – Integrale Strukturen

    Die “Dualität von Glauben und Wissen”, wie von Ravagli aufgestellt, ist schon als solche eine (wenn auch bewährte und gern gebrauchte) sinnlose Dichotomie, die Konsequenz, die “Grenze” einreißen zu wollen, innerhalb dieses dichotomen Bildes zwar logisch, aber ebenfalls unsinnig. Religiöse Empfindungen und rationales Reflektieren sind schlicht unterschiedliche Bereiche, Vermögen und Ebenen.

    Eine Wissenschaft muss sich an den Kriterien von Humanismus und ethischen Grundsätzen orientieren, die auch aus den religiösen Traditionen geprägt und hervorgegangen sind.

    Aber ebenso muss jede spirituelle oder religiöse Ausrichtung der Gegenwart auch die von Neugebauer-Wölk geforderte Distanz zu den eigenen Quellen aufbringen können. Distanz schafft Raum für Reflexion. Eine kritische Distanz zum eigenen Gegenstand ist für jede Praxis, gleich ob politisch, ethisch oder spirituell, essentiell! Die Errungenschaften der Neuzeit, wissenschaftliches Wissen, empirisches Denken, vergleichendes, kritisches Prüfen und Urteilen werden sowohl von fundamentalistischen Traditionalist_innen als auch von manch krankhaft-relativistischem Auswugs des Postmodernismus, der sein pluralistisches Vorgärtlein bedroht sieht, angegriffen und verurteilt. Eine religiöse und spirituelle Ansicht der Gegenwart muss, gerade, weil und wenn sie mythisch-arationale (bei Wilber: trans-rationale) Elemente zentral stellt, diese auch kritisch-rational reflektieren können, beides integrieren:

    “Indem wir innere Distanz zu ihr gewinnen, indem wir den ‘Denkraum der Besonnenheit’ [Aby Warburg - AM] zwischen uns und dem Phänomen schaffen. … es handelt sich darum, aus der Distanzierung heraus einordnen zu können, ohne dabei umgekehrt die Tatbestände wegzurationalisieren.” (Jean Gebser: Notizen und Tagebuchaufzeichnungen 1922-1973, Eintrag 1954, in: Gebser: Gesamtausgabe, Bd VII, Novalis Verlag, Schaffhausen 1999, S. 304)

    Hier lassen sich Parallelen ziehen zu manchen Forderungen der fernöstlichen Geistigkeit:

    “Vor vielen Jahren hörte ich in Indien zum ersten Mal den Satz: ‘Triffst du Buddha, töte ihn!’ … Buddha soll dir Hebamme sein, Guru und Mentor. Um das in dir schlummernde Potential zu wecken, es zur Welt zu bringen. Aber wenn es geweckt ist, dann musst du dich verabschieden, ihn von dir weisen, ihn ‘töten’. Selbstverständlich nicht durch einen mörderischen Akt (wie auch?), sondern mit der symbolischen Geste eines definitiven Abschieds.” (Andreas Altmann: Triffst du Buddha, töte ihn – Ein Selbstversuch, Dumont Verlag, Köln 2010, S. 254; vgl. auch den eingangs zitierten Nietzsche oder Stephen Batchelor: Bekenntnisse eines ungläubigen Buddhsiten – Eine spirituelle Suche, Ludwig Verlag, München 2010)

     

    Altmann: Triffst du Buddha, töte ihn!

    Altmann: Triffst du Buddha, töte ihn!

    Der Kulturphilosoph Jean Gebser hat die große Möglichkeit der Menschheit in der Moderne, die unvollkommene Religion und die unvollendete Aufklärung nebeneinanderzustellen, ohne eine der beiden reduktionistisch oder elevationistisch zu verzerren, ein integrales Bewusstsein genannt und metaphorisch als ein “transparentes” Bewusstsein beschrieben – in der Transparenz können verschiedene Bereiche zugleich sichtbar sein, ohne sich aufzuheben oder zu verdecken. Auch Gebser ist ganz klar vielfach und in zentralen Punkten zu kritisieren. Etwa darin, dass Elemente seiner integralen Kulturtheorie naiv-kitschige Pauschalisierungen, wie in der romantisierten Darstellung des “archaischen Bewusstseins” enthalten (die wiederum Ken Wilber aufgezeigt und Georg Feuerstein diskutiert hat). Seine Skizzierung einer integralen Haltung im gesellschaftlichen Diskurs der Moderne scheint mir aber ein gelungener Entwurf zu sein.

    Für ein solchermaßen “transparentes” kulturelles Miteinander ohne die bekannten Konflikte und Anfeindungen zwischen weltanschaulichen Strömungen jeglicher Provenienz ist zweifelsohne Toleranz vonnöten, sowie die Zurücknahme des eigenen Anspruchs auf Deutungshoheit unter Berücksichtigung aller Perspektiven als puzzleartigen Teilwahrheiten der Wirklichkeit als Ganzer. Was so als Gemeinplatz der Postmoderne angesehen werden kann, verstand Gebser nicht nur als relativistisch-pluralistisches Ideal, sondern als eine Art ontologisch angelegtes oder latent vorhandenes menschliches Vermögen, eine post-anthropozentrische, aber nichtsdestominder humanistische Haltung und Betrachtungsweise, die “mit dem Aufkommen der ‘Linken’” im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts allmählich politisch, aber schließlich auch auf mannigfaltige Art in physikalischen, biologischen, soziologischen, juristischen und künstlerischen Erkenntnissen und Theoriebildungen v.a. seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts auftrete – zu erkennen jeweils an Multiperspektivität, Durchlässigkeit und integrativer Ansätze in den jeweiligen Modellen (Gebser: Ursprung und Gegenwart, Bd. II, Die Manifestation der aperspektivischen Welt (1953), Novalis Verlag, Schaffhausen 1999). Die Gesellschaftsutopien  und esoterischen Praxisansätze Steiners hat Gebser dabei in verschiedenen Zusammenhängen zurückgewiesen, etwa so:

    “Auf die neuen synkretistischen Versuche zur Rettung der ‘Tradition’, wie sie die Theosophie und, an sie anschließend, die Anthroposophie unternahmen, würde zu weit von unserem gegenwärtigen Thema fortführen.” (Gebser: Ursprung und Gegenwart, Bd. III, Kommentarband, S. 28. In seinem Buch “Abendländische Wandlung” zeigte Gebser Interesse an Forschungsergebnissen der Physikerin und Anthroposophin Lili Kolisko, auf seiner Asienreise hat ein Besuch bei der Theosophical Society in Adyar positive Eindrücke hinterlassen)

    Gebsers Negativurteil gilt nicht für eine Anthroposophie, die sich die ekklektische (was freilich nicht heißt: willkürliche oder sinnlose) Herkunft ihrer Lehren bewusstmacht und mit der daraus synthetisierten Tradition auseinanderzusetzen vermag. Ein weiterer, inzwischen verstummter, Kritiker der Anthroposophie hat dieselbe Forderung 1999 so kurzgefasst:

    “Im selben Maße in dem man von christlichen Gläubigen erwartet, dass sie immer wieder neu die Botschaft Christi in die aktuelle Zeit umzusetzen haben, muss man von Anthroposophen fordern können, Inhalte und implizite Wertungen aller Bereiche der Steinerschen Lehren immer wieder neu zu reflektieren.” (Petrus van der Let: Bedenkliche Ansichten Rudolf Steiners über Rassen, in: TANGRAM. Bulletin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus EKR, Bern, Nr.6, März 1999, S. 56)

    Ich denke, wir stehen an einer Schwelle, an der einige anthroposophische Kreise diesen Anforderung nahekommen, den “Sprung” in einen integral distanzierten Umgang mit ihrer Tradition wagen – die drei besprochenen Bücher stehen dafür, und die ausfürhlich behandelten Rezensionen großenteils dagegen. Fraglich ist natürlich, wie weit sich das jetzt schon groß als Steiners 150. Geburtstagsjahr angekündigte Jahr 2011 auf dieses Selbstverständnis auswirkt. Wie bei Jubiläen jeder Organisation und Bewegung stehen eher Selbstbeweiräucherungen denn distanzierte Reflexion auf dem Plan. Andererseits sind mit den angekündigten kritischen Steinerbiographien von Heiner Ullrich, Helmut Zander und Miriam Gebhart auch gegenteilige Akzente zumindest in der Außenwahrnehmung zu erwarten.

    Und der Streit geht weiter…


    Einsortiert unter:Anthroposophie & Philosophie, Hintergründe, Literarisches, Taja Gut

    Der Besuch der toten Tante – Miriram Gebhardt, Helmut Zander und ihre neuen Steinerbiographien

    $
    0
    0

    Eine kritische Aufarbeitung von Steiners Biographie ist bis heute ein Desiderat geblieben. Im Auftakt zum Jahr 2011, in dem die Anhänger des großen Gurus seinen 150. Geburtstag feiern, sind zwei Bücher erschienen, die das beheben wollen. Die Autoren, Miriam Gebhardt und Helmut Zander, versprechen vor allem eine historische Einordnung – und ich hiermit eine ausführliche Besprechung.

    Am Pottschacher Bahnhof…

    Am 4. Februar 1913 trat der Esoteriker Rudolf Steiner (1861-1925) vor seine handverlesenen “lieben theosophischen Freunde”, um, wie so oft, einen Vortrag zu halten. Wenige Wochen vorher, am 28. Dezember 1912, war seine “Anthroposophische Gesellschaft” gegründet worden. Einen Tag zuvor, am 3. Februar, hatte die A.G. ihre erste Generalversammlung abgehalten. Nun drohte der Rauswurf ihrer Mitglieder aus der theosophischen Muttergesellschaft. Steiner trat also in einer gespannten Atmosphäre auf – und was er dem verzückten Fanclub an diesem Abend zu bieten hatte, war nicht weniger als ein Einblick in den eigenen “okkulten” Werdegang (oder was er als solchen ausgab). Darin enthalten ist eine merkwürdige Erzählung über seine angebliche erste “übersinnliche Erfahrung” in frühen Jahren. Der kleine Rudolf saß in der Bahnhofsvorhalle des Potschacher Bahnhofs, wo sein Vater Stationsvorsteher war:

    “Und als er [Steiner erzählt von sich in der 3. Person - AM] so dasaß, tat sich die Tür auf … eine Frauenspersönlichkeit [trat] zur Türe herein…, die er früher nie gesehen hatte, die aber einem Familiengliede außerordentlich ähnlich sah. Die Frauenspersönlichkeit … ging bis in die Mitte der Stube, machte Gebärden und sprach auch Worte, die etwa in der folgenden Weise wiedergegeben werden können: ‘Versuche jetzt und später, so viel du kannst … für mich zu tun!’ Dann war sie noch eine Weile anwesend unter Gebärden, die nicht mehr aus der Seele verschwinden können, wenn man sie gesehen hat, ging zum Ofen hin und verschwand in den Ofen hinein.” (Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Bd. 83/84, Dornach 1984, S. 6)

    steiner_1867.jpg

    Steiner und Schwester Leopoldine, wohl 1867

    Steiner berichtet weiter, dass er sich damals nicht traute, seinen wenig spiritismuskompatiblen Eltern von der im Ofen verschwindenen Erscheinung zu erzählen. Bald darauf aber kam die Nachricht, dass eine Tante zu exakt diesem Zeitpunkt Selbstmord begangen habe. Steiner hatte es hellsichtig mit angesehen - so die Botschaft dieser Aussage, die beim Fanclub freilich ankam, denn: “In seinem Vortrag lässt er keinen Zweifel daran…” (Lorenzo Ravagli: Im Wartesaal geboren, erziehungsKUNST – Waldorfpädagogik heute, 01/2011, S. 51).

    … und an den Schreibtischen der Biograph_innen

    Selbst der zumeist angenehm sachliche Anthroposoph Christoph Lindenberg überspannte die in Steiners Rückblicken reichlich einsam dastehende Mitteilung als das Kindheitserlebnis des Gurus: “Der Auslöser einer kindlichen Hellsichtigkeit” (Lindenberg: Rudolf Steiner, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1992, S. 13f.), an dem “man den Ansatz der späteren Anthroposophie erkennen” könne (S. 13). “Es wäre also nicht völlig verfehlt zu sagen, dass die Anthroposophie im Wartesaal eines Bahnhofs geboren wurde”, freut sich auch Lorenzo Ravagli (Im Wartesaal geboren). Die sonst nicht gerade wortkargen Kritiker_innen der Anthroposophie haben diesen Bericht Steiners dagegen bisher durchgängig mit Schweigen bedacht. Zu kurios erscheinen Anlass und Gegenstand. Wie gesagt: bisher.

    Seit Januar 2011 liegen nun zwei dezidiert “kritische” Steiner-Biographien vor. Deren Autoren haben sich nicht nur dem oft unternommenen Versuch einer objektiven Darstellung und kritischen Kommentierung der anthroposophischen Lehre, sondern auch einer Deutung von Steiners Leben verschrieben: Die Historikerin und Kulturjournalistin Miriam Gebhardt und der Religionswissenschaftler Helmut Zander. Beider Steiner-Biographien sind unabhängig voneinander entstanden und erschienen – ich bespreche sie trotzdem gemeinsam, weil sie einander ergänzende Deutungen bieten. Welche Herausforderung sie damit meistern, zeigt sich an Erzählungen wie dem vom Besuch der toten Tante. Ich beginne mit zwei Kostproben zu dieser angeblichen Begebenheit, die Lindenberg in so staunende Ehrfurcht vor seiner “geliebten Autorität” versetzte. Nicht aber Miriam Gebhardt:

    “Dergleichen magische Kindheitserlebnisse sind in der Erinnerungsliteratur dieser Zeit keine Seltenheit. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jhdts waren die pädagogisch-religiösen Einflüsse der Erwachsenen auf die Kinder schwächer geworden.  … Es entstanden ganz individuelle Vorstellungswelten … Nicht nur im ländlichen Raum kreisten die kindlichen Phantasien um den Tod und das Nachleben.” (Miriam Gebhardt: Rudolf Steiner – Ein moderner Prophet, Deutsche Verlagsanstalt, München 2011, S. 33)

    Miriam Gebhardt: Rudolf Steiner

    Sie referiert anschließend eine Szene aus den Kindheitserinnerungen des 1983 geborenen Schriftstellers Ernst Toller. Der berichtete, wie er nach dem Tod seines Onkels dessen Grab inspizierte, “um sich Gewissheit über dessen Verbleib zu beschaffen”. Davon geht Gebhardt zu der Aktualität über, die die Beschäftigung mit dem Tod in der Romantik – in einer historischen Schocksituation nach den Entdeckungen der “materialistischen” Wissenschaft – hatte. Es kreisten gar Vorstellungen von Kontaktaufnahmen mit Toten durch Tischerücker und spiritistische Medien. Dieser Versuch einer Remythologisierung des Todes und eines Nachweises für ein individuelles Weiterleben sei in der 2. Hälfte des 18. Jhdts der Aufstand gegen säkularisierte Ängste vor dem Sterben gewesen. Bedeutsam sei also…

    “…weniger Steiners Erfahrung mit der toten Verwandten selbst als der Stellenwert der Episode im Kontext seiner Biographie. Während Ernst Toller seine Kindheitserzählung in die Lebensgeschichte eines Sozialisten und Revolutionärs eingebaut hat, hat Steiner daraus die Initationsgeschichte eines Okkultisten gemacht … Hier wird die Fährte gelegt zu einem Lebenswerk, das von den zeitgenössischen Großthemen, allen voran dem Verhältnis zur geistigen Welt, bestimmt sein sollte.” (ebd., S. 34)

    Der Wissenschaftshistoriker Helmut Zander teilt in seiner einige Tage vor Gebhardts Buch erschienenen Steinerbiographie zumindest das Fazit seiner Kollegin. Er schaut aber auch auf die besondere Situation, in der Steiner dieses sogenannte Kindheitserlebnis 1913 referierte, und fragt deshalb weiter nach der ideenpolitischen Stellung der Erzählung in der Biographie des “Hellsehers”:

    “Steiner als paranormal begabter Mensch, das war eine massive Statusanzeige im theosophischen Milieu. Doch wie sich kindliche Phantasie und Erinnerung des gut fünfzigjährigen Steiner zueinander verhalten, bleibt undurchschaubar.

    Steiner hat diese Erzählung aus dem Jahr 1913 nicht in seine Autobiographie übernommen. Vielleicht hat er sie für die noch geplante Biographie seines inneren Lebens zurückbehalten. Aber man kann diese Leerstelle in den Erinnerungen von 1923 auch als leise Distanzierung von seiner theosophischen Phase lesen, von dem Zwang, sich durch handfeste paranormale Phänomene legitimieren zu müssen [erst Recht Anfang 1913, wenige Wochen vor seinem Rausschmiss aus der Theosophischen Gesellschaft durch seine Konkurrentin Annie Besant - AM]. Denn eigentlich hatte der Theosoph Steiner die Parole ausgegeben, das nicht mehr die dunklen Erfahrungen des Okkultismus gelten sollten, sondern die helle Rationalität reflektierter theosophischer Erkenntnis. … Aber vielleicht gab es auch Erinnerungssedimente aus Steiners Kindheit, die die Theosophie wieder ins Wachbewusstsein holte – vielleicht.” (Zander: Rudolf Steiner – Die Biographie, Piper Verlag, München 2011, S. 27f.)

    Helmut Zander: Rudolf Steiner

    Inszenierungen

    Beide, Zander und Gebhardt, versuchen also, Steiners Erzählung von 1913 durch eine historische Einordnung plausibel zu machen. Wo Gebhardt eine Collage von Parallelen aufspannt, die zeigen, dass die Erzählung des Gurus gewissermaßen dem “Zeitgeist” des ausgehenden 18. Jhdts folgte, sucht Zander den Zugang über Steiners Selbstdarstellung, die von raschen Wenden gekennzeichnet und von äußeren Faktoren sowie den Erwartungen seiner Gegner_innen und Fans beeinflusst war.

    Neben vielem anderen enthalten beide Biographien natürlich jene Seiten des charismatischen Anthroposophiegründers, die Anthroposoph_innen für gewöhnlich eher übergehen würden, weil sie nicht wirklich zur Figur des keuschen Heiligen passen: Sie sammeln etwa Belege für Steiners Alkohol- und Zigarettenkonsum – v.a. während seiner Weimarer und “wilden” Berliner Jahre. Sie stellen Fragen nach Steiners Liebesleben, warum etwa immer “mütterliche” Frauen an seiner Seite standen, bzw. eben nicht dort, sondern umsorgend im Hintergrund. Beide schildern Steiners späte Liebe zu Ita Wegman, der Begründerin der anthroposophischen Medizin – Zander zitiert sogar einen Liebesbrief aus Steiner Hand, der eine ungeahnte, nahezu rührende Ergriffenheit des so verkopft erscheinenden Gurus zeigt.

    Weder Gebhardt noch Zander legen natürlich den Hauptfokus auf solche Einzelheiten von Steiners Alltagswelt, sondern wollen vor allem Steiners Selbstinszenierung rekonstruieren, um seine gegenwärtige Wirkung nachzuvollziehen. Denn der Begriff “kunstvolle Inszenierung” scheint ein Schlüssel zu Steiners Werkleib und Selbstdeutung zu sein.

    Moderne Biographie

    Das beginnt bei einfachen, bisher unbeachteten Details seines äußeren Auftretens, die v.a. Gebhardt herausstellt:

    “Es ist offensichtlich, dass er als erwachsener Mann begonnen hat, sich selbst durch einen eigenen, wiedererkennbaren Stil zu inszenieren. Der Zylinder der Zwicker, die übergroße Schleife, der schwarze Gehrock, die in das Gesicht fallende schwarze Tolle symbolisierten einen aus der Zeit wie aus der Mode Gefallenen und wurden zu seinem Markenzeichen, ähnlich wie Charlie Chaplins Aufzug als Tramp. … Zur gekonnten Selbstdarstellung gehörte Rudolf Steiners Intonation beim Sprechen, die jedem noch so kritischen Zuhörer auffiel und einen Kommentar abnötigte … Steiners persönliche Darstellungsmittel waren natürlich auch Strategien der Selbstvermarktung. Aber es war auch typisch für die Avantgarde jener Zeit, zunehmend bewusst ihre expressiven und demonstrativen Ressourcen zu setzen.” (Gebhardt, S. 129

    Steiners "übergroße Schleife": Teil einer exzentrischen Selbstinszenierung

    Wesentlicher Teil der “modernen Lebensführung Rudolf Steiners” sei aber seine Fähigkeit und sein Wille zu plötzlichen Lebensumbrüchen gewesen. Gebhardt findet den (für dieses Merkmal moderner Biographien verwendbaren) soziologischen Begriff des “transgressiven Subjekts” auf Steiner passend (S. 121). Die Selbstinszenierung als “moderner”, “wissenschaftlicher” Hellseher arbeitet auch Zander an der Genese von Steiners esoterischer Weltanschauung heraus:

    “Steiners Hellsehen sollte ganz anders sein als die Manifestationen in den Séancen der Spiritisten. Kein Medium sollte von einem Medienführer geleitet werden, es sollte nicht, einem Besessenen gleich, das Sprachrohr einer fremden Macht sein. Der Eingeweihte sollte sich vielmehr als selbstverantwortliches, modernes Subjekt die übersinnliche Erkenntnis selbst erarbeiten: im hellen Raum der “Clairvoyance” statt in den dunklen Räumen der Geistererscheinungen.” (Zander, S. 244f.)

    Dieser Anspruch zog sich durch die verschiedenen “Praxisfelder” der Anthroposophie, von der behaupteten Anschlussfähigkeit der Anthroposophischen Medizin an ihre schulmedizinische Konkurrentin bis hin zur Präsentation der Figur “Benediktus” als “bartloser, moderne Mystiker” in Steiners sogenannten Mysteriendramen, die die anthroposophischen Konzepte auf der Bühne darstellen sollten.

    “Steiner war und blieb auf der Suche. Seinen Schülerinnen und Schülern präsentierte er sich zwar als Meister, aber zugleich war er auch immer Adept, der working by doing sich erarbeitete, was er seinen Anhängern vermittelte …viele Meditationswege kennen Vorbehalte gegenüber dem Subjekt angesichts des Geistigen. Aber: Steiner vertrat zugleich ein ambitioniertes Individualitätskonzept, in dem die soziale Person, das autonome Individuum, eine zentrale Rolle spielte. Weder Steiners Leben noch das der gebildeten Anthroposophinnen und Anthroposophen war auf Verlöschen angelegt, sondern auf eine erkennbare gesellschaftliche Rolle und ein hohes Sozialprestige.” (Zander, S. 250)

    Noch zwei Beispiele: Psychoanalyse und Elternhaus

    Die Autoren treffen sich also in dem Punkt, dass Steiner nicht als wahnbefangene Gallionsfigur einer Art esoterischen Anti-Aufklärungsbewegung zu betrachten sei, wie manche  Kritiker_innen das gern darstellen. Um Attraktivität und “Wesen” der Anthroposophie zu verstehen, sei zuerst Wissen über ihre Entstehung und Verankerung in der bürgerlichen Moderne vonnöten. Sowohl Gebhardt als auch Zander erwähnen die Freudsche Psychoanalyse als Parallelbeispiel. Steiner und Freud “versuchten, ein komplexes Subjekt, das mehr als die schlichte Person sei, zu erklären” und lagen damit näher aneinander, als es zunächst den Eindruck macht oder beiden “Meistern” lieb gewesen wäre (Zander, S. 243). Das beginne mit beider freilich unterschiedlich gelagerter “Drei-Instanzen”-Anthropologie (Gebhardt, S. 153). Es zeige sich auch in ihren Kontakten mit theosophisch-spiritistischen Kreisen und gipfle in dem Versuch, den spiritistischen Seelen- und “Medienführer” zum “modernen” Psychotherapeuten bzw. Geistesforscher zu transformieren (Zander, S. 244). Vergleichbar sind auch die Beziehungen der beiden “Meister” zu ihren Schüler_innen (Gebhardt, S. 208).

    Auch sonst scheint für beide Autoren Steiners wechselhafter “Lebensgang” eine beispielhafte Biographie im weltanschaulichen Selbstbedienungsbuffet um die Jahrhundertwende zu sein – von seinen ungewöhnlichen Projekten in der theosophischen Phase bis zurück zu seinem Elternhaus. Hier können sie übrigens ein weiteres anthroposophisches Mythologem auflösen. “Steiner war armer Leute Kind”, das “von der Armut in seinem Elternhaus nie viel Aufhebens gemacht” habe, lobte Christoph Lindenberg (a.a.O., S. 7). Er sei “im besitzlosen kleinbürgerlich-ländlichen Milieu” auf- und diesem schließlich entwachsen, fand auch noch Steiners jüngster Biograph, der Mainzer Erziehungswissenschaftler Heiner Ullrich (Ullrich: Rudolf Steiner. Leben und Lehre, C.H. Beck-Verlag, München 2010, S. 14f. – ich erwarte noch eine gesonderte Besprechung). Diese Geschichte ist das Ergebnis anthroposophischer Mystifizierung: Steiners Lebensweg als steiniger Aufstieg des vernachlässigten Bahnwärtersohnes – aus den Niederungen sozialer Nöte zum erfolgreichen Vortragsredner und strahlenden Propheten. Eine Stilisierung, die Gebhardt und Zander entzaubern:

    “Was heißt hier Bahnwärter? Was in unseren Ohren nach Nachtwächter klingt, war am Ende des 19. Jahrhunderts die Schaltstelle einer Hightech-Welt.  Die Eisenbahn war Motor der Industrialisierung… ” (Zander, S. 17)

    “Die Bahn war ein hochmoderner und sozialer Arbeitgeber. Johann Steiner ermöglichte sie nicht nur, sich zum Zwecke der Ausbildung seines Erstgeborenen versetzen zu lassen, sie hielt auch ein Ausbildungsstipendium für die Kinder ihrer Angestellten bereit. Die Steiners gehörten aufgrund dieser Position in der sozialen Hierarchie des mittleren 19. Jahrhunderts keineswegs zu den Unterpriveligierten …” Und auch “die Vermutung der Biographen, Steiner sei in einem bildungsfernen Haushalt aufgewachsen, ist historisch nicht nachvollziehbar.” (Gebhardt, S. 36f.)

    Helmut Zander: Mehr als nur Jagd nach Kontexten

    Ich habe die beiden Biographien hier Seit’ an Seite präsentiert, um zu zeigen, wie sehr die Interpretationen der beiden Autoren einander berühren, wenn es um die grundsätzliche Beurteilung von Steiners Biographie geht. Selbstverständlich gibt es aber auch weitreichende Unterschiede.

    Im Zentrum des Interesses steht für den Biographen Helmut Zander weniger der “Mensch” Rudolf Steiner – obwohl er beschreibt, dass und wie der puritanische Guru auch “herzhaft lachen und fröhlich erzählen [konnte]. Manchmal entwickelte er auch einen regelrechten theosophischen Mutterwitz … Und wenn er ganz entspannt war, konnte er den Haushund eines Gastgebers ins übersinnliche Gespräch mit einbeziehen…” (S. 283). Für den Wissenschaftshistoriker liegt der Fokus auf Steiners ideengeschichtlichem Umfeld und folglich Steiners weltanschaulicher Entwicklung. Als zentrales Motiv in Steiners philosophischer Odyssee erscheint ihm die Suche nach unbezweifelbarer Erkenntnis:

    “Man kann Steiners Biographie als einen lebenslangen Versuch lesen, die von Kant in die Wege geleitete Vertreibung aus dem Paradies eines unmittelbaren Zugangs zur Welt wieder rückgängig zu machen.” (Zander, S. 22)

    Zur Erinnerung: Schon 2007 hatte Zander ein Buch über die “Anthroposophie in Deutschland” vorgelegt, in dem er sachlich, aber zielsicher aufzeigte, dass und wie die Anthroposophie sich in ihrem Entstehungsumfeld im frühen 20. Jahrhundert erklären lässt, Themen dieser Zeit ansprach und verarbeitete. Zander fuhr dabei auch notwendige Kritik auf, bemühte sich aber vor allem sachlich um ein historisches Verständnis der Anthroposophie. Die Folge war natürlich, dass die anthroposophische Presse publizistisch das Feuer gegen den “unverständigen” Zander eröffnete.

    “Denn ich meine das Folgende: entweder man ist für Rudolf Steiner oder man ist ruhig.” (Friedhelm Braun: Anthroposophie in Deutschland – ein Gegenentwurf zu den seltsamen und völlig falschen Ausführungen des Herrn Zander, Selbstverlag, Niedenstein 2010, S. 3 – Hervorhebung von mir)

    Das Ergebnis war ein erstaunlicher Freizeitpark für jede Art von Unterstellung, Verdrehung und Polemik (vgl. Leitmotiv Zertrümmerung). Die argumentativen Details der Zander-Kritiker_innen hinterließen allerdings – mit wenigen (trotzdem dezidiert apologetischen) Ausnahmen – einen eher hilflosen Eindruck. Es wundert entsprechend nicht, dass Zander die zentralen Thesen aus seinem Opus Magnum auch in seiner Steinerbiographie erneut referiert (wobei er ernstzunehmende anthroposophische Kritiken einbezieht, vgl. Zander, S. 509).

    Helmut Zander: "Man kann Steiners Biographie als einen lebenslangen Versuch lesen, die von Kant in die Wege geleitete Vertreibung aus dem Paradies eines unmittelbaren Zugangs zur Welt wieder rückgängig zu machen."

    Helmut Zander (Bild von Hans Schafgans): "Man kann Steiners Biographie als einen lebenslangen Versuch lesen, die von Kant in die Wege geleitete Vertreibung aus dem Paradies eines unmittelbaren Zugangs zur Welt wieder rückgängig zu machen."

    “Kontinuität und Wandel”

    Viele der geschichtlichen Ausführungen, betreffend v.a. die anthroposophischen Praxisfelder, erscheinen somit aber auch “nur” wie aktualisierte Kurzfassungen von Kapiteln aus “Anthroposophie in Deutschland” – wo sie sich übrigens entschieden besser machen. Denn Steiners Biographie gerät so auf dutzenden Seiten historischer Umschweife allenfalls sporadisch in den Blick. Im Kapitel über die Gründung der Waldorfpädagogik wäre es viel hilfreicher gewesen, sich stärker Steiners persönlicher Motive dabei oder seiner Tätigkeit als praktischer Pädagoge zu widmen. In Bezug auf die anthroposophische Medizin sind Zanders Ausführungen über “Heilung und Heil am fin de siécle” zweifellos interessant, aber im Prinzip bekannt und hätten ruhig auch Ausführungen über Steiners Umgang mit eigenen Krankheiten oder dem mit seinen Patient_innen Platz machen dürfen. Im Zusammenhang mit Steiners “Mysteriendramen” hatte Zander bereits in “Anthroposophie in Deutschland” die wichtige Frage nach autobiographischen Elementen Steiners in diesen Dramen gestellt (vgl. Wie durch eine dünne Wand) und kam nach einigen Vergleichen zu dem Schluss, solche ließen sich erst mit “dem Vorliegen einer kritischen Biographie näher bestimmen” (Bd. II, S. 1037). In Zanders eigener “kritischer Biographie” finden sich aber lediglich die Verbindungen aufgezählt (S. 299f.), die er auch in der Vorarbeit schon benannt hatte. Diese kritischen Punkte betreffen natürlich keineswegs den Wert und die Relevanz von Zanders Forschungen, doch die Partitur einer Steinerbiographie hätte günstiger zusammengestellt werden können.

    Aber wer genau nachliest, sieht genauso, wo und wie sich Änderungen, Perspektivwechsel und neue Betrachtungen finden. So sind Zanders Schilderungen von Steiners okkultem Kompetenzkrieg mit der Theosophin Annie Besant wesentlich empathischer und versöhnlicher geraten als in “Anthroposophie in Deutschland”. Auch hat Zander seit 2007 recherchierte Fakten und vorgelegte Publikationen, etwa von Robin Schmidt (Rudolf Steiner und die Anfänge der Theosophie, vgl. Bilder und Sachen) und Karl Baier (Meditation und Moderne) in seine Ausführungen integriert,  die v.a. Steiners theosophische Sozialisation (Schmidt) und die mesmeristischen Kontexte der Theosophie (Baier) betreffen. Dabei hat Zander manch frühere Deutung ergänzt und zurückgenommen. Auch anthroposophische Kritiken an seiner früheren Publikation sind, wie erwähnt, inzwischen in die Deutung eingeflossen. Spannend, vollständig neu und sehr intensiv lesen sich die Kapitel, die Steiners Biographie vor seiner theosophischen Wende um 1900 sowie Steiners letzte Lebensjahre zum Gegenstand haben.

    Und andere unter den vorhin getadelten Schilderungen zu den anthroposophischen Praxisfeldern kann Zander auch lebhaft gestalten: Das Kapitel über Steiners Freimaurerzeit leitet er durch eine ausführliche Schilderung des symbolträchtigen, magisch anmutenden Verlaufs eines solchen Rituals ein, das fast narrative Elemente enthält. Seine Ausführungen über Steiners Meditationsanweisungen für seine “Geistesschüler” erzählt Zander, indem er den Tagesablauf einer “Geistesschülerin” mit den einzelnen kontemplativen Übungen zwischen seine systematischen und historischen Schilderungen einstreut. Ein Kapitel versucht sich an einer Schilderung der theosophischen “Alltagswelt” in “kaleidoskop”artigen Facetten. Heimliches Herzstück des Buches ist aber ein fiktives Gespräch zwischen Steiner und seinem Schüler Ludwig Polzer Hoditz. Zander schreibt einen Dialog, in dem Polzer-Hoditz Steiner unter anderem über seine christologische Wende befragt und der Guru ihm mehr als nur andeutungshaft Antwort gibt. Die Frage vorweg beantwortend, wie er denn dazu komme, beiden Dialogpartnern diese Aussagen in den Mund zu legen, schreibt Zander, er habe das Gespräch in der “Akasha-Cornik”, Steiners immateriellem Weltgedächtnis, “entdeckt”. Das originelle Gespräch ist ein gelungenes Intermezzo, und zeigt auch eine Tendenz, die hoffentlich im anthroposophischen wie anthroposophiekritischen Dunstkreis zunehmen wird: Die ganze Sache um Gottes willen nicht so ernst zu nehmen!

    Miriam Gebhardt: “Esoterikratgeber” des “Kohlrabi-Apostels”

    Die Beziehungsgeschichte von Miriam Gebhardt und der Anthroposophie ist, im Vergleich mit Zander, wenig “vorbelastet”. Sie schrieb ihre Steinerbiographie nach einer Anfrage der “Deutschen Verlagsanstalt” – und hat sich in der einschüchternden Menge von Daten und Publikationen scheinbar sehr schnell überraschend gut orientiert. Ein Auszug aus dem Buch ist hier online zu finden, das Kapitel zur “Waldorfpädagogik heute” auch auf diesem Blog.

    Miriam Gebhardt (Foto von Quirin Leppert): "Steiners Geist sitzt nicht mehr im okkultistischen Spukschloss"

    Miriam Gebhardt (Foto von Quirin Leppert): "Steiners Geist sitzt nicht mehr im okkultistischen Spukschloss."

    Das Buch ist – was ich nicht negativ meine –  deutlich “journalistisch”. Es sammelt wenig neue Daten zu Steiners Leben, aber präsentiert die bekannten in einem ungewohnten Licht und unter Beigabe spannender anderer Informationen. Wo Zander mit kriminologischem Fleiß die Inhalte von Steiners Kosmologie rekonstruiert und auf ihr Entstehungsumfeld hin abtastet, also in Detail und Tiefe geht, entwirft Gebhardt v.a. weite kulturelle Panoramen und zeigt biographische Parallelen Steiners zu anderen Figuren im frühen 20. Jahrhundert. Der Hintergrund, vor dem sie Steiner versteht, ist hauptsächlich der der umstrittenen “Lebensreformszene” (Gebhardt, S. 172ff.), die im ausgehenden Kaiserreich viele ökologische und alternativkulturelle Gedanken vorwegnahm, welche u.a. in der 68er-Bewegung modifiziert wieder auftauchten.

    Am aufschlussreichsten daran ist vielleicht die erwähnte Gegenüberstellung von Steiners Lebenslauf mit denen einiger “Konkurrenten”: “Er war zu seiner Zeit ja nicht als einziger Prophet unterwegs, sondern nur einer unter vielen” (S. 181). Konkret werden der eigenwillige Theologe Johannes Müller und der Schäfer Joseph Weißenberg portraitiert, die tatsächlich einige biographische und inhaltliche Parallelen zu Steiner zu bieten haben. Einen liebevollen Seitenhieb erhält auch der Reformtheologe Friedrich Rittelmeyer, später Steiners Jünger, davor aber nur “ein weiterer Anbieter auf dem Reformmarkt.” Gebhardt beschreibt ihn als von “Depressionen und Einsamkeit geplagt”, “eine zwischen moderner Theologie und todessehnsüchtiger [!], vom Okkultismus geprägter Frömmigkeit zerrissene Figur…” (S. 189).

    Anthroposoph_innen werden sich auch über ähnlich gnadenlose Beurteilungen anderer Personen aus Steiners Umfeld echauffieren. Die Partnerschaft des Gurus mit seiner zweiten Frau Marie v. Sivers interpretiert sie etwa als

    “Wir-gegen-den-Rest-der-Welt-Beziehung … Der treffendste Ausdruck, der das Wesen der Verbindung Steiner-von Sivers charakterisiert, bleibt tatsächlich Waffenbrüderschaft. Dass die beiden darüber hinaus ein Ehepaar werden sollten, verstörte ihre Umgebung zutiefst.” (S. 147f.)

    Überhaupt ist es vor allem der Schreibstil – Jens Heisterkamp kommentierte treffend: “Flüssig geschrieben, ein wenig flapsig, gut zu lesen” (info3 01/2011, S. 15) -, der das Buch lesenswert macht. Gebhardt schreibt gut. Und herrlich unaufgeregt, wenn es um anthroposophische Kleinodien geht: So wird etwa Steiners Meditationsschrift “Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten” zum ”Esoterikratgeber” (S. 155), er selbst aufgrund seiner Gesundheitsvorstellungen zum “Kohlrabi-Apostel” (S. 177). In manchen Punkten urteilt Gebhardt auch sehr kritisch, etwa, wenn sie die Pädagogik der Waldorfschulen analysiert. Bei anderen Themen weicht sie wiederum von der Linie der üblichen Anthroposophie-Kritiken ab: Von der Behauptung etwa, Steiners Werk sei offenbar antidemokratisch und größenwahnsinnig:

    “Für den Vorwurf des institutionellen Autoritarismus unter Steiners Führung gibt es … keine stichfesten Beweise. Die einschlägigen Passagen in den Texten sind, wie immer, vieldeutig.  … verglichen mit anderen Meistern und Propheten seiner Zeit, etwa dem hoch narzisstischen und autokratischen Zeitgenossen Stefan George, war Rudolf Steiner geradezu Demokrat.” (Gebhardt, S. 203)

    Auch der Theosophischen Gesellschaft attestiert sie den Versuch, esoterische Inhalte zu “demokratisieren”. Für die tatsächliche Praxis beschreibt sie dann aber auch detailliert etwa das Schülerin-Lehrer-Verhltnis zwischen der Künstlerin Edith Maryon und Steiner, das von einer ungeheueren Devotion zeugt. Die aber war “für jene Zeit nicht untypisch … Freud schenkte seinem ‘Hofstaat’ sogar aus Dankbarkeit für die Treue antike Gemmen aus seiner Antiquitätensammlung, die seine Anhänger in goldene Ringe fassen ließen und als Zeichen ihrer Hingabe an Freud und die Psychoanalyse trugen.” (S. 208)

    Diese Auswahl an Anekdoten und Parallelen, die sich gerade auch an den Stellen zeigen, an denen Steiner und sein Weltanschauungskosmos besonders “spleenig” scheinen, ist das eigentlich “Spannende” an Gebhardts Buch. Damit einher geht leider auch eine gewisse Unübersichtlichkeit. Immer wieder wird  - scheinbar plötzlich – zwischen unterschiedlichen Punkten in Steiners Lebensgeschichte gesprungen: Auf seinen kurzen Kontakt mit der Wiener Theosophischen Gesellschaft hin (vgl. Bilder und Sachen, relativ weit unten im Abschnitt zu Robin Schmidt) folgt in der Darstellung Gebhardts ein interessanter Exkurs zum Thema Okkultismus, bei dem aber das eigentliche Thema – Steiner in Wien – völlig aus dem Blick gerät. Und nach der Erwähnung der antijudaistischen Ressentiments des 30-Jährigen Steiner lässt Gebhardt eine Zusammenfassung der theosophischen Kosmogonie und Rassentheorie folgen – lange bevor Steiners Konversion zur Theosophie beschrieben wird. Ich jedenfalls habe immer wieder im Text den Faden verloren, obwohl ich mich in Steiners Biographie durchaus leidlich orientieren kann.

    Es lässt sich also pädagogisch wertvoll schließen, dass bei beiden Biographen, Gebhardt und Zander, der besondere Wert und Reiz der Darstellung auch jeweils am ehesten zu Längen und Unübersichtlichkeiten neigt. Und dann muss auch gesagt werden, dass Reiz und Wert in beiden Fällen trotzdem überwiegen!

    “Ein Geheimnis”

    Nach dem Überblick über ein opulentes Lebenswerk, mannigfachen Kritiken und sehr viel Verständnis schließen beide Autoren auf charakterisitische Weise: Zander mit einem Überblick “über Bücher zu Steiners Leben und über die Grenzen ihres Verstehens” – von den frühesten Hagiographien über Gerhard Wehr, den “Vater der kritischen Steiner-Forschung” und den “Meilenstein” Christoph Lindenberg bis hin zu seinem eigenen Opus (S. 473-478).

    Gebhardt versucht dagegen im Schlusskapitel noch einmal, die gesellschaftliche Präsenz der Anthroposophie zu schildern. Dabei beantwortet sie en passant die Frage, wieso ausgerechnet Steiners Konzepte nicht den Tod vieler alternativkultureller Strömungen der letzten Jahrhundertwende gestorben seien, mit denen sie ihn so engagiert verglichen hat.

    “Steiner war eher ein erfolgreicher Popularisierer als ein originärer Denker … Während die Vegetarier ihren Vegetarismus hatten und die Wandervögel ihre Wanderlieder, konnte der reformbedürftige Zeitgenosse bei Steiner all das auch finden und dazu noch eine Meistererzählung, die die gesamte Geschichte der Menschheit mit dem Schicksal jedes einzelnen Individuums verband. Das war Steiners Erfolgsrezept. … Er hatte für jeden etwas im Angebot. … Dass so vieles davon kombinierbar war, machte Steiner zum Propheten des Pluralismus.

    Die Demeterkartoffeln transportieren das Versprechen von Harmonie und Gesundheit. Sie wachsen, zumindest in der Phantasie von Konsumenten, in einer heilen Welt. Und auch wenn der Glaube an die Macht der Sterne und die Kraft des Kuhhorns schwerfällt, ein bisschen Esoterik kann auf jeden Fall nicht schaden. Wir ‘Verbraucher’ der Anthroposophie sind wie die Römer, die alle Götter in ihr Pantheon aufnahmen, man kann ja nie wissen.  … Rudolf Steiners Geist sitzt nicht mehr im okkultistischen Spukschloss. Der moderne Prophet hat viele Leben.” (Gehardt, S. 343ff.)

    Das sind mutige Worte angesichts einer Mehrheit von Anthroposoph_innen, die sehr wohl im okkultisten Spukschloss sitzt. Und angesichts einer großen Anzahl von Kritiker_innen der Anthroposophie, die jeden, der glaubt, das Spukschloss besitze eventuell einen Ausgang, gleich mit dort einsperren will. Zugleich sind es zutreffendere Worte, als beide Fraktionen sie meist verlauten lassen. Die öffentliche Debatte um die Anthroposophie wird also mit diesen beiden Biographien nicht beendet oder sortiert, sondern geht, wenn auch bereichert, in eine neue Runde:

    “Gibt es ‘die’ Biograpfie Steiners? Die Antwort des Wissenschaftlers ist ein klares Nein. Jede Lebensbeschreibung ist Fabel und Faktum zugleich … und wenn ein Biograph deutet, nutzt er für seine persönliche Perspektive ein begrenztes Material. Die Metaphysiker aus der Theologie behaupten zudem, dass der Mensch ein Geheimnis sei – ein Wissensvorbehalt, den auch die Psychologie buchstabiert: Nicht einmal wir selbst wissen genau, wie unser ‘Unterbewusstsein’ (Steiner würde sagen: unser ‘übersinnliches Bewusstsein’) mit unserem Alltagsbewusstsein zusammenhängen. Kurz und gut: Auch die vorliegende Biografie ist eine Erzählung, ein Versuch, aus den Trümmern, die wir Fakten nennen, Rudolf Steiner zu verstehen. (Zander, S. 473)

    Ein umso anspruchsvolleres Unternehmen, als Steiner ja versuchte, eine genau gegenteilig arbeitende “Wissenschaft” zu installieren. Eine, die sich von physischen Trümmern zu “geistigen Tatsachen” erhebt. Eine, die, statt eine Trauernachricht im Familienkreis zu verarbeiten, von der toten Tante selbst Besuch im Wartesaal bekommt. In beider Perspektiven hätte Steiner zumindest eines zu bieten: Kreativität und Durchhaltevermögen. Mythos und Moderne sind als gesellschaftliche Realität nicht so leicht zu trennen, wie meist angenommen wird. Steiner und die Anthroposophie können exemplarisch zeigen, welche positiven und negativen Folgen das haben kann.


    Einsortiert unter:Literarisches, Nachrichten

    Unterrichtspraktische Vorteile und anthroposophische Entwicklungsmythologie

    $
    0
    0

    Vorwort von Ansgar Martins  –  Im Januar 2011 hat die Historikerin und Kulturjournalistin Miriam Gebhardt eine historisch-kritische Biographie zu Rudolf Steiner vorgelegt (Rezension hier). Eine knappe, aktuelle Einschätzung bietet Gebhardt auch zur heutigen Situation der Waldorfschulen, die ich hier gern zur Verfügung stellen möchte (vorangegangen ist in im Buch eine ausführliche Diskussion von Steiners Erziehungslehre). Der Deutschen Verlagsanstalt danke ich für die “Abdruck”- Genehmigung.

    Waldorfpädagogik heute

    (aus: “Rudolf Steiner. Ein moderner Prophet”, München 2011)

    von Miriam Gebhardt

    Im Lauf des 20. Jahrhunderts hat sich die Waldorfschule von einer krassen Außenseiterin des Reformdiskurses zur wichtigsten Reformschule in Deutschland entwickelt, und das, obwohl sie sich Jahrzehnte lang nicht an den allgemeinen pädagogischen Diskussionen (vor allem im akademischen Bereich) beteiligt hat, eine eigene kritische Aufarbeitung ihrer Desiderate und Defizite schuldig geblieben und als ein Reformkonzept aus dem frühen 20. Jahrhundert ihrerseits seither unreformiert geblieben ist. Wenn wir an alternative Schulformen denken, denken wir heute dennoch fast automatisch an Steinerschulen. Wie kommt das?

    Rein organisatorisch war die Gründung eines eigenen anthroposophischen Schulverbandes, des “Bundes der Freien Waldorfschulen”, ein kluger Schachzug, dazu gab es keine Parallele. Auch die Erkenbarkeit bis hin zur Schrifttype und Baustil mochte hilfreich gewesen sein. Stärker als bei anderen Schulreformen scheint auch eine dezidierte Opposition zur öffentlichen Schule gerade in Zeiten hoch emotional geführter Diskussionen um angebliche Erziehungskatastrophen und Bildungsnotstände in diesem Lande vielen Menschen attraktiv erscheinen. Die größten Zuwachsraten erlebte die Waldorfpädagogik allerdings in den frühen achtziger und neunziger Jahren, also zu einem Zeitpunkt, als die um sich greifende marktliberale Ideologie das Individuum verstärkt aus sozialstaatlichen Bindungen lösen und einer zunehmend sowohl räumlichen als auch institutionell entgrenzten Wirtschaft zuführen wollte. Diese Entgrenzung des Individuums hat in den letzten Jahrzehnten dazu beigetragen, dass Mittelschichteltern immer stärker einen geradezu totalen Anspruch auf die Förderung der intellektuellen und psychosozialen Ressourcen ihrer Kinder erheben. Nichts darf und kann mehr dem Zufall überlassen werden, die Werte und Ziele, die das eigene Handeln der Erwachsenen bestimmen, sollen möglichst ungebrochen an den Nachwuchs weitergegeben werden. Dabei sind Privat-Kindergärten und -schulen wie die Waldorfschule (und Alternativen gibt es kaum) eine enorme Hilfe, denn sie gewährleisten von vorneherein eine große Homogenität der sozialen Beziehungen. Eltern und Lehrer teilen Haltungen und Lebensstile, und so darf darauf gehofft werden, dass auch die schulische peer group eine Verlängerung der familiären Lebenswelt darstellt. Auf diese Weise sollen die Kinder möglichst lange vom gesellschaftlichen Wertepluralismus ferngehalten werden, wobei die absolute Ablehnung des Mediengebrauchs das ihre dazu beiträgt.

    Gebhardt: Rudolf Steiner - Ein moderner Prophet

    Gebhardt: Rudolf Steiner - Ein moderner Prophet

    Die gestiegene Beliebtheit der Waldorfschule ist daher weniger ein Indiz für anti-moderne, anti-wissenschaftliche Sehnsüchte im Bereich der Schule, auch wenn das für eine Minderheit der Familien eine gewisse Rolle spielen dürfte – sie ist in erster Linie ein Symptom für Abstiegsängste in den Mittelschichten und damit einhergehende totale Einwirkungsphantasien der Eltern bezüglich der Karriere ihrer Kinder. Mit der Auswahl der Schule wollen sie ihre Kinder möglichst lange und intensiv an das eigene Herkunfts- und Erziehungsmilieu binden, in der Hoffnung, auf diesem Weg der familiäre kulturelle Kapital zu pflegen. Waldorf heute ist eben nicht für alle da, sondern für einen bestimmten gesellschaftlichen Ausschnitt.

    In ihrer sozialen Reichweite hat sich die Reformschule weit von ihren Ursprüngen als Einrichtung für Arbeiterkinder und Kinder bürgerlicher Haushalte entfernt. Während im Bundesdurchschnitt circa zwölf Prozent der Bevölkerung zur akademisch gebildeten Mittelschicht zählen, liegt der Anteil der entsprechenden Hintergründe bei Waldorfschülern bei über vierzig Prozent, mit einem besonderen Schwerpunkt bei (offenbar desillusionierten) staatlichen Lehrern. Die Hoffnungen der Eltern auf kulturelle Reproduktion schienen dabei durchaus berechtigt. Untersuchungen zeigen, dass Waldorfschüler stärker dazu neigen, wiederum Lehr- und Heilberufe zu ergreifen oder sich künstlerisch zu betätigen. Die Wahrscheinlichkeit für einen Waldorfianer, Lehrer zu werden, ist fünfmal so hoch wie für Abgänger anderer Schulen. Allerdings zeigt sich auch, dass die Neigung zu studieren leicht unterrepräsentiert ist. Der Erfolg der Waldorf-Pädagogik, der unbestreitbar ist, misst man die Abschlussquote im Vergleich zum öffentlichen Schulsystem, hängt in erster Linie von diesem sozialen Faktor ab.

    Eine Bedingung für das Gelingen von anthroposophischen Schullaufbahnen ist, dass Elternhaus und Herkunftsmilieu sich auf die Weltanschauung der Steinerianer wenigstens in soweit einlassen, dass sie das romantische Kindheitsideal, eine gewisse Askese und Hochschätzung bildungsbürgerlicher Kulturwerte, einen typischen Mittelschicht-Lehrplan und eine gewisse lebensreformerische und antimaterialistische Weltsicht teilen können. Der zeitgenössischen Kindheits- und Jugendkultur sowie der Massenkultur eher abgeneigt, gelingt es Eltern von Waldorfschülern in der Regel, ihrem Kind grundlegende Konflikte zwischen Wertehaltungen in der Schule und im Elternhaus zu ersparen. Auch sind Eltern gehalten, der Forderung nach einer ganzheitlichen Formung des Kinder nachzukommen. Die Idee der in die Schule verlängerten Familie schließt natürlich auch mit ein, dass die Kinder sich einer geschlossenen Front aus Schule und Eltern gegenüber sehen und nicht, wenigstens von einer Partei, Rückenstärkung gegen die andere holen können. Die soziale und kulturelle Kontinuität bringt zwangsläufig einen verengten Horizont mit sich. Differenzierung und Pluralismus sind keine Tugenden der Waldorfschule, ebenso wenig die Symmetrie in den Lehrer-Schüler-Beziehungen. Ein basisdemokratisches Elternhaus sollte eigentlich mit der betont autoritativen Rolle, die Lehrer an der Waldorfschule spielen, in Widerspruch stehen [1].

