Die Nachricht, in Hamburg-Wilhelmsburg solle eine und auch noch die “erste” “staatliche Waldorfschule” gegründet werden (vgl. Waldorf weiter auf Abwegen), scheucht derzeit alle nur irgendwie Beteiligten auf: Funktionäre, Sympathisanten und Kritiker der Waldorfszene.
Wie üblich hört man von allen Fraktionen bestenfalls die halbe Wahrheit. Das beginnt schon beim Inhalt der Meldung: Die “erste” staatliche Schule mit Waldorfprogramm wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von der Lehrerin Erna Stahl gegründet, die aus dem Kontext der Widerstandsgruppe ‘Weiße Rose’ bekannt ist. Stahl hatte sich mit Steiner und Waldorf auseinandergesetzt und wollte eine Waldorfschule explizit “ohne Anthroposophie”. Es entstand – ebenfalls in Hamburg – die bis heute florierende Albert-Schweitzer-Schule (vgl. Anthroposophie im Widerstand), deren waldorfpädagogisches Klientel inzwischen sehr übersichtlich ist. Der einzige, der in der Debatte um das Wilhelmsburger Projekt auf das Albert-Schweitzer-Gymnasium zu sprechen kam, war der Sprecher der Hamburger Schulbehörde, Peter Albrecht. Von Anthroposophen wird sie ausnahmslos verschwiegen: Für sie ist das Sakrileg einer nicht-anthroposophischen Waldorfschule ebenso frivol wie für Anthro-Gegner, in deren Vorstellung diese Schulen nur als heimliche Kaderschmiede der Anthroposophen Sinn machen.
De facto ist aber auch gar keine “staatliche Waldorfschule” geplant: Eine schon bestehende Grundschule soll mit einer örtlichen Waldorfschul-Gründungsinitiative fusioniert und ein gemeinsames Konzept erarbeitet werden – weil Schulsenator Ties Rabe angeblich fürchtete, eine neue Privatschulgründung werde die meisten ‘bildungsnahen’ Familien von der öffentlichen Grundschule abziehen. Der “Erziehungskunst”, Verbandszeitschrift des Stuttgarter “Bundes der Freien Waldorfschulen”, ist diese Sachlage natürlich zu profan. Dort würde man sich in der Tat staatliche Vollförderung für Waldorf wünschen und titelte stattdessen: “Waldorfschule in staatlicher Trägerschaft startet”. Dass die Grundschul-Kollegen auch noch ein Wörtchen mitzureden haben, blendete der Bericht nahezu aus und verkündete, Wilhelmsburg werde weder “‘Waldorfpädagogik light“ noch “die Waldorfpädagogik zu einem beliebig austauschbaren Methodenbaustein innerhalb der Staatsschulpädagogik”.
Die zitierten Sätze verschwanden natürlich schnell von der “Erziehungskunst”-Webseite, als ‘Staatsschulpädagogen’ von der betroffenen Grundschule sich anfangs vorsichtig bis skeptisch zum Vorschlag der Schulbehörde äußerten. Über den ursprünglichen Link http://www.erziehungskunst.de/nachrichten/inland/wilhelmsburg-waldorfschule-in-staatlicher-traegerschaft-startet/ gelangte man nun zu dem gegensinnigen Titel “Waldorfschule in staatlicher Trägerschaft noch ungewiss”. Im neuen Artikel liest man: “Waldorfpädagogik kann man nicht von oben verordnen” – und hätte gern gewusst, ob die Redaktion der “Erziehungskunst” diesen Umstand gut oder doch eher bedauerlich fand. Nachdem sich die Komplikationen gelegt hatten, folgte dann ein realistischeres Portrait:
“Das Kollegium und die Waldorflehrer werden nach diesem positiven Votum gemeinsam ein Unterrichtskonzept erarbeiten. Schulleiterin Ulrike Klatt erklärte, man werde sich »in der Konzeptgruppe gemeinsam auf den Weg machen« und habe sich dafür zwei Jahren Zeit gegeben. »Es geht auch darum, dass wir uns menschlich näherkommen«, so Klatt. Das Projekt könne auch scheitern, wenn man nicht auf einen gemeinsamen Nenner komme. Bislang besteht die Absicht, jede Klasse von einem Waldorfpädagogen und einem staatlichen Lehrer unterrichten zu lassen.”