    Zentrale Aufgabe der anthroposophischen Schulausbildung ist die Entwicklungssorge und die Stärkung der persönlichen psychischen, künstlerischen und kognitiven Ressourcen sowie die Harmonisierung der individuellen Einseitigkeiten von Temperament und Konstitution. Die Pädagogik ist abgeleitet von Steiners anthroposophischem Weltbild, von analogem Denken, Ganzheitlichkeit, Lebenspraxis. Die Waldorflehrkraft versteht sich in den Anfangsjahren hauptsächlich als liebevolle Erzieherin und versteht ihre Aufgabe als Gärtner, Heilerin und Priester. Das hat Vor- und Nachteile, wie wir gesehen haben. Bestimmte soziale Fähigkeiten werden stärker ausgebildet: Unabhängigkeit und Teamfähigkeit, ganzheitliches Denken und kreative Problemlösung sehen ehemalige Waldorfschüler zumindest in ihrer eigenen Wahrnehmung als ihre besonderen Stärken an. Vor allem in ihrer Kreativität fühlen sich Waldorfschüler durch ihre Schulausbildung besonders gestärkt. Als nachteilig empfinden sie die geringe Betonung ihrer akademischen Leistungsfähigkeit und ihrer intellektuellen und allgemeinen Verbindung zur Außenwelt – im Licht der anthropologischen [sic] Lehren eine durchaus realistische Selbstwahrnehmung [2]. Darüber hinaus vermissen die Abgänger an sich tendenziell Durchsetzungswillen, Selbstdisziplin, Genauigkeit und Leistungsstreben, während sie sich andererseits für besonders interessiert, unabhängig, tolerant und selbstsicher halten. Als weiteren Vorteil empfinden die Absolventen, dass sie sich weniger stark von ökonomischen Motiven bei ihrer Berufswahl bestimmt fühlen als das allgemein der Fall ist, was aber auch mit ihrem sozialen Hintergrund zusammenhängen kann.

    Es bleibt zu erwähnen, dass Steiners Schulen – wie alles, was mit Pädagogik zu tun hat – in Deutschland immer wieder heftig umstritten waren. Das liegt sicherlich an der besonderen Brisanz, die allen erzieherischen Fragen hierzulande grundsätzlich anhaftet, nicht erst seit dem Nationalsozialismus und der deutschen Teilung. Der deutsche pädagogische Diskurs war in der Vergangenheit phasenweise vergleichsweise produktiv – man denke beispielsweise an die in Deutschland gegründete Kindergartenbewegung, die auch international viel Beachtung und Nachahmung fand – andererseits scheinen unterschiedliche Erziehungskonzepte hier schon seit dem 19. Jahrhundert mit besonderer Verbissenheit umkämpft zu sein. Im Fall der Waldorfpädagogik kommt die “Versteinerung” erschwerend hinzu – anders als im anglo-amerikanischen Ausland fehlte es den deutschen Anthroposophen an Reformwillen; Steiners Wort blieb bindend. Das musste sich besonders fatal dort auswirken, wo der Meister in völkerpsychologische, nationalistische oder gar rassistisches Fahrwasser geriet, und diese Quellentexte dann zur Unterrichtsgrundlage gemacht wurden. Zurecht wurde immer wieder der teilweise unkritische Umgang mit den Erblasten Steiners und der Steinerianer angeprangert.

    Ein prominentes Beispiel ist der Fall Uehli. Der Waldorflehrer und enge Mitarbeiter des Gurus systematisierte in seinem Buch “Atlantis und die Rätsel der Eiszeitkunst” aus dem Jahr 1936 rassistische Auslegungen der anthroposophischen Kosmologie. Darin heißt es zum Beispiel, der arischen Rasse sei bereits in der atlantischen Zeit “der Keim zum Genie” in die Wiege gelegt worden. Im Sommer 2000 beantragte das Bundesfamilienministerium bei der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften, das 1980 unverändert neu aufgelegte Buch zu verbieten. Es erfülle zweifelsfrei den Sachverhalt der Rassendiskriminierung. Der Geschäftsführer des Waldorfschulbundes distanzierte sich daraufhin aufgrund des großen öffentlichen Echos von Uehlis Buch und versicherte, der Titel werde von der Liste der Waldorflektüre verschwinden. Nachdem auch der Verlag die Restauflage eingestampft hat, verzichtete die Bundesprüfstelle auf eine Indizierung.

    Aufregung verursachen auch immer wieder rechtsradikale Lehrer an Waldorfschulen, die sich möglicherweise von Steiners Völkerpsychologie angezogen fühlen und die Arbeitsmöglichkeit abseits vom öffentlichen Dienst schätzen. Diese Fälle lassen sich jedoch nicht verallgemeinern. Da jede Waldorfschule ihre eigenen pädagogischen Richtlinien verabschiedet, muss die eigene Schule unter die Lupe nehmen, wer wissen will, ob das eigene Kind Literatur aus dem völkischen oder rassistischen Giftschrank vorgesetzt bekommt beziehungsweise Lehrer, die sich danach ausgebildet haben.

    Über die aktuelle Waldorf-Situation resümiert Helmut Zander:

    “Die Identität von Waldorfschulen scheint sich in einem komplexen Prozess auszumitteln, in dem eine selektive Beanspruchung von Steiners Werk, lokale Interessen von Schulen und Kollegien und die steuernde Gewalt des ‘Bundes der Freien Waldorfschulen’ in Stuttgart wichtige Positionen einnehmen.”[3]

    Der kleinste gemeinsame Nenner bleibe aber doch immer Steiners umfangreicher Vortrags- und Schriftenkorpus.

    Neben der Frage des Unterrichts auf Grundlage menschlich und historisch inakzeptabler Positionen Steiners beschäftigt auch die Frage des christlichen Religionsunterrichts immer wieder die Waldorfpädagogik. Dass Protestanten und Katholiken durch entsprechende Schulstunden priveligiert werden, war ein Kompromiss, den Steinerschulen mit dem Staat schließen mussten. Religionslehrer sind aber heute nicht den anderen Waldorf-Lehrern im Kollegium gleichgestellt. Der Dreigliederungs-Idee der Anthroposophie widersprach die Staatsnähe der großen christlichen Kirchen, und so gab es immer wieder Anläufe, die enge Vermählung von Staat und Kirche infrage zu stellen. Seit den achziger Jahren versuchen Anthroposophen auch an öffentlichen Schulen dagegen vorzugehen.

    “Die Anthroposophie verträgt sich nicht mit dem Staatschristentum und damit auch nicht mit der bayerischen Politik”,

    heißt es auf der Homepage des Instituts für Dreigliederung, das die Klage des Grundschullehrers Ernst Seler gegen das Kruzifix in bayerischen Klassenzimmern unterstützte.

    “Anthroposophie heißt eben auch soziale Dreigliederung, welche für den Einzelnen absolute Religionsfreiheit bedeutet. Der Staat darf von daher Kruzifixe in Schulen weder aufhängen noch abhängen lassen. Die soziale Dreigliederung bedeutet aber noch mehr, nämlich völlige pädagogische Freiheit des einzelnen Lehrers. Der Staat und seine Lehrpläne haben demnach in Schulen überhaupt nichts zu suchen. Inhalt der Schulerziehung ist Privatsache. Daraus ergeben sich ganz neue Gesichtspunkte zur Beurteilung der Kopftuch-Debatte.”[4]

    Neben solchen mehr oder weniger ernsthaften Umtrieben im Zusammenhang mit der Waldorfbewegung muss allerdings auch auf eine entgegengesetzte Entwicklung hingewiesen werden: Durch das rasante Wachstum der Waldorf-Pädagogik ist es immer schwieriger geworden, in der Wolle gefärbte Anthroposophen als Lehrer zu finden. Hinzu kommt eine angeblich extrem hohe Fluktuation des Lehrpersonals aufgrund der hohen Arbeitsbelastung jedes Einzelnen. Das führt dazu, dass viele Lehrkräfte an Waldorfschulen inzwischen wenig oder so gut wie nichts über die Anthroposophie wissen und daher Entsprechendes auch nur sehr begrenzt weitergeben können. Wie stark anthroposophisch orientiert eine Waldorfschule am Ende ist, hängt vom Einzelfall ab. Eine verallgemeinernde Beurteilung ist deshalb nur begrenzt möglich. Am Ende muss man bei einer Bilanz der Waldorfpädagogik wohl unterrichtspraktische Vorteile und den vergleichsweise individuellen psychosozialen Schon- und Entfaltungsraum gegen die anthroposophische Entwicklungsmythologie mit ihren anti-intellektuellen Komponenten abwägen [5].

    Textauszug aus: Miriam Gebhardt: Rudolf Steiner – Ein moderner Prophet, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2011, S. 297-304.

    Ein weiterer Auszug ist hier online zu finden. 

    _________________________________________________________________

     

    © Quirin Leppert

    © Quirin Leppert

    Miriam Gebhardt, geboren 1962, ist Historikerin und Journalistin.

    _________________________________________________________________

    Fußnoten

    [1] Till-Sebastian Idel: Waldorfschule und Schülerbiographie – Fallrekonstruktionen zur lebensgeschichtlichen Relevanz anthroposophischer Schulkultur, Wiesbaden 2007.

    [2] Ebd., 193.

    [3] Helmut Zander: Anthroposophie in Deutschland, Göttingen 2007, S. 1450.

    [4] http://www.dreigliederung.de/news/01121800.html.

    [5] Rüdiger Iwan: Die neue Waldorfschule. Ein Erfolgsmodell wird renoviert, Hamburg 2007.


    Einsortiert unter:Literarisches, Miriam Gebhardt

    Ein Geschenk zum neuen Jahr? Heiner Ullrichs Biographie „Rudolf Steiner“

    $
    0
    0

    (von Stephan Geuenich)

    Zum 150. Geburtstag Rudolf Steiners erschienen drei kritische und unabhängige Biographien. Eine davon floss aus der Feder des Erziehungswissenschaftlers Heiner Ullrich. Seine Doktorschrift „Waldorfpädagogik und okkulte Weltanschauung“ dürfte in der Diskussion um Steiner und die Waldorfpädagogik bekannt sein. Der Titel des neuen Buches: „Rudolf Steiner – Leben und Lehre“: Es geht um eine Einführung „in das Leben und die Entwicklung der Lehre Rudolf Steiners“, „mit größtmöglicher Fairness“.

    Damit wären wir schon beim Inhalt angekommen: Nach einer ersten Darstellung des Lebens Rudolf Steiners versucht Ullrich in einem Rundumschlag, möglichst viele Aspekte von Steiners Wirken aufzuzeigen. Zum Schluss steht, ganz seiner akademischen Provenienz entsprechend, eine Darstellung der Waldorfpädagogik im Zentrum.

    Die Ausgangslage von Ullrichs „wissenschaftliche(r) Auseinandersetzung mit Rudolf Steiner“ stellt dessen Autobiographie dar. In die historischen Begebenheiten einordnend, werden die verschiedenen Stationen in Steiners Leben nachvollzieh- und erklärbar. Vor allem der gesellschaftliche und wissenschaftliche Wandel zu Beginn des 20. Jahrhunderts und die damit verbundenen Reaktionen auf die entstandene Unüberschaubarkeit erhellen – wenn auch nicht originell und das erste Mal – gewisse biographische Aspekte. Beispielhaft schreibt Ullrich:

    „Die literarischen und weltanschaulichen Kreise, in denen der junge Steiner damals [angesprochen ist hier seine Wiener Zeit, Anmerkung S.G.] … verkehrte, waren überwiegend von einer rückwärtsgewandten idealistischen und spätromantischen Atmosphäre und von katholischtheologischen Orientierungen bestimmt. Und so stand Steiner selbst […] den vielen Gestalten des Fortschritts … höchst skeptisch gegenüber.“ (S. 18)

    Damit einher geht das Verhaftetsein Steiners in einem „vordarwinistischen idealistischen All-Einheitsdenken“ (S. 21) vor dem Hintergrund des Wirkens von Ernst Haeckel. Ullrich kratzt abermals an der bevorzugten anthroposophischen Darstellung eines stringenten Lebenslaufs. Das ist zwar nicht neu. Doch die 90 Seiten über Steiners Biographie sind angenehm unaufgeregt, mit wissenschaftlichem Anspruch und mit kleinen Details angereichert – und damit lohnt sich das Lesen sowohl für mit dem Thema Vertraute als auch „Neulinge“.

    “fortschreitender Prozess”?

    Zur bevorzugten anthroposophische Darstellung von Steiners Leben als fortschreitendem Prozess der Selbsterkenntnis, finden sich in diesem Buch immer wieder zurecht angebrachte Klarstellungen: zum vergeblichen Versuchs Steiners eine Universitätslaufbahn einzuschlagen, zu mitunter amüsanten Aussagen zur Theosophie während seiner Berliner Zeit, den Bekundungen zum Anarchismus, von welchem er sich später distanzierte, oder der Behauptung der inneren Konsistenz und Kontinuität von der naturwissenschaftlich orientierten Weltanschauung hin zur Anschauung einer übersinnlichen geistigen Welt. Ebenso wird dargestellt, dass Steiner mit Erfolg das Bild seines stringenten Lebenslaufs installierte:

    „Steiner ist es tatsächlich gelungen, in seiner Anhängerschaft seine Sicht der eigenen Entwicklung als eines kontinuierlichen Bildungsganges vom idealistischen Goethe-Verehrer über den nietzscheanischen Freigeist und individuellen Anarchisten zum Anführer der deutschen Theosophen durchzusetzen.“ (S. 50)

    Ullrichs ausgesprochen guter Überblick über das Wirken Steiners, verdient besondere Anerkennung im Hinblick darauf, dass es sich um einen ersten Einstieg in dessen Leben und Werk handelt. In aller Kürze und Prägnanz wird „das Programm für eine umfassende spirituelle Erneuerung des Lebens nicht nur in der Kunst, sondern auch in Politik, Erziehung, Medizin, Religion, Landwirtschaft und Heilpädagogik“ (S. 75) dargestellt. Auch hierbei wird deutlich, dass es sich wohl kaum um ein stringentes Wirken handelte, sondern vielmehr um im Zeitgeist verhaftete Ansätze, Überlegungen und Agitationen. Das Eintreten für die Theorie der „Dreigliederung des sozialen Organismus“ – ein “dritter Weg” zwischen Kapitalismus und Sozialismus – mit der er prominente Unterstützer erreichte, kann dafür beispielhaft genannt werden. In der öffentlichen Wahrnehmung dauerhafter und erfolgreicher waren die Gründung der Freien Waldorfschule, die Konzeption einer „geisteswissenschaftlich“ erweiterten Medizin und Pharmazie und vor allem auch die Ideen zur biologisch-dynamischen Landwirtschaft. Auch die von Steiner konzipierte Heilkunst nach „geisteswissenschaftlicher“ Erkenntnis ordnet Ullrich historisch ein. Er zeigt deren Unklarheiten in Bezug zur naturwissenschaftlichen Medizin und Ungereimtheiten auf, auf welche er vor allem in einem späteren Teil seines Buches nochmal zurück kommt.

    Ist Goethe drin, wo Goethe drauf steht?

    Nun sei mir ein kleiner Ausflug zum Bezug Steiners und seiner Theorie zu Goethe und dessen Darstellung bei Ullrich gestattet. Gerade auf die, bis heute wirkende, eigene Goetherezeption und wie diese als Basis für Steiners „fachphilosophisch unzeitgemäßen mystisch-vorkritischen Idealismus“ (S. 25) diente, geht Ullrich etwas genauer ein:

    „Während aber Goethe sich dabei der Begrenztheit seiner Erkenntnis und des Abstandes seines endlichen Geistes vom absoluten bewusst war und aus Ehrfurcht vor dem Unerforschlichen in der sinnlichen Anschauung der Phänomene verblieb, drängte es Steiner von Anfang an über die von Kant gezogenen Schranken der Verstandeserkenntnis hinaus zur unmittelbaren intellektuellen Anschauung der Ideenwelt. Durch die Konzentration auf die Ideenlehre des frühen Goethe und die Vernachlässigung von Goethes Kant- Rezeption sowie durch die enge Bindung der Metamorphosenlehre Goethes an den Darwinismus nahm Steiner Goethes Vorstellungen für seinen eigenen erkenntnistheoretischen Monismus in Anspruch … .“ (S. 31)

    Dass diese Art der Auffassung der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes weitreichende Folgen auf das Konzept seines eigenwilligen Interpreten hatte, wird plausibel erläutert. Diese Erneuerung der mystischen Erfahrung durch Steiner erklärt Ullrich biographisch mit dem Leiden Steiners unter der Entmythologisierung der Welt durch die exakten Naturwissenschaften und die kritische Philosophie. Die hinter Steiners Erkenntnistheorie stehenden Einflüsse und Grundannahmen werden durchaus kritisch wiedergeben und als „im Grunde spekulative Deduktion aus dogmatischer Metaphysik“ (S. 103) charakterisiert. Hierbei wird zurecht auf den Neuplatonismus verwiesen, wobei zwar ideengeschichtlich Autoren wie Jakob Böhmes, Giordano Bruno und Baruch Spinoza genannt werden, jedoch eine Darstellung der diesbezüglich von Steiner verwendeten Quellen ausbleibt.

    Vertieft werden die ideengeschichtlichen Analysen auf mehreren Seiten. Dabei bezeichnet Ullrich die Erkenntnislehre Steiners als „rationalisierte Mystik“, welche „weder Mystik im religiösen Sinn einer Selbstaufgabe in die Unsagbarkeit des Einen noch Philosophie im Sinne einer Wissenschaft der sich selbst begreifenden Vernunft“ (S. 108) ist. Damit hat Ullrich sicherlich nicht ganz unrecht, wenn Mystik als das „Bestreben, durch Abkehr von der Sinnenwelt und Versenkung in die Tiefe des eigenen Seins“ (Preußner 2003a) verstanden wird. Im herkömmlichen Sinne ist dieses Streben bezogen auf die Erfahrung des Göttlichen und Wahren, weswegen hier durch die Bezeichnung „rational“ die gewollte und behauptete Wissenschaftlichkeit, gegenüber einer religiösen Suche, Erwähnung findet. Dennoch weist auch Ullrich auf die letztlich religiöse Komponente in der Selbstanschauung und Erkenntnistheorie Steiners durch den Verweis auf die gnostischen Einflüsse in Steiners Denken und die Annahme der Erinnerung an die „ursprüngliche Identität mit der göttlichen Erkenntnis“ (S. 107) hin. Damit sei, zumindest von meiner Seite aus, einem gnostischen Denken und den unter Umständen vorhandenen Bedürfnissen und Verlangen nach tieferer und eventuell übersinnlicher Erkenntnis, gerade im Hinblick auf existenzielle Grundfragen, nicht die Existenzberechtigung abgesprochen.

    In einer Beurteilung und Vergleich der drei kürzlich erschienenen Biographien zu Steiner betont Heisterkamp in diesem Zusammenhang, dass derartige Strömungen als wirklich hilfreich und weiterführend für einige Menschen anzusehen seien. Das ist sicherlich richtig. Zu unterscheiden ist ein derartiges Bedürfnis und Bestreben jedoch von wissenschaftlichem Forschen. Dies ist gekennzeichnet durch Falsifizierbarkeit, Überprüfbarkeit und Nachvollziehbarkeit, sowie der generellen Möglichkeit einer Veränderung von Betrachtungsweisen und damit Wahrheiten.

    Ein leidiges Thema: Die Wissenschaftlichkeit der Anthroposophie

    Damit bereits angesprochen ist Steiners Wissenschaftsverständnis und die Beurteilung des Autors derselben:

    „Zwischen der «essentialen» Wissenschaft Steiners … und der Forschungspraxis sowie dem theoretischen Selbstverständnis der modernen Wissenschaften besteht eine unüberbrückbare Kluft. … Im Gegensatz zur bewussten methodischen Selbstbegrenzung, zur Pluralität und prinzipiellen Unabschließbarkeit moderner wissenschaftlicher Forschung wollen Rudolf Steiner und seine Schüler weiterhin die Welt als ein wohlgeordnetes Ganzes gleich einer ewig unwandelbaren Wahrheit erkennen. Sie wollen in der Form der zwingenden Wissenschaft das erkennen, was sich gerade so nicht wissen lässt. Ihre Denkform ist … philosophierende Weltanschauung … .“ (S. 109- 110)

    Damit kann wieder der Bogen zur historischen Einordnung und die zeitgenössische Reaktion auf historische Begebenheiten geschlagen werden. Ganz der sogenannten Reformpädagogik entsprechend, will die „Steinersche Erkenntnislehre Kritik an der neuzeitlichen Vernunft sein“ (S. 110). Dem Pluralismus und der modernen Unsicherheit wird remythologisierend und romantisierend begegnet und eine Versöhnung von Wissenschaft, Religion und Kunst angestrebt. Ullrich unterscheidet hier zwei Richtungen in Steiners Lehre, den zuvor erwähnten Goetheanismus, welcher Steiners erkenntnistheoretischem Frühwerk entspräche und die darauf folgende anthroposophische Geisteswissenschaft, die sich u.a. durch die Vision übersinnlich anschaubarer Wesenheiten und kosmisch-geistiger Kräfte auszeichnet und die Basis für die späteren lebensreformerischen Initiativen darstelle. In diesem Zuge wird unter anderem auf die Lehre der Drei- sowie Viergliederung und auf sich aus diesen beiden Konzepten ergebende Widersprüchlichkeiten eingegangen. Statt z.B. entwicklungspsychologischer Ansätze aufzugreifen, griff Steiner u.a. „auf eine antik-mittelalterliche Denk- und Ordnungsform zurück: hier die mythologisch begründete Hebdomadenlehre der frühen Griechen.“ (S. 151) Auch gerade bei diesem Aspekt ergibt sich bezogen auf die durch den Autodidakten entwickelte Pädagogik:

    „Doch im Gegensatz etwa zu den zeitgenössischen Ansätzen John Deweys und Maria Montessoris, die ihre Neue Erziehung auf die empirische Kinderpsychologie gründeten, entwarf Steiner den Plan der Erziehung gänzlich aus seiner kosmisch-spiritualistischen Anthropologie“, in seinen eigenen Worten ausgehend „von einer Betrachtung der verborgenen Natur des Menschen“ (S. 152).

    Dass Steiners Hebdomaden- sowie Temperamentenlehre als Anachronismus anzusehen ist, ist aus einer erziehungswissenschaftlichen Perspektive nicht verwunderlich. Ob der Verweis auf mögliche Ursprünge dieser Ideen Steiners in der zeitgenössischen Ratgeberliteratur und der «Geheimlehre» Blavatskys etwas am Festhalten Steiners an der „alteuropäischen Jahrsiebtenlehre und am hippokratisch-galenischen Viererschema der Temperamente“ (S. 183) ändert, sei dahin gestellt. Die erneute Betonung der angeblichen Unantastbarkeit überzeitlich geltender Wahrheiten, die durch die „Verlagerung der «wahren Erkenntnis» ins Übersinnliche und ihre Bindung an das Absolvieren eines meditativen Schulungsweges“ (S. 184) scheinbar fundiert ist, ist in diesem Kontext richtig. Das Fazit Ullrichs zur Wissenschaftlichkeit der Geisteswissenschaft Steiners als „ein Versuch der Rehabilitierung mythischer Denk- und Lebensformen“ (S. 191) wird von anderen, Ullrich kritisierenden, Rezensenten verneint und kann allerhöchstens aus einer begrifflichen Diskussion über den Mythos nachvollzogen werden. So stellen die anthroposophischen „Bilder und Analogien“ nicht eine anschauliche Basis für eine fundierte philosophische Theorie dar (vgl. Preußner 2003b), sondern entsprechen der behaupteten Erkenntnis.

    Von Hagiographien und Polemiken

    In dem Kapitel Rezeption und Kritik geht Ullrich zuerst auf die Schwierigkeit der Rezeption, bei einer gleichzeitig unüberschaubaren Fülle an Literatur von und über Steiner, ein. Dabei verwendet er u.a. die Begrifflichkeit der Hagiographie, womit die unkritische Darstellung eines Heiligen bezeichnet wird. Der verehrenden Haltung auf der einen Seite werden polemische Kritiken auf der anderen Seite, mit dem leicht spöttisch anmutendem Hinweis, gegenübergestellt:

    „Sowohl die anthroposophische Würdigung Steiners als auch die nichtanthroposophische Kritik kranken an einem Übermaß von Betroffenheit und Parteinahme.“ (S. 175)

    Die Beantwortung der Frage, ob dieses Übermaß an Betroffenheit tatsächlich auf die Thematik der „«letzten Fragen» nach dem Grund und dem Sinn des Lebens“ (S. 175) zurückzuführen ist, möchte ich den so gerne diskutierenden Leser_innen überlassen. Aber nun weiter zum Thema der Rezeption und Kritik der Lehre Steiners: Vor dem Hintergrund wissenschaftlicher Bescheidenheit und damit verbunden der Einsicht in die geschichtlich und menschlich bedingten und begrenzten Erkenntnismöglichkeiten, betont Ullrich die Fragwürdigkeit der Steinerschen Erkenntnislehre, welche dem Menschen unbegrenzte Erkenntnismöglichkeit der ewigen Ideen andichtet. Dies steht im Zusammenhang mit dem Begriff der Freiheit, welcher

    „sich streng genommen als ein Determiniert-Sein durch die Welt der Ideen [erweist], wenngleich sich diese Determination … weder als ein Müssen noch als ein Sollen, sondern als ein Selber-Wollen dieses Allgemeinen erkennen lassen sollte.“ (S. 177-178)

    Einmal mehr stellen derartige Feststellungen keine großartigen Neuigkeiten dar, jedoch werden unmissverständlich mit der Anthroposophie verbundene Probleme aufgezeigt. Z.B. die bereits genannte mangelnde ethische Ausrichtung und die Determiniertheit der Freiheit: Freiheit bedeutet schlussendlich die „Erkenntnis über den Weltzusammenhang“, eine „Freiheit zum vorgegebenen Gesetz“ (S. 179).

    Waldorfpädagogik

    Bevor hier weiter auf die Darstellung der Waldorfpädagogik bei Ullrich eingegangen wird, sei am Rande ein Aspekt der Waldorfschule erwähnt, die Ähnlichkeit zur Hamburger Lebensgemeinschaftsschule. Auch wenn eine historische Einordnung an der Genialität und Einzigartigkeit des Urhebers rüttelt (darauf kommt Vögele in seiner Rezension immer wieder zu sprechen, z.B. so: „Im historischen Kontextualisieren will er es offensichtlich Zander (2007) gleichtun, indem er kaum eine Schöpfung Steiners als ursprünglich oder originär gelten lässt“) wäre es interessant, diesen Aspekt noch etwas näher zu Beleuchten, ebenso wie die Frage, ob Steiner weitere Anleihen aus reformpädagogischen Schulprojekten seiner Zeit nahm. In einer groben Darstellung der verschiedenen Facetten der Waldorfpädagogik (vom Klassenlehrer, über den Epochenunterricht, die Temperamentserziehung, die Zeugnisgestaltung bis hin zur räumlichen Gestaltung der Waldorfschule) geht Ullrich auch auf das Thema der Waldorfschule als „eine Schule mit einer besonderen pädagogischen Prägung“ (S. 206) im Gegensatz zu einer Weltanschauungsschule ein.

    So werde Anthroposophie nicht als Fach und Inhalt gelehrt, sondern es stehe nur das „Wie“, also die anthroposophische Methode im Mittelpunkt. An diesem „Wie“ sind die genannten Aspekte der Waldorfpädagogik ausgerichtet. Allerdings lässt sich damit Fragen, inwieweit nicht doch auch Inhalte und Betrachtungsweisen der Anthroposophie (z.B. vermittelt über die „Behandlung“ der Temperamente, was Waldorfschüler_innen durchaus bewusst ist) vermittelt werden. Ullrich geht in diesem Kontext beispielhaft auf die inhaltliche Nähe der an der Waldorfschule vermittelten Pflanzenseelenkunde zum Geist der Anthroposophie ein. Bei dieser beziehe der_die Waldorflehrer_in „in seine «goetheanistische Naturauffassung» eine spirituelle Dimension mit ein“ (S. 217).

    Ähnlich anderen sogenannten reformpädagogischen Konzepten (wie z.B. dem von Maria Montessori), ist auch bezüglich der anthroposophischen Pädagogik und pädagogischen Theorie zu betonen, dass dieses „(spirituell-)naturalistische … Erziehungsverständnis … weder ethisch noch empirisch-psychologisch fundiert“ ist (S. 158). Ganz im Sinne des Pathos vom «heiligen Kinder» erscheint nach Ullrich die Erziehung auf Basis der anthroposophischen Lehre als Inkarnationshilfe und geistige Erweckung. Dabei wird „der Erzieher … zum Priester und Seelenführer des Kindes“ (S. 158). Dass dieses Verständnis von Erziehung und der Aufgabe der Pädagogik die Basis der 1919 gegründeten Freien Waldorfschule ist, betont Ullrich im weiteren Verlauf erneut:

    „Die in der pädagogisch interessierten Öffentlichkeit weit verbreitete Ansicht, die Freie Waldorfschule sei eine Schule mit einer besonderen reformpädagogisch-kindorientierten Prägung, greift zu kurz. Sie unterscheidet sich von den anderen Schulen der klassischen Reformpädagogik des frühen zwanzigsten Jahrhunderts – und erst recht von den Alternativschulen der zeitgenössischen Reformpädagogik – durch den hohen Grad der «Spiritualisierung» und Ritualisierung in allen Bereichen ihrer Schulkultur. Ihr Ausmaß an weltanschaulicher Geschlossenheit sucht hierzulande noch ihresgleichen.“ (S. 223)

    Empirische Studien

    Zu guter Letzt geht Ullrich auf drei empirische Studien von Dahlin, Barz & Randoll, sowie Helsper & Ullrich ein. Nicht verwundern dürfen Ergebnisse, wie die der schwedischen Evaluationsstudie, dass „Waldorfeltern in Schweden eine relativ homogene soziale Gruppe darstellen“ (S. 234). Gekennzeichnet ist diese u.a. durch ein Mittelschicht-Einkommen, eine eher ökologisch linke politische Einstellung und eine mehrheitlich religiös oder spirituell bestimmte weltanschauliche Orientierung. Dadurch trägt die Waldorfschule – auch wenn das nicht Intention sein mag – natürlich zu sozialer und kultureller Segregation bei.

    Dieses Ergebnis entspricht auch der Studie von Barz & Randoll, nach der Waldorfschüler_innen auch in Deutschland „überwiegend aus der gehobenen, akademisch gebildeten Mittelschicht stammen“ (S. 236) mit einem hohen Anteil von Akademikerfamilien, was sich auch auf die Anzahl von Waldorfabsolvent_innen mit einer Hochschulausbildung auswirkt (46,8 % gegenüber 12 % der Gesamtbevölkerung). In der erstgenannten Studie wurden auch Schulleistungstests mit einbezogen, wobei der Sinn derartiger Vergleiche meiner Meinung nach generell in Frage gestellt werden kann. Entgegen des Nichterreichens vorgegebener Standards, insbesondere im Fach Mathematik, müssen durchaus die anderen erhobenen Aspekte positiv erwähnt werden: Waldorfschüler_innen fühlen sich wohler an ihrer Schule als Schüler_innen an Regelschulen, ihre sozialen Kompetenzen sind höher, demokratische Leitziele werden eher erreicht und es herrscht vermehrt Offenheit und Toleranz gegenüber Außenseitern. „Insgesamt legen die Antworten die Schlussfolgerung nahe, dass die Waldorfschulen mehr aktive, verantwortungsbereite, demokratische junge Bürger hervorbringen als die Regelschulen.“ (S. 235) Jedoch muss dabei darauf hingewiesen werden, dass derartige Ergebnisse „bei der sozialen Herkunft von Waldorfschülern aus der gehobenen, akademisch gebildeten Mittelschicht kaum erstaunen“ (Widulle) können.

    Insgesamt scheint sich nach Ullrich die Waldorfpädagogik en gros ausschließlich auf sich selbst zu beziehen. Entgegen der Rezeption und Übernahme von Anregungen reformpädagogischer Konzepte, wie beispielsweise das Material von Montessori in einigen staatlichen Grundschulen, hat die Waldorfpädagogik demnach kaum einen „Effekt auf die Reform und Entwicklung der staatlichen Schulen gehabt“ (S. 244). Trotz des von ihm genannten Dialoges zwischen Erziehungswissenschaftler_innen und Waldorfpädagog_innen ist diese Möglichkeit, bei dem überwiegend uneingeschränkten und unkritisch verbleibenden Bezug auf Rudolf Steiner durch seine Anhänger_innen, auch nur schwer denkbar. Für einen wirklichen Austausch müsste gerade auch die „Waldorfschule teilhaben, jedoch mit dem Bewusstsein der zeitlichen Bedingtheit und Möglichkeit, auch vermeintlich bewährte Aspekte zu überdenken.“ (Geuenich 2009, S. 152) Wird weiterhin beispielsweise an der kosmisch begründeten Höherentwicklung des Menschen, der Stellung Rudolf Steiners als Eingeweihter esoterischen Wissens, sowie fraglichen Konzepten wie der Einteilung in Temperamente festgehalten, kann meiner Meinung nach „die esoterisch begründete Waldorfschule weiterhin nur neben einer exoterisch zu begründenden öffentlichen Schule stehen“ (ebd). Das sieht ein weiterer Rezensent ähnlich, wenn er schreibt:

    „Dialog und Öffnung der Waldorfpädagogik werden … vermutlich prekär bleiben und wie in bereits bekannten Fällen der Kritik an der Anthroposophie, z.B. der Polemik von Ravagli gegen Zanders „Anthroposophie in Deutschland“ (2007) werden sie von den Hütern der reinen anthroposophischen Lehre wohl erschwert werden.“ (Widulle)

    Die positiven, auch von Ullrich genannten Beispiele, bieten jedoch Anlass, die Hoffnung nicht aufzugeben.

    Ein kurzes Fazit

    Das Buch von Ullrich kann sowohl für mit dem Thema Vertraute als auch für „Neueinsteiger“ empfohlen werden. Manch eine_r mag die Polemik vermissen, den anderen ist es wahrscheinlich zu historisch kontextualisierend. Gerade deswegen bietet es aber einen prägnanten, gut lesbaren und ideologisch unabhängigen Überblick über das Leben Steiners, seine theoretischen Konzeptionen und lebensreformerischen Konzepte. Auch wenn nicht viel Neues angeführt wird, stellt Ullrich die genannten Aspekte fundiert dar. Entsprechend der Aussagen von Kiersch, nach denen Ullrich hier „eine ungewöhnlich faire Darstellung gelungen“ sei, – wobei der Rezensent in diesem Fall einerseits den wissenschaftlichen Anspruch Ullrichs selbst in Frage stellt, sowie andererseits auf die Intention Steiners, keine Wahrheiten anzupreisen rekuriert – kann ich nur bestärken, dass er dem Anspruch der „größtmöglichen Fairness“ vor dem Hintergrund seiner eigenen Herkunft gerecht werden kann. Dazu soll Ullrich selbst noch einmal zu Wort kommen:

    „Die Rezeption der Anthroposophie war von Steiners Lebzeiten an bis heute äußerst kontrovers. Die Art und das Ausmaß der Kritik und der Anerkennung hängen zum großen Teil vom disziplinären Standpunkt des Betrachters ab. Die Vertreter der akademischen Philosophie akzentuieren vorwiegend die erkenntnistheoretischen und ethischen Begründungsschwächen der Anthroposophie. Die wissenschaftstheoretischen Analysen fokussieren dagegen die unübersehbaren Affinitäten zwischen der anthroposophischen Weltanschauung und Formen des vorwissenschaftlichen, speziell des mythischen Denkens. Religionsphilosophische und theologische Arbeiten betonen schließlich die enge Verwandtschaft der Steinerschen Anthroposophie mit der Mystik und insbesondere mit dem Traditionsstrom der Gnosis. Die vor kurzem vorgelegte monumentale ideengeschichtliche Analyse Helmut Zanders (2007) leistet eine weit ausgreifende historische Kontextualisierung der Gedankenwelt und der lebensreformerischen Initiativen Rudolf Steiners innerhalb der Kulturkritik um 1900“ (S. 201).

    Wird eben diese verschiedenartige Betrachtungsweise berücksichtigt, kann das hier rezensierte Buch mit einem Augenzwinkern durchaus als ein Geschenk zum neuen Jahr betrachtet werden.

    __________________________________________________________________

    Zum Autor: Stephan Geuenich, M.A.-Pädagoge, Lehrbeauftrager am Institut für Allgemeine Pädagogik und Bildungsforschung der Uni München und tätig als Behindertenassistent, Autor des Buches “Die Waldorfpädagogik im 21. Jahrhundert. Eine kritische Dikussion.”

    __________________________________________________________________

    Quellen:

    - Geuenich, S. (2009). Die Waldorfpädagogik im 21. Jahrhundert. Eine kritische Diskussion. Münster: Lit.

    - Heisterkamp, J. (2011). Drei neue Steiner-Biographien. Aufgenommen in den Kanon. [27.01.2011].

    - Kiersch, J. (2011). Der springende Punkt. Heiner Ullrichs Argument gegen die Wissenschaftlichkeit der Anthroposophie. [26.01.2011].

    - Preußner, A. (2003a). Mystik. In: W. D. Rehfuss (Hrsg.), Handwörterbuch Philosophie, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

    - Preußner, A. (2003b). Mythos. In: W. D. Rehfuss (Hrsg.), Handwörterbuch Philosophie, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

    - Ullrich, H. (2011). Rudolf Steiner. Leben und Lehre. München: C.H. Beck.

    - Vögele, W. G. (2011). Anthroposophie als Black Box. [26.01.2011].

    - Widulle, W. (2011). Heiner Ullrich: Rudolf Steiner. Leben und Lehre. [26.01.2011].

    _________________________________________________________________

    Zu den anderen beiden neuen Steiner-Biographien: Der Besuch der toten Tante sowie Miriram Gebhardt über die Waldorfpädagogik heute.


    Einsortiert unter:Literarisches, Stephan Geuenich

    Wichtige Hinweise – falsche Prämissen

    $
    0
    0
    2011 geht scheinbar auch die Rassismusdebatte mal wieder in eine neue Runde – eröffnet von Uwe Werner, der lange das Archiv am Goetheanum geleitet hat und dem wir schon das Standardwerk zum Thema Anthroposophie in der Zeit des Nationalsozialismus verdanken. Das neue Buch bereichert durch neues Material – und bedient leider auch alte Klischees.

    Zum Stichwort Steiners Rassentheorie scheint mir inzwischen das Wichtigste geklärt zu sein. Von einer irgendwie „völkischen“ Zielsetzung der anthroposophischen Meditationen oder „Praxisfelder“ lässt sich freilich nicht sprechen. Aber. Der 1861 geborene Steiner übernahm in seiner Wiener Studentenzeit Stereotype über „die Volkseelen“ von tiefsinnigen Deutschen, kindlichen Slawen und innovationsfeindlichen Juden und schrieb sogar selbst kurzzeitig für eine deutschnationale „Wochenschrift“. Nach reflektierteren Deutungen in den 1890ern (Vgl. Christoph Lindenberg: Rudolf Steiner und die geistige Aufgabe Deutschlands. Geschichte einer Hoffnung, in: Die Drei, 12, 1989, 884; Helmut Zander: Rudolf Steiner, München 2011, 115f.) überführte er diese Vorstellungen in eine an die Theosophie angelehnte esoterische Entwicklungslehre. Hier war die Rede von „Rassen“ als evolutionären Keimzellen der „Erdentwickelung“. Indianer, Afrikaner und Asiaten seien evolutiv überholte Akteure dieser Fortschrittsgeschichte, für die Gegenwart relevant seien dagegen die „Kulturepochen“ der mental fähigsten „weißen Rasse“. Die aktuelle „Bewusstseinsseelen“-Epoche eines von Erzengel Michael inspirierten Mitteleuropa solle schließlich den „Internationalismus“ fördern, was Steiner aber nicht von Äußerungen über die defizienten „Volksseelen“ europäischer Nachbarstaaten abhielt.

    In den 90ern erhielten diese „Rassen“-Passagen in Steiners Aufsätzen und Vorträgen erstmals die nötige kritische Aufmerksamkeit, als sich die politische Linke von „grün-braunen“ Allianzen in ihrem Umfeld absetzte – doch die berechtigte Kritik schlug bald in falsche Unterstellungen um. AnthroposophInnen, umgekehrt schnell im Glauben, Opfer „ahrimanisch“-roter Allianzen zu sein, betonten demgegenüber nicht nur die für Steiner zentrale Ich-Philosophie: Viele versuch(t)en bis heute, jene rassisch geprägten Elemente seines Denkens möglichst progressiv umzudeuten. Erst in den letzten Jahren haben Historiker wie Helmut ZanderPeter Staudenmaier und Ralf Sonnenberg Deutungen dieser Rassismen vorgelegt, ohne deren vieldeutiges Schwanken zwischen „Universalismus, Eurozentrik und Germanophilie“ (Georg Otto Schmidt) aus den Augen zu verlieren.

    Materialschlacht

    Uwe Werners neues Buch ist kaum ohne diese heftige Debatte zu verstehen. In zahllosen Fußnoten (und einem eigenen Nachsatz zu Peter Staudenmaiers jüngst erschienener Dissertation) diskutiert er die bisherigen rassismuskritischen Veröffentlichungen durch und springt zwischen ihren unterschiedlichen Ansätzen. Offenkundig hat ihn besonders der historisch-kritische Ansatz Helmut Zanders beschäftigt. Dem kann er aber nur unter großen Vorbehalten positive Würdigung abgewinnen –  obwohl er selbst realisiert, dass Steiner die „Wurzelrassen“-Lehre „weitgehend aus der theosophischen Literatur übernahm“. Ähnlich bei Peter Staudenmaier. Der hat im Sommer 2010 in den USA eine Dissertation vorgelegt, in der er die Anthroposophie und ihre faktischen Verflechtungen im unübersichtlichen Netz okkultistischer, völkischer und faschistischer Organisationen für die Jahre 1900-1945 untersucht. (Staudenmaier: Between Occultism and Fascism: Anthroposophy and the politics of Race and Nation in Germany and Italy, 1900-1945, Diss., Cornell University 2010 - Neu sind hier neben ungesichteten Materialien vor allem Details zur (unrühmlichen) Geschichte von Anthroposoph_innen im italienischen Faschismus). Werner kann zeigen, dass (und wo) Staudenmaier stellenweise einseitig gearbeitet hat: Während er akribisch Berührungspunkte von AnthroposophInnen mit dem Faschismus (und umgekehrt) untersucht, kommen die Differenzen sowie biographische und Überzeugungsumbrüche zu kurz. Werner liefert hier wichtige Hinweise und Korrekturen, doch scheint mir insgesamt seine Vermutung fragwürdig, dass hinter Fehlinterpretationen Staudenmaiers ein verstecktes „Motiv“ steckt.

    Rassenbegriff

    Werner sieht auch durchaus,

    dass Steiners Äußerungen über „Rassen“ „implizit eine Hierarchisierung von Menschengruppen enthalten … Es ist die Rede von Dekadenz, Degeneration, auf- und absteigender Entwicklung. Diese Äußerungen werden nicht ohne Grund … von Kritikern moniert.“

    Selbst betont er aber die klaren Differenzen zum völkischen Rassismus, die er bei Staudenmaier so vermisste. Er beschreibt in der ersten Hälfte seines Buchs vor allem Steiners Kritik an „Rassenidealen“ und biologistischer Eugenik und zitiert Äußerungen, in denen Steiner vehement die Obsoletheit von „Rassendifferenzen“ und den Vorrang individueller Selbstbestimmung vor Blut und Genen betont. Hier sieht Werner ein „Engagement gegen Rassismus und Nationalismus“, das die später formulierte Ethik der Allgemeinen Menschenrechte  teile.

    Aus dieser Perspektive heraus verfällt Werner aber einem alten Fehler: dem Versuch, Steiner vor dessen eigenem rassischen Denken in Schutz zu nehmen. So argumentiert er, dieser wollte „nur“ „ein neues, bewusstes Verhältnis zu den“ – wenn auch sekundären – „Rasse-, Volks- und Herkunftsdeterminanten“ gewinnen. Das stimmt zwar, aber Resultat dieses Unternehmens ist eben der monierte Rassismus. Die falsche Prämisse ist die: Menschen ließen sich überhaupt in abgrenzbare „Rassen“ mit unterschiedlichen mentalen Konstitutionen einteilen:

    „Rassen sind Resultat, nicht Voraussetzung rassistischer Argumentation“ (so der auch von Werner zitierte Wulf D. Hund).

    Chinesen etwa wurden nicht immer für „gelb“, Indianer für „rot“ usw. gehalten, die Inkubation dieser Vorstellungen und Kategorisierungen in Europa durchlief lange soziale Konstruktionsprozesse (ebd. - Auch Denker vor Steiner haben die Unhaltbarkeit des Rassebegriffs dargestellt – etwa Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophiegeschichte der Menschheit, VII, 2.), die Steiner aus den Diskursen seiner Zeit übernahm und esoterisch überformte. Auch Werner kann keine Passage aus dem Hut zaubern, in der sich Steiners Rassentypologie sinnvoll ausnimmt. Nur einmal findet sich die – übrigens schlicht falsche – Behauptung, Steiners reinkarnatorische Neuinszenierung der Ahasver-Legende (der selbstsüchtige „ewige Jude“ Ahasver muss umherirren, oder eben: als Mitglied eines „überlebten Volkes“ reinkarnieren, bis er Christus anerkennt) sei nicht antijüdisch konnotiert [1].

     

    Folgen

    Nach diesem durchwachsenen Start eilt Werner im zweiten Teil seiner Studie durch die seltsamen Blüten, die die  inneranthroposophische Rezeptionsgeschichte von Steiners Rassentheorien hervorgebracht hat: Rassismen in den Büchern von Richard Karutz, Ernst Uehli und Sigismund von Gleich –  Alfred Meebold, der Hitler für einen michaelischen Gesandten hielt –  34 Mitglieder der AAG, bei denen sich NSDAP-Mitgliedschaften ausmachen lassen (auch, weil andere Anträge von der Nazi-Partei abgelehnt wurden) – Versuche aus Dornach, das Verbot der deutschen Sektion durch die Betonung von Steiners „arischer Herkunft“ zu verhindern –  die anfänglich begeisterten, aber teils auch beeindruckend kritischen anthroposophischen Bewertungen des Nationalsozialismus (wie bei Albert Steffen und Ita Wegman). Ausführlich etwa werden politisch interessante Tagebucheinträge Steffens zitiert.

    Umgekehrt überblickt Werner die nationalsozialistischen Polemiken gegen die Anthroposophie und gleichzeitigen Pläne eines Rudolf Hess, Demeterlandbau und Waldorfschulen weltanschaulich zu entkernen und nationalsozialistisch zu verwerten. Hier erweist sich Werner als der scharfsinnige und differenzierte Historiker, als der er schon 1999 aufgetreten ist. Er erwähnt wieder neues Material und sichtet vergessene Debatten. Allerdings übergeht er u.a. Wegmans rassentheoretische und Rittelmeyers antijüdische Passagen oder Steffens naive Haltung zum italienischen Faschismus [2].

    An wenigen Stellen referiert Werner Widersprüchliches: So heißt es erst, der Anthroposoph Erhard Bartsch, der Hess die biodynamische Landwirtschaft schmackhaft machte, sei aus anthroposophischer Überzeugung heraus der NSDAP ferngeblieben. Aber dann wird vier Seiten später erzählt, wie ein Mitgliedsantrag desselben von der Partei abgelehnt wurde. Auch die bisher kaum untersuchte Position Marie Steiners oder Steiners Volksseelenlehre vor 1900 werden komplett ausgespart. Das sind sicher keine absichtlichen Auslassungen des Autors, aber Lücken, die noch zu füllen wären.

    Fazit

    Einen Paradigmenwechsel in der Rassismusdebatte wird Werners Buch wohl nicht heraufführen. Vielleicht aber zu einem faireren Diskussionsklima beitragen, durch das sich viele der jüngst erschienenen Beiträge zu diesem Thema auszeichnen: Werner, das ist deutlich zu spüren, geht es trotz seiner apologetischen Passagen nicht um Vertuschung, sondern um Wahrheitsfindung und faire Aufarbeitung. Gerade deshalb aber bleibt ein zentraler Punkt: Wer sich auf eine aktuelle humanistische Aufgabe der Anthroposophie beruft, muss auch den Willen aufbringen, sich von den fraglos zeitbedingten, aber dadurch nicht minder manifesten Rassentheorien eindeutig zu distanzieren.
    ___________________________________________________________________

    [1] Zu Ahasver:

    Werner (S. 52) findet fernab kontextsensibler Analysen, „dass Steiner sich mit Ahasver nicht als Repräsentant des Judentums, sondern als indivdiduelle Persönlichkeit befasste…“. Das ist Haarspalterei. Fakt ist, dass Steiner ein bekanntes rassenantisemitisches Klischee in theosophischen Vokabeln reproduzierte, ohne Nennung des Kontextes, aber auch ohne Distanzierung davon. Zum Ahasver-Komplex bei Steiner siehe Ralf Sonnenberg: „Vergangenheit, die nicht vergehen will“ (S. 9f).

    [2] Zu Rittelmeyer, Wegman und Steffen:

    Rittelmeyer: Deutschtum, Stuttgart 1934, S. 103ff. führt Kapitalismus, „zersetzende Kraft, unfruchtbare Dialektik“ und Materialismus auf  angebliche degenerierte israelische Tugenden zurück und erklärt:

    „Materialismus, Egoismus, Intellektualismus wohnen keineswegs bloß in Judenhäuptern. Sie haben dort nur besonders fähige Vertreter.“

    Wegman: Aus Michaels Wirken, in: N. Stein v. Baditz (Hg.): Aus Michaels Wirken – Eine Legendensammlung (1929), Stuttgart 1959, S. 12-17, schreibt über die denkerische Privilegiertheit der Indogermanen oder die Unfähigkeit des Judentums, eine äußere Kultur zu bilden, weil es alle völkischen „Kräfte“ für die Züchtung des Leibes Jesu verbrauchte – eine erstaunliche Auffassung, die die jahrhundertelange Tradition dieser freilich existenten Kultur konsequent ausblenden muss. Steffen äußerte sich in Mussolinis eigener Zeitung „Regime Fascista“ positiv über die ethnospirituelle Mission Italiens (so Staudenmaier: Between Occultism und Fascism, a.a.O, S. 423).

    Einsortiert unter:Anthroposophie & Rassismus, Literarisches

    “Thilo Sarrazin – Ein Nachfahre der Zigeuner?”

    $
    0
    0

    Neues vom “Europäer” oder: die Vulgarisierung anthroposophischer Rassismen

    Auf meinen letzten Artikel gibt es seit ein paar Tagen plötzlich ein erfreulich (oder beunruhigend) großes Echo per Mail. Das mag an seiner nun auch gedruckten Auslieferung in der anthroposophischen Zeitschrift Info3 liegen oder daran, dass er sich erst jetzt rumgesprochen hat. Das gros der Mailschreiber_innen freute sich über die als “fair” empfundene Besprechung, fand, es sei natürlich wichtig für heutige Anthroposoph_innen, sich von den Rassentheorien Rudolf Steiners abzugrenzen, und formulierte erstaunlich einhellig, dass sei zwar ein wichtiger Punkt zur Vergangenheitsbewältigung, habe aber keinerlei aktuelle Relevanz. Steiners Rassismus sei die eine Sache, aber aktuell werde “sowas” doch von niemandem in anthroposophischen Kreisen ernsthaft wiederholt.

    KritikerInnen sehen dagegen das Problem in einer unreflektierten Weitertradierung rassismuskompatiler Theorieelemente durch das anthroposophische Gedankengebäude. In ihrer 2010 veröffentlichten Dissertationsschrift kam die Berliner Kulturwissenschaftlerin Jana Husmann zu dem Fazit, dass Steiners Rassentheorie schon deshalb zumindest latent und als unausgesprochene Denkvoraussetzung weiterlebe, weil Steiner sie in seine “evolutionäre Spiritualität” verschmolzen hat:

    “Hierin liegt das grundlegende Dilemma Anthroposophie-interner Rassismus-, Eurozentrismus- und Nationalismus-Kritik, das sich letztlich nur durch erhebliche Umschreibung der Steinerschen ‘Geistesschau’ kosmologisch-geschichtlicher Abfolgen enthierarchisieren ließe. … Inhaltlich gehen das Festhalten an diesem Modell und die Behauptung seiner egalitären Struktur mit der Fortschreibung eines Mythos der ‘Ganzheitlichkeit’ einher, dem diese Zentralisierung und Privilegierung von Weißsein und eine konstitutiv dualistische, asymmetrische Struktur inhärent ist. Farblich scheint dabei die Kategorie Weißsein irrelevant geworden zu sein, als spirituelles Erlöserprinzip sich jedoch hartnäckig in Form des vermeintlich farblosen ‘Europäertums’ zu halten.” (Jana Husmann: Schwarz-Weiß-Symbolik. Dualistische Denktraditionen und die Imagination von “Rasse”: Religion – Wissenschaft -Anthroposophie, Bielefeld 2010, S. 355f.)

    Wer das formulierungstechnisch zu komplex findet, mag sich durch einen Blick in die in der Tat farblose Baseler anthroposophische Zeitschrift “Der Europäer” überzeugen. Diese druckte im letzten Sommer noch Karten aus einem auch von nationalsozialistischer Seite geschätzten Entente-Freimaurer-haben-den-Ersten-Weltkrieg-verschuldet-Klassiker nach, der aus der Feder des zeitweiligen Anthroposophen Karl Heise stammte und für das Anthroposophiegründer Rudolf Steiner ein zögerndes Vorwort schrieb (vgl. “Der Europäer”, Abschnitt “Neues zum April”). Neuerdings scheinen komplizierte und, mal ganz ehrlich, ja auch irgendwie langweilige Verschwörungstheorien beiseite gestellt worden zu sein: “Der Europäer” hat den Freudengarten schlechter rassistischer Witze für sich entdeckt.

    Der junge Frank staunt: "Demnach wäre Thilo Sarrazin ein Nachfahre der Zigeuner?" (Auf dem Bild: Sarrazin bei der Vorstellung seines Bestsellers "Deutschland schafft sich ab", Bild von Richard Hebstreit, Wikipedia-Commons)

    Unter dem Namen “Boris Bernstein” schreibt ein “Europäer”-Autor in jeder Ausgabe die Kolumne “Apropos”. Jüngst wird er angeblich von “dem 17-jährigen Jüngling” “Frank” begleitet, “der mir buchstäblich vor die Füße gefallen ist” und der den “Rechtsstaat” strukturell und real für eine Verschwörung prügelsüchtiger Hooligan-Polizisten (und Schlimmerem) hält (Apopros 63). Bernstein ergänzt den Jüngling Frank:

    “Der zitierte 17-Jährige hat mit seinen Beobachtungen weitgehend recht! Was er aber nicht berücksichtigt, ist der Gesichtspunkt der Reinkarnation. Die geistigen Gesetze sind unerbittlich: Jede Verfehlung muss wieder gutgemacht werden. So gibt es keinen Grund, den Kopf hängen zu lassen. Man muss nur die nötige Geduld aufbringen.” (ebd.)

    Genau. Schon Buddha Gautama wusste schließlich:

    “Eine Frau, die in ihrem früheren Leben aufbrausend und jähzornig war, und außerdem noch sehr geizig und nicht bereit war, Mönche und andere Menschen finanziell zu unterstützen, wird in ihrem jetzigen Leben sowohl hässlich als auch arm sein.” (In ‘Bodhi Baum’, zit. bei Peter Michel: Einführung in “Die Weisheitslehren des Buddha: Das Dhammapada”, Neuausgabe Wiesbaden 2010, S. 15)

    Das nächste Leben werden Boris und Bibi Frank also wahrscheinlich mit der meditierenden Polizei im Reinen Lande Amidas zubringen. Bis dahin drohen aber noch schmerzliche Prüfungen und Trennungen. Im Februar 2011 musste Boris Bernstein seine Kolumne – Titelthema diesmal: “Skandale und dämonisch Wirkendes” – ohne seinen jugendlichen Intimus schreiben:

    “Frank, der junge Mann, der – wie hier mehrmals geschildert – in mein Leben gepurzelt ist, kann sich zur Problematik nicht äußern, weil er weit weg an einem wunderschönen Badestrand liegt. Um sein etwas schlechtes Gewissen zu übertönen, hat er mir eine Geschichte geschickt: Es sei schade, meint er, dass Adam und Eva keine Chinesen waren. Denn die hätten statt des Apfels die Schlange gegessen und wir dürften alle noch immer das Paradies genießen…” (Apopros 68)

    Aber immer noch besser hunde-, pferde- und schnlangenessende Chinesen als Araber oder gar Amerikaner: Im März 2011, Frank lag immernoch am “wunderschönen Badestand”, schrieb Boris Bernstein über das in der Tat spannende Thema “Wie Europa nicht nur christlich, sondern auch jüdisch und islamisch geprägt ist”. Bernstein stellte scharfsinnig fest, dass die drei abrahamitischen Religionen offenbar irgendetwas miteinander zu tun haben:

    “Ähnliche Zusammenhänge wie zwischen Judentum und Christentum gibt es nach Rudolf Steiner auch zwischen Christentum und Islam. In einer Fragenbeantwortungäußerte sich Rudolf Steiner zur ‘Wesenheit Allahs’” (Apropos 70)

    Allah sei nun niemand anderes als Ahriman, jener zoroastrischen “Erzverderber”, den Steiner zum dämonischen Schirmherrn des neuzeitlichen Materialismus erklärte (vgl. Ahriman, Avitchis und die Apokalypse). Bernstein zitiert “den Doktor” Rudolf Steiner mit den Worten:

    “Der Mohammedanismus ist die erste ahrimanische Manifestation, die erste ahrimanische Offenbarung nach dem Mysterium von Golgatha. Der Gott Mohammeds, Allah, Eloha, ist ein ahrimanischer Abklatsch oder Abglanz der elohistischen Wesenheiten, der Elohim, aber monotheistisch erfasst. Er bezeichnet sie immer in einer Einheit. Die mohammedanische Kultur ist ahrimanisch, aber die Gemütsverfassung der Islamiten ist luziferisch.”

    Hilfreich erklärt Bernstein: “Nun soll man diese Kräfte ja nicht fliehen, sondern erkennen.” Denn ohne Luzifer (in Anthroposophistan ein flatterhafter Luft- und Lichtgeist) sei Leben unmöglich und ohne Ahriman “äußere Wissenschaft”. Der wahre Christ balanciere beides. Mensch fühlt sich frappierend an C. S. Lewis beliebte und jüngst erfolgreich verfilmte Kinderbuchreihe über die “Chroniken von Narnia” erinnert. Im letzten der sieben Bücher geht das Zauberland “Narnia” aus dem Titel in einer stilechten Apokalypse unter. Währenddessen erklärt das löwengestaltige narnianische Jesus-Pendant “Aslan” den Orientalen unter seinen Schäfchen freundlich, sie hätten bedauerlicherweise in ihrem vogelköpfigen Gott “Tash” immer den Falschen, nämlich den leibhaftigen Teufel angebetet – und vergibt den Rechtschaffenden unter ihnen gütig. Bernstein indes lehrt weiter:

    “Islam, Arabismus, Mohammedanismus, Mohammedanertum: Rudolf Steiner macht da keinen prinzipiellen Unterschied. Selbstverständlich muss man sich gegen (gewalttätige) Islamisten wehren.” (Apopros 70)

    Dass Steiner offensichtlich vom Islam wenig bis keine Ahnung hatte und die aufgezählten Namen aus einem improvisierten Stehgreif-Vortrag des Gurus stammen, kommt Bernstein natürlich nicht als Ursache für die Benennungsvielfalt in den Sinn. Doch er, der in Apopros 68 immerhin betonte, dass der “Multikulti”-Ansatz “der einzige” Ansatz mit Zukunftsfähigkeit sei, konzediert großzügig: “Fanatiker gibt es im Übrigen in allen Religionen, auch bei den Christen. Gewalttätigkeit ist letztlich eine Erziehungsfrage.”  Zur guten Erziehung tauge natürlich in letzter Konsequenz wieder nur eines: Reinkarnationsglaube.
    “Denn wer konkret damit rechnen muss, dass seine (Un-)Taten wie ein Bumerang auf ihn zurückkommen, lässt möglicherweise den einen oder anderen Unsinn bleiben.” (ebd.)
    Logisch. Denn wie wir wissen: Wer schön sein will, muss Mönche füttern. Doch grau ist alle Theorie und so endet Boris Bernstein auch diesmal mit einem chauvinistischen Schenkelklopfer bzw. einer “pikanten Geschichte” vom Feinsten, die Freund Frank mit Grüßen vom Badestrand schickte:
    “In einem Spracheninstitut taucht eine uralte Dame auf und erklärt, sie müsse jetzt unbedingt Althebräisch lernen. Der Institutsleiter runzelt die Stirn und antwortet, ein solcher Kurs sei leider nicht im Programm. Dann fixiert er die Frau: ‘Entschuldigen Sie, meine Dame, aber warum wollen Sie denn noch Althebräisch lernen?’ Diese erwidert: ‘Das ist ganz einfach. Ich werde sehr bald dem lieben Gott gegenüberstehen und da möchte ich mich doch mit ihm unterhalten können.’ Der Sprachschulleiter meint: ‘Ach ja, das leuchtet ein. Aber sagen Sie, was ist, wenn Sie in die Hölle kommen?’ Die alte Dame antwortet völlig cool: ‘Das wäre überhaupt kein Problem, Amerikanisch kann ich schon …’” (Apopros 70, PS)
    Es fragt sich, ob die sprichwörtliche anthroposophische Humorlosigkeit demgegenüber nicht die bessere Alternative war.

    Rassismus und Nationalismus werden von “Der Europäer” nach eigenem Bekunden natürlich abgelehnt. Unter dem Titel “Nationalismus ist die schlimmste Unwahrheit” kritisierte Boris Bernstein im November 2010 (Apropos 67)  den deutschen Sozialdemokraten, Ex-SPDler und Ex-Bundesbankchef Thilo Sarrazin. Sarrazins soziobiologische und wahrlich deutsche Fabel “Deutschland schafft sich ab” reproduzierte, wie letztlich auch die anthroposophische Rassenlehre, die eurozentristischen Darwinismen des 19. Jahrhunderts. Im Fin de Siecle warnten die Eugeniker vor völkischer “Dekadenz”, vor dem Verlust kultureller Kreativität und christlich-weißer Hegemonie durch “Rassenmischung”. Die finsteren “Rassen” sind bei Sarrazin zu islamischen Migranten, die “Dekadenz” ist zu einem durch jene sinkenden deutschen IQ-Durchschnitt geworden. Bernstein lehnt Sarrazin rundweg ab, nach Steiner sind wir nämlich inzwischen in das “Zeitalter der Bewusstseinsseele” eingetreten. In diesem Zeitalter muss das Christentum die Weltreligionen in Interreligiosität und Deutschland die übrigen Nationen im Internationalismus unterrichten. Das hatte ja nun Sarrazin offensichtlich nicht vor, entsprechend “nationalistisch” erscheint er den Pionieren der Philanthropie im “Europäer”. Ich kann mich allerdings des Eindrucks nicht erwehren, dass “die Sarrazindebatte” für Bernstein eher Stichwortgeber für allerlei ist, das er ohnehin schon immer mal sagen wollte:

    “Apropos Meinungsfreiheit. Rudolf Steiner hat dazu eine entschiedene Ansicht: ‘Es ist die größte Frivolität der Seele, zu glauben, dass man ein gewisses Recht auf subjektive Meinungen habe. Dieses Recht auf subjektive Meinungen hat man nicht, sondern man hat als Mensch die Verpflichtung, hinauszudringen über seine Subjektivität zu dem Objektiven.’ Das heißt ja nun nicht, dass Meinungsfreiheit in einem äußeren (etwa juristischen) Sinn nicht erlaubt wäre; es heißt, dass ein Mensch als Mensch sich ernsthaft um eine Sache bemühen muss und auf Blabla gefälligst verzichten soll.” (Apropos 67)

    Bernstein zeigt, wie das geht, und geht ernsthaft und sachlich bemüht der enorm wichtigen Frage nach, woher eigentlich Sarrazins Name kommt:

    “Das kann nun auch der junge Frank nachvollziehen. Verblüffend ist für ihn aber doch die weitere Wende der Geschichte. Denn besonders pikant wird die Sache, wenn man die Herkunft des Namens untersucht:” (ebd.)

    Und anschließend folgt der Beweis für die profane Tatsache, dass auch vergeistigte Anthroposoph_innen ihr Sachwissen bisweilen nicht aus dem übersinnlichen Akasha-Archiv, sondern aus Wikipedia beziehen. Denn von dort zitiert Bernstein den Artikel zum Stichwort “Sarazenen”:

    ‘Besonders in Frankreich und der Schweiz ist noch heute der Familienname Sar(r)asin bzw. Sar(r)azin verbreitet, in der deutschsprachigen Schweiz auch Saratz, in Italien und der italienischsprachigen Schweiz Sar(r)aceno, Sar(r)acino, im Englischen die aus dem Französischen bzw. Anglonormannischen noch weiter entwickelte Form Sarson. Vorläufer solcher Namen ist im Mittelalter ein in den lateinischen Quellen seit dem 11. Jahrhundert vielfach dokumentierter Name oder Beiname Saracenus, der in vielen Fällen wegen einer ‹sarazenischen› Herkunft des Trägers, in anderen Fällen aber auch nur wegen eines zeitweiligen Aufenthaltes bei den ‹Sarazenen› oder, wie lat. Maurus, nordfrz. Moreau, engl. Moore, zur Hervorhebung einer besonders dunklen Haut- oder Haarfarbe entstand. Sofern der Name erst im Spätmittelalter in Gebrauch kam, ist auch mit der Möglichkeit zu rechnen, dass er im Hinblick auf die mögliche Bedeutung ‹Zigeuner› gewählt wurde.’

    Der junge Frank staunt: ‘Demnach wäre Thilo Sarrazin ein Nachfahre der Zigeuner?’ … Dann wäre Sarrazin Nachkomme eines von Gott heilsgeschichtlich verstoßenen Volkes?” (Apropos 67)

    Das gibt der Wikipedia zwar nun gerade nicht her – ebensowenig wie einen Zusammenhang von Genetik und Etymologie – aber egal, denn: Was hilft dagegen? Richtig. Reinkarnation.

    “Meine Taten von heute (dazu gehört auch das Politisieren) haben Folgen in der Zukunft, mit denen ich wieder konfrontiert werde. … P.S. Auf dem geschilderten Hintergrund wird vielleicht auch die Bibel wieder verständlicher: ‘Geldgier ist eine Wurzel des Bösen.’” (Apropos 67)

    Sarrazin wird nach dieser light-Auffassung von Seelenwanderung – als kausaler Vergeltungslehre – im nächsten Leben sicherlich Kopftuchträgerin. Zur Ehrrettung der anthroposophischen Szene sei gesagt, dass sie sich in puncto Sarrazin ungewöhnlich zurückhielt. Die von der deutschen A.G. herausgegebene Zeitschrift “Die Drei” druckte gar mit einem enthusiastischen Vorwort die Kritik der “Arbeitsgruppe Interkulturelle Soziale Arbeit des Deutschen Fachhochschultages” an Sarrazins Buch ab (PDF). Sogar Boris Bernstein, wer immer sich hinter diesem Namen verbirgt, glänzt zuweilen durch vernünftige Kritiken, etwa an der katastrophalen Asylpolitik der EU. Als “rechtsradikale” Statements lassen sich seine gleichzeitig banalen wie erschreckenden Kommentare kaum bezeichnen, dazu ist die Vermischung mit liberalen und “linken” politischen Standpunkten zu häufig und zu hoch. Das ist kein Einzelfall, Peter Staudenmaier spricht mit Blick auf das große anthroposophische Engagement bei der Partei “Die Grünen” treffend von einer ”continuation of the left-right crossover that has marked anthroposophical politics from the beginning” und nennt dafür die politischen Biographien von Otto Schily und Georg Werner Haverbeck als zwei Beispiele (Between Occultism and Fascism: Anthroposophy and the politics of Race and Nation in Germany and Italy, 1900-1945, Diss., Cornell University 2010, S. 509).

    Es ist nichtsdestominder ernüchternd, zu sehen, dass verstiegene und verästelte anthroposophische Gedanken über Gesellschaft und globale Politik so freudig und unreflektiert mit stupiden Alltagsrassismen und Antiamerikanismen vereinbar sind, oder mit der Annahme, eine fiktive Roma-Ahnenreihe Thilo Sarazins sei auch nur entfernt relevant in der politischen Debatte um sein Buch. Solange so etwas frei und friedlich in einer Zeitschriftenausgabe mit Artikeln wie “Der Meditationsweg der Michaelschule in neunzehn Stufen” (Thomas Meyer) oder “Nicht mit dem Verstand kann man Russland begreifen …” (Serge U. Linder) erscheint (beide in der März-2011-Ausgabe von “Der Europäer”), würde es mich stark wundern, wenn jemand im “Europäer”-Dunstkreis jemals auf den Gedanken käme, sich an einem historisch-kritischen Blick auf Steiners Werk zu versuchen.


    Einsortiert unter:Nachrichten

    Georg Wahrmunds Vorzeit-Früchte

    $
    0
    0
    (Gastartikel von Maria S. Kleinem-Esel)
    ACHTUNG: Dieser Artikel enthält Spuren von Humor und könnte daher ihre religiösen Gefühle verletzen.

    Man wende doch den Blick zur Vorzeit hin

    Und prüfe, was in Menschenseelen lebte,
    Bevor die Wissenschaft, die jetzt erblüht,
    Auch nur als Keim sich offenbaren konnte.
    Man wird dann finden, daß der Mystenbund
    In dieser Stunde eine Tat vollbringt,

    Die vorgezeichnet ist im Weltenplane.

    - Georg Wahrmund, aus:
    Rudolf Steiner: “Der Hüter der Schwelle” (GA 14)
    ———
    Sie meinen’s gut; doch sitzt ihr Streben nur
    In obern Schichten ihres Seelenlebens.
    So werde ich, was sie in Geistesgründen
    An großen Schätzen unbewußt noch bergen,
    Für lange Zeiten kräftig nutzen können.
    - Dämon “Ahriman”
    über Georg Wahrmund

     

      

    Früchte (© Luc Viatour - Wikipedia Commons)

    Die Katholische Kirche erklärt im jüngst erschienen “Jugenkatechismus” “youcat”, dass Engel geistige Wesen und “für gewöhnlich nicht sichtbar” seien (vgl. Von Engeln und Steuertricks). Auch die “ErziehungsKUNST, das Verbandsmagazin des “Bundes der Freien Waldorfschulen”, das an alle Waldorf-Elternhäuser verteilt wird, widmet sich gerade gewöhnlichermaßen “unsichtbaren” Entitäten und berichtet über das ausgefallene Thema Elementarwesen. Diverse Autoren schreiben über die Wirkungen unsichtbarer Geister in der Natur. Auf der letzten Seite findet sich ein Beitrag aus der Feder eines ominösen “Georg Wahrmund”, der ohne Namensnennung den Religionswissenschaftler Helmut Zander (Autor diverser anthroposophiekritischer Schriften) aufs Korn nimmt und – passend zum Titelthema – als Zwerg beschreibt:

    “Diese Autoren [Wahrmund glaubt möglicherweise an eine ganze Zander-Population oder sieht doppelt - d. Verf.] erinnern mich an den Autor mit  dem Blechschaden im Ätherleib [!]. … Es gibt ganz drollige Zwerge in den Wissenschaften: kauzige, putzige Kerlchen, manche mit Schnauzer, manche mit Glatze. Manche kennen sich anscheinend in Steiners Gesamtausgabe so gut aus, wie nicht einmal Steiner … Mancher Hochstapler fällt da wegen seines roten Tarnkäppchens gar nicht auf. Es ist wirklich lustig: Mein Zwerg flüstert mir ins linke Ohr, das sei eben heute so – in einer Zeit, wo sich der menschliche Verstand verselbstständigt hat …, da kann man nicht erwarten, dass das, was die Leute sagen und schreiben, noch Ausdruck ihrer Urteilskraft ist. Die Urteile bilden sich heute quasi von selbst, so als würden die Zwergenfingerchen von selbst schreiben und ihre Mündchen von selbst plappern.” (“Georg Wahrmund”: Ich glaub mich juckt ein Zwerg, Glossalie, ErziehungsKUNST 04/2011, S. 90).

    Religionswissenschaftler Zander. Glatze, Schnauzer, "putzig": eindeutig ein Zwerg!

    Ich hoffe, dass diese befremdlichen Zeilen in genau diesem Sinne der Urteilskraft ihres Urhebers entspringen. Die Such-Funktion der ErziehungsKUNST-Website bringt noch mehr seltsame Artikel zutage. “Wahrmund” scheint Gegner der medikamentösen Behandlung von AD(H)S zu sein, die ihm aufgrund von manchen fehlerhaften Diagnosen als Symptom für die Falschheit der modernen Kultur gilt:

    “Was verleitet Fachleute und auch Laien dazu, Menschen, die in Wahrheit gesund sind, als krank einzustufen? Vermutlich die Tatsache, dass ihnen eine Vorstellung davon, was gesund ist, völlig abhanden gekommen ist. Warum das? Weil sich die Urteilsbildung so sehr vom realen Leben entfernt hat, dass dieses Leben inzwischen als abnormal erscheint. … Erinnert uns dies an etwas? Richtig! Wir können diagnostizieren: was hier stattfindet, ist die Umformung der Realität nach Maßgabe einer Ideologie. Das Wesen einer Ideologie ist, dass sie die Wirklichkeit nicht so sieht, wie sie ist, sondern sie so umdeutet, dass sie als etwas anderes erscheint. »Lüge ist Wahrheit«, »Krieg ist Frieden«, – Gesundheit ist Krankheit, Krankheit Gesundheit.” (Hyperaktive Diagnostiker)

    Die Kehrseite, dass viele von AD(H)S Betroffene die nötigen Medikamente nicht von Krankenkassen erstattet bekommen bekommen, u.a. weil das fälschlich als “Lerndoping” verunglimpft wird (und dass dies auch dank der Verlautbarungen von “hyperaktiven Diagnostikern” aus den Reihen der antizivilisatorischen Wir-wollen-weg-von-der-bösen-Apparatmedizin-Fraktion so ist) scheint ihm dagegen so unwichtig, dass er es gar nicht erwähnt. Und  ”Wahrmund” tritt schließlich auch als Demokratiekritiker auf:

    “Der eigentliche Skandal ist, dass eine der wichtigsten Fragen überhaupt: die Zukunft unserer Kinder, von wechselnden demokratischen Mehrheiten abhängt. Demokratie ist gut und schön, aber nur dort, wo sie am Platz ist. Und am Platz ist sie nicht, wenn es darum geht, zu entscheiden, wie unsere Kinder am besten erzogen werden, wie sie körperlich, seelisch und geistig gebildet werden. Das ist eine Frage der Menschenerkenntnis, der Entwicklungspsychologie, einer pädagogischen Einsicht, die den gesamten Menschen in den Blick nimmt.” (Hamburger Schlachten - im Original keine Hervorhebung)

    “Erkenntnis” und “Einsicht” werden hier mit jenem exklusiven anthroposophischen Anspruch, die Wahrheit für sich gepachtet zu haben, gebraucht, den Rudolf Steiner, bis heute praktisch unangefochtener Guru der Anthroposophie, in dem Sätzlein kurzfasste: “Ebenso wie man nicht diskutieren kann, ob die Winkelsumme eines Dreiecks so oder so viel Grade hat, ebensowenig kann man diskutieren über höhere Wahrheiten. … Wer erkannt hat, der kann nicht mehr verschiedener Meinung sein. Man hat erkannt, oder man hat nicht erkannt.” (GA 93, 1991, S. 111) Es fragt sich freilich, wie dann mit faktisch konkurrierenden Wahrheitsansprüchen verschiedener Personen und Parteien umgegangen werden müsste. Gesetzt den Fall, Steiner wäre mit Montessori, Freinet, Götze und anderen esoterisch schicken Reformpädagogen an einen Tisch gesetzt worden, um das “wahre” Wesen des Kindes zu bestimmen – eine Einigung hätte es nie gegeben, da alle die tiefste Einsicht zu besitzen glaubten. “Wahrmunds” Artikel ist ein mustergültiges Beispiel für diese anthroposophische Politikauffassung, die ich und andere schon im Museum gewähnt hatten. Anders als heutige Propagandisten der Steinerschen Politutopie der “Sozialen Dreigliederung”, die eine Art Laizismus oder ein Bedingungsloses Grundeinkommen oder die Etablierung von Plebisziten zum Ziel haben, wird hier Dreigliederung scheinbar noch als “Alternative zur Demokratie” (Peter Staudenmaier) verstanden.

    Zuletzt war “Wahrmund” mit einer positiven Rezension zu Uwe Werners neuem Buch “Rudolf Steiner zu Individuum und Rasse” aufgefallen, in der er ebenfalls den Anthroposophiekritiker Helmut Zander im Visier hatte, der “seine eigene verdeckte Agenda” verfolge, statt objektiv zu forschen. Dabei verwies “Wahrmund” auf den umstrittenen anthroposophischen Publizisten und Lorenzo Ravagli (seit 2005 Redakteur der “Erziehungskunst”, in der auch “Wahrmunds” Artikel erscheinen) und dessen Buch “Zanders Erzählungen”. Lustigerweise findet sich dort ebenfalls die Diagnose: “verdeckte Agenda” (S. 24). Und es bleibt nicht bloß bei textlichen Parallelen.

    Wer ist Wahrmund?

    “Georg Wahrmunds” Erziehungskunst-Artikeln sind interessanterweise und anders als bei sonstigen Gastautoren dieser Zeitschrift, keine Autorennotizen beigefügt. Es mag zudem verwundern, dass Anthroposophen nicht mehr nur höhere Einsichten beanspruchen, sondern auch noch so heißen (“wahrer Mund”). Aber dem ist gar nicht so – der Name Georg Wahrmund bezeichnet keine reale Person (abgesehen von einem Freiburger Verleger Johann Georg Wahrmund, der allerdings im 17. Jahrhundert lebte), sondern ist ein Pseudonym und aus dem Werk des anthroposophischen “Obergurus” Rudolf Steiner kopiert:

    Wahrmund ist eine Figur aus Steiners “Mysteriendrama” “Der Hüter der Schwelle”. In seinen Mysteriendramen, die zu schreiben Steiner von seiner zweiten Frau und dem französischen Theosophen Edouard Schuré angeregt wurde, sehen Anthroposophen die dramaturgisch-dichterische Umsetzung innerseelischer Prozesse auf dem Pfad der Erleuchtung. Interessant ist, dass einige Beziehungen und Geschehnisse in diesen Dramen autobiographische Momente Steiners wiederspiegeln (vgl. Wie durch eine dünne Wand). Die Figurenfolge ist komplex, (fast) alle aber streben den “Pfad der Einweihung” an und kommen mehr oder minder vorwärts, worüber ellenlange Erkenntnisdialoge Auskunft geben. Überdies sind manche Figuren, die in späteren Dramen auftauchen, in Steiners Skript wiedergeborene Seelen (bzw. “Ich”e) aus früheren Dramen, was die Personenkonstellation freilich nicht übersichtlicher macht.

    Die Nebenrolle “Georg Wahrmund” ist beispielsweise die Reinkarnation eines Bauern oder einer Bäuerin aus einem anderen, zeitlich früher angesetzten Mysteriendrama, der “Prüfung der Seele”. Besagte Bäuerinnen und Bauern (insgesamt zwölf) sind in der “Prüfung der Seele” nur durchnummeriert aufgetreten und lassen einige judeophobe Sentenzen über “den Juden Simon” ab. Diesen lässt Steiner entgegen der “bäuerlichen” Vorurteile, von denen er sich offenbar abgrenzt, allerdings gut wegkommen: Simon findet die spirituelle Erleuchtung und darf sich im chronologisch nächsten Mysteriendrama als der neuzeitlich-christliche Wissenschaftler “Dr. Strader” (wohl auch eine Projektionsfigur Steiners selbst, was dann übrigens interessante psychologische Konsequenzen für den vielfach thematisierten Antijudaismus bei Steiner hätte) “verkörpern”.

    Aber zurück zur ehemaligen Bauernseele. Die hat sich in ihrer Wiedergeburt als “Georg Wahrmund” zum mystikbegeisterten Romantiker gewandelt. Wahrmund kommt im Drama “Der Hüter der Schwelle” zweimal zu Wort und propagiert jedes Mal eine Rückkehr zur Mystik, welche tiefer reiche als die neumodische Wissenschaft. Steiner lässt sogar den bösen Dämonen “Ahriman” über Wahrmunds Phrasen (bei dem als “Strader” reinkarnierten vormaligen “Juden Simon”) lästern: der sei zwar ambitioniert, aber oberflächlich, und er, Ahriman, könne deshalb einstweilen die in seiner “Seele” verborgenen “Schätze” “kräftig nutzen”.

    Die Wahl dieser Figur als Pseudonym mag wundern: Wer würde sich freiwillig mit dieser Figur identifizieren, die auch in Steiners Skript zweimal schlecht wegkommt, von der gar der mephistophelische “Ahriman” sich nährt? Irritierenderweise steckt hinter dem “Wahrmund” aus der “ErziehungsKunst” kein geringerer als der erwähnte anthroposophische Publizist Lorenzo Ravagli – was die “ErziehungsKunst”-Redaktion scheinbar nicht gut genug für sich behielt. Wer Ravaglis jüngste Texte liest, wird sich mutmaßlich auch kaum mehr über dessen Identifizierung mit Wahrmunds Credo “Man wende doch den Blick zur Vorzeit hin” (in der Einleitung zitiert) wundern:

    “Was Steiner ins Leben rief, war eine Erkenntnisreligion, eine Religion der Erkenntnis. Die Kluft zwischen Wissenschaft und religiösem Bedürfnis kann nur überbrückt werden, wenn die Wissenschaft selbst das religiöse Element in sich aufnimmt: … Da die Wissenschaft der Neuzeit durch die Absonderung alles Mythischen entstanden war, hieß dies nichts anderes, als die Wissenschaft müsse wieder mythologisch werden. … Alle Begriffe werden revolutioniert, die Wissenschaft wird tatsächlich zur Mythologie, der Mythos zur Wissenschaft, die Religion durchdringt das alltägliche Handeln und die Kunst vermittelt religiöse Erfahrungen. Grenzüberschreitungen, wohin man sieht, Zertrümmerung der festen Kategorien des Verstandes, lebendig werdende Wissenschaft, lebendig werdende Kunst, lebendig werdende Religion: das ist Esoterik.” (Lorenzo Ravagli: Rudolf Steiner als Esoteriker, ErziehungsKUNST 02/2011, S. 27)

    Dieses enthusiastische Plädoyer für eine Regression in das Verschlungensein magisch-mythischen Einheitserlebens übertrifft Wahrmunds Mystizismus bei Weitem – und macht verständlich, warum Ravagli zu diesem Pseudonym griff.

    Halbherzig

    Ravagli ist öfter durch seltsame Projekte aufgefallen, und ich bin bei meiner Leidenschaft für prekäre anthroposophische Themen leider mit erstaunlicher Zuverlässigkeit bei seiner Person gelandet. 1998 interviewte er zusammen mit Rudolf Saacke den anthroposophischen Autoren Gennadij Bondarew, der den 2. Weltkrieg für einen Präventivkrieg und die Gaskammern der KZs für fragwürdige wissenschaftliche Postulate hielt. Nachdem die tombergianisch-anthroposophische Zeitschrift “Novalis” das Interview abgelehnt hatte, stellte Bondarews Verleger Willi Lochman das Interview online (vgl. Hans-Jürgen Bracker: Schwarzbraun). 2007 gab es ein Buchprojekt mit dem damaligen NPDler (inzwischen Pro-NRW) und Ex-Waldorflehrer Andreas Molau, das Ravagli aber vor der Veröffentlichung zurückzog (Ravagli, die Rassen und die Rechten). Im Internet brach, wie üblich, eine hysterische Debatte über “rechte Anthroposophen” aus.

    Als “Georg Wahrmund” veröffentlichte Ravagli natürlich keine “rechten” Thesen, aber es zeigt sich hier wie bei dem eben Erwähnten scheinbar eine Lust auf wagemutige Projekte. Nur halbherzig hat er die Spuren, die von seinem Pseudonym zu ihm führen, verwischt. Nicht nur, dass er auch früher schon unter einem merkwürdigen Pseudonym mit Drachentöter-Vornamen, “Michael S. Schild” publiziert hat, was seiner Betitelung als “Schild und Schwert der Anthroposophie” durch Anthrogegner Futter gibt. Unter einem Bild in “Wahrmund”-Ravaglis Artikel “Hyperaktive Diagnostiker” hatte verrätersicherweise sein realer Name gestanden. Außerdem sind aufwälligerweise Ravaglis unter dem Pseudonym “Wahrmund” geschriebene Artikel meist auch gleichzeitig auf seinem “Anthroblog” erschienen, ja: es finden sich sogar Artikel als “Wahrumund” auf seinem Blog, die gar nicht in der “Erziehungskunst” auftauchten (außerhalb dieser beiden Plattformen hat Ravagli m.W. aber nicht als Wahrmund publiziert). Noch nicht einmal an einem Stilwechsel hat Ravagli sich versucht, sogar Formulierungen wie die oben erwähnte “versteckte Agenda” legte er auch in den Mund seines Pseudonyms. Als Kuriosum sei vermerkt, dass Ravagli seinen Lesern unter dem Pseudonym “Wahrmund” auch gern seine eigene Literatur anpreist (in der Rezension zu Uwe Werner).

    Früchte

    Unter eigenem Namen hat Ravagli auf seinem Blog natürlich auch weitere Artikel veröffentlicht, so raunt er in einem Artikel über den Mainzer Erziehungswissenschaftler Heiner Ullrich und dessen jüngstes Buch über Steiner und die Waldorfpädagogik Verschwörerisches. Ullrich sei

    “…Träger eines bestimmten, ritualisierten akademischen Selbstverständnisses über alternative Wissens- und Lebensformen. Und so tauchen die Leser seines Buches in eine Gespensterdebatte ein: sie haben es nicht nur mit dem Pädagogikprofessor Ullrich zu tun, sondern auch mit unterschiedlichen geistigen Mächten der Gegenwart, die um das Verständnis von Wissenschaft, Rationalität und Wirklichkeit ringen.” (Obsolete Rituale – Hervorhebung von mir)

    Klar ist den wahren “Eingewei(c)hten” unter den Anthroposophen schon lange, dass Anthroposophiekritiker in Wahrheit dämonische Höllenwesen channeln (Gefährliche Wissenschaften). In dem gerade zitierten Artikel wird überdies versucht, durch einen sehr weiten Wissenschaftsbegriff Heiner Ullrichs Behauptung zu widerlegen, Anthroposophie sei keine “Wissenschaft”, sondern “in letzter Konsequenz deren Verabschiedung” und “ein Versuch der Rehabilitierung mythischer Denk- und Lebensformen inmitten einer verwissenschaftlichten und säkularisierten Zivilisation.” (Ullrich, S. 191). Dass Ravagli diese Behauptung widerlegen will, mutet seltsam an, hatte er doch selbst im Februar noch gefordert, Wissenschaft müsse zu religiösen Denkformen zurückkehren, Philosophie “wieder zur Mythologie werden” (a.a.O., Rudolf Steiner als Esoteriker). Der Meinungswandel ist natürlich legitim, kommt aber für mich überraschend. Nun vertritt Ravagli nämlich die Position, Wissenschaftlichkeit werde nicht systematisch entschieden: “Eine pluralistische Gesellschaft benötigt keinen erkenntnistheoretischen Gesetzgeber und auch keine Diskurspolizei”, denn , “sie entscheidet selbst über das, was ihr frommt” und erkenne “das Wahre an seinen Früchten”. Oder auch nicht. Ravaglis Polemik gegen objektivierbare Kriterien von Wissenschaftlichkeit übersieht nicht nur, dass Wissenschaft Methode, nicht “Wahrheit” ist (es geht um Argumente, nicht die Akzeptanz statischer Erkenntnis-”Früchte”). Er verkennt auch, dass eben dieser gesellschaftliche Kommunikations- und Aushandlungsprozess darüber, was als “gesellschaftliches Problem” oder als “Frucht” angesehen wird, keineswegs geradlinig zu “wahren” Ergebnissen führt. Ein Beispiel, das er kennen dürfte, ist die Waldorfpädagogik selbst: Längst liegen zahlreiche Studien vor, die ihre Leistungen belegen, aber das interessiert niemanden in der “postmodernen Gesellschaft”, solange jemand publizistisch Steiners abstruse Rassenspekulationen zum Thema macht, denn die erregen weit mehr Aufmerksamkeit.

    Es wäre aber ein Zeichen der Fairness, wenn Lorenzo Ravagli alias Georg Wahrmund oder umgekehrt seine anstrengenden Verrisse auch durchgängig unter eigenem Namen veröffentlichen würde. Denn unter seinem realen Namen wirft er durchaus Argumente ein, während er als “Wahrmund”, wie oben gezeigt, ein bisschen zu oft “unter die Gürtellinie” zielt. Und dass auch seine anonymen publizistischen Verlautbarungen letztlich auf ihn selbst zurückfallen, hätte er aus seinen eigenen Behauptungen dann doch durchaus folgern können:

    “Eine pluralistische Gesellschaft … erkennt das Wahre an seinen Früchten.” (Obsolete Rituale)

    Auch wenn diese Behauptung falsch ist, er selbst ist durch die Früchte seiner eigenen “Wahrheiten” zu erkennen.

    ———————————————————————————————–

    Maria S. Kleinem-Esel (geb. 1957) studierte Eurythmetik am Böhmianum, ist heute Erzengelbeauftragte bei diversen anthroposophischen Unternehmen und aktuell führend in Verhandlungen mit der westpazifischen Undinengewerkschaft involviert.


    Einsortiert unter:Anthroposophie & Philosophie

    “Übersinnliche Wellness pur.”

    $
    0
    0

    (von Andreas Laudert)

    aus Ders: Abschied von der Gemeinde, Futurum-Verlag, Dornach 2011.

     

    Vorwort von Ansgar Martins — Nach Sebastian Gronbach (“Missionen”, 2008) und Taja Gut (“Wie hast du’s mit der Anthroposophie?”, 2010), nimmt nun ein weiterer anthroposophischer Autor eine offene Abrechnung mit der anthroposophischen Szene vor. Dabei handelt es sich um Andreas Laudert, Schriftsteller und Pfarrer der anthroposophienahen “Christengemeinschaft”, der bisher nicht eben “szene”-kritisch aufgetreten ist und dem ich so ziemlich jede Aussage zugetraut hätte – bis auf diese. Über vieles ließe sich natürlich nach allen Regeln der Zunft streiten, insgesamt ist dem Autor aber inhaltlich (und nicht zuletzt: stilistisch!) ein guter Wurf gelungen. Das Buch liest sich durchaus nicht als “Aussteigerbericht” eines “Christengemeinschafts”-Pfarrers, sondern als ein Bekenntnis zur Anthroposophie, aber es plädiert auch für kulturelle Öffnung ihrer Propagandist_innen, für das Ablegen peinlicher Narzissmen, die Demokratisierung eines elitären, vermeintlichen “Geheimwissens”, für den “Abschied von der Gemeinde”. Auch aus anthroposophiekritischer Perspektive ist das Buch ein interessantes Dokument für die aktuelle Selbstwahrnehmung in der anthroposophischen Szene. Dem “Futurum-Verlag” danke ich für die “Abdruck-Genehmigung” zu den im Folgenden zu lesenden Ausschnitte.

    S. 32ff.

    Ein Rudolf-Steiner-Haus. Filmpremiere von Zwischen Himmel und Erde des Schweizer Regisseurs Christian Labhart – das angenehm offene Ergebnis der indirekten Selbstbefragung eines Künstlers und Waldorfvaters: Portraits verschiedener mit Anthroposophie in Berührung gekommener Menschen. Im Saal das typische Hauspublikum einschließlich der obligatorischen Gäste “von außen”, zu denen die Frau an der Kasse mich auch zu zählen schien, da sie mir unbefragt Auskunft erteilt. Was ist es, das einen nach wenigen Minuten mit Unbehagen erfüllt – jenem Unbehagen, das mich bei diesen Gruppen des Einverständnisses immer wieder befällt? Man begrüßt sich mit Namen, man nickt sich zu und lächelt eilfertig, man schüttelt Hände, man scherzt. Alles normal, alles menschlich. Aber dann – die ersten humorigen Bemerkungen: “In der Pause gibt’s Langnese!” – “Aber erst nach der Werbung!”.

    Warum (warum noch immer?) fühlt man sich gedrängt, auf diese verkrampfte Weise die Tatsache herauszustellen, dass in einem Steiner-Haus ein Kinofilm gezeigt wird? Fühlt man sich unbewusst gebauchpinselt, weil es um einen selber, um die Anthroposophen geht? Muss man es immer noch vor sich selbst rechtfertigen, das es sich hier mal nicht um einen erhebenden Vortrag über Chartres oder die Externsteine handelt? Muss man sich beieinander vergewissern, dass man unter sich ist?

    Dann, nachdem der Film schon eine Weile läuft: Zart ansteigendes Gekicher, weil zwei der Portraitierten breites Schwytzerdütsch sprechen. Die Veranstalter unterbrechen und stellen die Untertitel ein. Großes “Aaah!” und “Ooh!” im Saal.

    Szenenwechsel. Ein anthroposophischer Kongress mit eingebauten Happenings. Ich soll aus eigenen Texten lesen, sage ein paar einleitende, auflockernde Worte und lese dann aus einem deftigen work in progress, das mir für das Thema der Veranstaltung passend scheint. Hinterher das Folgende, wie schon hundertfach vorher erlebt, seit Jahren, nur in abgewandelter Form: In dem Fall anthroposophische VIPs, die einen bis dahin nicht weiter beachtet hatten, obwohl sie einen, wenn nicht kannten, so doch irgendwie einordnen konnten, auf die man teilweise auch selber zugegangen war, um zum Beispiel eine positive Rückmeldung zu geben auf einen ihrer Artikel, den man kürzlich gelesen hatte – dieselben (ich weiß nicht: entweder scheuen oder eitlen) Gockel, nachdem sie mitbekommen haben, dass das junge, unabhängige Publikum sich über das Vortragende sehr gefreut hatte, schleichen danach um einen herum, fragen, wo man denn die Bücher herbekäme. Mehrere erkundigen sich aber auch – ich verstehe die Frage zunächst gar nicht, denke, es handle sich um einen Witz -, von wem der Text gewesen sei, den man gelesen habe. Wiederum andere halten die Ironie des Gelesenen sofort für fehlenden Mysterienernst, vielleicht sind ihnen auch literarische Töne als solche unvertraut, wenn sie nicht gerade von Adalbert Stifter oder Nelly Sachs kommen, jedenfalls schweigen sie beredt wie Kafkas Sirenen.

    ———————————————————————————————-

    S. 65f.

    Kurz zu einem Tick von Typen wie mir: wollen immer versöhnen und vernetzen. Ist einfach so. Wollen immer Menschen zusammenbringen. (Absurd: Dabei können wir die größten Aggressoren sein!) Unsereins will verbinden das Unverbindbare, will vereinen! (Und hasst Vereine.) Liebet einander! (Deshalb war Johannes mit Johannes verbunden.) Gleiche Augenhöhe für alle! Gleiche Augenhöhe sogar mit “dem” Christus.

    Warum lassen wir Potenziale brachliegen, warum lassen wir Synergien nicht zu? Ist doch längst egal, was andere über uns denken, und was die Maschinen erfassen. Die große Blase der Daten und der Spekulationen über Profile wird zerplatzen auf den Gipfeln des Geists. Wohl dem, der Nutzer seiner selbst ist und Seiten besucht, die es gar nicht gibt. Jeder profiliert sich gegen den anderen. Geläster und doppelbödige Spitzfindigkeiten, Weckrufe und Warnungen, Unterstellungen und Zitatschlachten. Hochgezogene Augenbrauen allüberall. Gut, man kann nichts erzwingen, ich weiß. Platoniker, Aristoteliker … große Geister bloggen manchmal nur neben-, nicht miteinander … Gott, das Karma eben! Fuck Karma. Ausreden. Deshalb rufe ich mir und meinen Doppelgängern zu: Ändert euren Sinn.Ändert die Blickrichtung. Bereitet dem Ich des anderen den Weg. Und zwar genau den Weg, in welchem er euch steht. Es muss ja nicht gleich so laufen wie in einer Buchbesprechung in Gegenwart 2/2010:

    “In der Gestalt des Lazarus-Johannes haben sich die Kain- und die Abelströmung mit ihren jeweils bestausgebildeten Wesensgliedern zu einer Wesenheit gewissermaßen über Kreuz so wiedervereinigt, wie sich der nathanische Jesus der Hirtenströmung … und der salomonische Jesus der Königsströmung … zur Gestalt des Jesus-Jesus wiedervereinigten. Allerdings mit dem Unterschied, dass die zugehörigen Marien kurz darauf auch ihre Wesensglieder zu einer Wesenheit der Maria-Maria vereinigten und schließlich der Jesus-Jesus und die Maria-Maria ihre Wesensgliedersubstanz vor der Jordan-Taufe so austauschten, dass sie das für die Inkarnation Christi geeignete Wesensgliedergefäß bereitstellen konnten.”

    Karma als Bauanleitung

    ———————————————————————————————-

    S. 108

    Am schlimmsten war der Staubsaugervertreterton, den man ja überall in Vereinen – es liegt in der Natur der Sache (wieder: die “Sache”) – an den Tag legen muss, wenn man über potenzielle Mitglieder spricht. Oft fragte ich mich: Ob diese Leute, die der Gemeinde ihre Adresse und Telefonnummer zur Verfügung gestellt haben  und somit “im Verteiler” sind, wissen, wie über sie spekuliert wird?

    Beispielsweise bei einem Pfarrerwechsel: Der scheidende Kollege geht mit dem neuen die Mitgliederliste durch. Jedes Mitglied bekommt einen Werbetrailer, eine kleine Erkennungsmelodie. Das Leitmotiv dabei scheint nicht wirklich der Mensch als Mensch, das Kriterium der Kommentare ist notgedrungen nur seine Nähe oder Ferne zur Gemeinde. Da heißt es dann zwischen Priesterkollegen: Da könne man mal “dranbleiben”, mal anrufen, das “lohnt sich vielleicht”, der und der sei zuletzt wieder “öfters gekommen”, die “kriegen wir vielleicht übers Ministrieren”, den anderen “über die Waldorfschule”.

    Eine Sprache wird gepflegt, die beharrlich mit einem Innen und Außen operiert. Aber schützt die Wahrheit, was immer sie ist, nicht sich selbst? Sie ist zwischen innen und Außen. Sie drückt als Kraft gegen die Wände.

    Immerzu ist die Rede von einem “Hineinkommen” oder “Hineinfinden”. Der Berufsanfänger muss hineinkommen in das Amt und das Mitglied in die Gemeinde; es gibt regelrechte Karrieren. Hinein, hinein! Aber was kommt dabei heraus? Was ist in all den Jahrzehnten daraus erwachsen? Letztlich eine Auffassung vom Zeitgenossen als Kind. Neugeweihte werden intern launig als “Babies” bezeichnet; erwartet wird allen Ernstes, in den ersten drei Jahren mehr oder weniger den Mund zu halten. (Wenn man schon dieses Bild benutzt: Dabei sind Neugeborene nahe am Himmel. Vielleicht hätten sie Überraschendes zu berichten.)

    Dass das Subjekt heutzutage in so viele biografische und gesellschaftliche Prozesse verwoben ist, die es mit hineinnehmen muss in jeden neuen Lebensabschnitt, um ihn glaubwürdig und erfüllt tun zu können – diese Lebenstatsache kommt nur alibimäßig zu ihrem Recht. Aus Prinzip partnerlose Priester und Priesterinnen bitten die nicht selten verblüfft-belustigten Weihekandidaten-Ehemänner und -Ehefrauen, die dem geplanten Berufswechsel ihres Lebenspartners loyal wie neutral gegenüberstehen, zum Extragespräch und geben “aus Erfahrung” Empfehlungen. Man fragt sich, welche.

    Szenenwechsel. Ein Elternabend mit den Eltern einer gerade Konfirmierten. Eine Mutter, betroffen von erwachendem Zweifel, erzählt, dass sich bisher all ihre Kinder nach der Konfirmation vollkommen von der Kirche abgewandt hätten. Sie seien einfach nur froh gewesen, nicht mehr in die Sonntagshandlung zu müssen. (Was im Übrigen die Regel ist.) Die Pfarrerin antwortet in beruhigendem Ton, ja, das dürfe durchaus sein. Ein Vater, der bis dahin eigentlich nur dagehockt und sich gefragt hat, wann der Abend wohl endlich vorbei sei, wird schlagartig wache:

    Moment fragt er, wieso dürfe das sein? Wird das bloß erlaubt? Was soll dieses Gönnerische, sprechen daraus nicht auch schon bestimmte Bewertungen?

    Lieber wird der objektiv zunehmende Legitimationsdruck beim Unterrichten von Religion, über den die Öffentlichkeit im Gegensatz zur Christengemeinschaft leidenschaftlich und ergebnisoffen diskutiert, beharrlich bagatellisiert – auch die geringe Anziehungskraft und die für manche bedrückende Gestalt des eigenen Gottesdienstes für Kinder.

    ———————————————————————————————-

    S. 112 ff.

    Das Suggestive, Pädagogische, nicht Offene und Spielerische im Umgang mit mündigen Menschen – wie bei jenem beispielhaften Elternabend – steht in auffälligem Kontrast dazu, dass man stets beflissen und (wieder:) beruhigend betont, es habe ja immer auch Freigeister und “richtige Künstler” in den Reihen der Priesterschaft gegeben.

    Bezeichnend, ja, peinlich ist nur, dass einem dabei immer und immer wieder, wirklich von allen Seiten (und keiner merkt es, jeder meint, er gäbe da einen ganz exklusiven Tipp) lediglich ein Name genannt wird!

    Ein einziges echt künstlerisches Naturell innerhalb der Priesterschaft muss als Feigenblatt herhalten, der ewige Johannes Rath, so wie für die anthroposophische Bewegung meinetwegen der ewige Michael Ende, der ewige Christian Morgenstern (auf den ich nichts kommen lasse). Künstler gelten nichts für sich, sondern weil sie mit der Anthroposophie “verbunden” gewesen seien. Jemand wie Kafka hat es da schon schwerer. Aber das wäre ein eigenes Kapitel.

    :Schlägst du es auf?

    :Augen zu und durch. Was dazu zu sagen wäre, steht schon geschrieben. [...] Kafka überzeichnet . Die Überzeichnung ist das Vorrecht der Literatur. Kafka steht für nichts, er steht nur für sich und zu sich, als Gezeichneter – von sich selbst. Kafka aktualisiert sich durch Zeitlosigkeit. Er entzieht isch, je mehr er herbeizitiert wird. Als die Sektion für Schöne Wissenschaften am Goetheanum vor einigen Jahren Dornachs erste Kafka-Tagung veranstalten wollte, fiel sie mangels Teilnehmern aus. Während “Christus”fortwährend als “anwesend” zelebriert wird, bevorzugt als Licht-Gestalt, glänzt Kafka durch Abwesenheit. In der Finsternis leuchtet sein Stern. Als Lichtgestalt taugt er nicht.

    : Der ewige Jude?