„Das wird keine Eins-zu-eins-Waldorfschule“, meint laut taz auch Christiane Leiste, Sprecherin des Waldorf-Vereins: „Kein Lehrer wird gezwungen, Eurythmie zu machen“. Der Bund der Freien Waldorfschulen verfolgt eine andere Politik. Die “Erziehungskunst” zitierte dessen Sprecher Henning Kullak-Ublick, der meint, die Schulbehörde dürfe sich bloß nicht zu sehr in die “inhaltliche Arbeit” einmischen: “Wir sind neugierig, ob das Kollegium so autonom bleibt, dass wir das unterstützen können”, so Kullak-Ublick, alles andere sei “Etikettenschwindel”. Dass ‘Autonomie’ hier Anbindung an den Waldorfbund heißt, mag das eine oder andere Licht auf Floskeln wie “Erziehung zur Freiheit” werfen. Man sieht förmlich ein Tauziehen zwischen Schulbehörde und Waldorfbund vor sich – und ist in der Tat neugierig, wie autonom das Kollegium bleibt, auch gegenüber den waldorfianischen Gralshütern aus Stuttgart. Für den Mainzer Erziehungswissenschaftler, Steiner-Biographen und Waldorf-Experten Heiner Ullrich ist das Projekt zum Scheitern verurteilt. Anfangs werde es “vielleicht Berührungspunkte” geben, „aber sobald die Waldorfkollegen bei der Schülerbeurteilung von astralischen Kräften oder von Reinkarnation sprechen, werden die staatlichen Lehrer wohl sagen: bitte nicht!“ (taz)
So weit will es der umtriebige Waldorfkritiker Andreas Lichte gar nicht kommen lassen. In einem offenen Brief an den zuständigen Schulsenator prangert er einmal mehr die so obskuren wie überholten Pädagogikvorstellungen Rudolf Steiners an – seine “Schlussfrage”: “Beabsichtigt die Behörde für Schule und Berufsbildung Hamburg als staatlicher Träger der ‘Interkulturellen Waldorfschule Hamburg-Wilhelmsburg’ die Weltanschauung Anthroposophie weiter zu verbreiten?” Zu diesbezüglichen Absichten der Schulbehörde hatte deren Pressesprecher Peter Albrecht schon im Vorfeld klargestellt: “Es geht nicht darum, die Ideologie von Rudolf Steiner in staatliche Unterrichtspraxis zu überführen”. Man wolle nur “allseits” akzeptierte, eben die reformpädagogischen Elemente der Waldorfpädagogik. Zuletzt hat sich die Kulturwissenschaftlerin Jana Husmann (die 2010 mit ihrer Dissertation “Schwarz-Weiß-Symbolik” ausführlich zu Steiners Rassenlehre publiziert hat) mit einem Beitrag gemeldet, dessen Lektüre ich dringend empfehlen möchte, auch wenn der Autorin leider einige geradezu klassische Fehler unterlaufen. Titel: “Esoterik an Waldorfschulen – Bildung dank ‘Bildekräften’: Lest Rudolf Steiner!” Husmann beginnt wie folgt:
“Wer sich ein wenig mit Waldorfpädagogik beschäftigt und die Schriften ihres Begründers Rudolf Steiner (1861-1925) studiert, wird leicht über die sprachlichen Besonderheiten stolpern, welche die anthroposophische Rhetorik ausmachen. Das Wort “Bildekräfte” etwa gehört in diese Kategorie, ebenso wie der Begriff des “lebendigen Denkens”, den Steiner seinerzeit vom “toten” abstrakten Denken abzugrenzen suchte. Der heute zentrale Oberbegriff zur Beschreibung von Anthroposophie und Waldorflehre ist “ganzheitlich”. Das klingt irgendwie nach östlicher Weisheit, dem Einklang von Leib und Seele, nach Ausgeglichenheit und Wellness-Oasen. Wer wollte sich nicht gerne “ganzheitlich” fühlen und die Aromen von Weleda im Entspannungsbad genießen?”