    : Der ewige Sohn. So der Titel einer neueren Biografie. Nicht tauglich als Übervater.

    Szenenwechsel. Haubesuch des Pfarrers. Bei Kaffee und kuchen bekommt er vom Gastgeber stolz und arglos Fotos gezeigt, auf denen dieser dem Betrachter fröhlich in SS-Uniform entgegenlacht. Kein Wort dazu, auch nicht von der beschwingt weitere Anekdoten beisteuernden Ehefrau. Was ist das? Ein Einzelfall? (Mitnichten.) Nur ein Generationenproblem? Oder doch Symptomatisches: Varianten jenes seltsamen Hierarchieverständnisses, das sich in der trocken-triumphalen Bemerkung einer intern zu Recht hochverehrten Persönlichkeit verbarg, nachdem dieser Priester einen Studenten, der ihm im Kurs widersprochen hatte, rausgeschmissen hatte: “Es kann nur einer König sein”?

    Man sollte nicht so naiv sein, zu glauben, dreißig Jahre Anthroposophie oder Menschenweihehandlung würden gegen Gedankenlosigkeit und Ressentiment imprägnieren. Sie haben diese nur verfeinert.  Hybris den “zurückgebliebenen” Naturreligionen gegenüber. Hybris gegenüber dem zu “weichen” Buddhismus. Es mal besorgt denken zu dürfen, will man schon. Mal von oben herab und selbstgerecht, mal ungeschminkt-giftig, niederste Instinkte. Vereinzelte, mag sein. Trotzdem nimmt es nicht wunder, wenn man dann von außen unrechterweise in Sippenhaft genommen wird. Das Widerwärtigste ist das gut versteckte Ressentiment gegen Lebensläufe.

    ———————————————————————————————-

    S. 158

    …Ich will mich in diese Debatten [um Sebastian Gronbach und Taja Gut - AM]  inhaltlich nicht einmischen. Es geht halt mal wieder um Höherentwicklung.

    : Darf ich fragen, was ausgerechnet du gegen Höherentwicklung einzuwenden hast?

    : Im Prinzip nichts.

    : Hat’s bislang persönlich noch nicht so geklappt?

    : Ach danke. Mach dir keine Sorgen. Der Weg der Höherentwicklung birgt genügend Fallgruben.

    : Da wäre ich jetzt ohne dich gar nicht drauf gekommen.

    : Eben. Das ist, wie gesagt, auch gar nicht der Punkt. Ich fühle mich nur einer anderen inneren Lebensgeste näher, und ich nenne diese Lebensgeste die Vertiefung. Nicht gleich: seinen Meister haben oder Meister werden wollen. Sondern sich vertiefen in das Scheitern jedes Mitmenschen. In seine Fehler. In die eigenen. Das Unvollkommene lieben, aushalten, zutiefst bejahen. Nicht als Ziel. Aber zunächst. Erst einmal. Und es kann sogar auch bis zum Tode dabei bleiben: dass der Sinn eines Lebens nicht in einer Entwicklung besteht, sondern in einem Aushalten und Durchleben. Das ist der Entwicklungssprung. Eine Spannung, etwas Unauflösbares (und daher Spannendes) biografisch verkörpert zu haben.

    Dieses “erst einmal” ist chronologisch wichtig. Wir meinen als beflissene Kenner der GA [Gesamtausgabe von Steiners Werken] zu wissen, das nach dem Tod das und das kommt. Das Nachtodliche eben. Die verschiedenen Stufen, Erlebnisse und Wesen. Der Tunnel, das Licht, die Liebe – offenbar ein einziges Sphären- und Sonnenbad, übersinnliche Welness pur. Aber erst einmal kommt im Tod der Tod, oder? Wirklich ein Nichts. Tiefe Trauer: Ich bin nicht mehr. Die Verwirrung. Die Einsamkeit. Und ich glaube, es ist von Bedeutung, dass da nicht jemand an mich herantrit, der diese Abgründe leugnet oder mit einem Trick aus der Bibel zuschüttet. Sondern der sie kennt. Der sie auch durchlebt hat. Der mich fühlen kann, tief von innen. Nicht der Meister, sondern der Bruder. Christi Auferstehung ist die Auferstehung des Menschen – der Sieg über den Tod eines Menschen, nicht eines Gottes.  Wenn Gott den Tod meistert, ist das keine Kunst. Von einem Gott würde ich das erwarten. Mich aber interessiert es, wenn etwas eine Kunst ist, eine große Überraschung, Menschenwerk. Die Auferstehung ereignete sich geradezu nebenbei. Bitte nicht falsch verstehen! Natürlich gab es ein Erdbeben! Der Tempelvorhang zerriss … und dennoch: Wie war das denn? Eine stille Morgenfrühe, ein Tag in einem Garten, eine Frau, ein Mensch, der sie mit dem Vornamen ansprach. Dann Tränen, Erkennen: Ein auferstandener Freund? Oder: dass Jesus spazieren ging mit den beiden Wanderern auf dem Weg nach Emmaus. Sie befragte über sich selbst. Eine Selbstbefragung auf dem Wege. So herrlich nebenbei. Wie er sich liebevoll unwissend stellte. Welch feiner Humor, welch göttliche Ironie liegt in dieser Szene!

    ———————————————————————————————-

    S. 174

    Szenenwechsel. Die Informationsveranstaltung eines Initiativkreises. Ich trete in den schwach besetzten Raum und frage, ob ich hier richtig sei. Bei ihnen sei ich immer richtig, antwortet der Gesprächsleiter. Er strahlte die Souveränität eines Mannes aus, der genau weiß, wo der Hund begraben wird, und in den nächsten sechzig Minuten würde er ihn ausbuddeln und vorzeigen. Es handelte sich nämlich in Wahrheit um ein Krisengespräch. Ein anderer, sehr blasser und schmächtiger junger Mann, der den Abend offenbar maßgeblich organisiert hat und schon von der äußerlichen Konstitution her die fragliche Krise gleichsam zu verkörpern schien, ergriff das Wort und schien vor allem besorgt um die Finanzen. Man sei sich ja einig über die schwierige Situation. In jedem zweiten Satz benutzte er das Wort praktisch. Es sei praktisch so, dass man nicht mehr rekonstruieren könne, wohin das Geld überwiesen worden sei. Es sei praktisch so, dass man jetzt gemeinsam eine Lösung finden müsse. Sein Vortrag erschöpfte ihn bald, denn nachdem er fertig war, nahm er zehn Globuli und sagte zunächst keinen Ton mehr. Dafür ergriff jetzt der fröhliche Gesprächsleiter das Wort. Dieses war: ganz konkret. Man müsse jetzt ganz konkret prüfen … Man sollte auch bei diesem öffentlichen Treffen ganz konkret darüber reden … Das Lustige war, dass er im Weiteren keine Anstalten machte, dem als Rundgespräch gedachten Palaver eine Form zu geben, weshalb sich das Konkrete ziemlich bald in Luft auflöste. Vornehmlich lag das an einer Frau, die sich in der Vorstellungsrunde als metaphysische Beraterin präsentiert hatte. Am Ende der völlig ergebnislosen knapp einstündigen “Tagung” sagte der Gesprächsleiter noch, dass er es gute fände, dass man jetzt nicht mit einem Ergebnis nach Hause ginge. Dann wünschte er allen ein schönes Wochenende und wies auf eine für zehn Euro zu erstehende Studie von ihm hin, die er zu Beginn in die Tischmitte gelegt hatte.

    Andreas Laudert (* 1969, Bingen/Rhein), studierte szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin und Theologie in Hamburg und Stuttgart. Tätigkeit als Deutschlehrer und in der Heilpädagogik sowie Autor von Lyrik und Theaterstücken, erhielt 2001 der Georg-K.-Glaser-Förderpreis des Landes Rheinland-Pfalz.

     


    Einsortiert unter:Andreas Laudert, Literarisches

    “Licht, mehr Licht!”– zu Jana Husmann…

    $
    0
    0

    … und ihrem Buch “Schwarz-Weiß-Symbolik: Dualistische Denktraditionen und die Imagination von ‘Rasse’”

    Die meisten Bücher, die zum Thema Anthroposophie und Waldorfpädagogik erscheinen, veranlassen mich emotional zu einem relativ schlichten “Ja” oder einem ebenso schlichten “Nein”, sie sind entweder gut oder schlecht, leicht abzulehnen oder eben nützlich. Das vorliegende Buch erweckt in mir das Bedürfnis nach einem langen, langen “JA – aber…”, und was wäre besser, um eine weitere Riesenrezension zu starten? Zuerst gebe ich in den Abschnitten I – III eine Übersicht über die in dem Buch diskutierte These, soweit ich sie erfasst habe, gehe anschließend (IV.) auf Jana Husmanns Aktivitäten als Anthroposophiekritikerin und (V.) ihre Darstellung der anthroposophischen Rassenlehre ein. Dann erlaube ich mir, an vier Stellen verschwenderisch pedantische Ergänzungen zu dem Buch vorzunehmen: VI. Antike Philosophie, VII. Geschichte des esoterischen Rassismus, VIII. Ahriman und Luzifer: Steiners okkulte Typologie “des Bösen”, IX. Husmanns Bedenken gegenüber der Möglichkeit einer “ent-rassistierten” Anthroposophie. Die Abschnitte sechs bis neun sollten auch einzeln lesbar sein.

    I. Das Gespenst

    “Ein Gespenst geht um in der westlichen Wissenschaft…” beginnt der slowenische Philosoph Slavoj Žižek sein Buch “Die Tücke des Subjekts” (dt. Frankfurt a.M, 2001, S. 7) und fährt fort:

    “…das Gespenst des cartesianischen Subjekts. Um es auszutreiben, haben sich alle wissenschaftlich-akademischen Mächte zu einer heiligen Allianz zusammengschlossen: der Obskurantist des New Age … der postmoderne Dekonstruktivist … der habermasianische Kommunikationstheoretiker … der Kognitionswissenschaftler … der Fundamentalökologe … der kritische (Post-)Marxist … und die Feministin (die betont, dass das angeblich geschlechtslose Cogito in Wirklichkeit eine männlich-patriarchale Bildung ist). … Obgleich alle diese Parteien offiziell in erbitterte Kämpfe verwickelt sind (die Habermasianer gegen die Dekonstruktivisten, die Kognitionswissenschaftler gegen die Dunkelmänner des New Ade…), sind sie sich doch alle in der Ablehnung des cartesianischen Subjekts einig.”

    Žižeks brilliant formuliertes – und natürlich an Marx angelehntes – Projekt, das autonome Subjekt vor den Auflösungs- bzw. Verleugnungsversuchen besagter Parteien zu retten, kommt aber gleichzeitig einer nicht minder beliebten Stimmung entgegen, die Postmodernismus, große Teile feministischer Theorie, Ökologie usw. zusammen mit dem New Age einer prämodernen Gesinnung bezichtigt, oder sie, mit Adornos Worten, theatralisch verdächtigt, nicht weniger als “das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie” (Adorno: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 10.2, 556) zu sein.

    Dabei wird gern übersehen (um beim gewählten Gespensterbeispiel zu bleiben), dass etwa das cartesianische Subjekt, die res cogito, traditionell keineswegs Žižeks psychoanalytische Vorstellung vom “exzessiven, nicht anerkannten Kern des Cogito” (Žižek, a.a.O.) stützt. Es sollte ursprünglich tatsächlich ”männliche” Attribute tragen und dualistisch von der Natur abgespalten sein - mit der Kritik an diesen Programmpunkten hat eine postmoderne Philosophie also durchaus auch viele richtige Punkte angepeilt. In diesem Sinne möchte ich die vorliegende Dissertationsschrift von Jana Husmann, “Schwarz-Weiß-Symbolik” verstehen und würdigen, die sich eines klassischen Gegenstandes postmodern-poststrukturalistischer Kritik annimmt, ihn historisch bearbeitet und dabei tatsächlich auf eine neue Ebene hebt: Sie untersucht die Entstehung eines Selbstbildes des “vernünftigen”, “logozentrischen” “Abendländlers”, der sich mit ehemals göttlichen Attributen versieht und meint, sich ontologisch über “die Natur”, den außereuropäischen “Anderen” und – natürlich – “die Frau” zu erheben. Claudia von Werlhof hat diese ideelle Grundlegung und Gemeinsamkeit von Sexismus und Rassismus in den frühen Achtzigern pathetisch-plakativ “Hausfrauisierung” genannt, Husmann spricht von “Säkularisierung, Naturalisierung und Respiritualisierung” schwarz-weiß-symbolischer Mythen. Ihr Buch diskutiert die “abendländische” Philosophiegeschichte chronologisch durch, legt aber einen klaren Schwerpunkt auf eine Figur, die auf diesem Blog Dauergast ist: den Okkultisten, Philosophen und Lebensreformer Rudolf Steiner (1861-1925). Dessen Deutung der Weltgeschichte als Spielplatz geistig-geistlicher Mächte, die sich zur festen Erde verdichteten und in ferner Zukunft wieder vergeistigen werden, passt schließlich idealtypisch in ihr Untersuchungsfeld. Auch Steiners esoterisch überbaute Rassentheoreme passen zu der These, dass neuzeitlicher Rassismus letztlich eine verweltlichte, biologisierte Form religiös-geschichtstheologischer Vorstellungen darstellt.

    Um eines vorwegzunehmen: Das Buch lohnt Lektüre und Anschaffung, sowohl für anthroposophi(ekriti)sch als auch für historisch Intererssierte, allerdings stehen auch große Teile online zur Verfügung, so eine Leseprobe und die Möglichkeit, das Buch nach Stichwörtern zu durchsuchen.

    II. Ursprung im “Reich des Wortes”

    Husmann untersucht also die Geschichte abendländischer Dualismen, ausgehend von der griechischen Antike über christliche und gnostische Diskursfelder bis in die Neuzeit. Ein Schwerpunkt liegt auf Farbmetaphern von Schwarz und Weiß in diesen verschiedenen Konzepten. Genuin mythisch-mythologische Licht-/Finsternissymbolik habe sich in der Neuzeit ungebrochen in philosophische und Wissenschaftskonzepte übertragen, namentlich in der Konstruktion von schwarzen und weißen “Rassen” Gestalt angenommen.

    Nach Horkheimer/Adornos “Dialektik der Aufklärung” schlägt die Illusion einer rationalen Verfügbarkeit der Welt erneut in Mythologie um („Je weiter aber die magische Illusion entschwindet, um so unerbittlicher hält Wiederholung unter dem Titel der Gesetzlichkeit den Menschen in jenem Kreislauf fest, durch dessen Vergegenständlichung im Naturgesetz er sich als freies Subjekt gesichert wähnt.“ Dialektik der Aufklärung (1944), Frankfurt a.M. 1988, S. 18). Die verwandte These, dass das Erbe eines “christlich-abendländischen Dualismus” auch den Rationalismus der Aufklärung negativ geprägt habe, dass schließlich aus beider Drang, zu ordnen und zu kategorisieren, auch die ersten Rassenspekulationen hervorgegangen seien, ist verbreitet, aber selten ausführlich ausgeführt.

    Husmann zitiert zunächst aus relativ aktuellen Symbollexika, die den symbolischen Bedeutungen der Farben Schwarz-Weiß erstaunlich oft noch heute “rassische” Assoziationen zuordnen. Ein Lexikon der Traumsymbole von 2005 führt etwa noch das Stichwort “Neger”  mit der Erklärung “Widerstreit des Hellen gegen das Dunkle, meist negatives Innenleben.” (Husmann-Kastein, 61). Sie diskutiert des Weiteren im Kapitel “Angst vor der schwarzen Republik” die Erkennungsfarben verschiedener politischer Parteien durch, die etwa im Sommer 2009 in eine rassistische Wahlwerbungder Grünen mündeten.

    Es stellt sich bald die Frage, wie das dualistische Denken, dessen Dominanz sich in den alten Gegenüberstellungen Gott-Welt, Mensch-Tier, Kultur-Natur, Geist-Materie, Mann-Frau etc etc ausdrückt, geistesgeschichtlich entstanden ist. Hier widmet sich Husmann unter Ausklammerung der iranisch-zoroastrischen Ideenwelt der griechischen Antike. Sie postuliert unter Berufung auf Gerburg Treusch-Dieter und lustigerweise in Übereinstimmung mit Jaspers oft kritisierter These von der “Achsenzeit” einen geistesgeschichtlichen Umschlag um 800/600 vor Christus (S. 64). Das vorherige mythische Weltbild (Ernst Cassirer und Jean Gebser würden sich freuen) sei mit der “Vorstellung vom ‘Heiligen Paar’ verbunden”, matriarchalisch geprägt und “vom zyklischen Kult der Wiedergeburt” bestimmt (ebd.) gewesen. Das ab 800 v. Chr. einsickernde Weltbild sei dagegen das dualistisch-anti-zyklische Postulat eines “geistigen, symbolisch männlichen Schöpfungsprinzip” gewesen (spaßigerweise setzte Rudolf Steiner, was Husmann leider nicht analysiert, exakt an diesem Punkt den Wechsel von der “Kulturepoche der Empfindungsseele” zu der der “Verstandesseele” an). Husmann enthält sich trotz ihrer offenbar kritischen Sicht auf die Entwicklung von der Polarität zur Dualität glücklicherweise der politischen Forderung eines Harald Strohm nach “mythischer Rücktransformation” in vor-antiken Mythos.

    Anders aber als Strohm schildert sie, diesmal unter Berufung auf Jan Assmann und Christina von Braun, allerdings, wie diese geistesgeschichtliche Revolution zustandegekommen sein könnte. Die Entwicklung der griechisch-phonetischen Schrift habe erstmals zu einer “atomisierten” Darstellungsmöglichkeit für Vokale und Konsonanten geführt und es, so Assmann, damit zuerst ermöglicht, “mündliche Rede unverkürzt, vollständig und fließend wiederzugeben” (zit. auf S. 63). Auf Grundlage dieses Schriftsystems habe sich ein “körperunabhängiges, abstraktes Reich des Wortes” entwickelt – und der logische Schluss: Die konzeptionelle Trennung von Körper und Intellekt. Nach dieser Trennung, die die antike Philosophie prägte, sei es, so Husmann unter Berufung auf C.v. Braun, zur Identifikation des “Geistigen” mit Männlichkeit und des “Körperlichen” mit Weiblichkeit gekommen. Punkt. Die Leser_innen (zumindest solche, die, wie bedauerlicherweise ich, nur oberflächlich Ahnung von Geschlechterforschung haben) bleiben im Unklaren darüber, woher diese Verbindung stammen könnte. Zwar weiß auch ich seit Judith Butler, dass die Trennung von gender und sex, also: “kulturell konstruiertem” und biologischem Geschlecht, hinfällig ist (weil auch die Wahrnehmung von sex niemals authentisch, sondern auf Grundlage kultureller Eigenschaftszueschreibungen stattfindet), aber: wie kommt es zur Assoziation von “Geist” und Männlichkeit bzw. “Körper” und Weiblichkeit?

    Wie auch immer. Nach Diagnose der dualistischen Symboliken eilt Husmann hurtig die verschiedenen antiken Philosophien durch. Dabei lässt sie Kyniker, Skeptiker und Epikureer unerwähnt, führt aber als Beispiel für Vertreter dualistischer Weltbilder Platons Konzept von ewigen “Ideen” und schattenhafter Materie sowie die Stoiker an. Natürlich ist auch Aristoteles unvermeidlich bzw. sein Hylomorphismus, der die Platonischen Urtypen verwirft und den Fokus auf das konkret existente Ding (“ousia”) als Hybriden seiner spezifischen geistigen “Form” (morphe) und von dieser gestalteter materieller Grundlage (hyle) legt. Aristoteles’ berühmte Stereotypisierung, dass der Mann vornehmlich den geistigen Part, die Frau dagegen den Materiellen verkörpere, hat Geschichte gemacht.

    III. “Weißwerden”

    Karriere des Dualismus in Kirche, Gnosis und Aufklärung

    Diese dualistischen Geist-Materie-Spekulationen prägten auch die christliche Weltsicht, etwa die “Logostheologie” (S. 91), in der der jungfräulich-reine Körper Marias nicht von der Sünde “befleckt”, sondern vom göttlichen Wort buchstäblich beschrieben wird (hier fällt wieder die These des Zusammenhangs zwischen Dualismus und griechischer Schrift ein). Husmann diskutiert die Beschreibung Christi als “weißes” Lamm, überhaupt Schwarzweißssymbolik im Neuen Testament und natürlich die Darstellung Christi als des Ehegatten seiner weltlichen “Gemeinde”: Hier werde die mythisch-zyklische Symbolik des Heiligen Paares einer dualistischen Wertung unterworfen.

    Und schließlich wird, als Vollendung altertümlichen Schwarz-Weiß-, Licht- und Finsternisdenkens, die spätantike synkretistische Religiosität Gnosis behandelt. Die Gnostiker der verschiedenen Schulen hatten eines gemeinsam: Den Glauben an einen unendlich lichten Himmel und an eine davon nach allen Regeln der Kunst hermetisch abgeschottete Hölle. Unglücklicherweise, so glaubten die Gnostiker, sei diese Hölle nichts anderes als unsere Erde mitsamt der menschlichen Nöte und Leiden. Die Schöpfung sei entsprechend ein großer kosmischer Unfall und der Sturz des Menschen aus dem Licht in Finsternis, Sünde und Materie gewesen. In einem komplizierten Weg der Askese und der Frömmigkeit müsse jeder Mensch seinen demütigen Rückweg ins Lichtreich antreten. Auf diesem Weg wurden des Öfteren drei Gruppen von Menschen, gewissermaßen drei Tauglichkeitsgrade unterschieden: Die Pneumatiker, geistig und dem lichten geistigen Dasein schon am nächsten, die Psychiker, noch der irdischen Seele verhaftet, und die gänzlich trostlosen Hyliker, der irdisch-dämonischen Materie verfallen. Auch und gerade hier finden sich die Zuordnungen von schwarz und weiß – zu den beiden antagonistischen Daseinsebenen, aber auch zu “weißen” Erleuchteten und “Lichtgewändern” bzw. “schwarzen” Erdverhaftungen. Besonders ungünstig kommen bei Husmann die Manichäer weg, deren verästelte Kosmogonie und Heilsgeschichte sie (offenbar inspiriert von Harald Strohms irritierend gnadenloser Antimanichäismus-Polemik) zusammenfasst. Am Ende bringt sie allerdings auch einen Fall positiv konnotierter gnostischer “Schwärze” (“Das erste schwarze Wort Gottes”): In der Kabbalah.

    “Demiurgischer Humanismus”?

    Das Mittelalter und die höfische Dichtung umschifft Husmann elegant und lässt so leider (wenn ich es nicht überlesen habe) auch nicht durchblicken, was sie von dem als “Höllenmohr” bezeichneten Teufel bei Walther von der Vogelweide oder von der Schwarz-Weißsymbolik in Wolframs “Parzival” (vom Elsterngleichnis bis zur Hautfärbung des Feirefiz) hält. Stattdessen erklärt sie, die Übertragung der schwarzweißsymbolischen Codierung von “Licht” und “Geist” bzw. “Finsternis” und niedriger Materie auf ethnische Gruppen (“Rassen”) habe erst in der Neuzeit stattgefunden. Das knapp 60 Seiten umfassende Kapitel “Weißwerden: Historische Vorläufer und Anfänge rassentheoretischer Farbgebung” stellt dann auch das  Herzstück der Untersuchung und deren mit Abstand fesselndsten Teil dar. Husmann dokumentiert den “demiurgischen Humanismus” (Sloterdijk) der Rennaissance und Aufklärung, bei dem sich der Mensch (bzw.: primär “der Mann”) den vormals Gott zugedachten Part des lichten und v.a. schöpferischen Prinzips zuordnete. Erst allmählich und in kleinen Schritten (Husmann analysiert v.a. die Stellung der galenischen Viersäfte- und Temperamentenlehre) wurde allerdings das Konzept verschiedener Hautfarben, “Rassen” und schließlich Charakterunterschiede dieser “Rassen” ausgebrütet. Husmann kann zeigen, dass Hautfarben als Unterscheidungskriterium überhaupt erst durch die unterschiedlich attributierten Farbsymboliken von lichtem Weiß und niederem Schwarz relevant wurden. Das hat auch Auswirkungen auf den Rassismusbegriff: Schon historisch lässt sich so nachweisen, dass bereits der “Rassenbegriff” fiktiv aus protorassistischen symbolischen Wertungen hervorgegangen ist. Nicht zuletzt sind in diesem Kapitel die Rassentheorien Immanuel Kants und Carl Linnés übersichtlich dargestellt. Ein eigenes Kapitel widmet Husmann dem romantischen Esoteriker Carus und seiner Rassenlehre, in der die Menschheit in Tag-, Nacht- und Dämmerungsvölker eingeteilt wird.

    Aber nun endlich zu dem Grund, der mir das Vergnügen verschafft, das Buch hier vorzustellen.

    IV. (K)eine Liebesgeschichte: Husmann und die Anthroposophie

    Die Autorin hat sich nämlich bereits mehrfach zur Anthroposophie bzw. zu “Schwarz-Weiß-Konstruktionen im Rassebild Rudolf Steiners” zu Wort gemeldet und war in einen der jüngeren anthroposophischen Eklats verwickelt:

    Am 21.06.2006 stellte das Bundesfamilienministerium einen Antrag an die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien, zwei Bücher Rudolf Steiners nach § 18 des Jugendschutzgesetzes auf den Index zu setzen. Es handelte sich um die Bände 107 und 121 seiner Gesamtausgabe, Mitschriften von zwei Vortragsreihen Steiners, die bereits mehrfach in der Kritik waren, weil er darin seine evolutionär hierarchisierte Rassentheorie ausbreitet (ich komme unten noch inhaltlich auf sie sprechen).

    Im dadurch eingeleiteten Verfahren nahmen die Steiner-Nachlassverwaltung sowie der “Bund der Freien Waldorfschulen” Stellung, es gab ein gewaltiges Medienecho und an den nach Steiners Pädagogikvorstellungen arbeitenden Waldorfschulen einiges aufgeregtes Getuschel in den Gängen und hinter verschlossenen Türen, bevor die BPjM am 06.09.2007 erklärte, die Bände seien tatsächlich in der Lage, Jugendliche zu “Rassenhass” anzuheizen. Da der Steiner-Verlag aber zugesichert hatte, kritisch kommentierte Neuauflagen auf den Weg zu bringen, entschied die Bundesbehörde, es handle sich um einen Fall “von geringer Bedeutung” und sah von einer Indizierung ab. Noch im letzten Sommer erlebte der Vorfall ein Nachbeben, als eine rechtsanthroposophische Zeitschrift kreativ beschloss, da die zwei Bücher inzwischen immernoch nicht wieder aufgelegt würden, müsse eine skandalöse Verschwörung vorliegen.

    “Die bei uns eingegangenen Reaktionen gehen von ‘geistigem Verrat’ über ‘Skandal’ bis zur ‘Katastrophe’ etc.“ (Marcel Frei: Rudolf Steiner am Dornacher Pranger, in: Der Europäer, September 2010, S. 9, vgl. Bilder und Sachen, Absatz “Grabenkämpfe”).

    Und wie zuverlässig jedes Mal, wenn Anthroposoph_innen Verschwörungstheorien aus dem Hut zaubern, glauben diverse Kritiker_innen der Anthroposophie schon lange dieselbe Geschichte: Natürlich sind die aber überzeugt, dass das Ausbleiben der Neuauflage nicht aus anti-, sondern proanthroposophischen Motiven geschehe. Das ganze entbehrt, wie Ralf Sonnenberg resümmierte, einer gewissen Komik nicht:

    “Die Annahme …, theosophische Insider-Literatur aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg gehöre zu den bevorzugten Freizeitlektüren heutiger Teenager, zielt, sofern sie überhaupt ernst gemeint ist, an der Lebensrealität von Jugendlichen vorbei.” (Hagalil)

    Natürlich hatte das Familienministerium den Antrag auf Indiziderung der beiden Bände auch nicht gestellt, weil dort jemand spontan Lust bekam, Steiners Nachlass-Verwaltung zu mobben. Zwei Anthroposophiekritiker_innen hatten ein diesbezügliches Empfehlungsschreiben sowie entsprechende Gutachten eingereicht, als “ultima ratio, doch noch eine wirkliche Diskussion zur Anthroposophie und damit zur Waldorfpädagogik in Gang zu setzen” (Stern): Eines von dem Berliner Grafik-Designer Andreas Lichte, der 2001 in einer Fortbildung zum Waldorf-Werklehrer die aktuelle Präsenz anthroposophischer Kulturchauvinismen festgestellt hatte. Das andere stammte von Jana Husmann (damals noch mit dem Doppelnamen Husmann-Kastein) und enthielt in vielen Punkten ihre auch online zu findenden sowie gleich noch einmal zusammengefassten Darlegungen über Steiners Rassenlehre.

    Jana Husmann hatte Kulturwissenschaften und Gender Studies an der Universität Bremen und der Humboldt-Universität Berlin studiert. Nachdem sie 2003 ihre Magisterarbeit mit dem Titel “Schwarz-Weiß-Konstruktionen im Kontext des Rassismus – Zur Bedeutung von Farbsymbolik in den historischen Anfängen der Rassentheorie und sozio-politischer Identität” vorgelegt hatte, veröffentlichte sie einige Aufsätze im Themengebiet “Kritische Weißseinsforschung”, soweit ich behaupten darf, sie zu überblicken, mit einem Schwerpunkt auf Geschlechterkonstruktion in den jeweiligen Rassen- bzw. Hautfarbekonzepten. 2007 erschien etwa ein zum Thema Anthroposophie relevanter Aufsatz mit dem Titel “Rassisierte Lichtgestalten – dunkle Krisen: Christus, Karma und Erlösung bei Rudolf Steiner”. Nachdem sie 2003-2006 Promotionsstipendiatin der Rosa-Luxemburg-Stiftung gewesen war, legte sie 2008 die nun überarbeitet in Buchform erschienene Dissertation vor. 

    V. Dualistische Rassentheorie bei Steiner

    Husmann grenzt Steiners esoterische Anthroposophie zunächst deutlich vom völkischen Okkultismus seiner Zeit ab…

    “Gegenüber dem eugenisch inspirierten Rassenmystizismus eines Lanz von Liebenfels und den zeitgenössisch empiristischen Rassen- und Entartungstheorien ist die Anthroposophie des Okkultisten und selbst erklärten Hellsehers Rudolf Steiner ihren formulierten Grundsätzen nach durch eine Rhetorik der Egalität und Ganzheitlichkeit geprägt. So proklamiert Rudolf Steiner 1906: Das ‘anthroposophische Christentum’ verheiße einen ‘Bürger des Geistes’ – ‘ohne Unterschied von Rasse und Geschlecht.’” (S. 232f.)

    …um anschließend klarzustellen, dass dieser egalitäre Anspruch keineswegs erfüllt werde. Strukturell parallel zu Steiners Kosmologie und Wissenschaftsanspruch ist mit geringem Aufwand eine sehr explizite Rassentheorie (wenn auch nicht von “ariosophischen” Ausmaßen) zu finden. Husmann betont zunächst, dass Steiner damit kein Einzelgänger war, sondern die von ihr so ausführlich beschriebene Verweltlichung und Verwissenschaftlichung von Schwarz-Weiß-Symboliken fortschrieb:

    “Versteht Zander die Anthroposophie gegenüber der ‘hegemonialen Wissenskultur’ des institutionalisierten Christentums und der institutionalisierten Wissenschaft als ‘minoritäre Kultur’, so werde ich im Folgenden herausstellen, dass jedoch bereits die anthroposophische Erkenntniskonzeption … substantiell … als Bestandteil der zeitgenössischen hegemonialen Weißen Wissenskultur zu begreifen ist.” (S. 251)

    Die Ausführungen zu diesem Punkt sind interessant, aber anders als Helmut Zander in seiner Geschichte der Anthroposophie in Deutschland übergeht Husmann – trotz sehr gewissenhafter Darstellung – weitestgehend Steiners okkultistischen Kontext. Der Mesmerismus, der aus ihm erwachsene Spiritismus und die aus diesem entstandene Theosophie verbanden religiöse Sehnsucht angesichts einer scheinbaren wissenschaftlichen Sinnentleeung mit dem Projekt, nun Religiöses wissenschaftlich zu erforschen. Parallel dazu ging Steiner, auch wenn er spiritistische Methoden polemisch als Quacksalberei zurückwies.

    “Mehr Licht!” – die Esoteriker_innen des 19. Jahrhunderts fühlten sich in einer finsteren, sinnentleerten Welt des Materialismus, der sie durch wissenschaftlich-moderne Methoden das Licht der Gotteserkenntnis wiedergeben wollten*

    Allerdings folgt auch in Husmanns Buch eine Darstellung der anthroposophischen Kritik an der “materialistischen”, “ahrimanischen” Wissenschaft der Neuzeit sowie Steiners Versuch, eine ”christliche Wissenschaft” vorzulegen. Darauf werde ich unten im Absatz VIII zu “Ahriman und Luzifer” noch eingehen. Indem sie diese beiden Typen von (guter und böser) Wissenschaft aus dem Steinerschen Oeuvre herausdestilliert, gelangt Husmann zu einem sehr klaren Dualismus in der anthroposophischen Weltsicht. Analog dazu sei Steiners Rassentheorie konzipiert. Hier wiederholt Husmann teils nahezu wörtlich Formulierungen und Thesen aus ihren früheren Kritiken an Steiners Rassentheorie, weshalb ich der Einfachheit halber eine Zusammenfassung aus einer dieser Schriften heranziehe:

    “Erstens versteht Steiner ‘Rasse’ als eine der heutigen Menschheit übergeordnete Kategorie, ‘Rasse’ erscheint hier als Bezeichnung für verschiedene Zeitalter und ‘Menschheitsstadien’. Dafür steht das sogenannte ‘Wurzelrassensystem‘, das Steiner weitgehend von der Theosophin und Okkultistin Helena P. Blavatsky übernimmt. In diesem (neognostischen) Evolutionsmodell entwickelt sich der Mensch nach Steiner überhaupt erst zu seiner heutigen physischen und seelischen Gestalt. Es beinhaltet einen Prozess vom Geistkörper zum gegenwärtig physisch festen Körper, zum sog. „Knochenleib“, in der fernen Zukunft komme es zu einer erneuten Vergeistigung.

    Neben dem, der heutigen Menschheit übergeordneten Evolutionsmodell der „Wurzelrassen“ versteht Steiner ‘Rasse’ zweitens jedoch zugleich als eine Strukturkategorie der gegenwärtigen Menschheit. Hierbei entwickelt er drei bis fünfgliedrige Modelle … Außereuropäer werden durch die dunkle Materie, durch ‚Verhärtung’, Verknöcherung’ und den Begriff der Degeneration gekennzeichnet, die als weiß beschriebenen Europäer stehen für geistige Potenz und die Entwicklung hin zu einer zukünftigen lichten Vergeistigung. In diesem Sinne lässt sich auch Steiners viel zitierte Aussage verstehen: „Die weiße Rasse ist die zukünftige, ist die am Geiste schaffende Rasse.“ Vor dem Hintergrund der abendländisch geistesgeschichtlichen Tradition der Codierung des Geistes als männlich und der irdischen Materie als weiblich lassen sich diese Verknüpfungen der ‘weißen Rasse‘ mit Geist und der nicht-weißen ‘Rassen‘ mit der verhärteten Materie immer auch als symbolisch geschlechtlich codiert begreifen.” (Schwarz-Weiß-Konstruktionen…)

    Während sich die früheren Publikationen weitestgehend auf eine Darstellung von Steiners Rassenmodellen beschränkten, geht Husmann in ihrer Dissertation nun auch ausführlicher auf Steiners theosophisches Frauenbild ein (S. 259-256), das letztlich wenig originelle Polaritäten passiv-phantasievoller Weiblichkeit und aktiv-zielgerichteter Männlichkeit mit esoterischen Theorien ummantelt. Interessant ist, dass Steiner diese simplen Zuordnungen teilweise erkannte und kritisierte, ohne aber selbst davon loszukommen.  Bedauerlicherweise unterlässt es Husmann vollständig, auf die aufschlussreiche Geschichte Steiners persönlicher Frauenbeziehungen einzugehen.

    Ein mit “Egalität?” übertiteltes Unterkapitel stellt die Frage, wie der anthroposophische “Grundsatz, den Kern einer allgemeinen Brüderschaft zu begründen ohne Rücksieht auf Rasse, Farbe, Stand und so weiter” (Steiner, GA 54, 1966, 153f.), mit dieser evolutionär hierarchisierten Rassentheorie in Einklang steht. Hier verweist Husmann auf den Reinkarnationsglauben: Das geistige “Ich” des Menschen verkörpere sich in verschiedenen Leben in verschiedenen “Rassen”:

    “So können wir also gewiß sein, wenn wir auf diesen Kern unseres Wesens schauen, daß wir mit ihm teilnehmen werden nicht nur an den Sonnen- oder vielleicht auch Schattenseiten aller Rassen, aller Volkstümer, sondern wir können gewiß sein, daß wir in unserem innersten Wesen aufnehmen Beitrag auf Beitrag der Segnungen aller Rassen und Volkstümer, indem wir einmal da, einmal dort inkarniert werden.” (Steiner, GA 121, 1982, S. 86)

    Allerdings: Die negative Wertung “außereuropäischer” “Rassen” in Steiners Weltbild wird so eben nicht aufgehoben, sondern durch die Behauptung, immerhin auf “geistiger” Ebene herrsche Egalität, im Gegenteil noch zementiert. Ein eigenes Kapitel widmet sich schließlich heutigen anthroposophischen Versuchen, mit Steiners Rassentheorie umzugehen. Dabei streift Husmann länger die unglücklichen Versuche eines Lorenzo Ravagli, Steiners Rassentheorien u.a. unter Bezugnahme auf die vorgeschaltete Reinkarnationslehre als “humanistisch” zu reinterpretieren (vgl. Ravagli, die Rassen und die Rechten, Leitmotiv Zertrümmerung, Rudolf Steiners Rassenlehre). Aber auch das “Frankfurter Memorandum” der dialogoffenen anthroposophischen Zeitschrift “info3″, das immerhin einzelne rassistische Stellen thematisiert, wird zitiert und zurecht als “Minimalkritik” (S. 328) kritisiert. Es wird an einem Beispiel gezeigt, dass der eurozentrische Blick anthroposophischer Rassentheorien auch noch in aktuellen Waldorfschulbüchern auftaucht. Dass das entsprechende Buch heute noch als Unterrichtsgrundlage aufgelegt wird, ist umso erstaunlicher, als sogar ein überschwenglich positiver anthroposophischer Rezensent die darin Kulturchauvinismen zumindest am Rande feststellte:

    “Die meisten Kapitel erschienen schon in früheren Jahren (zwischen 1954 und 1997 in den Zeitschriften ‘Erziehungskunst’ und ‘Die Drei’), vier von insgesamt vierzehn Beiträgen sind Originale und damit Erstveröffentlichungen. Beim Lesen bemerkt man durchaus den zeitbedingten Sprachhorizont, der manche Wendung heute auch kritischer bewerten läßt als zur Zeit der Erstveröffentlichung … Wenn Suchantke von Tieren kategorisierend spricht, kann man gut folgen. Unangenehm berührt jedoch kann man von dieser Sprache werden, wenn sie sich auf Menschengruppen und -rassen bezieht (‘der Indio, der Weiße, der Schwarze’ (S. 38)).” (Creyaufmüller, Rezension)

    Husmanns Darstellung ist natürlich ungleich detaillierter und kritischer. Behandelt wird von ihr natürlich auch das oben erwähnte BPjM-Verfahren. Als relativ krasser Schnitzer ist hier festzuhalten, dass sie allerdings nicht beschreibt, dass und wie sie in dieses Verfahren involviert war. Weder auf ihr Gutachten (das wird nur in einer Fußnote “der Vollständigkeit halber” erwähnt, S. 321) noch auf ihre Motivation oder irgendeine persönliche Position geht sie ein, sondern erhält die hier fiktive Position der neutralen Außenperspektive aufrecht. Auf Husmanns Fazit für dieses Kapitel, eine um diese Rassentheorien bereinigte Anthroposophie sei kaum vorstellbar, werde ich unten (unter 4.) noch behandeln.

    Was fehlt

    Im Folgenden will ich an vier Punkten aufzeigen, wo die Untersuchung einseitig ist bzw. welche Themenbereiche eine Analyse farbsymbolischer Dualismen besonders mit Blick auf die neuzeitliche Esoterik noch beachten könnte. Diese Exkurse ändern nichts an der Qualität von Jana Husmanns Untersuchungen, denen großenteils schlicht zuzustimmen ist, sie stellen einzig meine eigenen Gedanken und Anmerkungen zum Thema dar und sind vielleicht für die einen oder anderen interssant.

    Husmann beruft sich in ihrem Buch oft und gern auf das Buch “Die Gnosis und der Nationalsozialismus” (Harald Strohm), das der Religionswissenschaftler Holger Nielen in einer durchaus positiven Rezension als “Kaperfahrt durch die Philosophiegeschichte” bezeichnete. Diese Beschreibung mag auch auf ihr Buch in Teilen zutreffen. Zwar ist Strohms Buch durch weitläufige Exkurse und einen assoziativen Stil ganz anders als Husmanns nüchtern-wissenschaftliche Untersuchung, aber beide durchschreiten die abendländische Geschichte mit einem etwas mehr als nur thematisch bedingten Tunnelblick. Vom Beginn des dualistischen Denkens im alten Griechenland bis zum rassen- und geschlechtertheoretischen Schwarzweißdenken in aktuellen Symbollexika scheint sich eine kontinuierliche, ungebrochene und – in sich – logische Beziehung aufzubauen. Die beurteilt Husmann durchweg kritisch. Aber statt zu zeigen, wo und an welcher Stelle Irrtümer diese Konstrukte aufbauten und verstärkten, präsentiert sie scheinbar nur lauter Plausibilitäten: Vom Anfang eines abstrakten, körperunabhängigen “Reich des Wortes” durch die Erfindung der “atomisierten” Konsonanten- und Vokalschrift im Alten Griechenland bis zu Steiners befremdlicher Vorstellung, der vergeistigte Mensch zukünftiger kosmischer Perioden werde Nachkommen ebenfalls körperlos aus den Sprechorganen (er)zeugen – nach der Lektüre des Buches scheint zwischen alledem eine zwar unendlich bedrückende, aber existenziell mit abendländischer Philosophie, aufklärerischem Humanismus und neuzeitlicher Wissenschaftsgeschichte verflochtene Traditionskette zu stehen.

    VI. Antike Philosophie

    Dem ist aber keineswegs so – schon zu Beginn von Husmanns Darlegung ließen sich auch zahlreiche Gegenentwürfe finden: In der griechischen Philosophie. Sie führt Platon und dessen Zwei-Welten-Theorie an – zweifellos dualistisch, doch ging es Platon in seiner Ideenlehre auch um die erkenntnistheoretische Überwindung der “Kluft” zwischen abstrakten, ewigen, unentstandenen “Ideen” und konkreter, in ständiger Veränderung begriffener Materie: Im ”Liniengleichnis” (Politeia VI, 509-510) führt Platon aus, dass nicht nur durch abstrakte Schau begnadeter Philosophen die “Ideenwelt” zu erreichen sei, sondern auch empirisch durch analoge Bildungen der Natur. Auch hat Platon in seinem Dialog “Theätet” immerhin einmal den Vorschlag gemacht, Ideen nicht als ontologisch höhere Strukturen von Wirklichkeit, sondern als mentale Strukturen zu erfassen. Und Husmann vergisst drittens zu erwähnen, dass Platon, anders als sein Schüler Aristoteles, von einer gleichen mentalen Befähigung bei Männern und Frauen (zumindest in seinem utopischen “Philosophenstaat”) ausging. Und wenn auch Aristoteles Urheber oder zumindest erfolgreicher Propagandist jenes leidigen Philosophems von den erkenntnisfähigen, “geistigen” Männern und irgendwie unschöpferischen, da rein materiell-irdisch dominierten Frauen war, so war er doch auch der wahrscheinlich erste, der die  Bedeutungslosigkeit unterschiedlicher Hautpigmentierungen aussprach:

    “…zum Beispiel befußt und beflügelt bringt Artverschiedenheit hervor, weiße und schwarze Farbe dagegen nicht. Vielleicht liegt der Grund darin, dass jenes eigentümliche Affektionen der Gattung sind, dieses aber weniger. Und indem nun etwas teils Begriff [logos] ist, teils Stoff [hyle], so bringen die den Begriff treffenden Gegensätze Artunterschiedenheit  [diaphorà eídei] hervor, die mit dem Stoff zusammengefassten dagegen nicht. Daher bringt weiße und schwarze Farbe keine Artverschiedenheit hevor, und der weiße Mensch steht zu dem schwarzen nicht in einer Unterschiedenheit der Art nach, auch dann nicht, wenn man für jeden einen Namen setzt. Denn der Mensch ist hier nur als Stoff genommen, der Stoff aber bewirkt keinen Unterschied; deshalb sind ja auch die einzelnen Menschen nicht Arten des Menschen … also ist der Mensch nur in akzidentellem Sinne weiß. … zwischen dem weißen Menschen und dem schwarzen Pferd besteht eine Verschiedenheit, und zwar eine Artverschiedenheit, aber nicht insofern, als der eine weiß, das andere schwarz ist; denn sie würden ebensogut der Art nach verschieden sein, wenn beide weiß wären.” (Aristoteles: Metaphysik,  Buch 10, IX, 1058a ca.35 – 1058b ca.22; Übersetzung von Hermann Bonitz)

    Aristoteles – nicht gerade Antisexist, aber auch Urheber der “ersten antirassistischen Sätze in der Geschichte” (Christian Delacampagne)

    Auch die an einer Stelle (S. 70) erwähnten Stoiker waren nicht die Propheten einer körperlosen, “samenhaltige[n] Weltvernunft” [Hans Leisegang], sondern fassten die Welt in einem materialistischen Monismus als geschlossenen Mechanismus auf, in dem die “Weltvernunft” mit einem periodisch wiederkehrenden “Weltenbrand”, einer Art “Urfeuer”, aus dem alles besteht und in das sich auch alles allenthalben aulöst, in Eins gesetzt wird. Auch das ist alles andere als eine dualistische Konstruktion, wenngleich das Feuer auch als “logos”, “Zeus” oder “Seele” bezeichnet wird. Gänzlich unerwähnt bleibt bei Husmann auch der Atomismus Epikurs.

    Husmanns Diagnose ist insgesamt völlig richtig, doch weder die antike Philosophie noch Gnosis oder frühes Christentum sind derart kontinuierlich und bruchlos dualistisch und von Schwarzweiß-Motiven durchtränkt, wie es ihre Untersuchung suggeriert. Andererseits: Hätte Husmann jeden Pfad der Geistesgeschichte auch auf ihrer These widersprechende Gedankengebäude abgeweidet, wäre eine mehrbändige Geschichte der Philosophie entstanden und eben nur partiell eine Analyse der nunmal präsenten Schwarz-Weiß-Symboliken. Und an einigen Stellen nennt Husmann auch Farbsymboliken, die einer durchweg negativen Wertung der Farbe Schwarz widersprechen, wie die Schöpfungsvision der Kabbala oder den Kult der “Schwarzen Madonna”. Dass Husmann im Zusammenhang mit dem Letzteren schreibt, “die Templer und Katharer verbanden die schwarzen Madonnen schließlich mit dem Gralskult” (S. 92), womit sie selbst esoterischen Traditionskonstrukten des 19. Jahrhunderts auf den Leim geht, ist eine ungewollt komische Pointe.

    VII. Kontexte

    Esoterischer Rassismus

    Nach ihrer Darstellung von verschiedenen Explikationen der Steinerschen Rassenmodelle folgert Husmann:

    “Steiner war – verglichen mit selbst erklärten ‘politischen’ Antisemiten und Rassisten seiner Zeit – kein antisemitischer und rassistischer ‘Scharfmacher’ [Zitat Helmut Zander - AM], seine problematischen Thesen zum Judentum und zu ‘Menschenrassen’ werden aber nicht durch den historischen Zeitgeist erklärt, sondern lediglich ansatzweise erklärbar. Eine historische Auseinandersetzung mit Steiners Rassentheorie/n verdeutlicht dabei einerseits die Spezifik spiritualistisch-biologistischer Rassismen, zeigt andererseits aber auch, dass eine absolute Trennung zwischen Rationalität und Irrationalität, zwischen Wissenschaft und Religion, die historische Genese des ‘naturwissenschaftlichen’ Rassenkonzepts verkennt.” (S. 354 – Hervorhebung AM)

    Der letzte Satz gehört sicher zu den “spannenderen” des gesamten Buches, die vorangehende Bemerkung aber, Steiners “spiritualistisch-biologistischer” Rassismus werde in seiner spezifischen Form historisch allenfalls ansatzweise erklärbar, verdient, finde ich jedenfalls, eine längere Ausschweifung meinerseits. Übrigens steht Helmut Zander, auf den Husmann sich hier beruft, auf einem anderen Standpunkt:

    “Steiner ist ein Kind seiner Zeit, nicht nur hinsichtlich der Evolutionstheorie. Was und wie er dachte, ist dem Horizont der Jahrzehnte um 1900 verhaftet, seine Rassenlehre ist dafür nur ein Beispiel. Aber die Konsequenzen sind, potentiell dramatisch, partiell durchaus entlastend: Steiners Rassenvorstellungen sind kein Sondergut der Anthroposophie, sondern fluidaler Zeitgeist, den Steiner mit vielen teilte. Und schaut man genau hin, realisiert man, daß er nicht zu den Scharfmachern seiner Zeit gehört. In Rassenfragen gibt es um 1900 weit Übleres. Wenn man also anthroposophischerseits anerkennen würde, daß Steiner seiner Zeit verhaftet war, könnte man seine Vorstellungen historisieren, dadurch relativieren und hätte sie entschärft – und hätte einen schweren Stein von der Anthroposophie genommen. Seine Rede von den ‘degenerierten’ und ‘zukünftigen’ Rassen könnte man als Positionen lesen, die um 1900 plausibel waren und sogar ,progressive’ Dimensionen beinhalteten, etwa in der Kritik an den deterministischen Vererbungslehren. Aber das aktuelle Werturteil müßte anders lauten: Steiner hat Positionen vertreten, die wir heute für nicht mehr akzeptabel halten – Steiner hat insoweit geirrt.(Zander: Rudolf Steiners Rassenlehre, in: Uwe Puschner/ G. Ulrich Großmann (Hg.): Völkisch und National – Zur Aktualität alter Denkmuster im 21. Jahrhundert, Darmstadt 2009, S. 151)

    Von den Quellen, aus denen Steiner seine Rassentheorien bezog, hat Husmann den Mediziner Carl Gustav Carus neu ins Spiel gebracht, der religionstypologisch übrigens selbst als Esoteriker und Propagandist einer romantischen, “stark spekulative[n] und weniger prophetische[n] Theosophie” des 18. Jhdts einzuordnen wäre (vgl. Kocku von Stuckrad: Was ist Esoterik? Eine kurze Geschichte des geheimen Wissens, München 2004, S. 156, 168, 178f.). Sie erwähnt im Anschluss an Quellenbelege Zanders außerdem William Scott-Elliot, dem Steiner seine Details über Rassen auf “Atlantis” verdankt (The Story of Atlantis) sowie das “Wurzelrassenmodell”, das Steiner von der Okkultistin Helena Blavatsky übernommen, “jedoch um einigen Detailreichtum ergänzt” habe (S. 267 – eigentlich hat Steiner es erheblich verkürzt und systematisiert). Außerdem wird mehrfach auf “zeitgenössische Deszendenztheorien”, den Darwinisten Ernst Haeckel etc. verwiesen. Aus diesen Quellen ist, wie sie schreibt, das deutlich dualistische Muster tatsächlich nur zum Teil erklärbar: Degenerierende “Rassen” gibt es auch bei Haeckel, aussterbende Indianer und die Trias von “Weißen, Gelben, Schwarzen”, auch bei Blavatsky. Die Vorbilder Steiners bei der Zuordnung von Christus zum “Weiß-Sein” und dämonischer Mächte zu dunklen Hautfarben findet Husmann bei beiden aber trivialerweise deshalb nicht, weil Steiner sie weder von Blavatsky noch von Haeckel hat. Eine Vortragsreihe Steiners, die Husmann in diesem Zusammenhang zitiert, ohne aber ihrem Entstehungsumfeld nachzugehen, weist die Spur: GA 113: “Der Orient im Lichte des Okzidents – Die Kinder des Luzifer und die Brüder Christi”.

    In dieser Vortragsreihe weiß Steiner von zwei Auswanderungsströmen zu berichten, die von dem untergegangenen mythischen Kontinent “Atlantis” nach Indien führten: Ein “nördlicher Völkerstrom” ging durch Europa, ein “südlicher” durch Afrika. Der Nördliche wird von Steiner mit Christus assoziiert, der Südliche – wer ahnt es schon? – mit der Widersachermacht “Luzifer”, die auch ihr Scherflein zur Evolution beizutragen habe (und deren Rolle der nächste Abschnitt gewidmet ist). Steiner hielt diesen Vortragszyklus im schicken Prinzensaal des Café Luitpold in München. Zuvor war unter großem Brimborium das “Mysteriendrama” “Die Kinder des Luzifer” aufgeführt worden, auf das Steiner im Titel seines Vortragsreihe anspielte. Das Stück hatte der französische Esoteriker Edouard Schuré (1841-1929) geschrieben, der Steiners Leben und Werk auf mehrfache Weise beeinflusste. “Schurés Schrift über die Großen Eingeweihten aus dem Jahr 1889 hatte für Steiners Denken eine ebenso große Bedeutung wie dessen spirituelle Dramen für seine künstlerische Tätigkeit.” (Heiner Ullrich: Rudolf Steiner, S. 62f.)

    Schuré hatte nicht nur Steiners zweite Frau Marie von Sivers zur Theosophie gebracht, er sollte auch Werke Steiners ins Französische Übersetzen, während umgekehrt Marie Sivers diejenigen Schurés ins Deutsche übertrug. Für Schurés “Die Großen Eingeweihten” schrieb Steiner selbst mehrermals Vorwörter, bevor sich Schuré im Ersten Weltkrieg wegen Steiners deutschnationaler Positionen von ihm abkoppelte. In den “Großen Eingeweihten” fand Steiner einen “Masterplan der esoterischen Religionsgeschichte” (Helmut Zander: Rudolf Steiner, S 155) vor, der “Eingeweihte” und sich historisch ablösende kulturschöpferisch “Rassen” enthielt. Aktuell war selbstverständlich die “weiße Rasse” bedeutsam, die die Weltherrschaft “den Schwarzen” abgerungen hatte. Schuré stellt nicht nur eine Schlüsselfigur für Steiners Werk dar, sondern schließt auch einen, neben der Theosophie Blavatskys, zweiten und Jahrzehnte vor Blavatskys Lehren zurückreichenden Traditionsstrang esoterischer Rassentheorien auf. Anders als Steiner, der seine Quellen wo möglich vertuschte – worüber sich schon Theosoph_innen zu seinen Lebzeiten beschwerten (Norbert Klatt: Theosophie und Anthroposophie, Göttingen 1993, S. 82ff.) – führte Schuré in Fußnoten mit Quellenangaben Bücher des Okkultisten und Martinisten Antoine Fabre d’Olivet an.

    Fabre d'Olivet (1767-1825)

    Fabre d’Olivet (1767-1825)

    Der Linguist und Fälscher Fabre hatte 1822, 66 Jahre vor Blavatskys Secret Doctrine, sein Buch “De L’etat social d’homme” veröffentlicht. Als das sich schlecht verkaufte, legte er es unter dem Titel “Histoire Philosophique du genre humain” neu auf – und landete einen gewaltigen Erfolg. In dem zweibändigen Werk wird beschrieben, dass die Kulturgeschichte von sich nacheinander verdängenden “Menschenrassen” dominiert werde. Das von Linné erfundene Schema der vier Hautfarben (Husmann, S. 154ff.) transponierte er in ein evolutionäres Muster. Begonnen habe alles mit der “Roten Rasse”, die mit dem Untergang der mythischen Insel Atlantis vernichtet wurde. Anschließend herrschte die “schwarze Rasse”, während am Nordpol die lichte “weiße Rasse” aus dem Kosmos herabstieg. Auf wenigen Seiten schreibt sich Fabre die Kulturgeschichte und die abendländischen Mythologien so zurecht, als habe er Husmanns Theorien darüber präzise als Konstruktionsvorlage genommen: Kulturelle Menschwerdung Gottes in der “weißen”, Verkörperung des Schlechten, Niederen in der “schwarzen Rasse”.

    “La race noir a pris certainement naissance dans le voisinage de la ligne équatoriale, et s’est répandue de là sur le continent africain d’ou elle a étendu ensuite son empire sur la terre entière et sur la Race blanche elle- même, avant que celle-ci eût la force de le lui disputer. Il est possible qu’à une époque très reculée, la Race noire se soit appelée sudéenne ou suthéenne, comme la Race blance s’est nommée borénne, ghiboréenne ou hyperboréenne [die Hyperboräische Wurzelrasse der Theosophen deutet sich an - AM]; et que delà soit venue l’horreur qui s’est généralement attachée au nom de Suthéen, parmi les nations d’origine blanche. On sait que ces nations ont toujours placé au sud le domicile de l’Esprit infernal, appelé par cette raison Suth ou Soth par les Egyptiens, Sath par les Phéniciens et Sathan ou Satan par les Arabes et les Hébreux.” (Fabre d’ Olivet: Histoire philosophique du genre humain ou L’homme Considéré sous ses rapports religieux et politiques dans l’État social, à toutes les époques et chez les différens peuples de la terre, Paris 1824, Tome II, S. 70f.)

    Und für alle, die Französisch noch weniger verstehen, als ich (wobei ich die pseudolinguistischen Verballungen von sud und nord in der Originalformen lasse):

    “Die schwarze Rasse wurde sicherlich in der Nähe der Äquatorlinie geboren und verbreitete sich von dort über den afrikanischen Kontinent, von dem aus sie anschließend ihre Macht über die ganze Welt ausbreitete, ja sogar über die weiße Rasse selbst, bevor diese die Kraft hatte, sie ihr streitig zu machen. Es ist möglich, dass die schwarze Rasse in einer sehr weit zurückliegenden Epoche sudéenne oder sutéenne hieß, so wie die wie die weiße Rasse sich boréenne, ghiboréenne oder hyperboréenne nannte; und dass daher das Grauen kommt, das dem Namen des Suthéen unter den Nationen weißen Ursprungs anhaftet. Man weiß, dass diese Nationen im Süden immer die Wohnstätte des höllischen Geistes darstellten, weshalb sie von den Ägyptern Suth oder South genannt wurden, von den Phöniziern Sath und Sathan oder Satan von den Arabern und Hebräern.”

    Sogar der nicht eben steinerkritische anthroposophische Journalist Lorenzo Ravagli erwähnte Fabre d’Olivets Schinken negativ, allerdings behauptete er fälschlich, dass dieser “den Ariermythos in Form eines ewigen Kampfes der weißen gegen die schwarze und gelbe Rasse erzählt” (Ravagli: Unter Hammer und Hakenkreuz, Stuttgart 2004, S. 376) und übersah damit offenbar die evolutionäre Dimension dieses Unterfangens in Fabres Schriften.

    Fabres Zuordnung des Teufels zur schwarzen “Rasse” und die umgekehrte Vergottung der “Weißen” findet sich en detail, wenn auch in abgeschwächter Form und ihrer pseudo-etymologischen Herleitung entkleidet, bei Schuré wieder:

    “In prähistorischer Zeit eroberten die Schwarzen den Süden Europas und wurden durch die Weißen von dort vertrieben. In den Volksüberlieferungen erinnert nichts mehr an sie. Dennoch haben sie zwei Spuren hinterlassen: Den Schrecken vor dem Drachen, dem Attribut ihrer Könige, und die Vorstellung, dass der Teufel schwarz ist. Sie erwiderten diese Schmähung, indem sie den Teufel weiß machten…. Trotz seiner körperlichen Widerstandskraft  und … Bindungsfähigkeit bedeutete Religion für dieses Volk die Herrschaft der Macht durch Furcht.” (Edouard Schuré: Die Großen Eingeweihten (1889), Grafing 2010, S. 28, Übersetzung von Dr. Edith Zorn)

    Und wiederum abgeschwächt findet sich Schurés Vorstellung in Steiners erwähntem Vortragszyklus. Schon in dessen von Schurés Theaterstück angeregten Untertitel – “Die Kinder Luzifers und die Brüder Christi” – schwingt die rassische Schwarz-Weiß-Polarität deutlich mit, auch in Steiners auch bei Husmann (auf S. 282) zitierten Zeilen:

    “So war Luzifer sozusagen eingezogen in der südlichen Völkerströmung in die Menschheit, so war Christus eingezogen in der nördlichen Völkerströmung, beide in Gemäßheit [sic] des Charakters dieser Völkerströmungen. Und wir leben in der Zeit, in der sich diese beiden Völkerströmungen miteinander verbinden müssen, wie die männlichen und weiblichen Befruchtungssubstanzen…” (GA 113, 1982, S. 107 – vgl. Steiners drastischere Formulierungen in GA 174b, 1. Vortrag. Anzumerken ist, dass Steiner Luzifer allerdings nicht durch schwarz, sondern durch Licht bzw. allenfalls eine rote Farbe symbolisiert sah. Der dualistische Ursprung dieser Luzifer – Christus-Polarität wird also verwischt.)

    spirituell überbaute Völkerwanderungskonzepte: die Anthroposophie steht hier in der Tradition des französischen Martinismus

    Nicht nur Schuré und Steiner übernahmen Fabres Thesen, auch Helena Blavatsky, auf die die Deutung der Weltgeschichte als Staffellauf diverser schöpferischer (Wurzel-)”Rassen” heute meist fälschlicherweise zurückgeführt wird, kannte seine Bücher nachweislich, lobte ihn bei mancher Gelegenheit (vgl. Blavatsky: The Kabalah and the Kabalists) und hat sich offenbar daraus bedient: Auch bei Blavatsky sind “die Roten” Überbleibsel der Atlantier und sterben aus, auch bei ihr sind “Gelbe, Schwarze, Weiße” die Rassentypen unserer Tage – und unter ihnen “die Weißen” entwicklungstechnische Avantgarde.

    Von Blavatsky und Fabre gleichermaßen bediente sich Joseph-Alexandre Yves d’Alveydre, ebenfalls Martinist, vergessener Erfinder der von Steiner propagierten “Sozialen Dreigliederung” und ebenfalls zuhauf in den Fußnoten von Schurés Großen Eingeweihten zu finden. Dieser arbeitete neben der evolutionären Rassentheorie den bis heute in völkischen Kreisen attraktiven Mythos des tibetischen Unterweltreichs “Agartha” aus (Nicholas Goodrick-Clarke: Im Schatten der Schwarzen Sonne (2005), Wiesbaden 2009, S. 231f.). Ein Schüler D’Alveydres wiederum, Steiners Zeitgenosse und zeitweiliger Leiter der Französischen Theosophischen Gesellschaft, Papus (i.e. Gerard Encausse), von dem Steiner Schriften in seiner Bibliothek hatte, widmete sich dem Studium der Kabbalah und wird in diesem Zusammenhang in Husmanns Buch zitiert. Eine erstaunliche und erfreuliche Wahl, da die Martinistische Tradition in der Esoterikforschung scheinbar bisher fast konsequent übersehen wurde. Husmann zitiert aus Papus’ Version der Kabbala und zeigt auf, wie er diesem im gnostisch-esoterischen Diskursfeld ungewöhnlichen Text nachträglich idealistische und geschlechtssymbolische Züge verstärkt einschrieb (S. 116ff.). Irritierenderweise übergeht Husmann allerdings, dass Papus in der von ihr zitierten Einführung in die Kabbala ebenfalls die Rassentheorie Fabres wieder aufwärmt, was für ihre Arbeit auch deshalb relevant gewesen wäre, weil er sie in Beziehung zu Kabbalah setzt. Zwei Kostproben:

    “Als die Katastrophe, die Atlantis verschlang, sich vorbereitete, eine Katastrophe, die in allen Religionen als allgemeine Sintflut bekannt ist, ging raschen Schrittes die Zivilisation auf die schwarze Rasse über, der auch die Überlebenden der roten Rasse ihre Geheimlehre [die der Kabbala - AM] übermittelten. Als endlich die Schwarzen die höchste Stufe ihrer Zivilisation erreicht hatten, entstand ein neuer Kontinent (Eurasien) und mit ihm die weiße Rasse, die ihrerseits die Suprematie über den Planeten erwerben sollte.” (Die Kabbala von Papus, übersetzt von Julius Nestler, Wiesbaden 2004[Husmann zitiert eine Ausgabe von 1994 - AM], S. 169)

    “Aber mehr noch – gewisse heute noch dunkle Probleme der Entwicklungstheorie unter ihnen die Farbenverschiedenheit der Menschenrassen, können hier wertvolle Aufklärungen  finden, die heute noch der offiziellen Wissenschaft unbekannt sind.” (ebd., S. 170 – kursiv bei Papus)

    Papus stellt hier das in der jüdischen Kabbala gesammelte “Wissen” als von “Rasse” zu “Rasse” überliefertes und jeweils aktualisiertes Erbe dar, ähnlich wie die “Meister” Blavatskys und die “Eingeweihten” Schurés und Steiners.

    Wie weit Steiner die martinistischen Theoreme verinnerlichte, ist noch unklar, er hatte allerdings mehrere einschlägige Schriften in seiner Bibliothek (Das Mysterium des Bluthügels). Außerdem ließ er  Schriften des Namensgebers der martinistischen Freimaurerei, Louis-Claude de Saint-Martin (1743-1803), den er mehrfach positiv erwähnte, 1921/22 im anthroposophischen Verlag “Der Kommende Tag” neu auflegen (Gerhard Wehr: Jakob Böhme: Ursprung, Wirkung, Textauswahl, Wiesbaden 2010, S. 186f. – der Esoterikforscher und lutheranische Theologe Wehr, den Zander, S. 476, den “Vater der kritischen Steinerforschung” nannte, ist in der Quellenarbeit mit erstaunlicher Zuverlässigkeit auch hier immer eine Spur voraus).

    Hervorgehoben sei, dass Edouard Schurés Buch Die großen Eingweihten sich nicht nur auf Literaturlisten für Waldorflehrer_innenseminare befand (vgl. dazu kritisch Die Atlantis-Debatte), sondern in einem bis heute von der Pädagogischen Sektion am Goetheanum und der Pädagogischen Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen in einer Publikation “Zur Unterrichtsgestaltung im 1. bis 8. Schuljahr an Waldorf-/Rudolf Steiner Schulen” (Dornach 1996) an einer Stelle als Unterrichtsgrundlage empfohlen wird. Und zwar für den Geschichtsunterricht in der 5. Klasse, in der “durch das Erzählen von Krishnas Leben … etwas von der Stimmung” des vedischen Indien vermittelt werden soll (S. 138). Und dafür wird auf Schurés Charakterisierung Krishnas in den “Großen Eingeweihten” verwiesen. Dort wird Krishna als “erste[r] Messias, der älteste der Söhne Gottes” (Schuré, a.a.O., S. 63) gefeiert, der das “arische” Erleuchtungslicht in Indien entzündete, wohin es der Held “Rama” (aus dem hinduistischen “Ramayana”) aus Atlantis gebracht und gegen eine schwarzhäutige Urbevölkerung von Halbaffen verteidigt habe.

    http://vamg.ch/shop/index.php/padagogik/grundlagen/zur-unterrichtsgestaltung-im-1-bis-8-schuljahr-an-waldorf-rudolf-steiner-schulen.htm

    Relevant wäre im Kontext theosophischer Neognosis auch das 1902 erschienene Buch “Die Gnosis” von Blavatskys engem Mitarbeiter George R.S. Mead, der er sich freilich auch nicht nehmen ließ, die theosophische Rassenlehre in aller Deutlichkeit in seinem Werk anzuführen und zur Herleitung der historischen spätantiken Gnosis zu nutzen. Auch Steiners Schüler und Plagiator Max Heindel (i.e. Carl-Louis Grasshoff) sowie dessen Schüler Jan v. Rijckenborg (i.e. Jan Leene), der die theosophische Kosmogonie dezidiert gnostisch-weltfeindlich umschrieb, wären ergiebige Forschungsgegestände. Schließlich ließe sich auch in den symbolisch-kosmischen Personifizierungen der frühneuzeitlichen “Rosencreutzer-Manifeste” so einiges an einschlägigen Motiven finden: Etwa die Rolle des mordenden “Mohren” in der Chymischen Hochzeit Christiani Rosencreutz

    Die Geschichte des Esoterischen Rassismus ist noch ungeschrieben. Es stünden allenfalls die Schlusskapitel, betreffend Blavatsky und die Prominenten unter ihren Nachfolger_innen (zu denen ich hier auch Steiner zähle), sowie die aggressiven “ariosophischen” Rassist_innen des späten 19. und des 20. Jahrhunderts (vgl. die Arbeiten von Nicholas Goodrick-Clarke) und die Wirkungen in lebensreformerischen und New Age-Kreisen in eben diesem Zeitraum. Husmann hat mit ihrer Untersuchung von Carus und ihrer Thematisierung v.a. geschlechtssymbolischer Wertungen in Steiners Rassentheorie wichtige Details kartiert, aber leider andere der deswegen hier erwähnten Diskursfelder nicht einmal angeschnitten, obwohl sie die betreffenden Personen (z.B. Papus) durchaus erwähnt. Andererseits: Wäre, wie oben schon gesagt,  jeder verzweigte Nebenpfad, der zu dichotomen, mythologisch aufgeladenen Rassebildern führte, von ihr kartiert worden, hätte die Druckfassung der Dissertation wahrscheinlich mehrere Bände umfasst. Vielleicht dürfen wir uns aber irgendwann auch über eine ergänzende Habilitationsschrift freuen.

    VIII.Ahriman und Luzifer:

    Zu Steiners “Typologie des Bösen”

    Husmann beschreibt die anthroposophische Evolutionslehre als eine “neognostische” und entsprechend selbst als dualistisch. Der böse Dämon “Ahriman” stehe als finsterer Pol, als “Herz des Materialismus” Christus, dem lichten Geist der Weisheit und durchgeistigten Wissenschaft entgegen. Die Tendenz deutet sich an, aber de facto präsentierte Steiner den Dämonen Ahirman erst 1909, nachdem er schon neun Jahre Theosophie mit dem Anspruch auf spirituelle Wissenschaftlichkeit getrieben hatte.

    Vorher trieb “nur” ein böser Geist in Steiners Kosmologie sein Unwesen, und der hieß Luzifer. Steiner hatte ihn, tatsächlich in der Tradition neognostischer Betrachtungen, ursprünglich nur als “Lichtbringer” (und nicht als finstere Gestalt) eingeplant. Er gab in seinen frühen theosophischen Jahren sogar eine Zeitschrift heraus, die Luzifer hieß, erst später erklärte Steiner diesen zum bösen Geist: “So weit war damals der Inhalt der Anthroposophie noch nicht ausgebildet” (Steiner, GA 28, Dornach 2000, S. 315). Und nicht als vollständiger Bösewicht, sondern als “notwendiges Gegenprinzip” zu Christus erschien auch der zum Dämon degradierte Luzifer anfangs. Steiner fabulierte über ihn als denjenigen, der die Menschen in der Bewusstseinsgeschichte vom Göttlichen abgelenkt und damit die evolutionäre Grundlage von “Freiheit” geschaffen habe. Erst allmählich deutete sich in Steiners Denken die Rolle an, die später dem von Husmann so zentral gestellten Ahriman zufiel: 1905 erschien Jehova, den Steiner mit deutlich antijüdischer Konnotation als Herrscher eines “Vor-ich-haften”, “alttestamentarischen”, aber evolutionär notwendigen ”Gruppenbewusstseins” beschrieb, welches erst durch den liebenden, “ich-haften” Christus abgelöst worden sei. Vor dem Kommen Christi seien allerdings Jehova und Luzifer Antagonisten und “in einem fortwährenden Kampfe” gewesen: Ohne das korrigierende “Luziferprinzip” wäre die Menschheit mit Jehova “der Erde verfallen” und letztere zu “einem versteinerten Planeten” geworden (GA 93a, Dornach 1987, S. 188f.).

    1908 tauchte ein neuer böser Geist aus der babylonischen Mythologie, ”Sorat”, diesmal als ernstzunehmender Widerpart Christi auf (GA 104), verschwand aber schnell wieder von der Bildfläche. 1909 dann installierte Steiner plötzlich den zoroastrischen “Erzverpester” Ahriman und präsentierte ihn als Gegenspieler zu dem luftigen, somnambulen Lichtdämonen Luzifer – die beiden stünden sich gegenüber wie Tag und Nacht, Fühlen und Denken, “Philistertum” und Schwärmerei, Geist und Materie, erklärte Steiner religiös verzückt. Christus, fleischgewordenes Wort und geistgewordener Leib, sei quasi die dialektische Aufhebung und Ergänzung der beiden. Steiner präsentierte jedenfalls “den” Christus als den Überwinder des Dualismus:

    “Der Mensch hat fortwährend die Gleichgewichtslage zwischen diesen beiden Mächten anzustreben, zwischen demjenigen, das ihn hinausführen möchte über sich selbst, und demjenigen, das ihn herabziehen möchte unter sich selbst. … Dieser Dualismus, der in Wirklichkeit ein Dualismus ist zwischen Luzifer und Ahriman, dieser Dualismus spukt im Bewußtsein der modernen Menschheit als der Gegensatz zwischen Gott und dem Teufel. Und das ‘Verlorene Paradies’ müßte eigentlich aufgefaßt sein als eine Schilderung des verlorenen luziferischen Reiches, es ist nur umgetauft.” (GA 194, Die Sendung Michaels – die Offenbarung der eigentlichen Geheimnisse des Menschenwesens (1919), Dornach 1994,  S. 164f.)

    “Der Mensch muß den Weg finden zwischen dem Lichte und der Schwere, zwischen Luzifer und Ahriman, und deshalb müssen wir die Möglichkeit haben, nicht in irgendeinem Dualismus zu denken, sondern in der Trinität zu denken. Wir müssen die Möglichkeit haben zu sagen: Die persische Dualität Ormuzd und Ahriman ist heute Luzifer und Ahriman, und der Christus steht in der Mitte drinnen, der Christus ist derjenige, der das Gleichgewicht bewirkt. – Nun hat alle religiöse Entwickelung bisher, insbesondere die theologische, eine sehr verderbliche Gleichung aufgestellt, sie hat die Christus-Figur so nahe als möglich an die Luzifers herangebracht. Es ist fast ein Wiederauferstehen des altpersischen Ormuzd, wenn man erlebt, wie heute von Christus gesprochen wird. Man denkt nur immer die Dualität, also das Böse im Gegensatz zum Guten.” (GA 342, Vorträge und Kurse über religiöses Wirken (1921), Dornach 1993, S. 160f.)

    Für Husmanns Darstellung der nichtsdestominder vorhandenen Dualismen bei Steiner, wäre es durchaus zumutbar gewesen, auch diese komplexere Mythologie zu berücksichtigen. Luzifer taucht zwar an drei oder vier Stellen in ihrem Buch auf, u.a. wird Ahriman in einer Fußnote als “Ausdifferenzierung des luziferischen Prinzips” beschrieben (S. 249), was auch immer das heißen soll, aber es wird an keiner Stelle gerechtfertigt, warum Husmann diesen Komplex aus ihrer Analyse vollständig ausklammert. Sie zitiert in ihrem Kapitel “Ahriman: Geist der materialistischen Wissenschaft” zwar lediglich Quellen ab 1909, also nach Steiners Etablierung von Ahriman in seiner Theosophie, behauptet aber fälschlich, Steiner habe “bereits 1907″ von ahrimanischen Geistern gesprochen (S. 250), die Quellenangabe dazu nennt einen Vortrag Steiners “vom 09.10.1907” – tatsächlich stammen die Zitate aber aus einem Vortrag vom 09.10.1918 (GA 182, S. 151), als Steiner das Paar Luzifer-Ahriman schon länger in Gebrauch hatte.

    Aquarell Rudolf Steiners mit dem Titel “Licht und Finsternis (Luzifer und Ahriman)”

    Warum diese Umdisposition zu einer trinitarischen Vorstellung für Husmanns Untersuchung relevant gewesen wäre, zeigt sich bei einer der Lektüre von Steiners rassentheoretischen Ausführungen um das Jahr 1909. Denn diese durchlaufen denselben konzeptionellen Transformationsprozess. In das Zeitfenster 1909/10 fallen just die beiden Steiner-Bücher, die im erwähnten BPjM-Verfahren relevant waren. Beide werden von Husmann ausführlich analysiert und interpretiert, ich empfehle dazu deshalb ihren Text und begnüge mich damit, die Parallele zur erläuterten Trias Ahriman-Christus-Luzifer aufzuzeigen:

    -  In einem Vortrag am 03.05.1909 plauderte Steiner über den Untergang von Atlantis und die Menschen-”Rassen”, die diese Katastrophe überlebten. Dabei gab es seiner Vorstellung nach grob drei Gruppen: Erstens solche mit zu starkem Ich-Gefühl, die so egoistisch waren, dass das im Blut wirkende Ich sich rot auf ihrer Haut ausgeprägt habe – sie waren daher entwicklungsunfähig und degenerieren seitdem als “rote Rasse” der “Indianer”. Umgekehrt seien nach Osten Menschen mit zu schwachem Ich-Gefühl ausgewandert. Sie hatten ihren Umwelteinflüssen nichts entgegenzusetzen, waren ganz an die “äußere” physische Umgebung hingegeben und absorbierten so viel Sonne, dass sie schwarz wurden: Die “Neger”. Zwischen beiden Extremen, den Dualismus ausgleichend, standen die weißen Europäer: “Nur diejenigen, welche im­stande waren, die Balance zu halten in bezug auf ihr Ich, das waren die, welche sich in die Zukunft hinein entwickeln konnten.” (Steiner: Geisteswissenschaftliche Menschenkunde, GA 107, 1973, S. 292)

    -   In einem Vortrag vom Juni 1910, Steiner befand sich gerade in einem Konkurrenzkampf mit der Theosophin Annie Besant (Beide schlugen sich in halbmonatigem Abstand komplexere okkulte Theoreme, v.a. Christus betreffend, um die Ohren) verkomplizierte Steiner strategisch auch seine Rassenlehre. Er erweiterte sie um in seinem Buch ”Geheimwissenschaft im Umriss” eingeführte Planetenspekulationen und seitenweise Übernahmen aus dem “Geheimbuddhismus” (1883) des Theosophen A.P. Sinnet. Der hatte behauptet,

    “es giebt Ähnlichkeiten zwischen dem Leben eines Volkes und dem des Einzelnen”. Der einzelne durchlaufe Kindheit, Jugend, Erwachsenen- und Greisenalter und “Das Gleiche gilt für die Völker … Es giebt eine Geometrie, welche auf die Völker die Gleichung ihrer Entwicklungskurve anwendet. Daran kann kein Sterblicher rütteln.” (Sinnet: Esoterische Lehre oder Geheimbuddhismus, dt. Leipzig 1884, S. 76).

    Steiner grenzte sich zwar im Vortrag vom 10.06.1910 von Sinnet ab, reproduzierte aber im selben Vortrag genau dessen “Völkergeometrie”: Von Afrika durch Asien und Europa nach Amerika ziehe sich eine “Linie”, an der die Altersstufen sortiert seien, mit Afrika am Kindheits-, Amerika am Vergreisungspol. Sprich: Schwarze und Asiaten sind kindlich-jugendlich und ”Indianer” gingen zugrunde, weil sie an dem Ende der geographischen Linie sitzen, die den Todespol darstellt. Europa liege in der Mitte und sei folglich im Kräfteausgleich – “auffrischende” Jugendkräfte und leibliche “Bildsamkeit” im Osten sowie ersterbende “Rassenkräfte”, aber dafür hohe mentale Leistungen im Westen (vgl. GA 121, S. 83).

    Auch in diesen Schilderungen zeigt sich die triadische Struktur: “Falsche” Dichotomien in Ost und West würden untergehen, wenn sie nicht in der Mitte zu dem Maß haltenden “Europäern” zusammenfließen würden Diese stehen nicht an oberster Stelle einer rassischen Stufenordnung (wie in Steiners frühtheosophischem Werk), sondern sind als Ausgleich auf “mittlerer” Stufe gedacht. Bei Husmann lautet das Fazit (zuletzt kam sie auf die vergreisenden “Indianer” zu sprechen):

    “Über die spezifische Konstruktion des ‘Indianers’ hinaus verweist die anthroposophische Formulierung einer physiologischen ‘Verknöcherung’ auf eine übergeordnete Grundstruktur, die Steiners Rassenmodelle dem Konstruktionsmodus nach als Schwarz-Weiß-Struktur durchzieht. Diese Grundstruktur beschreibt eine Polarisierung von ‘weiß’ versus ‘nicht weiß’ als neognostische Polarisierung Geist/Licht versus finstere, ‘verhärtete’ Materie.” (Husmann, S. 290)

    Das stimmt zwar im Prinzip, wäre aber, um das konkrete Rassenmodell Steiners wiederzugeben, wie dargestellt durchaus zu ergänzen. Dadurch nämlich, dass “die Europäer” das Gleichgewicht zwischen verknöchernden “Indianern” und kindlich-weichen, nicht fertig verkörperten AsiatInnen und AfrikanerInnen darstellen sollen. Nicht zuletzt geht Husmann mit der Annahme, es gebe ein heterogenes Weltanschauungsgebäude Steiners sowie mit ihrem Anspruch “Wiederholungen und widersprüchliche Aussagen” desselben zusammenfassend “zu glätten” (S. 239), der 90jährigen anthroposophischen Dogmenausbildung und dem Versuch, Steiner widerspruchsfrei auslegen zu können, auf den Leim. Allerdings – und das muss ebenfalls gesagt werden – hat Steiner sehr wohl dualistische Zuordnungen in seiner Rassentheorie getroffen, etwa die oben länger behandelte in GA 113, als er Luzifer den afrikanischen Völkern und Christus Europa zuwies, und zwar in direkter historischer Abhängigkeit von Quellen, in denen ein dualistisches Konstruktionsmuster von Rassentheorien vorlag. Es dürfte schwer sein, dieses Dilemma aufzulösen. “Steiners Œuvre ist letztlich von einer nicht systematisierten oder hermeneutisch integrierten Ambivalenz gekennzeichnet, in der Unvereinbares und Widersprechendes stehengeblieben ist.” (Zander: Sozialdarwinistische Rassentheorien) Husmanns Analyse ist demnach vielleicht um den Themenkomplex Ahriman-Luzifer und deren Relevanz für die Untersuchung von Steinerschen Dualismen zu ergänzen, aber das ändert nichts an der Richtigkeit ihrer sonstigen Darstellungen.

    IX. Steiner umschreiben?

    Bleibt nurnoch ein vierter Punkt. Eine Forderung Husmanns, die sie am Ende ihrer Kapitel, die die Anthroposophie betreffen, expliziert:

    „Hierin liegt das grundlegende Dilemma Anthroposophie-interner Rassismus-, Eurozentrismus- und Nationalismus-Kritik, das sich letztlich nur durch erhebliche Umschreibung der Steinerschen ‘Geistesschau’ kosmologisch-geschichtlicher Abfolgen enthierarchisieren ließe…“ (Husmann, S. 355f. – Hervorhebung AM)

    Ja, Steiners Kosmogonie hierarchisiert, und ab dem Punkt, wo in ihr “Rassen” ins Spiel kommen, teilen auch diese sich flugs in entwicklungstechnisch “fortgeschrittene” und “zurückgebliebene” (wenn auch, wie gerade erläutert, mit Einschränkungen ;-) ). Aber wäre es sinnvoll, wenn Anthroposoph_innen sich auf eine überarbeitete Neuversion dieser kosmischen Geschichte einigten? Problem scheint mir auf anthroposophischer Seite vielmehr der Unwille zu sein, überhaupt Fehler im Steinerschen Theoriegebäude zuzugestehen und vor allem: auszuhalten. Eine Umschreibung seiner Schriften würde den einen universellen Offenbarungsapparat nur durch einen anderen, “netter” zu Lesenden ersetzen, ohne den religiösen Dogmatismus aufzuweichen. Sofern das Festhalten an Steiners Rassismus das Festhalten aus Angst ist, weil das Gegenteil “den Einstieg in die Kritik von Steiners ‘höherer Einsicht’ bedeuten würde.” (Zander: Anthroposophie in Deutschland, Göttingen 2007, Bd. I, S. 637), würde am Grunddilemma durch diese “Umschreibung” nicht gerüttelt. Authentischer sind Zeugnisse von Anthroposoph_innen, die in der Lage sind, trotz ihrer Wertschätzung Steiners (oder deswegen) seine rassistischen Theoreme ehrlich erschüttert zurückzuweisen.

    Der Anthroposoph Ralf Sonnenberg, den auch Husmann des Öfteren in den Fußnoten führt, hat in Abgrenzung zu apologetischen Unternehmungen in einem Aufsatz (der erstmals 2003 in der anthroposophisch-tombergianischen Zeitschrift “Novalis” erschien) ziemlich ungeniert das evolutionäre Dilemma zugestanden:

    “Die Tatsache, dass Steiner bisweilen auch anerkennende Worte über den Animismus der Indianer, die »Naturgeistigkeit« der Afrikaner oder die »Tao-Religion« der Chinesen verlor, wie die Autoren Bader und Ravagli nicht müde werden zu betonen, markiert eine entscheidene Schwachstelle der sich geschichtsevolutionären Denkmustern verpflichtet fühlenden Anthroposophie: Folgt deren historisches Verständnis doch einer zutiefst eurozentrischen Binnenlogik, derzufolge außereuropäische Kulturen, selbst wenn sie über spirituelle Ressourcen beträchtlichen Umfangs verfügen, fast grundsätzlich »atavistisch« seien und sogar noch unter der materialistisch geprägten Zivilisation des modernen Europa rangierten, die immerhin eine Vorbereitungs- und Durchgangsstufe zur Entwicklung der »Bewusstseinsseele« darstelle. Die »arische« oder europäische hielt Steiner, der hieraus allerdings keine imperialen oder kolonialistischen Zielsetzungen ableitete, denn auch für die »zukünftige, da am Geiste schaffende Rasse«. Sie repräsentiert innerhalb seines Weltanschauungskosmos die »fünfte nachatlantische Kulturepoche«, deren Anfang er auf den Beginn der frühen Neuzeit datierte.” (Sonnenberg: Vergangenheit, die nicht vergehen will)

    Und auch ein Steiner-Herausgeber und Mitarbeiter des Rudolf Steiner-Verlags und -Archivs kann heute ausrufen:

    “Ich begreife es nicht … Ich begreife ebenso wenig den Siebenundzwanzigjährigen, der dem ‘Judentum als solchem’, dem ‘Geist des Judentums’, der ‘jüdischen Denkweise’, die Berechtigung ‘innerhalb des modernen Völkerlebens’ abspricht, wie den Dreiundsechzigjährigen, der vor Arbeitern am zweiten Goetheanum daherplappert: ‘Derjenige, der ein Kenner ist, weiß in einem Satze, den ein Jude spricht: Da ist eine jüdische Stilisierung drinnen [...].’ In solchen Äußerungen fällt Steiner weit hinter sich selbst zurück und reiht sich in die graue Schar vorurteilsbehafteter Biedermänner, die maßgeblich dazu beitrugen, dass Theodor Herzl nach allen ‘Assimilierungsversuchen’ entnervt feststellen musste: ‘Der Fluch haftet. Wir kommen nicht aus dem Getto heraus’ und mit seiner Schrift Der Judenstaat den Grund zum Staat Israel legte.” (Taja Gut: Wie hast du’s mit der Anthroposophie?, Dornach 2010, S. 127f., Auslassung und Kursivierung im Original)

    Eine Steiner-Rezeption müsste her, die die eurozentristische Konstruktionslogik und deren rassistische Konkretionen in dieser Weise realisiert, zu benennen und zurückzuweisen weiß. Dass die möglich ist, haben jüdische Rezpient_innen der Anthroposophie, die in der zionistischen Bewegung, v.a. im Prager Zionismus um Martin Buber und die Ideen von Achad Haam engagiert waren, bereits vor Jahrzehnten gezeigt. Schmuel Hugo Bergman etwa, der sich in seinen religionsphilosophischen Überlegungen auf Steiner bezog, einige von dessen Schriften ins Hebräische übersetzte und eine Veranstaltung zu Steiners 100. Geburtstag an der Hebrew University Jerusalem organisierte (kritisch dazu Wolfgang Treher: Hitler, Steiner, Schreber – Gäste aus einer anderen Welt. Die seelischen Strukturen des schizophrenen Prophetenwahns (1966), Emmendingen, 1990, S. 40). In einem Tagebucheintrag vom vom 24. 5. 1965 – er hatte gerade die Zeilen gelesen, auf die der Autor des letzten Zitats, Taja Gut, bezugtnimmt  -”regelrecht verstört” vermerkte:

    “Nur freilich bleibt immer die Frage, wieso sich Steiner später als Seher gar nicht mit der Judenfrage befasste und bei der assimilatorischen Schablone der Wiener Durchschnittsjuden stehen geblieben ist. Muss uns das nicht skeptisch machen, gegen alles, was er sagt? Wo endet der Seher und wo beginnt der wirkliche Mensch Steiner mit seinen Vorurteilen?” (zit. n. Ralf Sonnenberg: “…ein Fehler der Weltgeschichte”?)

    Das war das richtige Wort der richtigen Person zur richtigen Zeit.

    Möge diese Beunruhigung um sich greifen und die Zahl der Anthroposoph_innen wachsen, die eine Kontextualisierung und auch grundsätzlichen Hinterfragung Steiners nicht als “Verrat”, sondern als Chance begreifen (vgl. Robin Schmidt: Rudolf Steiner – Skizze seines Lebens, Dornach 2011, S. 111, 117f.). Bis dahin ist Husmann in ihrem Fazit unumwunden zuzustimmen:

    “Fasst man Rassismus nicht nur als eine ‘Idee’, die schnell ad acta gelegt werden kann, sondern als nach wie vor sozio-kulturelles Phänomen, so müsste die Rassismuskritik ihren Ausgangspunkt in einer dekonstruktivistischen Perspektive nehmen, welche kulturell und individuell verinnerlichte schwarz-weiß-symbolische Struktur von Weißsein hinterfragt … Allein die Frage, ob, wann und wie eine kritische Historisierung Steiners von offizieller anthroposophischer Seite möglich sei, muss vor diesem Hintergrund wohl derzeit offen bleiben.” (Husmann, S. 356)

    Zusammenfassend würde ich sagen: Husmanns Buch ist wahrscheinlich keines für einen Einstieg in Rassismus- oder Anthroposophiekritik, Thesen und Sprache sind sehr “akademisch”. Mit Gewinn wird es allerdings jede_r lesen, der oder die sich mit den geistesgeschichtlichen, mythischen und philosophischen Motiven auseinandersetzen will, die zu den großen rassistischen und sexistischen Vorstellungen auch unserer Tage beitrugen.

    Jana Husmann: Schwarz-Weiß-Symbolik. Dualistische Denktraditionen und die Imagination von “Rasse”. Religion – Wissenschaft – Anthroposophie, transcript-Verlag, Bielefeld 2010.

    Einsortiert unter:Anthroposophie & Philosophie, Anthroposophie & Rassismus

    “Vielleicht besonders empfänglich”: Anthroposoph_innen im Nationalsozialismus

    $
    0
    0

    (von Laura Krautkrämer)

    Vorwort von Ansgar Martins — Einmal wieder ein Beitrag zu einem der Kernthemen dieses Blogs: Die Vernetzungen von Anthroposophie und Rassismus. Und diesmal sogar von ungewohnter Seite: Die “Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland” scheint sich auf ihrer Jahrestagung 2011 bei einer interessant besetzten Podiumsdiskussion wenn schon nicht mit der Rassenlehre des Anthroposophie-Gründers Rudolf Steiner, so doch immerhin mit dem Verhältnis von Anthroposophie und Nationalsozialismus beschäftigt zu haben.  Dabei sind unerwartete und ungewöhnliche An- und Einsichten zutage getreten, wenn etwa Bodo von Plato Schnittmengen zwischen nationalsozialistischem und anthroposophisch-esoterischem Ganzheitsdenken feststellte. Wenn auch keine neuen historischen Informationen freigelegt wurden, scheint mir das doch ein dokumentierungswürdiges Ereignis zu sein. Der folgende Bericht stammt unter dem Originaltitel “Anthroposophie in der Zeit des Nationalsozialismus” von Laura Krautkrämer (Medienstelle Anthroposophie). Links im Text und Fußnotentexte sind von mir gesetzt.

    150 Jahre Rudolf Steiner – das Jubiläumsjahr geht weiter. Die öffentliche Tagung der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland, die Mitte Juni in Weimar stattfand, wollte zu diesem Anlass ein „Begegnungsfest“ werden und sich „dem Ursprung, der Entwicklung und der Zukunft des anthroposophischen Kulturimpulses“ zuwenden, wie es im Veranstaltungsflyer hieß.

    Im Rahmen der viertägigen Veranstaltung, die vom 16. bis 19. Juni 2011 im noblen Kongresszentrum Neue Weimarhalle stattfand, wurde mit einem Podiumsgespräch zum Thema „Anthroposophie in der Zeit des Nationalsozialismus“ auch ein Thema aufgegriffen, das im öffentlichen Diskurs bislang vor allem von Kritikern der Anthroposophie besetzt ist. Gerade in Weimar, das eben nicht nur ein zentraler Ort der Deutschen Klassik (und in Steiners Biographie) ist, sondern mit Buchenwald auch ein Ort des nationalsozialistischen Grauens, lag das Thema jedoch nahe. „Steiners Ideen als geistiges Fundament des Nationalsozialismus – diesen Vorwurf, diese Frage wollten wir uns nicht von außen stellen lassen, sondern sie von innen aufgreifen und damit zur Bewusstseinsbildung anregen“, betonte Generalsekretär Hartwig Schiller in seiner Einleitung.

    Während das Thema anfangs als eine der zahlreichen Arbeitsgruppen Eingang finden sollte, trafen die Verantwortlichen schließlich die Entscheidung, es im Plenum zu verhandeln. Mit Bodo von Plato, Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft am Goetheanum, den Historikern Michael Rissmann und Uwe Werner (vgl. Wichtige Hinweise – falsche Prämissen) sowie Mechtild Oltmann, Pfarrerin der Christengemeinschaft, war das Podium kompetent besetzt. Moderator war Albert Schmelzer, Dozent an der Freien Hochschule Mannheim.

    Was erwartet man nun von einer solchen Veranstaltung von „offizieller Seite“ zu diesem Thema? Dass die zwar wenigen, aber dennoch extrem heiklen Äußerungen Steiners (vgl. Ausrutscher oder Rassenlehre) zum „überholten Judentum“ oder dem angeblich starken Triebleben Farbiger thematisiert würden, war unwahrscheinlich. Auch wenn die internen Auseinandersetzungen um das „Frankfurter Memorandum“, dessen Unterzeichner sich dezidiert von diesen Äußerungen distanzierten, inzwischen einige Jahre zurück liegen, sind sie doch noch in Erinnerung. Tatsächlich konnte man sich in der Weimarer Runde – zu Recht – auf die verschiedenen Untersuchungen sowohl von akademischer als auch von anthroposophischer Seite stützen, die dargelegt haben, dass der von Steiner im Rahmen seines Evolutionskonzeptes geführte Rassendiskurs nicht dem völkischen Rassismus entspricht. Der Historiker Michael Rissmann betonte in diesem Zusammenhang, dass Steiner den Begriff der Rasse als etwas, das zukünftig überwunden werden sollte, postulierte. Uwe Werner, Autor des Standardwerks Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus, wies darauf hin, dass Kritiker wie Peter Staudenmaier oder Jana Husmann bei ihren Rassismusvorwürfen gegen Steiner eine klare Definition dessen, was sie unter Rassismus überhaupt verstünden, schuldig blieben [1], wodurch der Auseinandersetzung eine wichtige Grundlage fehle.

    Sehr selbstkritisch in Bezug auf die anthroposophische Bewegung äußerte sich Bodo von Plato: Das Spiel zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sei ein entscheidendes Grundmuster der nationalsozialistischen Ideologie – und zwar im Sinne einer heroischen Vergangenheit, der elenden Gegenwart und der wiederum heroischen Zukunft. Auch in der Anthroposophie sei dies ein wichtiges Muster, wie es überhaupt Parallelen in der „anthropologischen Disposition“, in der Empfänglichkeit für den Faschismus und die Anthroposophie gebe. Der Grund sei eine tiefe Sehnsucht nach dem, was verloren ist und nach einem mythischen Verstehen der Gegenwart – das durch die Rationalität verhindert werde. „Man kann da eine Disposition für alle totalitären Systeme erkennen“, führte er aus. Die Nazi-Ideologie sei in diesem Sinne als Gegenbild zur Anthroposophie zu sehen, „verwandt in der Art, nicht im Wesen“.

    Michael Rissmann berichtete, dass in der historischen Forschung seit den 1990er Jahren anstelle der Gesamtbevölkerung verstärkt einzelne Biographien oder auch Berufs- und Bevölkerungsgruppen betrachtet werden. „Vielleicht sollte man nicht immer auf den Nationalsozialismus blicken, genauso wenig wie auf die Anthroposophie. Aus Einzelwahrnehmungen kristallisiert sich möglicherweise ein viel tragfähigeres Bild.“ Obgleich nach einer Aussage des damaligen Vorsitzenden der Anthroposophischen Gesellschaft, Hans Büchenbacher [2], 1933 der gesamte Landesvorstand der Gesellschaft den Nationalsozialismus einhellig abgelehnt habe, schätzte er damals, dass etwa zwei Drittel der Mitglieder den neuen Machthabern gegenüber positiv eingestellt seien (vgl. Waldorf Schools in Nazi Germany). Wie die beiden Historiker Rissmann und Werner darlegten, war diese Affinität durchaus repräsentativ für das bildungsbürgerliche Milieu der Zeit, in dem es zwar Widerwillen gegen das primitive Auftreten der Nazis, aber durchaus Sympathie für deren Anliegen – etwa das Angehen gegen die „Schande von Versailles“ – gegeben habe.

    Von Plato unterstrich in diesem Zusammenhang nochmals die damals vorherrschende Sehnsucht, aus der gegenwärtigen Misere herauszukommen. „Anthroposophen waren da vielleicht besonders empfänglich, da sie die Wahrnehmung hatten, dass der Diskurs nicht weiterhilft – wie die Anthroposophie ja überhaupt diskursfeindlich eingestellt war und vielleicht noch ist, weil sie ein apodiktisches Verhältnis zur Wahrheit pflegt.“ Daher habe es wohl vielfach emotionale Affinitäten gegeben, die jedoch in der Praxis, im Handeln keine Entsprechung gefunden hätten. Wie Uwe Werner berichtete, konnten aufgrund der Forschungen des dezidiert kritischen Historikers Peter Staudenmaier bisher 34 Anthroposophen namentlich identifiziert werden, die Mitglieder in der Partei oder Parteiorganisationen waren. „Selbst wenn dazu vielleicht noch 50 weitere Namen kommen sollten, ist dies im Verhältnis zu den damals rund 8.000 Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft eine verschwindend geringe Zahl“, so Werner.

    Auf die schwierige Abschlussfrage, inwiefern sich aus diesem dunklen Kapitel der deutschen Geschichte Erkenntnisse ziehen lassen, die vielleicht auch der Weiterentwicklung der Anthroposophie dienen könnten, gab es erwartungsgemäß nur vorsichtige Ausblicke. „Die Anthroposophie fordert den ganzen Menschen, so wie auch totalitäre Systeme wie der Nationalsozialismus das tun,“[3] erklärte von Plato. Es sei entscheidend, trotzdem eine Distanz sowohl zur Weltanschauung als auch zu sich selbst zu bewahren, was eine ständige Gratwanderung erzwinge.

    ——————————————–
    Fußnoten

    [1] Uwe Werner lag während der Erstellung seines Buchs “Rudolf Steiner zu Individuum und Rasse” noch nicht Jana Husmanns Dissertationsschrift vor, die ausführlich auf Rassismusdefinitionen eingeht und einen sehr weiten Rassismusbegriff vorschlägt, um die fluiden geisteshistorischen Dynamiken, die im modernen Rassismus mündeten, zu erfassen.  Bei dem amerikanischen Anthroposophiekritiker Peter Staudenmaier, und der lag Werner vor, heißt es: “The interpretation proposed here is premised on the idea that anthroposophy embodied a contradictory set of racial and ethnic doctrines which held the potential to develop in different directions under particular political, social, and cultural conditions. In spite of anthroposophists’ insistence that their worldview was ‘unpolitical,’ my argument will identify an implicit politics of race running throughout their public and private statements, a body of assumptions about the cosmic significance of racial and ethnic attributes that shaped their responses to fascism. Many of Steiner’s followers considered their own views to be anti-nationalist and antiracist, and there was no straight line that led inexorably to the extreme and explicit formulations of spiritual racism. What emerged were racial and ethnic stances that were frequently ambiguous and multivalent but that in several cases found a comfortable home in fascist contexts precisely because of their spiritual orientation, one that did not deign to concern itself directly with the distasteful realm of politics.” (Between Occultism and Fascism: Anthroposophy and the politics of race and nation in Germany and Italy, 1900-1945, Diss., Cornell-University 2010, S. X)
    [2] Hans Büchenbacher (1887-1977), da selbst jüdischer Abstammung, wurde nach der “Machtergreifung” alsbald von hoher Stelle nahegelegt, von seinen Ämtern in der deutschen Anthroposophischen Gesellschaft zurückzutreten. Ihm verdanken wir einige interessante Details über Synthesen anthroposophischer und nationalsozialistische Folklore: “Ende Februar 1933 sehe ich im Redaktionsbüro [der Vierteljahresschrift 'Anthroposophie - Zeitschrift für Freies Geistesleben'] ein großes Bild von Hitler und darunter auf einem hübschen Brettchen einige schöne Kristalle. In dem sich daran anschließenden Gespräch zeigte sich, dass Picht stark von der nationalsozialistischen Anschauung infiziert war.”, aber Hinweise auf Anthroposoph_innen, die sich gegen den Nationalsozialismus stellten und diesbezüglich vor der Dornacher Führung der Anthroposophischen Gesellschaft enttäuscht waren: “Zu meiner Überraschung waren alle Vorstandskollegen angereist, um mit mir eine Sitzung zu halten. Sie teilten mir mit, dass Frau Dr. Steiner und Dr. Wachsmuth ganz pronazistisch seien…”  (vgl. die Auszüge aus seinen Memoiren in info3 April 1999).
    [3] Vgl. dazu auch Monika Neugebauer-Wölk: Esoterik und Neuzeit. Überlegungen zur historischen Tiefenstruktur religiösen Denkens im Nationalsozialismus. Der Glaube freilich, es gebe besondere strukturelle Übereinstimmungen zwischen Esoterik und Nationalsozialismus, lässt sich nur mit schielendem Blick aufrecht erhalten, ebenso schlagend und explizit sind  nämlich die Parallelen zu und Anlehnungen an monotheistische Frömmigkeit, vgl. Claus-Ekkehard Bärsch: Die politische Religion des Nationalsozialismus. Die religiöse Dimension der NS-Ideologie in den Schriften von Dietrich Eckart, Joseph Goebbels, Alfred Rosenberg und Adolf Hitler, München 2002 sowie Ders.: Der junge Goebbels, Erlösung und Vernichtung, München 2004.