Eigenartigerweise werden hier zur Charakterisierung von Steiners Jargon die Worte “Bildekräfte” und “lebendiges Denken” angeführt, die gerade nicht spezifisch steinerianisch sind. Ersteres hat Steiner von dem Esoteriker Edward Bulwer-Lytton abgeschrieben, während seine Vorgeschichte bis zum paracelsischen ‘Archaeus’ reicht. Das “lebendige Denken” indes steht an nicht unwichtiger Stelle in der Religionsphilosophie Johann Gottlieb Fichtes, und ebendaher hat es auch Steiner, wie Hartmut Traub in seinem (Husmann sicher bekannten) Buch Philosophie und Anthroposophie belegt (vgl. dort etwa 582-587). Freilich vergisst Husmann nicht, zu erwähnen, dass diese Begriffe nur die Spitze des Eisbergs sind, sie findet: “Wer nur einen Bruchteil der über 6000 Vorträge Steiners zu diesen Themen geschafft hat, weiß sicherlich, was der Steiner-Kritiker Peter Bierl mit der Aussage meint: ‘Wer Steiner liest, verdient Schmerzensgeld.’” Im Original ist das auf Steiners Fans bezogen und weitaus amüsanter illustriert:
“Auffallend an den Epigonen ist bis heute, dass ihre Beiträge gebetsmühlenhaft und exegetisch sind. Wer anthroposophische Schriften liest, hat Schmerzensgeld verdient. ‘Geisteswissenschaftliche Forschung’ besteht in der Regel darin, anhand von Steiner-Zitaten abzuleiten, was der große Meister beispielsweise zu Techno-Musik oder Computern gemeint haben könnte. Das Ergebnis ist ein hoher Ausstoß an bedrucktem Papier, intellektuelle Substanz entspricht homöopathischen Dosen.” (Bierl: Wurzelrassen, Erzengel und Volksgeister, Hamburg 2005, 18)
Am Schluss echauffiert sich Husmann nach einer pittoresken Auflistung von allerlei okkulten, rassistischen, kosmo- und anthropologischen Details der Steinerschen Esoterik: “Ob diese ganzheitlichen Ein-Bildekräfte Steiners noch unter dem Begriff ‘Esoterik’ zu fassen sind, sei der Beurteilung der Leser überlassen.” Die relevante Frage müsste vielmehr umgekehrt lauten, was von diesen “Ein-Bildekräften” nicht unter dem Begriff ‘Esoterik’ zu fassen ist, insbesondere, wenn man Steiner mit anderen esoterischen Zeitgenossen vergleicht.
Unverständlich ist mir auch, dass Husmann keine Kritik des esoterischen Schlüsselterminus “Ganzheitlichkeit” formuliert, den der völkische Idealist und Antisemit Paul de Lagarde prägte (und den sie ja selbst auch nur ironisch gebraucht).