    ————————————-

    Laura Krautkrämer
    Geboren 1973 in Bonn, Studium der Germanistik und Philosophie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn (MA). 2001-2004 Beraterin in einer Unternehmensberatung für Kommunikation in Frankfurt/Main mit Schwerpunkten in den Bereichen Kulturmarketing, Stiftungs-PR und Unternehmenskommunikation/CSR. Seit 2005 freiberuflich als PR-Redakteurin und -Beraterin sowie als Zeitschriften-Autorin tätig. Lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Oberursel im Taunus. (laura-krautkraemer.de)


    Einsortiert unter:Anthroposophie & Rassismus, Hintergründe, Laura Krautkrämer

    Temperamente reloaded –“Erziehungskünstler” mit steinernen Perspektiven

    $
    0
    0

    Ausführlich habe ich mich auf diesem Blog bereits mit einem der heikelsten Aspekte der Waldorfpädagogik beschäftigt: Der Lehre von den Vier Temperamenten, die in der pädagogischen Psychologie dieser Schulen fest verankert ist. Die aktuelle Ausgabe (Juni/August 2011) der (waldorf)pädagogischen ZeitschriftErziehungsKUNST – Waldorfpädagogik heute, herausgegeben vom Bund der Freien Waldorfschulen,  der Dachorganisation dieser Schulen in Deutschland, widmet dieser zweifelhaften pädagogischen Typologie jetzt mehrere Artikel.

    Es gibt freilich genug Gründe, sich diesem unangenehmen Thema zuzuwenden: Das aus der Spätantike stammende Temperamentenschema, das Menschen in vier Gruppen – träge Phlegmatiker, sprunghaft-heitere Sanguiniker, tranig-depressive Melancholiker und energiegeladen-reizbare Choleriker – einteilt, scheint wissenschaftlich sehr zweifelhaft und als Handwerkszeug für angewandte Pädagogik schlicht nur banal und nutzlos. Einen langen Überblick über einzelne Anwendungsmöglichkeiten sowie rassistische und völkerpsychologische Begleiterscheinungen der Temperamentenlehre in und außerhalb der Waldorfpädagogik habe ich im schon erwähnten Artikel (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) zusammengetragen. Die Temperamentenlehre wird an Waldorfschulen de facto kaum noch angewandt. Das finden die Redakteure der “ErziehungsKUNST” aber offenbar kein bisschen begrüßenswert: Chefredakteur Mathias Maurer alarmiert:

    “Die sogenannte Temperamentenlehre Rudolf Steiners wird zwar an den Waldorflehrerseminaren und hochschulen gelehrt, findet aber im Unterricht der Waldorfschulen immer weniger praktische Anwendung. Insofern kann man es begrüßen, dass Erziehungswissenschaftler diese ‘spätantike hippokratische’ Persönlichkeitstypologie kritisch unter die Lupe nehmen und Waldorflehrern wieder ins Stammbuch schreiben, was eigentlich zu ihren pädagogischen Essentials gehört.” (Maurer: Temperamente ad acta?, S. 17)

    Diese Logik scheint eigen: Während Waldorflehrer_innen feststellen, dass sie die Temperamentenlehre für ihren Unterricht schlicht nicht brauchen (und dem ist tatsächlich so, vgl. die empirischen Umfragen des Düsseldorfer Pädagogikprofessors Heiner BarzZwischen lebendigem Goetheanismus und latenter Militanz? Eine Studie zur Alltagsorientierung von Waldorflehrern. In: Neue Sammlung 31. Jg. Heft 2/1991, offenbar weigern sich an einigen Stellen inzwischen sogar Waldorflehrer, die “ErziehungsKUNST” auszuteilen: Ich lese was, was du nicht siehst), freuen sich die “Erziehungskünstler” umgekehrt, dass Kritiker_innen der Waldorfpädagogik die “psychophysische Totaltypologie” (Heiner Ullrich) unter die Lupe nähmen und dadurch bei Waldorfs wieder ins Gedächtnis riefen. Diese Diskussion wird gern angenommen – Falsifikation aber gar nicht erst in Betracht gezogen. Dieses anthroposophische Vorgehen nannte der Religionswissenschaftler Helmut Zander “Die Herrschaft der Theorie über die Empirie” (Anthroposophie in Deutschland, Göttingen 2007, S. 955ff.).

    Kant als Lieferant für Typologien

    Die Autoren dieser “ErziehungsKUNST”-Ausgabe haben also ein Doppeltes zu leisten: Das von den Waldorf-Kritiker_innen ausgegrabene Thema aufgreifen, dabei die kritisch aufgezählten Defizite der pädagogischen Typologie umgehen und stattdessen darstellen, warum sie das Konzept aktuell für wichtig und richtig halten. Dabei geht die “ErziehungsKUNST” sogar historisch einmalige Allianzen ein. Auf Seite 4 wird (pittoresk eingerahmt von lustigen Clown-Bildern, auf denen wahrscheinlich die vier Temperamente dargestellt werden sollen) gar der Philosoph Immanuel Kant zitiert. Die meisten Anthroposoph_innen halten Kants idealistische Philosophie aufgrund seiner Erkenntniskritik für den großen Irrläufer der Philosophiegeschichte. „Man kann Steiners Biographie als einen lebenslangen Versuch lesen, die von Kant in die Wege geleitete Vertreibung aus dem Paradies eines unmittelbaren Zugangs zur Welt wieder rückgängig zu machen.“ (Zander: Rudolf Steiner, S. 22). Doch das scheint hier vergeben und vergessen, da auch Kant sich 1798 (“Anthropologie in pragmatischer Hinsicht”) zu den Temperamenten geäußert hat. Die “ErziehungsKUNST” zitiert in großen, roten Lettern:

    “Also gibt es keine zusammengesetzten Temperamente …, sondern es sind in allem deren nur vier, und jedes derselben einfach, und man weiß nicht, was aus dem Menschen gemacht werden soll, der sich ein gemischtes zueignet.”

    Eine zweifellos gruselige Aussicht: Zwanghafte Festlegung der Menschen auf vier Charakterzüge. Nun ist gerade Kant kein seriöser Lieferant für Vierer-Typologien. Mit derselben Unbefangenheit, wie er “nur” und ausschließlich vier menschliche “Temperamente” gelten ließ, sortierte der Philosoph die Menschheit der Erde in vier strukturgleich behauptete “Rassen”:

    “Wir haben vier menschliche Racen gezählt, worunter alle Mannigfaltigkeiten dieser Gattung sollen begriffen sein.
    Erste Race, Hochblonde (Nordl. Eur.) von feuchter Kälte.
    Zweite Race, Kupferrothe (Amerik.) von trockner Kälte.
    Dritte Race, Schwarze (Senegambia) von feuchter Hitze.
    Vierte Race, Olivengelbe (Indianer) von trockner Hitze.” (Kant, S. 440f.)

    Exakt diese Ordungen finden sich auch für die Temperamente, nicht nur in der Anthroposophischen Pädagogik, sondern bereits seit der Antike (siehe im Innenraum des Kreises der folgenden Grafik):

    Kant schloss aus diesen Zugehörigkeiten phantasievoll auf spezielle “Rassencharaktere”, etwa bei “den Negers”:

    “Der Wuchs der schwammichten Theile des Körpers mußte in einem heißen und feuchten Klima zunehmen; daher eine dicke Stülpnase und Wurstlippen. Die Haut mußte geölt sein, nicht bloß um die zu starke Ausdünstung zu mäßigen, sondern die schädliche Einsaugung der fäulichten Feuchtigkeiten der Luft zu verhüten. Der Überfluß der Eisentheilchen, die sonst in jedem Menschenblute angetroffen werden und hier durch die Ausdünstung des phosphorischen Sauren (wornach alle Neger stinken) in der netzförmigen Substanz gefällt worden, verursacht die durch das Oberhäutchen durchscheinende Schwärze, und der starke Eisengehalt im Blute scheint auch nöthig zu sein, um der Erschlaffung aller Theile vorzubeugen. Das Öl der Haut, welches den zum Haareswuchs erforderlichen Nahrungsschleim schwächt, verstattete kaum die Erzeugung einer den Kopf bedeckenden Wolle. Übrigens ist feuchte Wärme dem starken Wuchs der Thiere überhaupt beförderlich, und kurz, es entspringt der Neger, der seinem Klima wohl angemessen, nämlich stark, fleischig, gelenk, aber unter der reichlichen Versorgung seines Mutterlandes faul, weichlich und tändelnd ist.” (ebd., S. 442)

    Es mag übertrieben erscheinen, von Kants Temperamentenlehre auf seine Rassenlehre zu schließen. Aber die Verwandtschaft zwischen beiden Kategorien besteht sowohl formal als auch inhaltlich. Beide Vorstellungen stammen aus der antiken Viersäfte-Lehre Galens, nach denen der Charakter bzw. die Temperamente ebenso wie der Körper von bestimmten Mischverhältnissen der Körpersäfte herrührten. Rudolf Steiner, Gründervater der Waldorfpädagogik, legte nicht nur eine Rassentheorie vor, deren Annahmen über die Eigenschaften bestimmter “Rasseneigentümlichkeiten” mit denjenigen Kants praktisch identisch sind, er malte einem Kurs angehender Waldorflehrer auch auf, wie die charakteristischen Körperformen von Temperamenten zu erkennen seien:

    Steiner: „Die melancholischen Kinder sind in der Regel schlank und dünn; die sanguinischen sind die normalsten; die, welche die Schultern mehr heraus haben, sind die phlegmatischen Kinder; die den untersetzten Bau haben, so dass der Kopf beinah untersinkt im Körper, sind die cholerischen Kinder.“ (GA 295, 1985, S. 28)

    Anders als für Kant gelten die Temperamente in der Waldorfpädagogik immerhin als “flexibel”: Es könnten “Mischformen” auftreten. Steiners physiognomische Vorstellungen über die Körperformen von Sanguinikern, Cholerikern und Co werden in der “ErziehungsKUNST” übrigens vollständig unterschlagen – ohne, dass diese selektive Rezeption der Temperamentenlehre  eigens begründet wird. Trotzdem sind auch die Aspekte, die behandelt werden, erstaunlich bis peinlich:

    Familienidylle

    Einen erneuten Geniestreich landet beispielsweise der umstrittene anthroposophische Journalist Lorenzo Ravagli, der in dem Artikel “Mit Temperament in den Urlaub” (S. 19-21) einen (hoffentlich) fiktiven Familienurlaub beschreibt. Die einzelnen Personen aus Ravaglis Kurzgeschichte legen grotesk überzeichnete Züge der Temperamente an den Tag, so brüllt der Familienvater am Steuer über den miesen Fahrstil der italienischen Autofahrer, die treusorgende Mutter heult sich darüber aus, dass die Welt so ungerecht sein soll und ein weiterer Familienurlaub deshalb unethisch (S. 21). Offenbar sollen die beiden (Geschlechterklischees, hurra!) einen Choleriker und eine Melancholikerin darstellen. Wer das nicht durchschaut, findet auf S. 98 eine Auflösung mit hilfreichen Tipps wie: “Der nervtötende Zappelphilipp ist natürlich ein Sanguiniker.” Ravaglis Beitrag eignet sich exemplarisch, um zu zeigen, warum die Temperamentenlehre für jede pädagogische Praxis irrelevant ist: Es wird nichts aus der Zuschreibung gewonnen, da „die Zuordnung eines Menschen zu einem der vier Temperamente uns von diesem nichts weiter verrät, als was für die Zuordnung bereits erforderlich ist.“ (Hofstätter: Psychologie, Frankfurt a. M. 1957, zit. bei Fritz Beckmannshagen: Rudolf Steiner und die Waldorfschulen, Wuppertal 1984, S. 19 – kursiv A.M.).

    Das gilt auch für eine kurze und erneut von Ravagli verfasste ”Glossolalie” auf S. 98, “Alles eine Frage des Temperaments”, in der er Philosophen und Religionen in die Temperamentenschubladen sortiert: Fichte – Choleriker, Kant – Melancholiker, Hegel – Phlegmatiker, Nietzsche – Sanguiniker (“auch wenn die Sanguinik seines Stils nur eine Verkleidung seiner abgründigen Urmelancholie ist.”). Buddhismus: “melancholischer Weltschmerz”; Judentum, “das bis ans Ende aller Tage auf den Messias wartet”: Phlegma; Christentum: “sanguinische Flatterhaftigkeit”; Islam: “gewisse cholerische Neigungen”. Ravagli raunt mit nornengleicher Gewissheit:

    “Dieses Apercu birgt vielleicht sogar mehr Tiefsinn, als es auf den ersten – sanguinischen – Blick erscheint. Seine Abgründe mögen die Melancholiker unter den Lesern ausloten.” (ebd.)

    “Tiefsinnig” lässt sich diese stupend oberflächliche Religionstypologie jedenfalls anwenden, um erneut zu zeigen, dass sie auch über die Religionen nichts aussagt, sondern diese im Gegenteil auf diejenigen Aspekte reduziert, die ins Temperamentenschema einsortierbar sind. Ebenso die aufgezählten Philosophen. Das einzige, was einem diese Zuordnungen nützen mögen, ist vielleicht ein gewisser “Sortierspaß”: “Wer passt am ehesten wo und wie rein?” Erkenntnisgewinn wird verstellt. Lässt sich der Buddhismus (von den asketischen Zügen des Theravadabuddhismus über den breit-lachenden Dickbauchbuddha des Chan-Buddhismus zum Buddha Amithaba, der einen schon bei einmaliger Anrufung ins “Reine Land” des Westens führt ) überhaupt homogen darstellen, und dann noch als “melancholischer Weltschmerz”? Ist im Islam (von Mohammeds Prophetentum über die gewaltigen Visionen eines Avicenna oder Suhrawardi zur Mystik Henry Corbins oder die bis zum Erbrechen repetierten fundamentalistischen Ausläufer der Gegenwart) so platt ein Hang zu “gewissen cholerischen Neigungen” auffindbar? Wo bleiben in dem Viererschema die hinuistischen Religionen, wo Daoismus, Konfuzianismus, die antiken Religionen, gar der Neopaganismus, zu dem Ravagli sich (laut Facebook) selbst bekennt?
    Und besteht eine Aussicht, dass die Temperamenten-Typologie, auf Menschen angewandt, ergiebiger ist?

    Der Meinung sind natürlich unsere “Erziehungskünstler” Eine systematische oder ausführliche Darstellung des Steinerschen Temperamentenkonzepts fehlt in der “ErziehungsKUNST”. Stattdessen behandeln fast alle Artikel “Praxisberichte”. Vier Waldorfpädagog_innen berichten darin, warum sie Temperamente toll finden.

    Temperamente im Friseursalon

    Zum Beispiel Helmut Eller, dessen aufschlussreichen Text zur Anwendung von Temperament-Diagnosen auf soziemlich alles (von Himmelsrichtungen über Pflanzensorten zu Kunststilen) ich ebenfalls im früheren Artikel zur Temperamentenlehre widergegeben habe. Er wird in der “ErziehungsKUNST” interviewt:

    Erziehungskunst | Herr Eller, warum meinen Friseusen und Friseure in Japan, dass ihnen die Temperamente beruflich weiterhelfen?

    Helmut Eller | Die Einladung, vor einer Gruppe von etwa 60 jungen Friseuren und Friseusen in Tokio über die Temperamente zu sprechen, verdankte ich Eltern der im Werden begriffenen Waldorfschule im Westen der Stadt. Diesen war in meinen Seminaren über die Grundlagen der Waldorfpädagogik wohl klar geworden, dass diese Kenntnisse nicht nur in der Schule und häuslichen Erziehung, sondern auch im beruflichen Leben wichtig sein können.
    Die Friseure und Friseusen, lauter junge Leute, waren jedenfalls begeistert, als sie erkannten, dass das Temperament des Sanguinikers sich für ihren Beruf besonders eignet. Gilt es doch, mit einem Kunden, der vor einem im Stuhl sitzt, über das zu reden, was ihn interessiert. Da ist schnelles Interesse angesagt! Schon nach kurzer Zeit kommt ein neuer, will auch plaudern, aber über ganz andere Dinge … (Warum Rechtsanwälte und Frisöre sich für die Temperamente interessieren, S. 5)

    Die Strategie, Interesse für die eigenen Kund_innen zu zeigen, scheint im Dienstleistungsgewerbe nicht unklug, braucht dafür aber die Temperamente nicht. An diesem Beispiel zeigt sich aber auch ein versteckter Nutzen: Wenn mensch offenbar erst durch eine grobanschaulische Persönlichkeitstypologie wie die vier Temperamente darauf gebracht wird, sich motivationstheoretische Überlegungen zu machen, kann die Suche nach solchen Diagnosen wohl gelegentlich zu einem ehrlichen Versuch führen, das Gegenüber zu verstehen. Dann aber rücken die Temperamentenschubladen ausnahmslos und sofort in den Hintergrund – was Eller selbst zugesteht:

    “Bei der Vereinigung deutscher Mediatoren in Hamburg habe ich einen Vortrag gehalten. Dieser erste Vortrag bei Kaffee und Kuchen wurde zunächst amüsiert aufgenommen. Doch die Mediatoren erkannten schnell, dass sich mit Hilfe der Temperamente Konflikte besser verstehen und leichter lösen lassen. … Mir wurde im Nachhinein davon berichtet, dass die Mediatoren immer wieder »geübt« hätten, den anderen und sich selbst nach seinen auffallenden Temperamentsanlagen zu bestimmen. Dabei wurde anscheinend viel gelacht. Inzwischen arbeiten die Mediatoren mit den Temperamenten, ohne diese »Lehre« – als Schablone zu betrachten. Denn jeder Mensch trägt alle vier Temperamente in sich. Einige auffallende Eigenschaften kann man relativ schnell finden, aber es dauert länger, unter Umständen sehr lange, bis man auch die verborgenen Seiten entdeckt. Sie gehören aber auch dazu.” (ebd.)

    Eine zwanglose Atmosphäre, bei der “viel gelacht” wird, fördert sicherlich Persönlichkeitsstrukturen zutage, nicht aber die dieser Situation übergestulpte Typenlehre (das wäre auch zum Artikel von Birgit Olayiwola-Olosun: Wenn Temperamente nicht zu bremsen sind, zu sagen). Und so zieht Eller sich gemütlich auf den Allgemeinplatz zurück, dass irgendwie ja auch alle vier Temperamente bei jedem auffindbar seien – und die Persönlichkeit sich letztlich ohnehin entziehe:

    “Jeder Mensch aber färbt seine Temperamente mit seiner individuellen Persönlichkeit ein, so dass nicht ein einziger Mensch wie der andere ist.” (ebd.)

    Das ist aber lediglich ein Argument dafür, die Temperamentenschubladen fallenzulassen und sich von vorneherein mit der “individuellen Persönlichkeit” zu beschräftigen! Ähnlich wie Eller äußert sich Mathias Maurer in seinem einleitenden Redaktionsbericht für die Zeitschrift, der das Ganze auf die beliebte anthroposophische Formel bringt, die Temperamentenlehre sei “keine Lehre”, sondern “eine Kunst” (S. 3):

    “… Es zeigt sich schnell, dass man genau hinschauen muss, dass nicht immer ein Temperament vorherrscht, und nicht zuletzt, dass die Dominanz eines Temperaments alters-, ja sogar situationsabhängig wechseln kann. Was so einfach und schlicht anfing, wird zunehmend kompliziert. Der Lehrer macht deutlich, dass ein schematisches Vorgehen nicht weiterführt, sondern in jedem Kind die Temperamente individuell gemischt sind. Es sei eine Kunst, keine Lehre, die Temperamentsmischungen in ihrer lebendigen Dynamik und Differenziertheit zu erkennen. Die künstlerische Methode sei die angemessenste, um sich von diesen »Farben der Seele« ein Bild machen zu können.” (Die Temperamente – keine Lehre, eine Kunst)

    Auch hier zerbröckelt die LehreKunst zuverlässig am konkreten Beispiel und Maurer gesteht “Dynamik und Differenziertheit”, dass sich (vermeintliche) Temperamentszüge “situationsabhängig” verändern und überhaupt “individuell gemischt” seien. Den letzten Schritt dieser partiellen Einsicht, nämlich: diese angebliche “Kunst” über Bord zu werfen, und zur wahren pädagogischen “Kunst”, der Schaffung einer Bildungsstätte nicht für Typen, sondern individuelle Subjekte, weiterzuschreiten, vollziehen aber weder Maurer noch Eller. Letzterer fordert kurz nach der zuletzt zitierten Zeile:

    “Man muss sich die Mühe machen und die Temperamente »sehen« lernen. Wenn ich irgendwo über die Temperamente spreche, erlebe ich, dass die Menschen anfangen, die entsprechenden Eigenschaften an sich selbst, ihren Kindern oder Mitmenschen wahrzunehmen. Es gehen ihnen die Augen auf.” (Eller, S. 7)

    Was hier auftritt, wird zuweilen “Brunneneffekt” genannt und tritt üblicherweise auch bei Zeitungshoroskopen mit ihren selten hilfreichen Ratschlägen (in Richtung “Sie verfügen über einige Schwächen, die Sie aber im Allgemeinen durch Ihre Stärken ausgleichen können”) auf: Die Schubladen, Aussagen und Diagnosen sind so allgemein, dass sie überall an irgendeiner Stelle passen – bloß zum Erkenntnisgewinn taugt das, wie beschrieben, nicht wirklich. Und auch Eller muss das irgendwie geahnt haben, da auf diese Sätze bereits die nächste diplomatische Zurücknahme folgt:

    “Das Thema ist in Misskredit geraten, da man sich gegen Schablonen sträubt – und das mit Recht. Man spricht zum Beispiel von einem Choleriker. Damit kann nur jemand gemeint sein, der verhältnismäßig viel von diesem Temperament hat. Alle anderen Temperamente sind ja auch vorhanden und müssen entdeckt werden. Es gibt niemanden, der in jeder Situation gleich reagiert. Wenn man im Alltag vom Choleriker oder Phlegmatiker spricht, dann blendet man die Vielschichtigkeit des Themas aus. ” (ebd., S. 7f.)

    "Kinder, Lehrer, Temperamente" - Das Cover der "ErziehungsKUNST 07/08, 2011.

    “Pädagogisch Kontraproduktiv”

    Auf S. 14-16 kommt eine Waldorf-Kindergärtnerin, Elke Leipold, zu Wort, die in eine ähnliche Richtung argumentiert und an einigen Beispielen demonstriert:

    “Jedes Kind muss individuell angeschaut werden. Festlegungen sind – zumindest im Kindergartenalter – pädagogisch kontraproduktiv. Sie verbauen den Blick auf das ganze Wesen des Kindergartenkindes, sind Temperamentsäußerungen doch oft auch situationsgebunden und dementsprechend vielfältig.” (Die Temperamente sind die Farben der Seele, S. 14)

    Auch Leipold hält allerdings an Steiners Temperamentenlehre fest und glaubt sogar, die Temperamente fänden sich im “Ätherleib” (s. 16), einer uns profanen Menschen für gewöhnlich unsichtbaren Aura subtiler Lebenskräfte, die Hellseher Rudolf Steiner jedem lebenden Organismus zusprach (wobei er, wie üblich, theosophische Ideen verarbeitete). Freilich wäre Leipolds Einsicht, Temperamentenfestlegungen im Kindergartenalter seien “pädagogisch kontraproduktiv”, auch und erst recht auf jedes spätere Lebensalter anzuwenden. Zu dieser Erkenntnis konnte sich “der langjährige Klassenlehrer” Martin Schnabel nicht durchringen, der vor Leipolds Artikel auf 2 Seiten zusammenfasst, wie er das mit den Temperamenten so handhabt, denn deren tatsächliche Existenz setzt auch er wie selbstverständlich voraus. Er greift sogar eine Weiterentwicklung des Temperamentenschemas durch den Waldorflehrer Rudolf Grosse auf, der seine Schüler_innen in einer nach Temperamenten sortierten Sitzordnung im Klassenraum platzierte. So entstehen Passagen wie:

    “Die Temperamente? Mal vergesse ich sie völlig, mal klappt die intensive Zuwendung zu einer Gruppe instinktiv. Die Schüler sitzen nach Temperamenten geordnet in Gruppen, die natürlich verschieden groß sind. … Bei der Geschichte ist es am einfachsten, mit den Temperamenten zu »spielen«. Auch beim »Stoffteil« geht es gut, und wenn man die Unruhe bei den Sanguinikern bemerkt, wird man sich ihnen besonders zuwenden und die Geschwindigkeit so anziehen, dass sie bald wieder dabei sind. Oder man wendet sich mit gründlichen, genauen Schilderungen vorwiegend den Phlegmatikern zu. Dann darf man auch mal poltern oder schimpfen. Brauchen die Choleriker ein Gewitter, so versuche ich, nicht über sie, sondern über irgendetwas loszudonnern, das mit dem Unterrichtsinhalt zusammenhängt, vielleicht über die Ungerechtigkeit der Welt, die es einem Kolumbus so schwer macht, sein Lebensziel zu verfolgen. Dabei ist darauf zu achten, nicht unmotiviert herumzubrüllen, sondern dass sich die Lautstärke langsam steigert, sonst werden womöglich die dahinter sitzenden Melancholiker zu sehr verschreckt.” (Temperamente im Klassenzimmer, S. 12)

    Wenn unter Berufung auf die Temperamentenlehre das ”Rumbrüllen” vom ungewollten Ausraster zur wohl dosierten Unterrichtsmethode wird, ist das ein weiterer Grund, diese Lehre aus den Klassenzimmern zu verbannen! Auch Schnabel hält die Temperamentenlehre freilich für ein Erziehungsmittel, das aber nicht in der Dressur von Kindern zu vier standartisierten Menschentypen, sondern im Gegenteil der “Erziehung zur Freiheit” diene:

    “Ich denke »von sich aus« ist das Zauberwort. Nicht dadurch, dass der Lehrer seine Schüler dressiert, wirkt er grundlegend und dauerhaft. Vielmehr lautet die Frage: Wie schaffe ich eine Umgebung, in der der junge Mensch sich selber ändert?” (ebd., S. 13)

    Ist das ein schubladendenkerischer Individualismus oder ein individualistisches Schubladendenken? Dieses zutiefst widersprüchliche Muster von typologischen Diagnosen und individualistischem Ziel ist charakteristisch für Steiners Anthroposophie: Verflechtungen aus Rassismus und Ich-Philosophie oder die Forderung, durch Annahme des “wahren, esoterischen Christentums” werde religiöser Separatismus beendet.

    Auch aus praxispädagogischer Sicht werden die Leser_innen der “ErziehungsKUNST” mit der Temperamentenlehre vertraut gemacht: Theaterpädagoge Ulrich Maiwald erzählt von einer Inszenierung des Theaterklassikers von Johann Nestroy: Das Haus der Temperamente, mit einer Waldorfschulklasse. Nestroy karikiert in seiner “Posse” ebenjene Eigenschaften, die die Waldorfpädagogik in den vier Temperamenten sieht. Es gibt vier Familien,  sämtliche Angehörige einer Familie verkörpern eines der klassischen vier Temperamente in Reinform. Entgegen der elterlichen Intentionen heiraten aber die Sprösslinge der vier Temperamentenfamilien untereinander und durchbrechen damit das tradierte Schema.

    Die Theaterprojekte an Waldorfschulen gehören für gewöhnlich zu den klaren Highlights eines “Waldorfschülerdaseins”. Bühnenbilder gestalten, Text kürzen oder neu dazu schreiben, Programmhefte schreiben, dafür Geld durch Werbung auftreiben, Kostüme zusammenstellen, nicht zuletzt: Das Theaterspielen selbst, machen nicht nur schlicht Spaß, sondern sind auch weit lehrreicher als verschiedene Schulfächer. Zweifellos ist Nestroys Komödie auch ein sehr unterhaltsames Stück. Grundsätzlich unterschreiben lässt sich auch Maiwalds gestelzt formulierte Einleitung: “Das Schauspiel bietet den Schülern wie kaum ein anderes Fach die Möglichkeit, das eigene Seelenleben in seiner Vielfalt zu erkunden. Dabei können sie wesentliche Einsichten über sich und ihr Verhältnis zu ihren Mitmenschen gewinnen. … Durch die Begegnung mit den verschiedenen Rollen erweitert und differenziert sich der persönliche Ausdruck des Schülers.” (Im Haus der Temperamente, S. 9). Doch fällt in dem Artikel die zu erwartende Behauptung, dass die schauspielerische Darstellung der vier Temperamente pädagogisch besonders wertvoll sei. Und auch in diesem Artikel wird diese Argumentation allenfalls rudimentär begründet. Es scheint plausibel, dass, wer ein “fremdes Temperament” darstellt, “neue Möglichkeiten des Ausdrucks und des Erlebens kennen”lerne (S. 11), aber warum soll das nur bei den vier Temperamenten der Fall sein?

    Weder Maibach noch eine_r der anderen Autor_innen hat einleuchtend für die Existenz der vier Temperamente argumentiert, keine_r hat einen spezifischen und direkten Nutzen der Theorie aufzeigen können. Im Gegenteil haben Eller, Maurer und Leipold sogar mehr oder weniger direkt zugestanden, dass die konkrete Persönlichkeitsdiagnose jenseits der Temperamente stehe.

    “Weitere Forschungen wären wünschenswert”

    findet auch ”ErziehungsKUNST”-Chefredakteur Mathias Maurer (Temperamente ad acta?, S. 17f.). Damit bezieht er sich auf die aktuelle wissenschaftliche Diskussion der waldorfpädagogischen Temperamentenlehre, die insgesamt übersichtlich ausfällt. Maurer präsentiert zwei Beiträge: Aus der Feder des Mainzer Pädagogikprofessors Heiner Ullrich und des emeritierten Göttinger Erziehungswissenschaftlers Christian Rittelmeyer. Ullrich ist als einer der profunderen Kritiker der Waldorfpädagogik bekannt, Rittelmeyers Auseinandersetzung mit der Waldorfpädagogik hat wohl biographische Wurzeln: sein Großvater Friedrich Rittelmeyer war in den Zwanzigern Gründer der anthroposophienahen Christengemeinschaft.
    Zu Ullrich hat Maurer im Grunde nur zu sagen, dass er “die Ausführungen Steiners zu den Temperamenten als ‘psychophysische Totaltypologie’” ablehne, “von der sich ‘die moderne Wissenschaft’ schon längst verabschiedet habe”. Dagegen habe Steiner, so Maurer, in Wahrheit alles  – natürlich – ganz, ganz anders gemeint: “Man kann den Gegenbeweis nicht erbringen, solange man den geistigen Durchblick nicht hat.” (S. 17)

    Wenn Maurer aus Ullrichs Darstellung etwas hätte lernen können, dann, dass auch Steiner beim Aufgreifen der Temperamentenlehre keineswegs “geistigen Durchblick”an den Tag legte:

    “Die psychologische Charakterisierung der Temperamente und die pädagogischen Maximen zu ihrer ‘Behandlung’ hat Steiner nicht selbst entwickelt, sondern zum allergrößten Teil mit nur geringfügigen Modifikationen der populären Ratgeberliteratur seiner Zeit, insbesondere den Schriften des Pfarrers Bernhard Hellwig, entnommen.
    Im Hinblick auf begriffliche Klarheit und deskriptive Differenzierung bleibt Steiners Lehre von den vier kosmischen Temperamenten noch hinter der romantisch-spekulativen Seelenlehre eines Carl Gustav Carus zurück. … Damit überschreitet sie aber keineswegs das begrifflich-abstrakte Denken und die empirisch-quantitaive Erkenntnisform der neuzeitlichen Wissenschaft. Sie begibt sich vielmehr in die bildhaft-analogisierenden Denkweise des Mythos zurück und tradiert so von der modernen Wissenschaft längst verabschiedetes antiquiertes Wissen.” (Heiner Ullrich: Rudolf Steiner – Leben und Lehre, S. 182f.)

    Maurers Anspruch auf “den geistigen Durchblick” zur Entdeckung der Temperamente ist überdies ein erneutes Glanzstück anthroposophischer “Herschaft der Theorie über die Empirie”: Völlig unabhängig davon, ob sich in der Realität Phänomene zeigen, die den Temperamenteneigenschaften entsprechen oder nicht, kann in Maurers Darstellung scheinbar nur derjenige, der den “geistigen” (d.h. anthroposophisch-hellseherischen?) “Durchblick” hat, über die Existenz von Temperamenten entscheiden. Das ist nicht mehr und nicht weniger als eine unplausible dogmatische Setzung. Maurer schlägt vor, da “quantitativ-empirische Erkenntnisformen” (Ullrich) keine Belege für Temperamente lieferten, den “Begriff der Empirie” zu erweitern oder zu spezifizieren. Was soll da im Klartext heißen: Was nicht passt, wird passend gemacht? Wo keine Temperamente beobachtbar sind, muss so lange geschaut werden, bis sie da sind?

    Glücklich verweist Maurer anschließend auf den emeritierten Pädagogen Rittelmeyer: für diesen, immerhin…

    “…auch er ein Erziehungswissenschaftler, sind die Temperamente nicht Schnee von gestern. … Er hält, im Gegensatz zu Ullrich, die Temperamente für durchaus vereinbar mit der modernen Persönlichkeitspsychologie.” (Maurer: Temperamente)


    Es ist, nebenbei, immer wieder erstaunlich, dass sowohl Anthroposoph_innen wie ihre erbittertsten Gegner_innen danach lechzen, akademische Zeugen für ihre Thesen zu bekommen. Der Verweis, Rittelmeyer sei “auch ein Erziehungswissenschaftler”, passt perfekt zur hoffnungsfrohen Betitelung eines Anti-Waldorf-Artikels durch die Seite “Esowatch”. Als sei der Artikel eines weiteren emeritierten Pädagogikprofessors, Klaus Prange, der akademischen Weisheit letzter Schluss und Konsens, titelte die Seite “Esowatch”: ”Waldorfpädagogik aus Sicht DER Erziehungswissenschaft” (auch hier: Herrschaft der (eigenen) Theorie über die Empirie). Während sich Prange aber immerhin tatsächlich als sehr waldorfkritisch erweist, scheint Maurers Berufung auf Rittelmeyers angebliche “wissenschaftliche” Verifizierung der Temperamentenlehre nur bedingt begründet. Schreibt Rittelmeyer doch:

    “Diese Menschenkunde [die waldorfpädagogische - AM] wirft ihrerseits Fragen im Hinblick auf ihre Wissenschaftlichkeit auf (unter anderem betrifft das ihre intersubjektive Überprüfbarkeit). … Die Frage kann hier nicht hinreichend umfassend beantwortet werden, da der Korpus entsprechender Untersuchungen inzwischen weit über tausend Titel umfassen dürfte. An einer solchen methodischen Anforderung gemessen, hat es nach meiner Kenntnis bisher keine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den vier klassischen Temperamenten gegeben. Selbst in historischen Übersichten der Persönlichkeitspsychologie tauchen sie häufig überhaupt nicht oder nur rudimentär auf.” (Rittelmeyer: Die Temperamente in der Waldorfpädagogik. Ein Modell zur Überprüfung ihrer Wissenschaftlichkeit, in: Harm Paschen (Hg.): Erziehungswissenschaftliche Zugänge zur Waldorfpädagogik, Wiesbaden 2010, S. 78)

    In dieser Hinsicht wäre Ullrichs Darstellung von den “längst verabschiedeten” Temperamenten in der Tat  partiell zu widersprechen: Die Temperamente wurden, so Rittelmeyer, in der pädagogischen Psychologie niemals so umfassend rezipiert, als dass eine “Verabschiedung”  überhaupt notwendig gewesen wäre. Sie sind schlicht irrelevant. Eine Ausnahme stellt der romantische Mediziner und Naturphilosoph Carl Gustav Carus dar, der aber als Gewährsmann für psychophysische Typologien aus denselben Gründen wie Kant ausgesprochen fragwürdig ist: Auch Carus ist Schöpfer einer ziemlich ekelhaften Rassenlehre (vgl. ausführlich Jana Husmann: Schwarz-Weiß-Symbolik, Bielefeld 2010,  S. 183-228; Heiner Ullrich: Waldorfpädagogik und okkulte Weltanschauung, München 1991, S. 173). Sogar der Psychologe Hans J. Eysenck, dessen Theorien zum Teil mit Steiners Ausführungen zu den vier Temperamenten kompatibel wären (vgl. Typen, Themen, Temperamente, Absatz “Typologien in der Psychologie”), hat sich von der antiken Persönlichkeitstypologie überdeutlich distanziert, wie Christian Rittelmeyer selbst nachweist (vgl. Rittelmeyer: Die Temperamente…, S. 93f.). Welche Lösung also bietet Rittelmeyer? Er stellt zunächst dar, dass, wo in der modernen Psychologie die Rede von Temperamenten ist, verschiedenste Themen und Theorien behandelt werden, die oft weder untereinander noch mit der klassischen Lehre der vier Temperamente etwas zu tun haben. Trotzdem experimentiert er damit, wie sich ebenjene spätantiken Vier in das bekannte EAS-Schema der Temperamente einfügen lassen. Dieses kennt drei Temperament- Eigenschaften: E = Emotionalität, A = Aktivität, S = Soziabilität. Und – oh wunder – natürlich passt alles auch hier und da zusammen:

    “Hohe Aktivität und geringe Soziabilität sind typisch für das Bild der Choleriker, geringe Soziabilität und geringe Aktivität werden typischerweise für Melancholiker beschrieben, ein hohes Aktivitätsniveau und eine ausgeprägte Soziabilität sind Merkmale, die Sanguiniker kennzeichen, und schließlich dürfte für Phlegmatiker ein eher niedriger Aktivitätslevel, aber mindestens häufig eine Neigung zu Geselligkeit charakteristisch sein.” (ebd., S. 89f.)

    Es fragt sich wieder, was aus diesen rudimentären und skizzenhaften Charakterisierungen für irgendein pädagogisches Handeln gewonnen wird: Natürlich lassen sich Kombinationen von Eigenschaften irgendwie schematisch anordnen, doch das Ergebnis ist beliebig und sagt nichts über Individuen. Entsprechend folgert Rittelmeyer auch keinesfalls, dass die Temperamentenlehre durch “einige neuere Forschungen” “bestätigt” würde: “Vorgeführt wurden hier nur einige methodische Schritte, die Beachtung finden müssten, wenn man sich ernsthaft mit dieser Frage auseinandersetzen will.” (S. 94). Mit diesem Fazit weist Rittelmeyer in der Tat Ullrich zurück: es habe keine wissenschaftliche Widerlegung der Temperamente gegeben, da sich (außer Waldorfpädagogen) schlicht niemand darum gekümmert habe. Ullrichs Darstellungen zu diesem Thema seien also nicht mehr als “Meinungsäußerungen”. Aber auch die Waldorfpädagogen werden von Rittelmeyer nicht als fundierter präsentiert. Er rät, bei Temperamentendiagnosen “sehr vorsichtig” zu sein.

    Mathias Maurers Fazit: “Weitere Forschungen [zu den Temperamenten] wären wünschenswert” ist gerade vor diesem Hintergrund allerdings wiederum zuzustimmen. Allerdings mit dem Vorbehalt, dass auch Waldorfpädagog_innen sich daran beteiligen und zu einer Falsifizierung bereit sein müssten. Maurer zieht das natürlich nicht in Betracht: Letztendlich kann über die Existenz der Temperamente ohnehin nur entscheiden, der sie durch “höhere Schau” schon “erkannt” hat:

    “Dagegen wirken Psychologie und Psychoanalyse wie ausgehirnte anämische Spekulationskonstrukte. … Diese übersinnliche Welt, die hinter unserer sinnlich wahrnehmbaren Welt existiert und wirkungsvoll, ja erziehend in unserem Schicksal mitmischt, ist überhaupt die größte Zumutung für den heutigen Zeitgenossen. Ebenfalls eine Zumutung – für »Uneingeweihte« bloße Annahmen, für Steiner Gewissheit: Es wirken in unserer Seele objektiv geistige Weltenkräfte, die man kennenlernen muss, will man ihnen nicht unterliegen oder sich von ihnen beherrschen lassen.” (Maurer: “‘O Mensch, erkenne dich’”)

    Diese “geistige Welt” ist für Menschen nicht Entwicklungsraum, sondern ins Außerweltliche projizierte Herrschaft. Wem das esoterische Wissen der Anthroposophie fehlt, droht kosmisches Unheil, denn Dummheit schützt vor Strafe nicht. Mathias Maurer:

    “Man kann es bedauern, dass diese Bildungsinhalte nicht Allgemeingut sind, weil sie, wie die Naturgesetze auch, bei Nichtberücksichtung voraussehbare Folgen zeitigen und im gegenteiligen Fall manches Lebensrätsel lösen könnten.” (ebd.)

    Aus der Behandlung der vier Temperamente in der “ErziehungsKUNST” lässt sich für die Praxis der Waldorfschulen immerhin Positives schließen. Wenn es sogar dem Verbandsmagazin des Waldorf-Dachverbands notwendig scheint, Waldorflehrer_innen an die pädagogische Typologie zu erinnern, ist diese Typologie offenbar noch weniger weit verbreitet, als ich bisher gehofft hatte. Statt kritische Stimmen zu berücksichtigen oder die Frage zu stellen, warum Waldorflehrer_innen diese Lehre zunehmend fallen lassen (und dass das der Fall ist, hat ja sogar Maurer eingestanden), werden im Wesentlichen bekannte Stereotypen wiederholt: Die “ErziehungsKUNST” zieht es damit vor, sich von der Praxis abzuwenden und die vorhandene Spaltung zwischen ideologischer Grundlage und schulischer Realität der Waldorfpädagogik noch weiter voranzutreiben. Es spricht  für die Zähigkeit des Waldorfsystems, dass es an dieser selbstzerstörerischen Tendenz immernoch nicht zerbrochen ist.


    Einsortiert unter:Hintergründe

    Die Rache des Steiner-Verlags

    $
    0
    0

    Still und leise ist die lang erwartete Neuauflage von Rudolf Steiners Buch “Geisteswissenschaftliche Menschenkunde” erschienen. 2007 hatte die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien dieses Buch (und ein weiteres aus Steiners Feder) unter Kommentarzwang gestellt, weil sich darin diskriminierende Aussagen über vermeintliche “Rassen” finden. Doch die Kommentierung des nun neu erschienenen Buchs irritiert mehr, als sie erklärt: Es werden Entlastungsargumente bemüht, die altbekannt und längst widerlegt sind, es werden Zitate angeführt, um Steiners “Antirassismus” zu beweisen, die sinnentstellend aus dem ursprünglichen Aussagekontext gerissen sind – überdies wurde der Vortrag umbenannt, ohne, dass dies kenntlich gemacht wurde.
    Neu Interessierte Leser_innen finden in den folgenden zwei Abschnitten alle nötigen Informationen – wer die Vorgeschichte schon kennt, kann ab der Überschrift “Sonderhinweis zum Vortrag vom 9. Mai 1909″ weiterlesen.

    Ein Urteil…

    “Man mag dazu stehen, wie man will – die Anthroposophen gehören zur Sorte jener Idealisten, für die das Allgemein-Menschliche und die Überwindung jedweder Form des Nationalismus zu den höchsten Maximen gehört, für deren Realisierung de facto unendliche Opfern gebracht werden.”, schrieb 2001 Dr. Walter Kugler, Leiter des Rudolf Steiner Archivs in Dornach (Feindbild Steiner, Stuttgart 2001, S. 54). Für eine gesellschaftliche Bewegung mit diesem Selbstbild – und verständnis, egal, ob zurecht oder zu Unrecht, ist es schockierend, mit dem Vorwurf des Rassismus und Nationalismus belegt zu werden, und der Vorwurf wird mit allen Mitteln abgeblockt. Und dennoch: 2007 beriet die BPjM, die “Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien”, zwei Bücher aus dem stupend umfangreichen Vortagswerk des berühmten Esoterikers Rudolf Steiner (1861-1925) auf den Index zu setzen.

    Walter Kugler (Foto von Barbara Klemm)

    Walter Kugler, Leiter des Rudolf Steiner Archivs: "Zweifellos, es gibt Äußerungen im dreihundertbändigen Werk Steiners, die treiben uns Veteranen der Anti-Vietnam-Generation den Schweiß aus allen Poren und mitten auf die Stirn ... Und dennoch ... dürfte deutlich werden, dass Steiner nicht nur dem Rassenbegriff einfach ausgewichen ist, sondern dessen Anachronismus erkannt und ihm seinen Platz in der Geschichte zugewiesen hat." (Feindbild Steiner, a.a.O., S. 15, 27). (Auch) das ist im Folgenden zu diskutieren. (Das Foto verdanke ich dem Steiner-Archiv, Fotografin ist Barbara Klemm, FAZ)

    Rudolf Steiner, Begründer des esoterischen Weltanschauungskosmos’ der “Anthroposophie”, Ideengeber der Waldorfpädagogik sowie diverser anderer alternativkultureller Konzepte und Unternehmen, hat heute begeisterte Epigonen und überwiegend minder begeisterte Kritiker_innen. Zwei davon, die Kulturwissenschaftlerin Jana Husmann, sowie der Grafik-Designer mit Waldorflehrer-Fortbildung Andreas Lichte hatten 2006 zwei Gutachten beim Familienministerium eingereicht, um eine Indizierung der Bücher anzuregen. Das Ministerum seinerseits stellte auf deren Grundlage einen Antrag an die BPjM. Gegenstand waren die seit den 90ern in jeder Diskussion um die Anthroposophie obligatorisch diskutierten Äußerungen Steiners über “Rassen”. Steiner, wissenschaftlich sozialisiert im Zeitalter von Eugenik und Sozialdarwinismus, breitete ab 1902 in seinen zahlreichen  esoterischen Schriften und Vorträgen die Vision einer allumfassenden, “kosmischen” Evolution aus, die auch verschiedene Menschen”rassen” hervorgebracht habe:

    “Unter Theosophen stritt man sich allenfalls noch – aber das nach Kräften -, ob nun der deutschen oder britischen oder amerikanischen Rasse die Zukunft gehöre … In diesem Evolutionsrahmen hat er [Steiner] dann wie beiläufig, aber ohne Augenzwinkern, Äußerungen getätigt, die bis heute als Erbstücke des Rassismus aus dem 19. Jahrhundert gallig aufstoßen: Indianer als ‘degenerierte Menschenrasse’ ‘im Hinsterben’, schwarze Afrikaner mit dem Stigma der ‘zurückgebliebenen’ Rasse, das ‘alte jüdische Volk’ mit einem kollektiven ‘Gruppen-Volks-Ich’. So brachte Steiner eine Top-down-Ordnung in die Geschichte von Völkern und Rassen … Mit seiner Konsequenz hat Steiner der Anthroposophie ein bitteres Erbe aufgebürdet, dessen Schlagschatten bis in die Gegenwart reichen.” (Helmut Zander: Rudolf Steiner – die Biographie, S. 185f.)

    In der Tat: Die BPjM hörte den Bund der Freien Waldorfschulen, die Rudolf-Steiner-Nachlassverwaltung und den (eben zitierten) Religionswissenschaftler Helmut Zander an – und kam bei beiden zur Diskussion stehenden Büchern zu folgendem Urteil:

    “Der Inhalt des Buches ist nach Ansicht des 12er-Gremiums in Teilen als zum Rassenhass anreizend bzw. als Rassen diskriminierend anzusehen … Das 12er-Gremium hat jedoch aufgrund der Erklärung desVerlages, zukünftig das benannte Buch nicht mehr in der vorliegenden Form zu veröffentlichen, gemäß  18 Abs. 4 JuSchG, und damit wegen Annahme eines Falls von geringer Bedeutung, von einer Listenaufnahme abgesehen … Die in Vorbereitung befindliche Neuauflage wird, in Anlehnung an die Verfahrensweise bei den niederländischen Ausgaben [von Steiners Werken: die niederländische Anthroposophische Gesellschaft hat bereits Ende der Neunziger reagiert - A.M.], eine kommentierte Ausgabe sein. Damit ist nach Auffassung des Gremiums gewährleistet, dass die Rassen diskriminierenden Äußerungen auch von Jugendlichen eingeordnet und kritisch betrachtet werden können.” (Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien, Pr. 783/06, Entscheidung Nr. 5506 vom 6.9.2007, S. 5-8)

    Unter Kommentarzwang gestellt und jetzt wieder aufgelegt: Band 107 der Rudolf-Steiner-Gesamtausgabe

    …und seine Folgen

    Damit wären die Essentials geklärt: Der Rudolf-Steiner-Verlag sicherte eine kommentierte Neuauflage zu, durch die sichergestellt würde, dass auch für so naiv-dumme Jugendliche wie mich verständlich wird, dass Steiners Rassismus Rassismus ist.

    Bevor ich das kürzlich erschienene Resultat bespreche, will ich noch einige Reaktionen innerhalb der Anthroposophischen Szene auf das BPjM-Verfahren schildern, wo im Folgenden Stellung zum Verfahren und zu Steiners Rassentheorie genommen wurde.

    Die Redaktion der “Flensburger Hefte”  hatte bereits 1993 zugestanden: “Es gibt sie wirklich, jene angeblichen Äußerungen Rudolf Steiners … im Dickicht der über dreihundert Bände” (Thomas Höfer: Der Hammer kreist, Flensburger Hefte, 41, Nr. 6/1993, S. 4). Auch eine eigens zusammengerufene “Kommission” der Anthroposophischen Gesellschaft in den Niederlanden hatte in den Neunzigern immerhin zugestanden, dass sich nach heutigem Recht strafbare Äußerungen über “Rassen” in Steiners Oeuvre finden – eine systematische Rassenlehre jedoch abgestritten. Ende 2007, nach dem Urteil der BPjM, wich nun der “Bund der Freien Waldorfschulen” einer Distanzierung aus und postulierte, es gebe “Formulierungen”, die, allerdings nur “aus heutiger Sicht … diskriminierend wirken” (Stuttgarter Erklärung). Auch inneranthroposophisch wurde diese Auffassung widerlegt: Anfang 2008 legte die Zeitschrift “Info3 – Anthroposophie im Dialog” ein “Frankfurter Memorandum” vor. Dessen Unterzeichner  bestritten zwar weiterhin die Existenz einer expliziten Rassentheorie in Steiners Werk (vgl. dazu kritisch Peter Staudenmaier sowie Stephan Geuenich, in der Fußnote 2), aber sie kamen überein:

    “Die niederländische Kommission identifizierte 16 ernsthaft diskriminierende oder rassistische Äußerungen; die Verfasser dieses Memorandums neigen dazu, einige weitere Zitate zu der schwerwiegenderen Kategorie I. zu zählen. …

    Auf diese Äußerungen trifft eine der maßgeblichen Rassismus-Definitionen zu, wonach Rassismus durch die „verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver Unterschiede zum Nutzen des Anklägers und zum Schaden seines Opfers entsteht, mit der seine Privilegien oder Aggressionen gerechtfertigt werden sollen“ (Albert Memmi). Belege für eine Rechtfertigung von rassistischen Aggressionen finden sich bei Steiner zwar nicht. Dennoch ist es sehr bedauerlich, dass solche im weiteren Sinne (A. Memmi folgend lässt sich ein Rassismus im engeren und im weiteren Sinne differenzieren) rassistischen Äußerungen von Steiner gemacht wurden. Auch der zuweilen unternommene Versuch, diese Zitate kontextuell einzuordnen, macht sie nicht annehmbarer. Das dritte Zitat [Steiner: „Die Negerrasse gehört nicht zu Europa und es ist natürlich nur ein Unfug, dass sie jetzt in Europa eine so große Rolle spielt.“] ist z.B. auch dann nicht hinnehmbar, wenn man annimmt, Steiner habe mit dem abschätzig klingenden Wort „Negerrasse“ die schwarz-afrikanische Kultur gemeint. Bei den Zitaten dieser Kategorie handelt es sich auch nicht mehr um ein bloß sprachhistorisches Problem, dem mit einer „Übersetzung“ des Gemeinten in eine „zeitgemäße“ Sprache beizukommen wäre. …” (Ramon Brüll/Jens Heisterkamp: Frankfurter Memorandum, S. 9)

    Keine weitere anthroposophische Zeitschrift oder Organisation legte Vergleichbares vor, im Gegenteil wurde das Memorandum von der waldorfpädagogischen Zeitschrift “ErziehungsKUNST” empört zurückgewiesen, die rechtsanthroposophische Zeitschrift “der Europäer” witterte geheimen Steiner-Hass in der Steiner-Nachlassverwaltung, weil sie die inkriminierten Bücher zurückhielt (Marcel Frei: Rudolf Steiner am Dornacher Pranger, in: Der Europäer, September 2010, S. 9, vgl. Bilder und Sachen, Abschnitt “Grabenkämpfe”), die Wochenschrift “Das Goetheanum” drehte die Aussage der BPjM um und behauptete fälschlich: “Gerade erst gelang es den Vertretern des Dornacher Rudolf-Steiner-Verlages die deutsche ‘Bundesstelle für jugendgefährdete Medien’ zu überzeugen, dass Steiner in der Tat kein Rassist war.” (Das Goetheanum). Von der Rudolf-Steiner-Nachlassverwaltung wissen wir, dass sie sich immerhin zu den Ergebnissen der Niederländischen Kommission bekannte. Seit 2005 sei man ohnehin dabei, Neuauflagen von Steiners Werken mit entsprechenden Kommentaren zu versehen, hieß es im Oktober 2007 (ebd.).

    “Sonderhinweis zum Vortrag vom 3. Mai 1909″

    Die kommentierte Neuauflage, die sicherstellen sollte, “dass die Rassen diskriminierenden Äußerungen auch von Jugendlichen eingeordnet und kritisch betrachtet werden können” (BPjM, a.a.O.) liegt nun seit Kurzem vor. In der “Einführung” zu dem Band schreibt Urs Dietler:

    “Einer besonderen Erwähnung bedarf der Vortrag vom 3. Mai 1909 … Steiners gelegentliche Ausführung zum Thema der Rassen, das auch in diesem Vortrag erörtert wird, haben verschiedentlich zu Irritationen und der Frage geführt, ob hier eine Form des Rassismus vorliege.” (Urs Dietler: Zur Einführung, in: Rudolf Steiner: Geisteswissenschaftliche Menschenkunde. Neunzehn Vorträge (1908-1909), GA 107, Dornach 2011, S. 16)

    …mit keinem Wort erwähnt Dietler, dass die BPjM letzteres sehr wohl bejahte, er verschweigt auch, dass nur deswegen Neuauflage und Kommentar nötig waren, und fährt fort:

    “Dass dies in keiner Weise der Fall ist, zeigen der Gesamtduktus seines Denkens und Wirkens und eine Kontextualisierung der in Frage stehenden Ausführungen. In einem Sonderhinweis wird auf diesen Fragenkomplex näher eingegangen (siehe dort Seite 340).” (ebd.)

    Aber auch auf Seite 340 fällt kein Wort über das BPjM-Verfahren, es wird nichts gesagt über die genauen Vorwürfe, die Aufforderung an Jugendliche (oder irgendwen sonst), Steiners Ausführungen zum Rassenthema “kritisch” zu betrachten, fehlt ebenso. Die Leser_innen erfahren nur: ”Dieser Vortrag bedarf in Bezug auf die darin angesprochene Thematik der sogenannten ‘Rassen’ einer Erläuterung.” (ebd., S. 340).

    … die auf den Fuß folgt, nachdem festgestellt wurde, dass “sich der Herausgeber” von Steiners Aussagen über “Rassen” “distanziert”, “insoweit sie heute in irgendeiner diskriminieren [sic!] Art verstanden oder verbeitet werden sollen.” (ebd.). Dass eine Diskriminierung nicht nur durch Instrumentalisierung von Steiners “Rassen”-Passagen, sondern durchaus in diesen Passagen selbst vorhanden sein könnte, wird nicht eigens erwähnt.

    Reichlich schwammige Positionierungen also. Zu dem eben zitierten “Sonderhinweis” ist überdies negativ anzumerken, dass er nur eine einzige Seite lang ist – und auf dieser einen Seite Text sahen die Herausgeber_innen  sich offensichtlich nicht in der Lage, auf die Inhalte des Vortrags zum 9. Mai 1909 näher einzugehen. Das ist bemerkenswert, da doch der Kommentar bei Einordnung und kritischer Orientierung helfen sollte. Stattdessen legen die Herausgeber zwei vorgeblich anti-rassistische Zitate Steiners und einige relativierende Bemerkungen zum gesamten Stellenwert des “Rassen”-Themas in Steiners Werk vor und erwecken den Eindruck, sie wüssten selbst nicht genau, warum sie all das schreiben (müssen).

    Der umbenannte Vortrag und sein Inhalt

    Ich gebe im Folgenden kurz die Darstellungen Steiners im inkriminierten Vortrag vom 3. Mai 1909 wieder, diskutiere anschließend die von den GA-Herausgeber vorgebrachten Ausführungen, die den Rassismusvorwurf zurückweisen sollen, um schließlich die mitgelieferten “antirassistischen” Zitate zu besprechen. Aber nun endlich zum konkreten Inhalt des entsprechenden Vortrags. Im ausführlichen Inhaltsverzeichnis ist der stichwortartig zusammengefasst:

    “Verschiedenheiten der Menschenrassen im Zusammenhang mit der Erdentwicklung. Der Zusammenhang zwischen der Sonneneinwirkung auf die Erde und der Menschheitsentwicklung. … Die Auswanderung der besseren Teile der lemurischen Bevölkerung nach Atlantis. Unterschiedlich entwickelte Menschen in der atlantischen Zeit: «Riesen» und «Zwerge». Die Normalmenschen als das entwicklungsfähigste Volk. Die anderen, ausgewanderten Völker und die Auswirkung ihres Ich-Gefühls auf ihre Hautfarbe: Das nach Westen ausgewanderte Volk mit zu stark entwickeltem Ich-Trieb und seine letzten Reste in der roten indianischen Bevölkerung Amerikas. Das nach Osten ausgewanderte Volk mit zu schwach entwickeltem Ich-Gefühl und seine letzten Reste in der schwarzen Negerbevölkerung Afrikas. Der Zug des Manu und seines kleinen um ihn versammelten Häufleins der für die Weiterentwicklung der Erde ausersehenen Normalmenschen. Die Bevölkerung Europas mit einem stärkeren Ich-Gefühl und die asiatische Bevölkerung mit einer passiven, hingebenden Natur. Die verschiedenen Gottesvorstellungen. (Hervorhebungen – A.M)” (GA 107, 2011, S. 13)

    Steiner schildert also die Entstehung der angeblichen “Rassen”, wobei die “Normalmenschen” zwischen falsch entwickelten “Negern” und “Indianern” stünden. In concreto schildert Steiner das so:

    “Diejenigen Völker, bei denen der Ich-Trieb zu stark entwickelt war und von innen heraus den ganzen Menschen durchdrang und ihm die Ichheit, die Egoität aufprägte, die wanderten allmählich nach Westen, und das wurde die Bevölkerung, die in ihren letzten Resten auftritt als die indianische Bevölkerung Amerikas.
    Die Menschen, welche ihr Ich-Gefühl zu gering ausgebildet hatten, wanderten nach dem Osten, und die übriggebliebenen Reste von diesen Menschen sind die nachherige Negerbevölkerung Afrikas geworden. Bis in die körperlichen Eigenschaften hinein tritt das zutage, wenn man die Dinge wirklich geisteswissenschaftlich betrachtet.” (ebd., S. 304)

    Und daraufhin begründet Steiner nochmals, warum das Bewusstsein der verschiedenen “Rassen” zur Bildung unterschiedlicher Hautfarben geführt habe:

    “Wenn der Mensch sein Inneres ganz ausprägt in seiner Physiognomie, in seiner Körperoberfläche, dann durchdringt das gleichsam mit der Farbe der Innerlichkeit sein Äußeres. Die Farbe der Egoität ist aber die rote, die kupferrote oder auch die gelblichbraune Farbe. Daher kann tatsächlich eine zu starke Egoität, die von irgendeinem gekränkten Ehrgefühl herrührt, auch heute noch den Menschen von innen heraus sozusagen gelb vor Ärger machen. Das sind Erscheinungen, die durchaus miteinander zusammenhängen: die Kupferfarbe derjenigen Völker, die nach Westen hinübergewandert waren, und das Gelb bei dem Menschen, dem die „Galle überläuft“, wie man sagt, dessen Inneres sich daher bis in seine Haut ausprägt.
    Diejenigen Menschen aber, die ihre Ich-Wesenheit zu schwach entwickelt hatten, die den Sonneneinwirkungen zu sehr ausgesetzt waren, sie waren wie Pflanzen: sie setzten unter ihrer Haut zuviel kohlenstoffartige Bestandteile ab und wurden schwarz. Daher sind die Neger schwarz.

    – So haben wir auf der einen Seite östlich von Atlantis in der schwarzen Negerbevölkerung, auf der andern Seite westlich von Atlantis in den kupferroten Völkern Überreste von solchen Menschen, die nicht in einem normalen Maße das Ich-Gefühl entwickelt hatten. Mit den Normalmenschen war am meisten zu machen. Sie wurden daher auch dazu ausersehen, von dem bekannten Orte in Asien aus die verschiedenen anderen Gebiete zu durchsetzen.” (ebd.)

    Diese “Normalmenschen” werden im Folgenden als “Grundstock der weißen Bevölkerung” identifiziert (S. 306).

    Rudolf Steiner (1861-1925), "Doktor" der "Geheimwissenschaft"

    Es ist inzwischen geklärt, woher diese Motive in Steiners Denken kommen. Die Kulturwissenschaftlerin Jana Husmann, Mit-Initiandin und Gutachterin im BPjM-Verfahren, schlug beispielsweise eine historische Einordnung der von Steiner aufgegriffenen Rassenklischees vor:

    „In dieser Struktur von ‘Balance’ und ‘Extremen’ klingen die Traditionen von ‘extremos’ und ‘medios’ an, wie sie Leibniz’ frühe Rassenspekulationen beispielhaft kennzeichnen. Der Dreiklang als solcher korrespondiert wiederum mit Steiners Struktur der ‘Dreigliederung’ …

    In seinen weiteren Erläuterungen aktiviert Steiner zudem die ‘chemischen’ Erklärungsmuster zur schwarzen Haut, wie sie schon bei Kant zu finden sind und von [Carl Gustav] Carus modifiziert werden. Auch hier schreibt Steiner Carus buchstäblich um, wenn es heißt: „Diejenigen Menschen aber, die ihre Ich-Wesenheit zu schwach entwickelt hatten, die den Sonneneinwirkungen zu sehr ausgesetzt waren, sie waren wie Pflanzen: sie setzten unter ihrer Haut zuviel kohlenstoffartige Bestandteile ab und wurden schwarz. Daher sind die Neger schwarz.”

    Sowohl Carus’ Erklärung der schwarzen Haut über den Kohlenstoff als auch das von ihm angeführte Sinnbild des ‘Aushauchens’ der Pflanzen von Kohlenstoff bei Nacht, wird demnach von Steiner verarbeitet … ‘Erklärt’ in Carus’ Rassensystematik die schwarze Haut der Nachtvölker ihren Mangel an Bewusstsein (als einen Mangel an Licht), so erscheint Steiner der Mangel am (Licht-)Ich und zu viel Sonne die schwarze Haut zu erklären.“ (Jana Husmann: Schwarz-Weiß-Symbolik, S. 302)

    Auf eine historische Kontextualisierung lassen die GA-Herausgeber sich allerdings nicht ein (obwohl Urs Dietler genau das gefordert hat, um Steiners angebliche Unschuld zu beweisen, vgl. GA 107, S. 16), sondern bemühen (überdies bekannte) Strategien, um eine explizite Distanzierung von jeder noch so rassistischen Äußerung Steiners zu umgehen. Das beginnt beim Titel des Vortrags:

    Wer den Vortrag vom 3. Mai 1909 in einer älteren Ausgabe der GA 107 nachschlägt, findet ihn unter dem Titel “Die Ausprägung des Ichs bei den verschiedenen Menschenrassen” (vgl. GA 107,  5. Auflage 1988, S.  7, S. 335). In der Neuausgabe ist der Vortrag umbenannt und heißt jetzt “Die Ausprägung des Ich-Gefühls bei den verschiedenen Menschenrassen”. In beiden Ausgaben aber wird behauptet, dass die Titel der Vorträge von Steiner selbst stammten (sowohl GA 107, 1988, S. 319 als auch in der Neuauflage von 2011, S. 340). Die Umbenennung ist nicht kommentiert oder als solche kenntlich gemacht. Die Stoßrichtung der Änderung ist allerdings  auch so offensichtlich: Das “Ich” als Sanktissimum der Persönlichkeit schilderte Steiner meist als unabhängig von angeblichen “Rassenmerkmalen”. Hätte Steiner also nur von Selbstwahrnehmung und “Ich-Gefühl”, aber nicht vom “Ich” selbst gesprochen,  so ließe sich argumentieren, Steiner habe mit seinen Rassentypologien niemals “das Ich” angreifen und Personen diskriminieren wollen. Dass Steiner also im vorliegenden Vortrag das Gegenteil tut und von der “Ausprägung des Ichs bei verschiedenen Menschenrassen” spricht, passt den Herausgebern folglich nicht ins Konzept. Ähnlich argumentierte die Rudolf-Steiner-Nachlassverwaltung gegenüber der BPjM 2007 in einer Stellungnahme zum Indiziderungsverfahren:

    “Das ‘Ichgefühl’ darf nicht mit dem ‘Ich’ verwechselt werden. Das ‘Ich’ ist der geistige Wesenskern, der jedem Menschen eignet. Dieses ‘Ich’ konnte nach den Ausführungen des Vortrags in der atlantischen Zeit unterschiedlichen stark ‘empfunden’ werden. Die unterschiedlich starke ‘Ichempfindung’ prägte sich in der atlantischen Zeit wegen der damals noch bestehenden Plastizität oder Formbarkeit der Menschenleiber in unterschiedlichen körperlichen Formen (Hautfarben) aus. … Die Seele ist der Ort, wo die ‘Ichempfindung’, das ‘Persönlichkeitsgefühl’, das ‘Bewusstsein vom Ich’ seinen Sitz hat, während das Ich selbst geistiger Natur ist.” (Rudolf-Steiner-Nachlassverwaltung, Stellungnahme zum BPjM-Verfahren, Az.: 504-2334-01/804, Schreiben vom 23.04.2007, S. 41)

    Diese Argumentation ist falsch: Steiner spricht im Vortrag durchaus vom fehlentwickelten “Ich” der “Roten” und “Schwarzen” “Rasse”, und “Aus allen Völkern, die das Ich in irgendeinem Grade zu stark oder zu schwach entwickelt hatten, konnte nichts besonderes werden.” (GA 107, 2011, S. 309). Die Umbenennung des Vortrags erweist sich als vergeblicher Versuch, den rassentheoretischen Äußerungen Steiners über 100 Jahre später die Spitze abzubrechen. Dazu werden noch ein paar weitere argumentative Figuren bemüht:

    Entlastungsargumente

    Die Entlastungsargumente der GA-Herausgeber_innen lauten wie folgt (sie stammen ebenfalls von S. 341f.):

    1. Steiners Vorträge seien “von ihm nicht durchgesehen oder autorisiert worden”, die Textstellen stammten also eventuell gar nicht “wortwörtlich” von ihm. Das ist zwar grundsätzlich richtig: Bei den inkriminierten Texten handelt es sich um Vortragsmitschriften. Und bei den Vortragsmitschriften handelt es sich um Stenogramme, die in Einzelheiten oder Wortwahl  möglicherweise nicht immer zur Gänze mit dem übereinstimmen mögen, was Steiner “wortwörtlich” noch so gesagt haben könnte. Aber das ändert nichts an dem offensichtlichen und überdeutlichen Gesamtduktus des Vortrags: Es ging Steiner deutlich um Ausführungen zu “Rassen” und “Ich” bzw. “Ich-Gefühl” – was die Herausgeber auch keineswegs ernsthaft bestreiten. Auch die BPjM hat in ihrer Entscheidung zu dem Indizierungsverfahren festgestellt:

    “Dass es sich bei den Vortragstexten, wie von den Verfahrensbeteiligten ausgeführt, um so genannte unsichere Textquellen handelt, weil diese möglicherweise nicht wörtlich die von Rudolf Steiner gehaltenen Vorträge wiedergegeben, ist für die Annahme einer Jugendgefährdung unerheblich. Das Buch ist Teil der Gesamtausgabe der Werke von Rudolf Steiner; die Vortragsnachschriften sind von ihm, zumindest kursorisch, autorisiert worden.” (BPjM-Entscheidung Nr. 5506 vom 6.9.2007, a.a.O, S. 8)

    2. Steiner habe zwischen 1905 und 1909 in vier Einzelvorträgen “eine Gliederung der fünf menschlichen ‘Hauptrassen’ entworfen, die sich alle mit der Frage nach der Entstehung der physischen Rassenunterschiede beschäftigen. Der vorliegende Vortrag stellt einen dieser Entwürfe dar.” Davon stimmt lediglich der letzte Satz: Es zielt am Kern des Problems vorbei, lediglich zu sagen, dass Steiner die Entstehung von sogenannten “physischen Unterschieden” beschreibt – problematisch ist, wie er sie beschreibt. Wenn das angebliche schwache Ich der “Neger” zu schwarzer Haut und das angebliche zu starke Ich der Indianer zu roter Haut, in beiden Fällen aber zu evolutionärer Dekadenz geführt haben soll, sind das eben nicht nur Beschreibungen von physischen Zuständen: Es sind auch Beschreibungen und Wertungen von (vermeintlichen) psychisch-spirituellen Verfasstheiten. Zu behaupten, Steiner habe am 3. Mai 1909 lediglich über “physische Unterschiede” gesprochen, ist schlicht irreführend.
    Übrigens ist in dem besagten Vortrag keineswegs die Rede von “fünf Hauptrassen”, sondern von drei (möglicherweise vier, da kurz “passive” “Asiaten” erwähnt werden): Nämlich von “Schwarzer” und “Roter” “Rasse” als fehlentwickelten Extremen und europäischen “Normalmenschen”.

    3. “Die hier von Rudolf Steiner angewandten Gesichtspunkte sind im Zusammenhang mit Aspekten der Entwicklungslehre seiner Zeit zu sehen, in der die Anpassung an unterschiedliche Umweltbedingungen und anschließende Vererbung der entstandenen ‘Rassen’unterschiede diente.”
    Anpassung und Vererbung sind auch heute noch Basis der Evolutionstheorie, ohne, dass daraus “Rassentheorien” entstehen. Dennoch: Tatsächlich stammen Steiners Rassismen aus dem Evolutionskonzept des 19. Jahrhunderts, speziell in seiner Modifikation durch Ernst Haeckels “biogenetisches Grundgesetz” und dessen esoterischer Form in der evolutionären Spiritualität von Helena Petrowna Blavatskys Theosophie: “Blavatsky showed how esotericism could assimilate evolution. She acepted the idea of evolution, but only in the spiritual terms of an emanationist cosmology, which informed and effected all the varied material forms of creation. … Blavatsky effectively subsumed the material and physical aspects of evolution into a grand, overcharging, divine plan.” (Nicholas Goodrick-Clarke: Helena Blavatsky, Berkeley, California 2004, S. 175).  Doch der Verweis auf diese Vorbilder für Steiners Evolutions- und Rassentheorie ist keine Salvierung, sondern das beste Argument dafür, zu bekennen: Steiner übernahm mit seinem Evolutionskonzept auch die Rassentheorien des 19. Jahrhunderts, und das war ein schlichter Irrtum. Die Tatsache, dass sich die Herkunft von Steiners Rassenlehre historisch erklären lässt, lässt sich nicht als Entlastung instrumentalisieren. Das haben auch Ramon Brüll und Jens Heisterkamp festgestellt:

    “Das mitunter bemühte Argument, jene Zitate seien in einer anderen Zeit geäußert worden, gilt auch dann nicht, wenn es sich um Auffassungen handelt, die zwar vor etwa 100 Jahren in unserem Kulturkreis verbreitet, aber deshalb nicht weniger diskriminierend waren. Grobe absichtliche oder fahrlässige Diskriminierungen waren bereits verletzend, bevor das Diskriminierungsverbot etwa durch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1948 kodifiziert wurde.” (Ramon Brüll/Jens Heisterkamp: Frankfurter Memorandum, S. 9)

    4. Steiner habe das alles nicht so richtig ernst gemeint und durchdacht (oder so), denn: “Die vorliegenden Ausführungen besitzen durchaus einen aphoristischen und vorläufigen Charakter.”
    Tatsächlich hat Steiner seine Vorträge fast immer frei gehalten, sich allenfalls im Vorfeld Notizen gemacht und herausgerissene Buchseiten auf das Vortragspult gelegt, deren Inhalte er in das von ihm Gesagte einflocht. Insofern waren seine Vorträge tatsächlich “vorläufig” und unverbindlich. Aber hier gilt dasselbe wie zum 1. Punkt: Steiner hat das Rassenthema im vorliegenden Vortrag zu ausführlich und systematisch erörtert, als dass die diskriminierenden Äußerungen als missverständliches Geplapper eingeordnet werden könnten. Und auch hier gilt: Die anti-rassistischen Aussagen Steiners sowie das gros der von ihm angeregten “Praxisfelder” basieren dann ebenfalls auf solchen “aphoristischen und vorläufigen” Vorträgen – die Grundlagen von Waldorfpädagogik, biodynamischer Landwirtschaft, anthroposophischer Medizin, Heilpädagogik, Eurythmie oder Architektur würden, wenn ihnen plötzlich nurmehr “vorläufiger Charakter” zugestanden würde, zusammengeschnippt wie ein Kartenhaus.

    5. Äußerungen Steiners nach dem Jahr 1909 präsentierten keine evolutionär hierarchisierte Rassentheorie mehr, denn “er änderte in späteren Jahren die Darstellung dieses Themas, insbesondere ist im Jahre 1910 (siehe GA 121) der weißen oder kaukasischen ‘Rasse’ keine Sonderstellung mehr eingeräumt (Hervorhebung – A.M.).”
    Auch dieses Argument eignet sich schlecht für eine Entkräftung von Steiners rassentheoretischer Argumentation im Mai 1909. Richtig ist, dass Steiner ab 1910, tatsächlich u.a. in den Vorträgen, die in Nummer 121 seiner Gesamtausgabe (GA) veröffentlicht sind, die “Rassen” nicht mehr in Stufen anordnete. Früher hatte Steiner etwa “die Neger” als Überbleibsel der “lemurischen Wurzelrasse”, “die Gelben” als Überreste der “Atlantier” und die “Weißen” als Akteure der gegenwärtigen “Arischen Wurzelrasse” eingeführt (vgl. BGA 60, d.h. Band 60 der “Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe”). Er parallelisierte sie dadurch mit verschiedenen Bewusstseinsstufen in seiner evolutionären, teleologisch konzipierten Geschichtsphilosophie. 1910 dann hatte Steiner “Rassen” und Bewusstseinsstufen auseinandergespalten: Laut den Ausführungen in GA 121 entstanden die “Rassen” nicht mehr nacheinander, sondern parallel, sie waren keine einander beerbenden Stufenordnungen der Weltgeschichte mehr, sondern im Prozess dieser Weltgeschichte wie nebenbei entstandene “Typen”. Nichtsdestominder stellte die “kaukasische” oder “Weiße” “Rasse” den privilegiertesten, “geistigsten” dieser “Typen” dar. Noch 1923 spitzte er zu: “Die weiße ist die zukünftige, die am Geist schaffende Rasse.”
    Und wenn die GA-Herausgeber formulieren, 1910 werde der “weißen Rasse” “keine Sonderstellung mehr eingeräumt”, gestehen sie implizit zu, dass diese Sonderstellung zumindest bis dahin behauptet wurde. Somit müssten sie sich immernoch von Steiners Rassentheorie bis 1910 distanzieren – auch das allerdings unterbleibt.

    Die Argumente der Herausgeber sind somit schlecht begründet und wurden bereits an früherer Stelle angeführt und kritisiert (vgl. Jana Husmann-Kastein: Schwarz-Weiß-Konstruktionen im Werk Rudolf Steiners, in: Berliner Dialog 29, Juli 2006, S. 23; Helmut Zander: Anthroposophie in Deutschland. Theosophische Weltanschauung, gesellschaftliche Praxis, Göttingen 2007, S. 633 ff.; Ders.: Rudolf Steiners Rassenlehre. Plädoyer, über die Regeln der Deutung von Steiners Werk zu reden, in: Uwe Puschner/ G. Ulrich Großmann (Hg.): Völkisch und National – Zur Aktualität alter Denkmuster im 21. Jahrhundert, Darmstadt 2009, S. 148).
    Mehr ins Eingefleischte geht es bei zwei weiteren Entlastungsversuchen der GA-Herausgeber, zwei dem Anschein nach anti-rassistische Zitate Steiners gegen den Rassismusvorwurf ins Feld zu führen:

    “Rassenideale sind der Niedergang der Menschheit”

    “Wie fern Rudolf Steiner jegliche Art rassistischer oder nationalistischer Denkungsweisen stand, verdeutlicht u.a. die folgende Passage aus seinem Vortrag vom 26. Oktober 1917:

    ‘Ein Mensch, der heute von dem Ideal von Rassen und Nationen und Stammeszusammengehörigkeiten spricht, der spricht von Niedergangsimpulsen der Menschheit. Und wenn er in diesen sogenannten Idealen glaubt, fortschrittliche Ideale vor die Menschheit hinzustellen, so ist das die Unwahrheit. Denn durch nichts wird sich die Menschheit mehr in den Niedergang hineinbringen, als wenn sich die Rassen-, Volks- und Blutsideale fortpflanzen.’ (GA 177, S. 220)” (Kommentar in GA 107, 2011, S. 341).

    Hier hält Steiner die Berufung auf “Rassen-, Volks- und Blutsideale” offenbar nicht nur für illusionär, sondern gar für außerordentlich schädlich. Dieses Zitat ist ein altbekanntes in der Debatte um Steiners Rassismus. Nach ihm hatten Hans-Jürgen Bader, Manfred Leist und Lorenzo Ravagli ihr zweibändiges Machwerk “Rassenideale sind der Niedergang der Menschheit” (Stuttgart 2000f.vgl. dazu kritisch: Ravagli, die Rassen und die Rechten; Rudolf Steiners Rassenlehre sowie Ralf Sonnenberg: Vergangenheit, die nicht vergehen will) benannt, das nicht nur jeden Rassismus bei Steiner leugnete, sondern auch seine Rassentheorie als progressiv und humanistisch interpretierte.

    Das vollständige Zitat aus Steiners Vortrag lautet allerdings (die vom GA-Herausgeber ausgelassenen Satzteile grün markiert):

    Ein Mensch noch des 14. Jahrhunderts, der gesprochen hat von dem Ideal der Rassen, von dem Ideal der Nationen, der hat gesprochen aus den fortschreitenden Eigenschaften der menschlichen Entwickelung heraus; ein Mensch, der heute von dem Ideal von Rassen und Nationen und Stammeszusammengehörigkeiten spricht, der spricht von Niedergangsimpulsen der Menschheit. Und wenn er in diesen sogenannten Idealen glaubt, fortschrittliche Ideale vor die Menschheit hinzustellen, so ist das die Unwahrheit. Denn durch nichts wird sich die Menschheit mehr in den Niedergang hineinbringen, als wenn sich die Rassen-, Volks- und Blutsideale fortpflanzen.” (GA 177, Dornach 1999, S. 220)

    Im Original ist’s also scheinbar komplizierter: Steiner meint, zwar sei es “heute” unwahr und destruktiv, sich auf “Rassenunterschiede” zu berufen, im 14. Jahrhundert sei dies aber noch Ausdruck der “fortschreitenden Eigenschaften der menschlichen Entwicklung gewesen”. Nur eine ausführlichere Lektüre des zitierten Vortrags kann diese paradoxe Aussage aufdröseln:

    Steiner schildert hier, wie so oft, seine Vorstellungen von spiritueller Evolution. Ziel des Ganzen sei die Entwicklung des menschlichen Geistes. Zu dessen Förderung ließen sich göttliche Geister, Engel, Überengel und kosmische Hierarschien – ein ganzer Reigen an “Geistern des Lichts” herab. Und natürlich versuchten böse “Geister der Finsternis” nach Kräften, diesen übersinnlichen Evolutionsweg zu blockieren. Die Erschaffung von Menschen”rassen” sei, so Steiner, eine Erfindung der “Geister des Lichts” gewesen: Da der Mensch in archaischen Epochen der Weltgeschichte (Lemuria und “Atlantis”) noch nicht individuierungsfähig war, mussten die guten Geister ihn offensichtlich in praktische “Rassen”-Gruppen einteilen:

    “Dem Menschen ist gewissermaßen ein Gewicht angehängt worden, durch das er verbunden wurde mit dem Erdendasein … In diesen Zeiten, in denen also sozusagen die Geister des Lichtes sich haben angelegen sein lassen, die Menschenzusammenhänge nach den Blutsbanden zu ordnen, haben es sich die mit den Menschen vom Himmel zur Erde verstoßenen Geister der Finsternis angelegen sein lassen, gegen alles, was Blutsvererbung ist, zu arbeiten. Und alles … was da pocht auf die individuelle Freiheit, was Gesetze geben will aus der individuellen Freiheit des Menschen heraus, das rührt eben von den herabgestoßenen Geistern her.” (GA 177, 1999, S. 215f.)

    Insofern bestreitet Steiner also keineswegs die Existenz von “Rasse, Volk und Blut”, er hält sie für reale Potenzen der Weltgeschichte, einst erschaffen von “den Guten” und bekämpft nur von den irgendwie “Bösen”. Mit dem Ende des Mittelalters und dem Heraufdämmern der Neuzeit sieht Steiner allerdings eine Zäsur: Nun sei der Mensch in den Augen der “Geister des Lichts” reif genug, um individuelle Freiheit zu erlangen:

    “…in der Entwickelung hat alles seine bestimmte Zeit. Dasjenige, was gefestigt worden ist in der Menschheit durch die Blutsbande, dem ist genug geschehen in der allgemeinen gerechten Weltenordnung. So daß seit dieser neueren Zeit die Geister des Lichtes sich so wandeln, daß sie jetzt den Menschen inspirieren, freie Ideen, Empfindungen, Impulse der Freiheit zu entwickeln, daß sie es sind, die den Menschen auf die Grundlage seiner Individualität stellen wollen.” (ebd., S. 218)

    Umgekehrt versuchten jetzt die “Geister der Finsternis”, dies zu verhindern und den Menschen in den “Blutsbanden” festzuhalten:

    “Das, was gut war in alten Zeiten, oder besser gesagt, was in der Sphäre der guten Geister des Lichtes war, das wird abgegeben im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts an die Geister der Finsternis.”  (ebd.)

    Und damit macht auch die oben zitierte Aussage Sinn: Im 14. Jahrhundert, so Steiner, sei die Bildung von “Rassen” noch im Sinne der übersinnlichen Weltlenkung gewesen, mittlerweile sei aber die Entwicklung von “Freiheit” an der Reihe. Wer sich auf “Rassen-, Volks- und Blutsideale” berufe, opponiere demnach gegen den spirituellen “Weltenplan” bzw. arbeite für die “Geister der Finsternis”. Dementsprechend fällt ein fahles Licht auf diesen Steinerschen “Anti-Rassismus”: Offenbar distanzierte er sich von den völkischen Kreisen seiner Zeit und wollte keine “Rassenpolitik”, hielt diese im Gegenteil für ein “Niedergang”ssymptom (und das unterscheidet ihn von der völkischen Rechten). Aber er ging davon aus, dass es “Rassen”, “Rassenunterschiede”, und damit, seinem eigenen Rassenbegriff gemäß: auch evolutionär höher- und minderpriveligierte “Rassen” gebe. Und folglich klingt der Kommentar in der GA 107 durch ein weiteres “antirassistisches” Steiner-Zitat ähnlicher Couleur aus, in dem sich wieder eine Auslassung findet (die von den GA-Herausgebern weggelassenen Zeilen markiere ich grün):

    “Es hat zum Beispiel schon gegenüber der heutigen Menschheit keinen rechten Sinn mehr, von einer bloßen Rassenentwickelung zu sprechen. Von einer solchen Rassenentwickelung im wahren Sinne des Wortes können wir nur während der atlantischen Entwickelung sprechen. Da waren wirklich in den sieben entsprechenden Perioden die Menschen nach äußeren Physiognomien so sehr voneinander verschieden, daß man von anderen Gestalten sprechen konnte. Aber während es richtig ist, daß sich daraus die Rassen herausgebildet haben, ist es schon für die rückliegende lemurische Zeit nicht mehr richtig, von Rassen zu sprechen, und in unserer Zeit wird der Rassenbegriff in einer gewissen Weise verschwinden, da wird aller von früher her gebliebene Unterschied nach und nach verwischt. So daß alles, was in bezug auf Menschenrassen heute existiert, Überbleibsel aus der Differenzierung sind, die sich in der atlantischen Zeit herausgebildet hat. Wir können noch von Rassen sprechen, aber nur in einem solchen Sinne, daß der eigentliche Rassenbegriff seine Bedeutung verliert.” (GA 105, Dornach 1983, S. 183f.)

    Hier ist die Aussage noch eindeutiger. Steiner spricht davon, dass die “Rassen” als Medium der Evolution überholt seien, aller Unterschied werde “allmählich verwischt” – aber es bleibt die falsche Annahme, es habe überhaupt jemals “Rassen” gegeben (vgl. Wichtige Hinweise – falsche Prämissen)! Und mit der Behauptung, dass der Rassenbegriff seine Bedeutung “verliert”, impliziert Steiner auch, dass seine – rassistischen – Charakterisierungen von “Roten”, “Schwarzen” und “Weißen” auch in der Gegenwart eine (wenn auch schwindende) Geltung besäßen: “In Steiners These der zukünftigen Auslöschung der ‘Rassen’ liegt zugleich die These ihrer Existenz und Bedeutsamkeit bis dahin begründet.” (Jana Husmann: Schwarz-Weiß-Symbolik, S. 276). Hier hätte nur ein klärendes Wort im Sinne einer unzweideutigen Distanzierung seitens der Steiner-Herausgeber geholfen: Steiners Rassismen sind im Prinzip lächerlich simpel: von “triebgesteuerten” Schwarzen, dekadenten Indianern und kulturschöpferischen “Weißen” fabulierten zu seiner Zeit nicht Wenige. Es wäre auch leicht zu erklären, warum Steiner, der diese Ressentiments teilte, sich genötigt sah, “esoterische” Erklärungen für deren Entstehung zu finden. Und schließlich könnte, daran anknüpfend, ausgeführt werden, dass und warum Steiner fand, dass “der Rassenbegriff seine Bedeutung verliert” und daher andere Ziele anpeilte. Aber diese klärende Darstellung unterbleibt, wie ausgeführt.

    Positiv ist den Kommentator_innen vom Steiner-Verlag an dieser Stelle immerhin zugute zu halten, dass sie nicht versuchen, Steiners rassentheoretische Aussagen selbst als philanthrop und antirassistisch zurechtzudeuten (wie die Autoren der Schriften “Rassenideale sind der Niedergang der Menschheit” das taten). Aber stattdessen bleiben die genauen Theoreme Steiners schlicht unkommentiert.

    Max Heindel, Rudolf Steiner und warum eine Indizierung trotz allem falsch gewesen wäre

    Es ist, auch in der Esoterikszene, keineswegs schimpflich, solche offenbar zeitbedingten, aber nichtsdestominder diskrimierenden Äußerungen eben auch als zeitbedingt zu erklären und aktuell zurückzuweisen. Zwar sind hier selten Leistungen erbracht worden, die die Anforderungen einer kritischen Edition erfüllen, aber es ist doch bemerkenswert, dass sich bei Anthroposoph_innen so lange nichts in diese Richtung bewegt hat.
    Da wäre beispielsweise Steiners zeitweiliger Schüler und späterer Konkurrent Max Heindel (d.i. Carl Louis-Grasshoff; 1865-1919). Er übernahm um 1908 Steiners Ideengebäude ebenso, wie Steiners seines aus den theosophischen Handbüchern. Entsprechend finden sich in Heindels Oeuvre Rassentheorien, die auf dem Stand der Rassenlehre Steiners aus dem Jahre 1908 sind. Diese Rassentheorien wurden nirgens öffentlich diskutiert, es gab an keiner Stelle Rügen von Behörden und keinerlei wissenschaftliche Literatur, die Heindel Rassismus vorwarf. Auch Anthroposophiekritiker_innen haben Heindel übergangen oder allenfalls am Rande erwähnt. Nichtsdestominder gab es innerhalb der von Heindel gegründeten “Rosicrucian Fellowship” offenbar genügend Diskurse, dass die Herausgeber seines Werks von selbst einen Kommentar beifügten, der dem der Steiner-Nachlassverwalter ähnelt – mit einem Unterschied: Die Heindel-”Rosenkreuzer” waren sogar bereit, zeitbedingte “Formulierungsschwächen” zuzugestehen, und das tun im anthroposophischen Lager allenfalls “liberale” Geister. Da heißt es:

    “Die Rosenkreuzer-Philosophie wurde 1909 veröffentlicht. Die von Max Heindel angeführte Beispiele [sic!] wurden aus dieser Ära entnommen. Die im Text benutzten Worte und dort angeführten Definitionen stammen aus dem frühen 20. Jahrhundert. Aus diesem Grund riefen Aussagen aus diesem Kapitel XIII Unbehagen hervor (und stießen sogar auf Ablehnung). Als ein Resultat der Entstehungszeit sollten uns diese Formulierungsschwächen aus heutiger Sicht jedoch nicht von der eigentlichen Botschaft ablenken…” (Addendum C, Fußnote zu Kapitel XIII, in: Max Heindel: Die Weltanschauung der Rosenkreuzer oder Mystisches Christentum (1909), Sils-Maria 2003, S. 704ff.)

    Max Heindel (1865-1919)

    …die freilich humanistisch sei und sich ähnlich liest wie diejenige Steiners. In den deutschen Neuausgaben der Werke Helena Blavatskys, der bedeutendsten Gestalt der modernen Esoterik überhaupt, finden sich ebenfalls solche Anmerkungen, sogar in sehr ausführlicher Form (vgl. Hank Troemel: „Zur Sprache der Theosophie: Missverständnis und Missbrauch“, in: Helena Petrowna Blavatsky: „Die Geheimlehre“, Neuübersetzung, Adyar Theosophische Verlags-GmbH, Satteldorf 1999 – auch dieser Aufsatz trägt aber unübersehbar apologetische Züge).

    Ein solch erlösendes Wort fehlt von seiten der GA-Herausgeber, es fehlt von seiten der Verantwortlichen in den Anthroposophischen Landesgesellschaften ebenso wie von Seiten des “Bundes der Freien Waldorfschulen”. Einzig von seiten der Anthroposophischen Gesellschaft in den Niederlanden, der “Flensburger Hefte” und der Zeitschrift “Info3″ liegt wenigstens irgendeine Distanzierung vor.  Stattdessen finden sich in dem  besprochenen Kommentar bekannte Formen anthroposophischen Personenkults: Es fällt auf, dass im Kommentar kein einziges Mal die Rede von “Steiner” ist, es wird durchgängig der volle Name “Rudolf Steiner” genannt. Dazu hat sich auch Taja Gut, selbst Mitarbeiter des Rudolf-Steiner-Verlags, in seiner epochalen Streitschrift geäußert, und eine religiös inbrünstige Steiner-Ehrfurcht vermutet:

    “Eine bestimmte, zeitbedingte Art von Ehrfurcht. Ich meine das keineswegs sarkastisch … Die sich beispielsweise in solchen Absurditäten äußert, dass selbst weltoffene Anthroposophen es nicht übers Herz bringen, einfach Steiner zu sagen oder zu schreiben. Stets: Rudolf Steiner, Rudolf Steiner – und wenn der Name zehnmal hintereinander genannt wird.” (Taja Gut: Wie hast du’s mit der Anthroposophie?, Dornach 2010, S. 52)

    Ein zusammenfassendes Urteil der Kommentierung kann leider nicht anders lauten als: unzureichend. Vereinbart mit der BPjM war ein Kommentar, der sicherstellt, „dass die Rassen diskriminierenden Äußerungen auch von Jugendlichen eingeordnet und kritisch betrachtet werden können.“ (BPjM, a.a.O.). Ich persönlich halte es, nebenbei gesagt, entweder für beleidigend oder albern, zu glauben, Jugendliche seien für eine so hochgradig verstiegene und auf über hundert Jahre alten okkultistischen Prämissen gebaute Rassenlehre besonders empfänglich. Ich würde auch im Gegenteil fordern, solche Stellen keineswegs von Waldorfschulen fernzuhalten, ganz im Gegenteil: Waldorfschulen sollten sich mit diesen Rassentheorien auseinandersetzen und dies durchaus auch im Geschichtsunterricht o.ä. diskutieren. Anders lässt sich ein kritischer Umgang in meinen Augen nicht herstellen. An meine (damaligen) 11.-Klässler-Ohren gelangte das Indizierungsverfahren 2007 übrigens, als ein Lehrer (der offenbar kein Anthroposoph war) am Ende seiner Stunde Kopien des (im Grunde schlechten) Spiegelartikels “Die Lehre von Atlantis” austeilte. Auf meine Bitte hin besprachen wir diesen Artikel und die beiden von der BPjM unter die Lupe genommenen Bücher daraufhin immerhin eine Stunde lang im Ethik-Unterricht. Das war für mich eine der ersten kritischen Auseinandersetzungen mit Steiners Rassenlehre, die ausführlicher 2008 stattfanden. Von diesem Standpunkt aus hielte ich ein eventuelles Verbot der BPjM für destruktiv,  es würde eine solche Auseinandersetzung im Waldorf-Umfeld blockieren bis verhindern. An Waldorflehrer_innen und -eltern in der Leserschaft kann ich nur apellieren, diese Texte wahrzunehmen und zum Thema zu machen!

    Nichtsdestominder ist die Kommentierung der neu erschienenen GA 107 inhaltlich (leider!) schlicht falsch und gewährleistet keineswegs, dass Jugendliche oder irgendjemand anderes Steiners Rassentheorien auf ihrer Basis einordnen oder gar “kritisch” betrachten können oder werden.
    Noch steht das Erscheinen des zweiten von der BPjM unter Kommentarzwang gestellten Buchs, Band 121 der Steiner-Gesamtausgabe, aus. Von dessen Kommentierung erhoffe ich mir inzwischen reichlich wenig, jedoch wäre es förderlich, wenn die Verantwortlichen wenigstens nicht dieselben offensichtlichen Fehler machen: Die fünf oben angeführten “Entlastungsargumente” sind seit Jahren bekannt (und problematisiert worden), Vortragstitel sollten nicht ohne Begründung umbenannt werden, wenn nebenan überdies steht, dass dieser Titel von Steiner stamme.


    Einsortiert unter:Anthroposophie & Rassismus

    Ode an Andreas Lichte – die Gute Fee der Anthroposophie-Kritik

    $
    0
    0

    AnthroposophInnen und ihre KritikerInnen trennt eine Menge, und eins verbindet sie: Beide werfen sich gern gegenseitig inhaltliche Fehler und falsche Argumentationen vor (für alle Fälle haben sie dabei gute Freunde, die Anwälte, die den Debattengegner in die Schranken weisen). Ich werfe beiden beides vor, und habe deswegen mit beiden gelegentlich so meine Schwierigkeiten.
    In einem offenbar wahrlich fiesen und garstig satirischen Artikel habe ich das hier beispielsweise vor einer Woche mit dem arg- und wehrlosen Anthro-Kritiker Andreas Lichte getan (der nach meinen ausführlichen Recherchen in der Akasha-Chronik nebenberuflich als Gute Fee der Anthroposophiekritik arbeitet). Andreas meldete sich promt mit mehreren Samstag-Morgen-Anrufen (seltsamerweise bei meiner Mutter) und im Folgenden wiederholt mit dem Hinweis per Mail, in dem Artikel fänden sich “falsche Tatsachenbehauptungen”. Allerdings überlies er es mir, herauszufinden, welche das waren und noch sein könnten.

    Da Andreas also scheinbar sehr daran gelegen ist, dass dieser Artikel hier nicht steht, und mir sehr wenig an nervigem Gezanke ohne Substanz (worum es übrigens auch im Artikel ging), habe ich ihn rausgenommen und durch diesen diabolisch-denunziatorischen Kommentar ersetzt. Viel Spaß noch! ;)

    Andreas Lichte in "hoffnungsvoller Pose", hundsgemeine Karikatur von Hundsfaschist Michael Eggert.


    Einsortiert unter:Andreas Lichte

    Anthroposophische Geschichtsschreibung: Fundierte Daten, falsche Motivation?

    $
    0
    0

    “Für den wirklichen Menschen aber geht die eigentliche Grenze auch quer durch die Welt der Ideen. Freilich, mancher, der sich in der Welt der Dinge damit begnügt, sie zu erfahren und zu gebrauchen, hat sich einen Ideen-Anbau oder Überbau aufgerichtet, darin er vor der Anwandlung der Nichtigkeit Zuflucht findet. Er legt das Kleid des üblen Alltags an der Schwelle ab, hüllt sich in reines Linnen und erlabt sich am Anblick des Urseienden oder Seinsollenden, an dem sein Leben keinen Anteil hat. Auch mag ihm wohltun, es zu verkünden … Die edelste Fiktion ist ein Fetisch, die erhabenste Fiktivgesinnung ist ein Laster. Die Ideen thronen ebensowenig über unseren Köpfen, wie sie in ihnen hausen; sie wandeln unter uns und treten uns an.”
    (Martin Buber: Ich und Du (1923), Stuttgart 1995, 14)

    “Anthroposophie in Geschichte und Gegenwart” – vollmundig und selbstbewusst kommt der Titel eines Buches daher, das kürzlich im Berliner Wissenschaftsverlag erschien. Der Titel ist offensichtlich an das evangelische Standard-Handbuch “Religion in Geschichte und Gegenwart” angelehnt, das Cover erinnert optisch an Helmut Zanders “Anthroposophie in Deutschland” von 2007. Die Herausgeberin, Rahel Uhlenhoff, ist bekannt vor allem als Autorin der liberal-anthroposophischen Zeitschrift Info3 und als eloquent auftretende Aktivistin für das Bedingungslose Grundeinkommen (es gibt ein paar sehr schöne Youtube-Videos von ihren Vorträgen). In 15 ausführlichen Beiträgen von insgesamt 800 Seiten kommen einige der fundiertesten und weitsichtigsten anthroposophischen PublizistInnen und ForscherInnen wie Robin Schmidt, Günther Röschert und Uwe Werner zu Wort. Andere, wie Andreas Hantscher oder Bernhard Schmalenbach, sind gegenwärtig im akademischen Kontext tätig – wieder andere, wie Michaela Glöckler, Wolfgang Schad oder Johannes Kiersch, sind prominente Vertreter der anthroposophischen Szene.

    In einem Geleitwort spricht sich Arthur Zajonc, Anthroposoph und Professor für Quantenphysik am renommierten Amherst College (Massachusetts), nahezu begeistert aus:

    “Die wissenschaftliche Qualität der Beiträge und die umfangreiche Fachkenntnis der Autoren wird dieses zu einem für die kommenden Jahrzehnte maßgebenden Werk machen. … Durch das Spektrum der Aufsätze gelangt man dazu, die Einsichten Rudolf Steiners, den Kontext der Genese der Anthroposophie im frühen 20. Jahrhundert sowie ihrer Anwendung in den Jahrzehnten nach seinem Tod zu würdigen.” (S. 7)

    Offenbar ist man bemüht, das Buch gleich mit dem Erscheinen zu einem Standardwerk zu machen. Und dazu hat  zumindest die Themenauswahl das Zeug! Die große Stärke der Beiträge liegt meiner Einschätzung nach keineswegs im ersten (“Genese”), dafür aber im letzten  der von Zajonc genannten Punkte: Die Entwicklungen der anthroposophischen Entwürfe nach Steiners Tod. Christoph Strawe trägt hier zum Beispiel wichtige Stichworte und Wirkungsbereiche der “Sozialen Dreigliederung” zusammen (S. 671-689), auch die zwar wennigen, aber gehaltvollen Zeilen von Johannes Kiersch zur Entwicklung der Waldorfpädagogik  (S. 450-464) will man nicht missen. Besonders dicht ist der Beitrag von Robin Schmidt: Anthroposophie – eine Übersicht zu ihrer Geschichte (S. 333-384). Es handelt sich um nüchterne und sehr gute Nachzeichnungen historischer Entwicklungen. Auf die Aufsätze in Uhlenhoffs Sammelband, die die anthroposophischen Praxisfelder, Kunst, Waldorfpädagogik, Medizin, Heilpädagogik, Landwirtschaft eingehen, komme ich in diesem Artikel aus Platzgründen leider nicht zurück, vielleicht nehme ich sie mir zu konkretem Anlass hier noch einmal ausführlicher vor. Sie bieten ausnahmslos gute Überblicke mit interessanten Interpretationen der anthroposophischen Theorie – deren problematischen Implikationen, von Karmalehre und Medizin bis zu typologischen Problemen, begegnen sie, entkommen ihnen aber selbst nicht immer.

    Blavatsky: Flucht vor “dem Ich” in “den Osten”?

    Ein bisschen unglücklich geraten ist dagegen der Aufsatz von Andreas Hantscher über “Rudolf Steiners Anthroposophie und ihr Verhältnis zur Theosophie”. Steiner, der bis 1913 Generalsekretär der Theosophischen Gesellschaft in Deutschland war, grenzte sich nachher von ebenjener ab und gab seine esoterische Weltanschauung als völlig eigenständig errungene “übersinnliche Forschung” aus, obwohl sie in der Außenperspektive in fast sämtlichen Grundlagen mit theosophischen Positionen lückenlos übereinstimmt. Das lassen AnthroposophInnen natürlich ungern auf sich sitzen – sie betonen vor allem Steiners eigenständigen erkenntnistheoretischen Standpunkt vor dessen Wende zur Theosophie, dem er auch durch seine theosophischen Phase treu geblieben sei. Andreas Hantscher nun versucht, Steiner vom theosophischen Umfeld abzuheben. Dabei entsteht eine historisch fundierte Beschreibung der immens produktiven theosophischen “Szene” und Geschichte. Aber es finden sich mit leidiger Regelmäßigkeit und Redundanz Stellen, in denen die Gründer-Ikone der Theosophen, die Okkultistin Helena Blavatsky, auf unfaire Weise denunziert wird. Da wird etwa die angeblich “geschwätzige, angelesene, aber unverdaute ‘Gelehrsamkeit’ der allermeisten theosophischen Bücher” kritisiert (S.302) – hier wäre Hantscher zu empfehlen, mal einen Blick in die ähnlich einzuordnende Literatur von Steiner-Epigonen zu werden! Hantscher schreibt von der vermeintlichen “Unfähigkeit” der Theosophie, “klare Unterscheidungen zu machen”, dass sie “zwischen buddhistischen, hinduistischen und (darauf bezogen z.T. neutralen) Yoga- und Tantra-Termini herumlaviert”, so dass es “völlig unmöglich” sei, “zu definieren, was unter diesen Begriffen zu verstehen ist, da verschiedene theosophische Autoren zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Werken jeweils etwas andere Vorstellungen mit den jeweiligen Termini verbinden” (S. 319). Willkommen in der Welt der Meinungsfreiheit! Schließlich wird Blavatsky vorgeworfen, das theosophische Gedankengebäude sei aus einem Mangel an Ichbewusstsein (!) entstanden: Sie habe versucht, “dem Ich und dessen Verpflichtung zur Übernahme von Verantwortung ein Schnippchen zu schlagen.” (S. 300) und sei deswegen (?!) “schließlich in fernöstliche Gefilde” abgedriftet. In Hantschers Text manifestiert sich einmal mehr eine anthroposophische Völkerpsychologie, die der kitschigen und kaum zutreffenden Vorstellung vom “ich-losen”, kulturevolutionär zurückgebliebenen Osten und dem “ich-bewussten”, avantgardistischen Westen huldigt. Einfallsloserweise wird “die” Anthroposophie als “westliches” System gedacht und dann “die” Theosophie, trotzdem ihre diversen Spielarten Hantscher gegenwärtig sind, dem ichlosen “Osten” zugeschlagen.