Wie kaum ein anderer Begriff bringt “Ganzheitlichkeit” den Vorrang esoterischen Systembaus vor dem Einzelnen, des Totalen gegenüber dem Subjekt auf den Punkt. Es ist der “ganzheitliche” Anspruch, mit dem die Esoterik die Schattenseiten des Spinozismus und Deutschen Idealismus beerbt und der ihre Attraktivität im Zeitalter der Postmoderne erklärt. Das Philosophen- und Literatentum eines Richard David Precht, Rüdiger Safranski und Peter Sloterdijk steht heute wie seinerzeit Steiner für ein Programm des schlechten ‘ganzheitlichen’ Universalgelehrten, deren Stupidität sich nicht darin ausdrückt, zu wenig zu wissen, sondern zu allem eine beliebig dehnbare Meinung zu haben. Anthroposophische Schlagwörter wie “biodynamisch” finden sich inzwischen sogar im sonntäglichen Tatort, mit Sätzen wie “Ordnungssinn ist abzulehnen” und “Es handelte sich eher um so etwas wie Stand-up-Okkultismus, einen ultraspätromantischen Poetry Slam: Wissenschaft der Form nach, an sich aber Mysterienspiel und Gesamtkunstwerk” (FAZ) wird Steiner heute nicht nur in den Feuilletons, sondern auch bei Anthroposophen imaginiert: als “genialer Dilettant im positiven Sinne” (Taja Gut) oder “Laie par excellence” (Wolfgang Vögele: Sie Mensch von einem Menschen, Basel 2012, 14). Gegen jede noch so explizite Äußerung des Gurus feiern Anthroposophen heute selbst Steiners deterministische Temperamentenlehre nicht mehr als “Klassifizierung von Menschen, sondern pädagogische Künstler-Kompetenz”, deren viergliedriges Zuordnungsschema gar keinen Selbstzweck habe, sondern dazu ermuntern solle, sich über “Gestaltungsmöglichkeiten phantasievoll Gedanken zu machen” (Johannes Kiersch: Waldorfpädagogik als Erziehungskunst, in: Rahel Uhlenhoff: Anthroposophie in Geschichte und Gegenwart, 456). Dieses bösartige Klima postmoderner Beliebigkeit beseelt und bewirkt gegenwärtig das Wachstum und die interne Plausibilisierung der Waldorfbewegung, zieht ‘ganzheitlich’, ‘bewusst’, ‘ökologisch’ orientierte Interessenten an – und ermöglicht gleichzeitig etwa die wohlig-warme Atmosphäre zur Tradierung völkischer Theorieelemente bis in die Gegenwart. Auch der letzte rote Faden von Steiners Weltanschaungskosmos, der Anspruch auf eine letztlich okkult-positivistische ‘übersinnliche Schau’, wird zugunsten der Selbstsuggestion aufgegeben, Steiner habe alles ‘ganz anders’, heuristisch, aphoristisch gemeint. Selbst im Vergleich mit anderen esoterischen Strömungen der europäischen Geschichte stellt dies eine Regression von der theosophischen ‘Clairvoyance’ zum dumpfen Gejammer des Spiritismus dar.
Diese allzu ‘zeitgemäße’ Anthroposophie erschwert auch die Betrachtung der ideologischen Prägung von Waldorfschulen. Husmann folgt diesbezüglich dem von Anthroposophen seit Steiner apodiktisch verneinten (vgl. etwa GA 77, 94), aber bei Anthroposophiekritikern beliebten Narrativ, dass die anthroposophische Esoterik an Waldorfschulen ‘indirekt’ vermittelt werden solle. Sie schreibt:
“Die Krux der Waldorfpädagogik liegt in eben dieser Form der Intransparenz und einer strukturell beförderten Willkür, die es letztlich den einzelnen Lehrkräften aufbürdet und überlässt, wie und wie viel anthroposophische Inhalte die Klassenzimmer erreichen … Autoren der anthroposophischen Zeitschrift Info-3 haben schon vor fünf Jahren dafür plädiert, endlich zur esoterischen Ausrichtung der Anthroposophie und damit der Waldorfschulen zu stehen anstatt diese zu verschleiern. Schließlich, so Sebastian Gronbach, beginnt bereits jeder Schultag mit einem Morgenspruch Rudolf Steiners.”