    Das ist nicht der Fall. Blavatskys Theoreme waren so wenig östlich wie diejenigen anderer Theosophen: Die heute für genuin theosophisch gehaltene Evolutionstheorie, in der verschiedene “Rassen” einander evolutionär beerben sollten, verdankte sie nicht dem Hinduismus, sondern dem martinistischen Esoteriker Fabre d’Olivet (vgl. Jenseits der Namen, Licht, mehr Licht!), die esoterischen Grundlagen und meditativen Schulungswege hingegen stammten aus dem “animalischen Magnetismus” Franz Anton Mesmers, dessen Versuch, hypnotisch auf organische “Lebenskräfte” zuzugreifen, in Europa zu einer Revitalisierung von Meditationstechniken geführt hatte (vgl. die sehr empathisch und transzendenzoffen geschriebene Habilitationsschrift von Karl Baier: Meditation und Moderne). Blavatsky und Olcott verschleierten die mesmeristischen Traditionen allerdings mit Hindu- und Yoga-Termini. Sie alle passen aber letztlich ebenso stringent (oder nicht-stringent) zusammen wie der Weltanschauungskosmos Steiners, und wenn TheosophInnen flexibler und freilassender mit ihren Termini umgingen, ist das wahrlich kein Kompliment für AnthroposophInnen – in deren Umfeld beginnt man erst seit wenigen Jahren verstärkt, in Dialog mit jungianischen oder “integralen” Weltanschauungsgebilden zu treten. Dieser verdrehten Wertung Hantschers steht aber eine solide Datenbasis gegenüber: Er bietet nicht nur interessante Übersichten über Kongruenzen und Differenzen kabbalistischer, hinduistischer und theosophischer Systeme, sondern unterfüttert seinen Beitrag auch mit wertvollen Literaturhinweisen. Wer seine Wertungen mit Vorsicht liest, kann dem Beitrag zweifellos einige Informationen entnehmen.

    Äther, die Osterinsel und BSE

    Eine gute thematische Orientierung bietet Wolfgang Schad, emeritierter Professor für Evolutionsbiologie der anthroposophischen Hochschulgründung Witten-Herdecke. Er untersucht Steiners Haltung zu den Naturwissenschaften, wobei er klarstellt, dass “Steiner hier nicht zum Naturwissenschaftler umstilisiert werden” soll (S. 168). Er habe sich in “manchen Facetten der Naturwissenschaft” gut ausgekannt, wenn er auch “in Einzelheiten irrte”. Der Beitrag ist für mich vor allem interessant, weil er einen anthroposophie-immanenten Umgang mit diesen Irrtümern Steiners zu liefern versucht: Schad beleuchtet etwa Steiners Schilderungen einer “kosmischen” Evolution. In Steiners Weltbild hat sich die Erde aus “übersinnlichen” Welten heraus erst zu ihrer heutigen Gestalt verdichtet, was der Esoteriker mit zahlreichen Details anreicherte. So meinte Steiner, wie Schad ausführt, “dass die Pflanzen der Karbonzeit keine physischen Pflanzen gewesen seien, sondern, was so aussieht, seien nur hauchartige Eindrücke von Ätherwirkungen [sprich: "übersinnlich"-subtilen "Lebenskräften" - AM] in einem undifferenzierten Kohlebrei.” (S. 156, vgl. Steiner: GA 300). Das kann und muss Schad als Evolutionsbiologe kritisieren:

    “Wer selbst einmal im Karbongestein Pflanzenfossilien gesammelt hat, kann sich leicht davon überzeugen, dass es sich einst um reale, physisch lebendige Pflanzenfossilien gehandelt hat. Im Mikroskop ist die Zellstruktur der Pflanzengewebe noch gut zu erkennen … auch schon fossile Amphibien und erste Reptilien sind aus dem Karbon gut bekannt.” (ebd.)

    Schad nun deutet Steiners Irrtümer auf dessen meditativ-kontemplativen Versuch, botanische und evolutionsgeschichtliche Zusammenhänge zu ordnen: “Nicht immer gelang es ihm, sinnliche Erfahrung und [spekulativ-meditatives - AM] Denken zur Deckung zu bringen.” (ebd.). Schad trägt auch Äußerungen Steiners über die potentielle  Fehlbarkeit “höherer Erkenntnis” zusammen, von denen viele bisher nicht oder selten diskutiert wurden.

    “Das wohl prosaischste Beispiel, wo Steiner sich irrte, findet sich in einem späten Vortrag (28.11.1922) in der Bemerkung, dass durch schwere Stürme im Südpazifik die Osterinsel untergegangen sei … Sie steht heute noch. Im September 1922 fand ein großes Seebeben im Pazifik tatsächlich statt, die Weltpresse meldete jedoch irrtümlich den Untergang der Osterinsel.” (S. 152)

    Dass “geistige Erfahrung” weder Irrtumsfreiheit noch meta-historisches Wissen bedeutet, ist eine Botschaft, die sich im anthroposophischen Kontext leider noch nicht durchgesetzt hat. Unkritische Verehrer verteidigen jede noch so abwegige Äußerung Steiners, und es ist außerordentlich erleichternd, dass Schad hier an Einzelheiten das Gegenteil bietet. Er will allerdings auch aufzeigen, wo ein anthroposophisch-”ganzheitlicher” Zugang die heutige Naturwissenschaft bereichern könne. Dabei bemüht er – neben vielem anderen! – folgende Anekdote:

    “1923 sagte er [Steiner - AM] unschwer voraus, dass pflanzenfressende Tiere wie unsere Hausrinder, wenn sie vorwiegend mit Fleischnahrung gefüttert würden, gehirnkrank würden … Um 1980 war es dann soweit. Aus der Tierindustrie anfallende Fleischreste wurden zu Tiermehl verarbeitet … Im Gehirn der Tiere reicherten sich nicht mehr abbaubares Eiweiß und Harnsäure an. Der Rinderwahnsinn (Bovine Spongiforme Enzephalopathie, BSE) brach aus.” (S. 159).

    Eine hellsichtige Prognose Steiners? Wer im Original nachliest, kann unschwer feststellen, dass Steiner zwar wortwörtlich von “verrückt” werdenden Ochsen sprach, aber nicht davon ausging, diesen würde jemals industriell Fleisch verfüttert werden. Es handelte sich bloß um eine Spekulation nach dem Motto, was wohl geschehen würde, wenn es “dem Ochsen auf einmal einfiele”, Fleisch zu essen:

    “Nun denken Sie sich, diesem Ochsen fiele es auf einmal ein, zu sagen: Das ist mir zu langweilig, daß ich da herumgehen und mir erst diese Pflanzen abbeißen soll. Das kann für mich ein anderes Vieh machen. Ich fresse gleich dieses Vieh! Nun schön, der Ochse würde anfangen Fleisch zu fressen. Aber er kann doch das Fleisch selber erzeugen. Er hat die Kräfte dazu in sich. Was geschieht also, wenn er statt Pflanzen Fleisch direkt frißt? … Diese Kraft, die bleibt bei ihm, die ist ja da. Die tut etwas anderes in ihm. Und das, was sie tut, das erzeugt in ihm allerlei Unrat.” (Steiner: GA 348, S. 258)

    Die Ursache für den Wahnsinn sah Steiner also in einer diffusen “Kraft”, die bei fleischessenden Ochsen ungenutzt bliebe und sich zu dessen Schaden irgendwie verselbstständige und “Unrat”, genauer “namentlich … Harnsäure und … Harnsäuresalze” produziere. Schad macht es sich zu einfach, wenn er an diesem oder anderen Beispielen “Treffer” für Steiners hellsichtige “Schau” diagnostiziert. Er macht sich allerdings, das muss auch gesagt werdern, auch keine Illusionen über ausbleibende Effekte mancher Steinerscher Diagnosen:

    “Anders verliefen die Versuche, nach Angaben Steiners die Maul- und Klauenseuche beim Rind mit Injektionen von Coffea (Kaffee) zu beherrschen. Sie führten bis heute zu keinem sichtbaren Erfolg. – Ähnlich erfolglos blieben die Versuche der Unkraut- und Mäusebekämpfung durch den von Steiner empfohlenen “Samen- oder Mäusepfeffer”. Mit der Begründung der biologisch-dynamischen Landwirtschaft 1924 durch den ‘Landwirtschaftlichen Kurs’ ist Steiner allerdings Vorreiter der biologischen Landwirtschaft gewesen …” (Schad, S. 160)

    … was zweifelosohne stimmt. Allerdings weist Manfred Klett in seinem Beitrag für Uhlenhoffs Sammelband: “Landwirtschaft und Anthroposophie. Der biologisch-dynamische Landbau”, darauf hin, dass es vor allem gesellschaftliche “Spannungen” und die Industrialisierung der Agrarwirtschaft waren, die (neben traditionellen Vorstellungen vom “Organismus” Landbau) zu Steiners Zeiten zu ökologischen Bestrebungen führten, nicht (nur) ein selbstloser Rekurs auf eine bedrohte Natur (S. 616).

    Hadesfahrt

    Schad, Hantscher und andere Autoren heben vor allem auf die Inhalte von Steiners “Geistesschau” hervor. Dem steht ein Aufsatz von David Marc Hoffmann gegenüber: “Rudolf Steiners Hadesfahrt und Damaskuserlebnis”, der die weltanschaulichen Kehren Steiners spiegelt – von Goethe über Nietzsche zum Anarchismus und schließlich zur Theosophie/Anthroposophie. Hoffmann schaltet immer wieder methodische Zwischenüberlegungen ein – etwa zur “Deutungshoheit” des Interpreten, oder zum Stellen- und Informationswert von Steiners eigener Autobiographie “Mein Lebensgang” für die Deutung seiner Biographie:

    “‘Mein Lebensgang’ wird hier nicht als Quelle für die darin beschriebene Zeit angeführt, sondern allenfalls für die Position und Sichtweise, die Steiner retrospektiv, d.h. zur Abfassung von ‘Mein Lebensgang’ auf sein früheres Leben hatte … Kein Autor kann gegenüber einem Interpreten die Deutungshoheit über sein eigenes Werk beanspruchen. Der Autor ist Anwalt seiner eigenen Sache … Nur kann er nicht beanspruchen, zu zeigen, ‘wie es eigentlich gewesen’ ist. Oder besser: Wir als Forschende sind ihm in seiner Selbstdeutung nicht zu folgen verpflichtet, sondern wollen auch diese Selbstdeutung als einen Teil unseres Verständnisses dieses Autors lesen.” (Hoffmann, S. 91)

    Das sind, Hoffmann sagt es selbst, “Grundregeln” der Hermeneutik, aber diese wurden in der biographischen Steinerforschung selten eingehalten: AnthroposophInnen ging es um Apologie der Steinerschen Selbstdeutung, KritikerInnen darum, ebendiese zu brechen (dem lag allerdings weniger “bösartige” Motivation zugrunde als vielmehr der verzweifelte Versuch, Aussagen Steiners seinen Epigonenen gegenüber zur Diskussion stellen zu können). Mit Genugtuung lesen sich entsprechend Hoffmanns Darlegungen über Steiners intellektuelle Biographie, die er an Wandel und Kontinuität erkenntnistheoretischer Positionen nachzeichnet. Steiners zündende Erfahrung für seine Wende zur Esoterik, eine Art angebliches “Damaskuserlebnis”, bei dem ihm nach eigener Einschätzung “die christlichen Mysterien auf”gingen, deutet Hoffmann, ähnlich wie vor ihm Janos Darvas, als die (Wieder)entdeckung einer mystischen Erlebnisdimension, die als eine solche nur erfahren werden konnte, weil Steiner als Nietzsche-Anhänger und dezidierter Feind des Christentums derartige Zusammenhänge vorher ausgeblendet habe (S. 112).

    “Deshalb sollten anthroposophische und nichtanthroposophische Forscher sich auf die Deutung von Sachverhalten und ihren allfälligen Widersprüchen konzentrieren, anstatt diese Widersprüche entweder harmonisierend zu glätten oder verurteilend anzuklagen. Beides wäre ein Akt der Weltanschauung oder Ideologie, jedenfalls nicht der Hermeneutik.“  (S. 119f.)

    Die genauen Thesen hier wiederzugeben, würde leider selbst den Rahmen dieses verschwenderisch ausführlichen Blogs sprengen, ich kann nur eine Lektüre empfehlen – und die wärmstens: Hoffmanns Beitrag setzt einen neuen Maßstab in dieser Diskussion! Kritisch anzumerken wäre, dass er Steiners philosophischen Gang von Goethe zu Nietzsche nicht selbst in ihren historischen Kontext setzt: Die beiden wirkten schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts als zwei Pole einer deutschen “Nationalreligion” (Vgl.  Myriam Richter; Bernd Hamacher: Germanen, Christen, Juden, Germanisten. Goethe um 1900 – National- und/oder Weltreligion, in: Jahrbuch der Rückert-Gesellschaft, Bd. XVII 2006/2007, S. 234ff.). Und innerhalb derer bewegte sich  auch Steiner – mit individuellen Anknüpfungspunkten  – in seiner “vortheosophischen” Phase.

    Einen Schwerpunktbeitrag zu Steiners Christologie liefert auch Günther Röschert (unter dem Titel: “Die Entstehung der anthroposophischen Christologie”). Die ist in ihren Grundlagen fundiert – da er zu “Kontinuität und Wandel” in Steiners intellektueller Entwicklung bereits früher publiziert hat, müsste es sich hier auch um ein Heimspiel handeln. Aber Röschert versteigt sich leider schließlich in Glaubensfragen, die sich jeder Diskussion entziehen und impertinent-inklusivistisch daher kommen:

    “Das reale Wirken des Christus-Impulses in der Menschheit lässt sich aber phänomenologisch abschätzen an der ökumenischen Bewegung und an den verschiedenen interreligiösen Ansätzen. Bis jetzt überwiegt bei christlichen Autoren der interreligiösen Richtung der Gedanke einer Reduktion der Chistozentrik zugunsten einer allgemein-menschlichen Theozentrik. Vom Gesichtspunkt der anthroposophischen Christologie kann es nicht um Reduktion, d.h. um den kleinsten gemeinsamen Nenner in der Welt der Religionen gehen, sondern um die Anerkennung des Christus-Impulses jenseits jeder kirchlichen Dogmatik, ja selbst unabhängig von der theologischen Terminologie.” (Röschert, S. 282)

    Das ist vergleichbar mit den Vordenkern des Neohinduismus von Ramakrishna über Tagore bis Aurobindo: Auch die legten großen Wert auf Interreligiosität durch Freilegung suprareligiösen spirituellen Impulses. Dass es sich bei diesem um einen alle Religionen durchdringenden hinduistischen “Impuls” handeln müsse, setzten sie wie selbstverständlich voraus. Christian Grauer hat in seinem kürzlich publizierten autobiographischen Meinungsbeitrag zur anthroposophischen Szene die hermetische Geschlossenheit eines solchen christozentrisch-anthroposophischen Glaubensgerüstes beschrieben:

    “In meiner anthroposophischen Überzeugung formte sich die Welt zu einer kompakten, geschlossenen Veranstaltung … Meine Aufgabe als Mensch war es also, jene geistige Welt wiederzuentdecken, zu welcher wieder aufzusteigen uns Christus die Möglichkeit geschaffen hatte. In dieser Wiederverbindung mit der geistigen Welt begriff ich den Inhalt des Wortes ‘Religion’ in einem tatsächlich konfessionsfreien, überreligiösen Sinne – mit der Einschränkung, dass Christus und das ‘Mysterium von Golgatha’ nicht zur Diskussion standen. Ob einer daran glaubte oder nicht, war für die Mission des Christusereignisses nicht von Bedeutung. Es vollzog sich unabhängig von Religion. Ich machte so mit der Anthroposophie letztlich alle Menschen zu Christen, nur dass die einen davon wussten, die anderen aber nicht. Der diskriminierende Charakter eines solchen Begriffs des Christentums fiel mir nicht auf.” (Christian Grauer: Es gibt keinen Gott, und das bin ich! Anthroposophie im Nadelöhr, Basel 2011, 29)

    Es zandert wieder weiter

    Es gibt neben Meilensteinen wie den Beiträgen von Hoffmann oder hilfreichen Orientierungen wie bei Robin Schmidt  und Christoph Strawe auch seltsame Defizite an Uhlenhoffs Sammelband: Man fragt sich, warum kein Beitrag zu Steiners Eurythmie oder zur anthroposophienahen Kirche der “Christengemeinschaft” enthalten ist. Sollen deutlich “religiöse” Züge der Anthroposophie in diesem angestrebten “Standardwerk” einfach ausgeblendet werden? Das zentrale und ausgesprochen unerwartete Defizit ist dagegen keine Auslassung, sondern eine Überpräsenz. Die Überpräsenz des Religionswissenschaftlers Helmut Zander, inzwischen Professor in Freiburg (Schweiz). Der hat 2007 tatsächlich ein Standardwerk zur Anthroposophie vorgelegt, indem er die Anthroposophie zum ersten Mal vollständig historisch zu kontextualisieren beanspruchte. Sein Buch mit dem Titel “Anthroposophie in Deutschland” liest Steiner im historischen Kontext und zeigt auf 2000 Seiten, warum es Steiner seinerzeit plausibel schien, seine Weltanschauung so und nicht anders zu konzipieren.

    Die AutorInnen des Sammelbandes beschäftigen sich nun auf langen Passagen vieler Aufsätze damit, Zanders Untersuchungen zu kritisieren oder scheinbar rückgängig machen zu wollen. Sie beanspruchen zwar meistens selbst, Steiner historisch zu kontextualisieren, aber gewissermaßen “nur ein bisschen”: Die anthroposophische Steinerdeutung soll dabei nicht in Frage gestellt werden. Zanders Buch zieht sich denn auch durch die Fußnoten einiger Beiträge wie deren heimliche Konstruktionsanleitung. Dabei werden berechtigte Punkte ebenso angesprochen wie solche, an denen die historisch-kritische Methode scheitern muss. Die zentrale Kritik im Beitrag von Glöckler/Girke/Matthes etwa, Zander erfasse “die Welt des Lebendigen, Seelischen, Geistigen nicht”, wenn er sich auf kalte historische Dokumente konzentriere, ist zweifellos richtig. Nur ist das auch nicht im Mindesten die Aufgabe eines Historikers, der nunmal nicht mit allerlei “geistigen” Kräften, Engeln und Dämonen, sondern reichlich weltlichen Dokumenten und Quellenrecherchen zu tun hat. Ralf Sonnenberg hat auch aus anthroposophischer Sicht begründet, warum ein historisch-kritischer Zugang zu Steiner unabdingbar ist:

    “Wer allerdings die Möglichkeiten des an das Verstandesdenken geknüpften Forschens, Fragens und Deutens geringschätzt, diese nicht soweit wie möglich auszuschöpfen trachtet und stattdessen darauf hinarbeitet, möglichst schnell zu »höheren« Einsichten vorzustoßen, der gleicht einem Heilpraktiker, der die Anwendung schuldmedizinischer Wissensinhalte und Methoden mit der Begründung verschmäht, dass diese auf einer reduktionistischen Wahrnehmung des Menschen aufbauten. Welcher Patient aber würde sich von einem solchen Dilettanten den Blinddarm operieren lassen?” (Vergangenheit, die nicht vergehen will) Der Umgang mit der Anthroposophie verlöre so “an Bodenhaftung. Er gliche dann einem Gebäude, das man von oben nach unten bauen wollte.” (Sonnenberg: Metahistorisches oder zeitunabhängiges Wissen?, in Ders: Anthroposophie und Judentum, 26)

    So hinterlassen die meisten versuchten Gegenmodelle zu Zanders historischer Kontextualisierung denn auch einen ziemlich hilflosen Eindruck. Manfred Klett schreibt in seinem Beitrag über die anthroposophische (“biologisch-dynamische”) Landwirtschaft für Uhlenhoffs Sammelband zum Beispiel:

    “Da Zander keinen Zugang zu den Inhalten des Landwirtschaftlichen Kurses Steiners hat und diesen auch nicht sucht, ist ihm jedes Mittel recht, das Hervortreten der anthroposophisch orientierten Landwirtschaft aus Bestrebungen herzuleiten, die etwas früher oder zeitgleich aufgetreten sind: die Landkommunen-, Bodenreform-, Ernährungsreform, Siedlungs- und Grünlandbewegung etc. Diese kausale Verortung steht auf dünnstem Eis und legt aufs Neue das Dilemma von Zanders kontextualistisch-historiografischer Beurteilung des biologisch-dynamischen Landbaus offen.” (Manfred Klett, S. 626)

    Warum das so sei und worin genau dieses Dilemma liege, begründet Klett nicht. Im Gegenteil, im nächsten Satz schreibt er ganz genau das, was er kurz zuvor noch als “dünnstes” Eis bei Zander diffamierte:

    “Es besteht kein Zweifel darüber, dass es im Kleinen – Hofesperimente, Versuchsringe – wie im Großen – die Bewegung des natürlichen Landbaus der 20er- und 30er-Jahre, Konzepte der landwirtschaftlichen Betriebslehre – vielerlei Ansatzpunkte zu einem biologischen Denken und Handeln gab. In dieser Bewusstseinslage standen auch die Pioniere der biologisch-dynamischen Wirtschaftsweise.” (ebd.)

    Na also. Klett legt dann aber großen Wert darauf, dass die Vordenker biologischen Landbaus eigentlich gar keine waren, sondern eigentlich bloß eingebunden “in die Ausläufer des über ein Jahrtausend gewachsenen Organismusprinzips in der Landwirtschaft” (ebd., S. 627). Im Grunde spricht Klett also Steiner die Originalität  weit mehr ab als Zander, der die biologisch-dynamische Landwirtschaft immerhin für eine Reform-, keine 1000 Jahre alte Tradition hält. Die fast sklavische Bindung mancher Stellen des Sammelbandes an eine selbstgewählte Anti-Zander-Rhetorik läuft aber nicht immer auf Eigentore wie dasjenige Kletts hinaus. Etwa im von mir schon besprochenen Beitrag von Uwe Werner: “Rudolf Steiner zu Individuum und Rasse”, der anfang diesen Jahres im Voraus veröffentlicht wurde, aber auch in Uhlenhoffs Sammelband erscheint. Er bietet eines der heimlichen Herzstücke dieses Buches und eine fundierte Diskussion auch vieler Quellenrecherchen Zanders, wie ich noch einmal festhalten muss – ganz unabhängig davon, dass ich zum brisanten Thema der Steinerschen Rassenlehre mit Werners Folgerungen keineswegs übereinstimme (vgl. Wichtige Hinweise – falsche Prämissen).

    Durchgängig geht die Kritik an Zanders Opus davon aus, der Historiker habe “das alles”, namentlich eine ganze Menge grober Fehler, mit Absicht gemacht, um die Anthroposophie anzuschwärzen, Steiner als “potentiellen Lügner” o.ä. darzustellen – und dann kommen Ausführungen, die das belegen sollen, aber meistens überhaupt nicht Zanders eigentliche Darlegungen streifen. Hier seien nur drei Beispiele genannt – es ließen sich, allein in Uhlenhoffs Sammelband – dutzende weitere hinzugesellen.

    I.

    Das erste aus dem Aufsatz von Uwe Werner: Rudolf Steiner zu Individuum und Rasse. Werner beschäftigt sich in seinem absolut lesenswerten Beitrag u.a. mit der Frage, wie viele AnthroposophInnen 1933-1945 in der NSDAP Mitglied waren. Er klärt mit Bezug auf den anthroposophie-kritischen Historiker Peter Staudenmaier auf, dass das nach bisherigem Stand genau 34 Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft betreffe (allerdings keine Anthro-Prominenz). In einer Fußnote moniert Werner, Helmut Zander habe in diesem Punkt dagegen anderslautende, falsche Zahlenmeldungen verbeitet:

    “Zander beurteilte 2007 die Anzahl [an NSDAP-Mitgliedschaften in der Anthroposophischen Gesellschaft - AM] als ‘beträchtlich’, nannte aber ihre Höhe nicht. Vgl. Helmut Zander: Anthroposophie in Deutschland, S. 250. In 2009 spricht Zander sich auf die gleiche Quelle beziehend davon, dass die Zahl ‘massiv nach oben zu korrigieren’ sei. Auch da ohne Nennung der bisher recherchierten Anzahl. Vgl. Zander: Rudolf Steiners  Rassenlehre, S. 154.” (Uwe Werner: Rudolf Steiner zu Individuum und Rasse, ebd., S. 759).

    Jede dieser Behauptungen ist falsch. Zander bezieht sich 2007  mit dem Wort “beträchtlich” nicht auf die NSDAP-Mitgliedschaften, er schreibt an der von Werner zitierten Stelle sogar: “offenbar gab es fast keine Parteimitglieder unter den Anthroposophen” (Zander: Anthroposophie in Deutschland, Göttingen 2007, S. 250). Er  bezieht sich als Quelle für diese Information auf Uwe Werners eigenes Buch von 1999: Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus. Zander fügt das von Werner oben zitierte Wort “beträchtlich”  in einer  Fußnote an (es geht um “Verwandtschaften und Differenzen” mit den Nazis):

    “Ich neige dazu, aufgrund der kursorischen Durchsicht anthroposophischer Zeitschriften, die Werner weniger stark ausgewertet hat, das autoritäre und von daher strukturell NS-nahe Potential für beträchtlich zu halten.” (Zander, ebd.)

    “Beträchtlich” sei also das inneranthroposophische autoritäre Potential gewesen, nicht besagte Mitgliedschaften. Auch 2009, im zweiten von Werner erwähnten Beitrag,  schrieb Zander zunächst keinesfalls, wie Werner behauptet, über eine “massiv nach oben” zu korrigierende NSDAP-Mitgliederzahl in Anthroposophistan. Er bezog sich vielmehr erneut auf Uwe Werners Buch:

    “Ich denke an das im Vergleich mit anderen theosophischen Gesellschaften bemerkenswerte Faktum, daß offenbar wenige Anthroposophen Mitglieder der NSDAP waren.” (Zander: Rudolf Steiners Rassenlehre, S. 149).

    In einem Anhang zu ebendiesem (2009 publizierten und gerade zitierten) Beitrag führt Zander allerdings aus:

    “Das Manuskript wurde im Sommer 2006 abgeschlossen. … Weitere historische Forschungen betreibt Peter Staudenmaier. lhm zufolge ist eine Information in diesem Aufsatz, die Zahl von Anthroposophen in der NSDAP und in nationalsozialistischen Verbänden (s. den Text zu Anm. 18), massiv nach oben zu korrigieren.” (ebd., S. 154).

    Zander bezieht sich also nicht auf “die gleiche Quelle”, sondern auf eine neue, nämlich Peter Staudenmaier. Von dem bezieht aber auch Werner die Zahl der AnthroposophInnen in der NSDAP! Die oben zitierte Aussage Uwe Werners, Zander behaupte mit Berufung auf ein und “dieselbe Quelle” fälschlich immer höhere Zahlen von NSDAP-Anthroposophen, ist von vorne bis hinten falsch – es braucht aber  natürlich viel länger, diese Unterstellung zu widerlegen, als es braucht, sie auszusprechen.

    II.

    Ein anderes Beispiel findet sich im Beitrag des Kunsthistorikers und Steiner-Herausgebers Roland Halfen: “Rudolf Steiner und die bildenden Künste” (auch dieser Beitrag: an sich absolut lesenswert, besonders, weil er die Bedeutung der MitarbeiterInnen Steiners hervorhebt!). Halfen schreibt unter anderem über Steiners Architektur und echauffiert sich berechtigterweise über die Auffassung, charakteristisch für diese sei nichts anderes als eine “abbe-Ecken”-Ästhetik. Halfen:

    “Das triviale Motiv der Vermeidung von rechten Winkeln, ganz gleich ob von Analytikern oder Nachahmern bemüht, ist vor diesem Hintergrund eher ein Ausdruck für die Hilflosigkeit im Versuch, Steiners erhaltene Werke auf eine [sic!] kleinsten gemeinsamen Nenner zu bringen.” (Halfen, S. 413)

    Das ist eine richtige Anmerkung! “Im Wesentlichen”, führt Halfen weiter aus, sei die jeweils konkrete Formgebung eines von Steiner entworfenen Gebäudes “oder Buchumschlags, Eurythmieplakates usw.” aus dem “Zusammenwirken” seiner

    “spezifischen Funktion … und den Umgebungsbedingungen des Werkes [zu erklären], nicht aber aus der Dominanz jeweils anderer persönlicher Einflüsse aus dem Umkreis Rudolf Steiners, wie es Zander gemäß seiner Grundthese den Lesern nahelegen will. So kann er seine Behauptung, der Stil des zweiten Goetheanum sei aus einer Nachahmung von Bauten der Dornacher Anthroposophenkolonie hervorgegangen (Zander: Anthroposophie in Deutschland, Bd. 2, S. 1063), auch mit keinem konkreten Beispiel belegen.” (ebd.)

    Tatsächlich aber differenziert Zander die Deutungen von Steiners Architektur zwischen Kontinuität und Brüchen erheblich. Zu der Metamorphose der Steinerschen Entwürfe von den organisch-fließenden (Erstes Goetheanum) zu stereometrisch-kristallinen Gebäuden (Zweites Goetheanum) schrieb er u.a.., Steiner baute das zweite Goetheanum

    “unter Verzicht auf einen anthroposophischen ‘Stil’, der im Johannesbau  ["erstes" Goetheanum - AM] ausgebildet worden war. Seit 1924 entstand ein neuer Bau mit neuen Bauformen. Aber man muß diesen Neubeginn nicht nur als Traditionsbruch lesen … Denn damit verdeckt sie die Leistung Steiners, der einen zweiten, eigenständigen Bauentwurf für das Goetheanum geliefert hatte.” (Zander 2007, S. 1164) “Gegenüber den Betonelementen in den älteren Bauten auf dem Dornacher Hügel bedeutete der Bau des Goetheanum eine radikalisierte Auseinandersetzung mit dem neuen Material.” (S. 1166) “Andererseits ist klar, daß mit dem Goetheanum im anthroposophischen Raum etwas Neues entstand, und diese Innovation läßt sich nicht mit den versprengten stereometrischen Motiven aus den Vorkriegsjahren erklären.” (S. 1169 - Hervorhebungen AM).

    Der Johannesbau bzw. das "Erste Goetheanum", Bau ab 1914

    Keineswegs also behauptete Zander 2007, Steiners zweites Goetheanum sei aus einer “Nachahmung” seiner früheren Bauten entstanden. Im Gegenteil. Und Zander deutete Steiners offensichtliche Anlehnung an Architekturmerkmale des Expressionismus beim “Zweiten Goetheanum” (vgl. Kreative Fundgrube, Abschnitt “Verleugnete Kontexte”),  auch nicht als Plagiat, sondern Teilnahme an zeitgenössischen Diskursen:

    „Die anthroposophischen Architekten partizipierten an einem kunsttheoretischen Diskurs, den sie kaum steuern konnten, aber mit wachen Augen wahrnahmen. Sie standen mit ihren Bauten zwar nicht in der ersten Reihe der Avantgarde, waren aber ganz nahe am Puls der Zeit.“ (ebd., S. 1177)

    Das "Zweite Goetheanum", heute Sitz der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft

    III.

    Das dritte Beispiel stammt von Uhlenhoff selbst, die Zander einmal mehr, aber in blumig-journalistischem Stil, bösartig-animalische Motive unterstellt. Dessen “scheinbares Auftragsprofil” laute, so Uhlenhoff:

    “Wühlen Sie nur genug in den Details seiner Vergangenheit und den Fußnoten seiner Werke herum, Sie werden schon einen dunklen Fleck finden, und falls nicht, so werden Sie ihm schon genügend Dreck zur öffentlichen Denunziation andichten … irgendein Vorwurf bleibt immer hängen.” (Uhlenhoff, Einleitung, S. 23)

    Das konkretisiert sie an einem Beispiel:

    “Wie ein privater Voyeur oder beruflicher Paparazzo versuchte Zander in Steiners Biographie Liebesaffären mit seinen Mitarbeiterinnen Ita Wegman, Edith Maryon aufzudecken, als gelte es einem prominenten oder Politiker den nächsten Sexskandal anzuhängen. Er kam dann aber zu dem Schluss, dass diese wohl doch platonischer Natur gewesen waren.” (ebd.)

    Zunächst: Zander hat diese “Liebesbeziehung” Steiners zur anthroposophischen Ärztin Ita Wegman nicht erfunden noch aus der Luft oder dem “Dreck” gezogen, sondern sie von dem allgemein anerkannten Ita-Wegman-Biographen Immanuel Zeylmans van Emmichoven übernommen. Der dokumentiert in seiner Wegman-Biographie Liebesbriefe und -gedichte Steiners an und für Wegman, teilweise sogar Faksimiles mit der entsprechenden Originalhandschrift – und wird in Uhlenhoffs Sammelband für diese Arbeit sogar lobend erwähnt (im Beitrag von Michaela Glöckler, Matthias Girke, Harald Matthes: Anthroposophische Medizin und ihr integratives Paradigma, S. 581). Warum also stürzt Uhlenhoff sich nicht auf ihn, statt auf Zander? Beziehungsweise: warum sich deshalb überhaupt auf jemanden stürzen?

    Denn warum eine Liebesbeziehung rufschädigend, gar biographischer “Dreck” sein soll, der “zur öffentlichen Denunziation” (Uhlenhoff) dienen kann, ist mir schleierhaft und allenfalls durch eine prüde anthroposophische Sexualmoral erklärbar. Wie ich an anderer Stelle geschrieben habe (Vgl. “Es einet die Herzen das Karma” – Wichtige Frauen in Rudolf Steiners Leben, in: info3 07-08/2011, S. 42-50), treffen sich AnthroposophInnen in der Konstruktion Steiners als keuschem, asexuellem Heiligen, mit denjenigen unter ihren GegnerInnen, die Steiner ebenfalls für asexuell halten, darin aber die pathologische Verkümmerung eines Humanums sehen. Wie anders aber als asexuell-heilig oder frigide-pathologisch lesen sich Rudolf Steiners Liebesbriefe an Ita Wegman:

    „Du schreibst: ‚Wirst du mich jetzt für immer lieben bleiben?’. Meine liebe Mysa [so Steiners "mystischer" Name für Wegman – AM]: Diese Liebe ruht auf einem unerschütterlichen Fels … Ich konnte zu keinem Menschen so stehen wie zu Dir. Du lernst mich noch ganz anders kennen als andere Menschen mich gekannt haben … das hängt doch damit zusammen, dass ich nur in vollem Eins-Sein mit dir leben möchte. Du bist mir doch so nahe, so nahe in allem. Da tut oft schon der Schein der Ferne weh. Doch Du machst ja auch wieder alles gut. Viele Liebe liegt in deinem Pfingstbriefe … Die geistigen Mächte, deren Ausdruck die Anthroposophie ist, sehen wohlwollend, liebend, wie ich mich stütze nunmehr auf die Liebe, die ich hege zu Deiner von mir so hoch geschätzten Seele. Und die ist mir die stärkste Stütze. Ich möchte gerne weiterschreiben. Doch bald wird das Auto zum Abendvortrag vorfahren, das von hier nach Breslau fast eine Stunde braucht. Allerherzlichste Gedanken ganz Dein Rudolf Steiner“ (Brief vom 11. Juni 1924). „Ich habe mittlerweile von Dir wieder zwei Briefe erhalten, für die ich mich herzlich bedanke … Ja, sehr schön wäre es, wenn ich Dich hier haben könnte, aber – zum wievielten Male muss ich auch mich ermahnen – wir müssen uns in das Notwendige fügen. Mit der Gesundheit werde ich durchhalten. Aber sage nichts von dem Zusammenhang mit dir, meine allerliebste Mysa. So ist das ja doch nicht. Da waltet Karma, und eines, das ich wahrlich nicht anders haben möchte. Allerherzlichste Gedanken, Dein Rudolf Steiner“ (Brief vom 12. Juni, beides zitiert nach Emanuel Zeylmans van Emmichoven: Wer war Ita Wegman? (1990), Dornach 2004, Bd I, S. 207 bzw. 209)

    Das ist weit bewegter und bewegender, als die anthroposophische Dogmatik erlaubt. Ich sehe keinen Grund, solche Äußerungen Steiners als “Dreck” zu verschleiern, sondern halte nur durch ihre Gegenwärtigung einen authentischen Blick auf Steiner für möglich.

    “Anlass, Ansatz, Ausblicke”?

    Die Liste der aus den Fingern gesaugten Kritiken der Zanderschen Anthroposophiedeutung ließe sich, wie gesagt, beliebig fortsetzen, ob an Beispielen aus diesem oder anderen Publikationen. Man denke etwa an Lorenzo Ravaglis schlecht gearbeitetes und  bloß noch anstrengend polemisches Elaborat “Zanders Erzählungen” (vgl. Leitmotiv Zertrümmerung), auf das Uhlenhoff und Wolfgang Schad (in seinem Beitrag: Rudolf Steiners Verhältnis zur Naturwissenschaft, S. 171) auch noch positiv Bezug nehmen – wobei Schad gleichzeitig Ravaglis Vereinfachung der Goetheschen Typenlehre kritisiert (S. 170). Auch Uhlenhoff merkt immerhin an, es sei “schade”, dass Ravagli Zanders “mitunter auch berechtigte Hinweise zur Selbstkritik an der anthroposophische [sic!] Gesellschaftsgeschichte nicht auch aufgreift” (S. 34). Sie greift diese “Hinweise zur Kritik” allerdings selbst kaum auf. “Das kritische Verhalten erschöpft sich im andächtigen Deuten auf den Appell, nichts unkritisch hinzunehmen.” (Taja Gut: Wie hast du’s mit der Anthroposophie?, Dornach 2010, S. 22).

    Die Konsequenzen sind allgemein tragisch und im Einzelfall hinderlich: Uhlenhoff verspielt fast das gesamte Vorwort des Sammelbandes auf diese Weise. Dort wäre doch vielmehr eine inhaltliche Einführung und Gesamtsituierung angebracht, die sie in eindrücklicher Sprache und mit zielsicheren Beobachtungen auch liefert – aber nur auf sieben der insgesamt 43 Seiten ihres Textes (unter der Überschrift: “Anlass”, S. 9-12″ und “Ausblick”, S. 49-51).  Der Rest ihrer Einleitung in den Sammelband stellt eine einzige, überraschend gehässige Zander-Geißelung dar, in der zunächst “auf die mutige Zandersche Pionierleistung” hingewiesen wird (S. 31) um diese anschließend um so heftiger zu diffamieren. Sie nennt allerdings nur zwei Zitatfehler aus Zanders 2ooo-seitigem Buch (S. 25, Fußnote), die diese Vorbehalte nicht ansatzweise rechtfertigen können. Uhlenhoffs Beitrag fällt damit (leider!) weit hinter eine auch inneranthroposophisch längst erreichte Diskussionshöhe zurück (vgl. Ralf Sonnenberg oder Anna-Katharina Dehmelt). Er wirft, gerade, weil er als “Einleitung zu Anlass, Ansatz, Aussagen und Ausblick des Sammelbandes” daher kommt, ein fahles Licht auf ebendiesen Anlass, Ansatz, auf die Aussagen und Ausblicke. Das ist bedauerlich, da gerade Uhlenhoff selbst früher die Hoffnung auf eine  anthroposophische “Wissenschaftsrevolution im Sinne Thomas S. Kuhns” in puncto “Rezeptionsoffenheit und Innovationsfreude”, “Gemeinschaftsbildung und Wissenschaftspolitik” (so Uhlenhoff: Die Annales-Historiker. Exoterische Wegbereiter der Esoterikforschung, in: Karl-Martin Dietz: Esoterik verstehen. Anthroposophische und akademische Esoterikforschung, Stuttgart 2008, 162) artikulierte. Es bleibt ihr und ihrem Anliegen zu wünschen, dass sie sich dem in zukünftigen Beiträgen wieder widmet, es wäre nur von Vorteil.

    Dreigliederung oder: Historizität und Freiheit

    Wieso stilisiert man eine Figur auf diese Art inkorrekterweise zum Gegner und drischt dann auf fiktive Argumente ein? Das ist hier jedenfalls in einem Maße der Fall, dass es kaum Zufall sein kann. Zumindest von Uwe Werner, den ich als Diskussionspartner kenne und außerordentlich schätze, bin ich mir sicher, dass es keine “denunziatorische Absicht” ist, und ich habe auch keinen Grund, dies für andere AutorInnen dieses Sammelbandes anzunehmen. Dennoch liegt die Frage auf der Hand, welches (sozialpsychologische?) Muster zu diesem frappant uniformen Verhalten führt – und dabei gibt es durchaus zentrale Irrtümer und Leerstellen in Zanders Untersuchung, die von den anthroposophischen KritikerInnen Zanders aufgegriffen werden könnten, aber jeweils nur in homöopathischen Dosen geliefert werden (eine Ausnahme sind die Kritikpunkte im Beitrag von Christoph Strawe: Sozialimpulse. Zu Entstehungsbedingungen und Wirkungsgeschichte des Arbeitsansatzes der Dreigliederung des sozialen Organismus, S. 690-696).

    Ein Beispiel sei hier genannt, um daran auch zu demonstrieren, dass und wie man nur durch die konsequente Historisierung von Steiners Entwürfen auch seine Leistungen gegenüber diesem historischen Umfeld würdigen kann: Steiners politische Utopie der “Dreigliederung des Sozialen Organismus”, die der Esoteriker nach dem Ersten Weltkrieg als Entwurf für eine politische, ökonomische und gesellschaftliche Neuordnung ins Spiel bringen wollte. Im vorliegenden Band versucht Christoph Strawe, sie in einer Linie mit Montesquieus “Forderung nach Entflechtung der gesellschaftlichen Strukturen im Ringen um die Eindämmung zentralistisch-hierarchischer Macht” anzusiedeln (ebd., 658). Roland Benedikter, Stiftungsprofessor für Politik- und Kultursoziologie an der University of California (Santa Barbara), versteht sie als eine Theorie der funktionalen Gliederung der Gesellschaft – etwa analog zu Weber oder Durkheim, die in der Ausdifferenzierung und eigenlogischen Funktionsweise verschiedener sozialer Bereiche das Charakteristikum der “Moderne” sahen (vgl. Roland Benedikter, Interview, in: Sozialimpulse 1/11, S. 24). Helmut Zander wiederum vermutete, Steiner sei biographisch angeregt worden: Seine Idee des “Freies Geisteslebens”, das die parallele Existenz verschiedener “Nationalitäten”, also Kulturen, in einem staatlichen “Organismus” einschließen sollte, stamme aus der Vielvölkerpolitik des Habsburger Reichs, in dessen Hauptstadt Wien Steiner seine politische Sozialisation durchlief.

    Ich halte alle drei Tendenzen zwar nicht für falsch, würde aber vorschlagen, den Blick von dort weg und einmal mehr auf die von AnthroposophInnen so ungern gegenwärtigte Theosophie lenken, genauer: Auf den französischen Okkultisten Edouard Schuré, der zugleich inhaltliche Inspiration und meditativer “Schüler” Steiners war. Schuré schrieb in seinem Buch “Die großen Eingeweihten” in den 1880ern zwar nicht über zukünftige politische Ordnungen. Aber er postulierte, die großen Mysterienpriester und “Eingeweihten” untergegangener Kulturen hätten ein dreigliedriges System regiert:

    “Eine dreifache und schiedsrichterliche Regierung, die sich aus drei Kräften zusammensetzt, der ökonomischen, richterlichen und religiösen oder wissenschaftlichen, trat zu allen Zeiten als Folge der Lehre von Eingeweihten auf und machte einen wesentlichen Teil der Religion des alten Zyklus vor Griechenland aus.” (Edouard Schuré: Die großen Eingeweihten, Grafing 2010, übersetzt v. Dr. Edith Zorn, S. 457)
    Schuré beruft sich im Anschluss auf  Yves d’Alveydre, den Schüler und Plagiator des französischen Okkultisten Antoine Fabre d’Olivet (vgl. zu Fabre d’Olivet meinen Artikel Licht mehr Licht ab der Überschrift “Esoterischer Rassismus”). Schuré:
    “Dieser eigenständige Gedanke des M. Saint-Yves ist durchaus beachtenswert. Er nennt es Synarchie oder Regierung aufgrund von Prinzipien. Hierin sieht er das soziale, organische Gesetz, die einzige Hoffnung für das Heil der Zukunft. Es ist hier nicht der Ort, um nachzuprüfen, inwieweit der Autor seine These historisch nachvollzogen hat. M. Saint-Yves liebte es nicht, die Quellen, aus denen er seine Informationen schöpft, anzugeben.” (ebd., 457)

    Schurés Schilderung der synarchistischen Dreiteilung der Regierung in je einen “ökonomischen, richterlichen und religiösen oder wissenschaftlichen” Part, passt auch exakt auf Steiners Entwurf der Sozialen Dreigliederung. Hier gibt es drei soziale “Glieder” mit exakt diesen Bezeichnungen.  Die  Synarchie freilich trat über verschiedene Jahrzehnte und in verschiedenen Zusammenhängen sehr heterogen auf  (vgl. den englischen Wikipedia-Artikel).

    AnthroposophInnen haben auf die synarchistische Bewegung auffallend selten reagiert (etwa Heinz Kloss), die jüngsten Bezugnahmen tauchen in scheinbar rechtsgerichteten, fragwürdig-verschwörungstheoretischen Zusammenhängen und keineswegs mit positiver Wertung auf (Meyer: Die Zertrümmerung Mitteleuropas, vgl. dazu kritisch meinen Artikel “Der Europäer”). Dabei gehen die Parallelen zur Dreigliederungstheorie bis in die anthropologische Begründung hinein:   Yves d’Alveydre behauptete eine Gliederung des Menschen in die drei Systeme: „Ernährung“, „Leben“ und „Denken“. Um die optimale Aufrechterhaltung dieser menschlichen Grundvermögen zu gewährleisten, müsse die Regierung analog gegliedert werden in 1. das “wirtschaftliche Leben” (für “die Ernährung”), 2. die Gesetzgebung und Rechtsprechung  (zum Erhalt des Lebens), 3. die “Richtungsweisende Staatsmacht“, die das Denken der Menschen leiten müsse. Hier wäre dann der politische Ort für “die Eingeweihten” angesiedelt. Bei Steiner werden ebenfalls drei Systeme des menschlichen Organismus postuliert und der Dreigliederung zugrunde gelegt: das  Stoffwechsel-, Rhythmische und Kopfsystem. Und auch bei Steiner resultieren daraus drei “soziale” Glieder: “Wirtschaftsleben”, “Rechtsleben” und “Geistesleben” (das aber nicht dem Kopf-, sondern dem Stoffwechselsystem zugeordnet wird). Ein Zusammenhang zwischen Dreigliederung und Synarchie liegt auf der Hand, und tatsächlich: Steiner war nicht nur D’Alveydres Schüler Papus ein Begriff, er kannte auch die synarchistische Theorie (vgl. die unbelegte Behauptung bei dem tragischen und gern verschwiegenen Pionier der Esoterikforschung James Webb: Das Zeitalter des Irrationalen (1976), Wiesbaden 2008, übersetzt von Marco Frenchkowski, 337f. – Steiner hatte allerdings auch einschlägige Literatur in seiner Bibliothek, wie ich bei einem inzwischen zur unvorteilhaften Legende gewordenen Dornachbesuch feststellen konnte).

    So weit die Kontinuitäten. Es ist aufschlussreich, dass die Dreigliederung in ihrer formalen Struktur aus einer fragwürdigen esoterischen Tradition, weniger tagesaktuellen Ereignissen stammte! Es gibt aber auch entscheidende Unterschiede – und nur durch deren Absetzung von diesem historischen Entstehungszusammenhang wird das originär “Anthroposophische” an der Dreigliederungsidee ersichtlich. Anstelle der synarchistischen “richtunggebenden Staatsmacht” tritt bei Steiner das “Freie Geistesleben”:

    “Vom selbständigen Geistesleben muss etwas ausstrahlen, was bis in den Kapitalismus, was in den ganzen Organismus hineinflutet. Das ist das freie menschliche Entwickeln, das ist das liberale Element. In dem politischen Staate, im Rechtsleben, muß etwas leben, worinnen alle Menschen gleich sind. Das ist das demokratische Element. Und im Wirtschaftsleben muß das brüderliche Element walten. Das muß die wahre Grundlage einer sozialen Struktur abgeben. … man sollte durchschauen, wie im selbständigen Geistesleben wächst der alles übrige soziale Leben überleuchtende Liberalismus; wie im wirklichen Rechtsstaat wächst die wiederum alles übrige Leben überleuchtende Demokratie, wie in jenem Wirtschafsleben, das sich nur mit Warenerzeugung, Warenzirkulation, Warenkonsum und der dadurch bedingten Feststellung der gerechten Preise befaßt, der wiederum alles durchdringende Sozialismus waltet.” (GA 329, S. 219 - dem muss allerdings sogleich hinzu gefügt werden: Es wäre wiederum blind, naiv und historisch unverantwortlich, damit die antidemokratischen und elitären Äußerungen Steiners und fast aller seiner frühen AnhängerInnen vertuschen zu wollen, vgl. Peter Staudenmaier)

    Steiner war einer der wenigen Esoteriker seiner Zeit, die sich tatsächlich eine Weile realpolitisch engagierten. Er löste sich damit vom okkulten Untergrund des untergegangenen Kaiserreichs ebenso ab, wie er sich mit seiner Aufnahme der “Freiheit” als eines “geistigen Liberalismus” in sein politisches Programm von der durch und durch autoritären Dreigliederungskonzeption der Synarchie ablöste – und abhob. Und nur eine kritische Historisierung macht eine Ablösung von Steiners Ansprüchen auf Deutungshoheit für eine wirklich “freie” Anthroposophie möglich. Steiner “ist rapide dabei, als historische Person in eine immer fernere Vergangenheit entrückt zu werden. Das verringert unser Wissen über ihn, erweitert aber die Freiheit, sein Leben und sein Werk zu deuten.” (Zander: Rudolf Steiner, 470). Als Beispiel dafür sei der oben erwähnte Roland Benedikter zitiert, der eine Erweiterung der “Dreigliederung” zu einem Sechs-Sphären-Modell vorschlägt:

    “Es stehen große Umbrüche für die demokratischen Gesellschaften des ‘Westens’ bevor. Sie beginnen bereits heute, in einer globalen Systemverschiebung Gestalt anzunehmen. Dazu gehören 1. das Ende des Neoliberalismus im System- und Diskursbereich der Wirtschaft, 2. das Ende der – von den USA nach dem Ende des ‘Kalten Krieges’ einseitig ausgerufenen ‘neuen Weltordnung’ im Bereich der Politik, 3. das Ende der Postmoderne im Bereich der Kultur, 4. die ‘Rennaissance der Religionen’ im Bereich der Spiritualität. Dazu gehören aber auch – in vielerlei Hinsicht als Summe dieser vier Tendenzen – das Auftreten von miteinander im Wettbewerb stehenden, kulturell unterschiedlichen Modernitäts- und Modernisierungskonzepten (‘competing modernities’). Das begründet einen neuen, globalen Antagonismus zwischen demokratischen und nicht-demokratischen Modellen von Moderne, einschließlich finanzieller Moderne und Handhabe von Kapital und Selbstinterpretation des Kapitalismus. Dazu kommen 5. technologische und 6. demographische Umbrüche. … damals [1919, als Steiner seine Dreigliederungstheorie konzipierte - AM] reichte Dreidimensionalität im Wesentlichen aus, um die dynamische Strukturentwicklung zu erfassen und zu analysieren. Heute ist die Welt aus den damaligen Wurzeln heraus ausdifferenzierter und multidimensionaler geworden.” (Benedikter, ebd., 23f.)

    Das gilt nicht nur für die anthroposophische Dreigliederung, sondern auch für sämtliche anderen Praxisfelder – und für die Wissenschaftstheorie allemal (hier ist z.B. auf die Dissertation Merle Ranfts zu hoffen), sonst bleibt die Anthroposophie Nischensegment. Der Sammelband “Anthroposophie in Geschichte und Gegenwart” liefert gute historische Schlaglichter. Er zeigt aber auch ex negativo (an der fast sklavischen Abhängigkeit von Helmut Zanders Opus, bzw. an der notorischen Widerlegungsabsicht), wie stark Selbstbezogenheit und apologetische Absichten gegenüber einer “Hegemonialkultur” bis heute das anthroposophische Selbstverständnis zu bestimmen scheinen. Für AnthroposophiekritikerInnen scheint mir das Buch nichtsdestominder als ein anthroposophieimmanenter Versuch lesenswert, Steiner immerhin ein Stück weit zu historisieren, damit andererseits einen Umgang mit seiner “Fehlbarkeit” zu finden und so eine allmähliche Säkularisierung einzuleiten. Wenn Uhlenhoffs Beitrag als Auskristallisation oder Momentaufnahme eines solchen Prozesses zu betrachten ist, darf man auf weitere Entwicklungen durchaus hoffen!


    Einsortiert unter:Hintergründe, Literarisches
    Viewing all 119 articles
    Browse latest View live