Sie zitiert anschließend eine ähnlich gelagerte Äußerung Jens Heisterkamps (eine ausführlichere Exegese findet sich in Schwarz-Weiß-Symbolik, 342ff.). Anschließend leitet sie aus einigen Bemerkungen in einer Broschüre des Bundes der Freien Waldorfschulen, nach denen Steiner “nicht nur ein genialer Lehrer und Erzieher, sondern auch ein bedeutender Esoteriker war” die (falsche) Folgerung ab, die Waldorfschulen hätten sich inzwischen dazu bekannt, dass sie Weltanschauungsschulen seien und freut sich:
“Dieses Bekenntnis der Waldorfschulen zur esoterischen Weltanschauungsschule ist ein richtiger Schritt. Waldorfeltern und -schüler sollten diese Grundlagen nicht zuletzt vor dem Hintergrund zur Kenntnis nehmen, dass sich laut einer aktuellen Umfrage 90% der Waldorflehrer mit Steiners Weltbild identifizieren.”
Husmanns Forderung, Waldorfschüler und -eltern sollten sich mit den anthroposophischen Grundlagen beschäftigen, ist ihrerseits ein richtiger Schritt. Dass von seiten besagter Eltern und Schüler “immer wieder vehement beteuert [wird], von „Astralleibern“ oder ähnlichem anthroposophischen Vokabular habe man im Unterricht noch nie etwas gehört”, wird bei Husmann glücklicherweise auch nicht mehr als dreiste Lüge abgetan, sondern durchaus ernstgenommen. Für sie steht fest: “Was folgt daraus? Steiner lesen!” Zu ergänzen wäre hier nur, dass dieser Imperativ nicht nur für Waldorfeltern und -schüler, sondern mindestens ebenso für die Lehrer gelten sollte. Husmann pocht zwar auf eine “aktuelle Umfrage”, nach der 90% aller Waldorflehrer sich mit Steiner identifizierten und auch ihr Intimus Andreas Lichte hat die Quelle für diese Information in gewohnter Manier munter verbreitet: Den oben zitierten Taz-Artikel zur Hamburg-Wilhelmsburger “staatlichen Waldorfschule”, in dem Heiner Ullrich zu Wort kommt.
Die “aktuelle Umfrage” liegt scheinbar weder Lichte noch Husmann, sondern nur Ullrich vor. Bei näherem Hinsehen ergibt sich hier ein nicht unerhebliches Problem: Die einzige mehr oder weniger aktuelle “Umfrage” zum Thema ist nämlich noch nicht publiziert. Sie wurde vom Bund der Freien Waldorfschulen co-finanziert und von der anthroposophischen Alanus-Hochschule in Kooperation mit Heiner-Barz von der Heine-Universität Düsseldorf durchgeführt. Den meisten Anthroposophiekritikern gelten die von diesem Duo produzierten Waldorfstudien als parteiisch und unseriös, allen voran Andreas Lichte. Anscheinend wird dieser erst einmal berechtigte Vorbehalt jedoch gern und schnell vergessen, sobald eine Information die eigene Meinung zu stützen scheint.
Dass 90% der Waldorflehrer Hardcore-Anthroposophen seien, in diesem Wunschtraum sind sich die Leitfiguren der Waldorfszene und ihre Gegner endlich einmal einig. Auch Andreas Lichte hat die Meldung der “Erziehungskunst”, in Hamburg-Wilhelmsburg werde keineswegs “Waldorfpädagogik light” herrschen, dankbar in seinem Offenen Brief zitiert. Sowohl die Waldorfianer als auch ihre Kritiker verbreiten allzu oft die Propaganda ihrer Gegner. Hier fühlt man sich an den Esoterikforscher Michael Bergunder und seine These erinnert, dass “die Esoterik” als diskursive Identitätsposition ebenso Eso-Gegner wie Anhänger umfasst. Und schon 2010 hat Christof Wiechert von der Pädagogischen Sektion am Goetheanum gefordert, durch entsprechende Nachqualifikation sollten wenigstens wieder 75% der Waldorflehrer anthroposophisch ausgebildet sein (Wiechert: Lust aufs Lehrersein? Eine Ermunterung zum (Waldorf-)Lehrerberuf, Dornach 2010). Schon der Titel von Wiecherts Buch liest sich wie eine der Kampagnen, Webseiten, Broschüren, Plakate und nicht zuletzt der Vorträge, die auf Initiative des Waldorfbundes inzwischen sogar vor Waldorfschülern der Oberstufe gehalten werden, um genügend Kunden für die stramm anthroposophisch ausgerichteten Waldorflehrerseminare zu gewinnen. Im Lehrkörper der Schulen ist die Lage längst komplizierter, da viele Neueinstellungen sich kein bisschen mit Anthroposophie auskennen und die einzelnen Schulen auch kaum eine Wahl haben: Lehrer mit zweitem Staatsexamen sind gefragt, um das Abitur abnehmen zu können, aber viele davon haben sich nie zu einer Waldorfausbildung herabgelassen, der anthroposophische Rest an Waldorfschulen folgt immer öfter den Imperativen der postmodern-seichten Steinerlesart (vgl. Waldorf weiter auf Abwegen, Abschnitt “‘Anthroposophische’ Praxis an Waldorfschulen).
Umso mehr kann man sich hier Husmanns Forderung “Steiner lesen!” anschließen:
“Was folgt daraus? Steiner lesen! Anstatt die anthroposophischen Inhalte vordergründig aus dem Unterricht auszublenden, wäre es entsprechend wünschenswert, nicht nur Lehrer, sondern auch (angehende) Waldorfeltern und Waldorfschüler zur Steiner-Lektüre zu verpflichten. D.h. Eltern und Schüler sollten sich zumindest in Teilen durch die 350-bändige Gesamtausgabe durcharbeiten und all die detailreichen Beschreibungen des anthroposophischen Evolutions- und Geschichtsmodell kennenlernen, das Grundvokabular „atlantischer Kulturepochen“ und „arischer Wurzelrassen“ beherrschen, von den gallertartigen Zuständen des Menschen in seinen früheren Bewusstseinsstadien zu berichten wissen, die endlosen Darstellungen zu höheren Welten und geistigen Wesenheiten, zu Äther- und Astralleibern, zur Dreigliederung von Physiologie und sozialem Organismus lesen, um die Zeitgeister und Geister der Form, die Jupiter- und Merkurrassen wissen, die Ausführungen zum verhassten Materialismus, dem bösen Geist des dunklen Ahriman, und zum „hohen Sonnengeist“ Christi verfolgen. … Die Steiner-Lektüre ist nicht zuletzt jenen Senatoren zuzumuten, die die Zusammenlegung von staatlicher Schule und Waldorfschule in Hamburg-Wilhelmsburg befürwortet haben. Aber lassen wir am Schluss den Meister selbst zu Sinn und Zweck der Anthroposophie als „geistiger Wissenschaft“ zu Wort kommen: „Sehen Sie, die Geschichte ist so ernst, daß man sagen kann: Es muß die Menschheit auf der Erde auf andere Weise als in alten Zeiten zu etwas kommen, was wiederum etwas hergibt. Denn es ist tatsächlich so, daß, je mehr die blonden Rassen aussterben, desto mehr auch die instinktive Weisheit der Menschen stirbt. Die Menschen werden dümmer. Und sie können nur wiederum gescheit werden, wenn sie nicht auf den Körper angewiesen sind, sondern wenn sie eine wirkliche geistige Wissenschaft haben. Das ist tatsächlich so. Und wenn die Leute darüber lachen, so mögen sie lachen. Aber sie haben ja über alles gelacht, was irgendwo aufgetreten ist und einen großen Umschwung hervorgebracht hat!“ (GA 348, 103)
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