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“Die Wunderwaffe jedes Fundamentalisten”

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Vorwort A.M. – Am 19. Dezember erscheint endlich die Lösung aller (anthroposophischen) Rätsel: Endstation Dornach, verfasst von Felix Hau, Christian Grauer, Christoph Kühn und meiner Wenigkeit. Christian Grauer hat mit einer eigenen Buchveröffentlichung bereits vorgegriffen: Im Herbst erschien im (seit Neustem) Baseler Futurum-Verlag sein Buch: Es gibt keinen Gott, und das bin ich! Anthroposophie im Nadelöhr. Darin beschreibt er die ideologischen Tücken (s)eines abgelegten anthroposophischen Fundamentalismus – und wie sich auch aus dessen Steinen doch noch etwas bauen lässt. Dem Futurum-Verlag danke ich für die “Abdruck”-Genehmigung.

(von Christian Grauer)

Der Ritter der Kokosnuss

“Fanatismus findet sich nur bei solchen, die einen inneren Zweifel zu übertönen suchen”
- Carl Gustav Jung

Ich weiß ehrlich gesagt nicht mehr, welches Buch ich von Steiner zuerst gelesen habe. Ich erinnere mich, dass ich viele Grundgedanken der Anthroposophie zunächst durch die Erzählungen meiner Mutter erfahren habe, insbesondere auch in mitgehörten Gesprächen. Ich erinnere mich aber, dass ich erst relativ spät, nach der Lektüre bereits einer ganzen Reihe von esoterischen Vorträgen, die “Philosophie der Freiheit” gelesen habe. Ich weiß nicht mehr, wie ich sie aufgenommen habe, weil ich sie später so oft gelesen habe, dass die Erinnerungen sich ineinander auflösen. Ich weiß aber, dass ich nicht besonders begeistert von der Lektüre war. Die Faszination, die ich von diesem sagenumwobenen Buch von Rudolf Steiner erwartet habe, stellte sich jedenfalls nicht ein. Ich vermute heute, dass ich die okkult-esoterische Aura vermisste, welche die Inhalte jener Anthroposophie umgaben, die ich durch meine Eltern und die Waldorfschule kannte, und dass ich irritiert war von der sachlichen und rein begrifflichen Darstellung, die es heute wiederum für mich zu einem der bekömmlichsten Werke Steiners macht.

In meiner Erinnerung ist das Thema, das mich in der Anthroposophie zunächst am meisten interessierte, alles, was mit dem Tod, dem Leben nach dem Tod und mit Reinkarnation zu tun hatte. Ich musste ja als Jugendlicher irgendwann lernen, dass es Menschen gab, die nicht an die Wiedergeburt glaubten! Wir hatten im christengemeinschaftlichen Religionsunterricht, den ich in der 10.Klasse besuchte, das Thema “Leben nach dem Tod” anhand des einschlägigen Buches von Raymond A. Moody behandelt. Dieses Buch faszinierte mich insofern, als mir hier von nichtanthroposophischer Seite der Beweis erbracht schien für die Richtigkeit der Überzeugung, dass es ein Leben nach dem Tod gebe, dass der physischen Existenz eine geistige folgen würde. Diese geistige Existenz, die auch schon vor dem Tod vorhanden, bloß versteckt war, schien mir dasjenige zu sein, worum es in der Anthroposophie ging. Ich hielt diese geistige Welt für die Lösung des Rätsels des Lebens und Rudolf Steiner für ihren Propheten. Und so begann ich mich mit den theosophisch-anthroposophischen Schriften Steiners auseinanderzusetzen, um immer mehr über diese Welt zu erfahren und wie sie die sinnlich wahrnehmbare Wirklichkeit beeinflusste. Insbesondere die “Geheimwissenschaft im Umriss” hinterließ eine nachhaltige Faszination und machte mich mit dem Entwicklungsgedanken von Steiner in aller Anschaulichkeit vertraut. Begleitet wurde diese Lektüre durch die Anthroposophie-Rezeption und den Austausch mit meiner Mutter, die ein besonderes Interesse für christologische und kunstgeschichtliche Themen hatte.

In meiner anthroposophischen Überzeugung formte sich die Welt zu einer kompakten, geschlossenen Veranstaltung, deren Herkunft in einem fraktalen, rhythmischen Prozess lag: von der reinen Geistigkeit zu einer immer tieferen Verkörperung im Physisch-Sinnlichen, mit dem Ziel, in verwandelter Weise wieder in diese Geistigkeit aufzusteigen. Der Protagonist dieses Wiederaufsteigens war der Mensch. Und der Führer durch die Dunkelheit der Geistesferne war kein Geringerer als Christus, der Sohn Gottes und als solcher höchstes geistiges Wesen, das mit seinem Durchgang durch den Tod nicht nur prototypisch das Los des Menschen auf sich genommen, sondern sich geistig-real in die Erde und damit in der Physis entäußert hat. Dieses Ereignis als das denkbar größte Mysterium fand vor 2000 Jahren in Palästina real historisch statt. Meine Aufgabe als Mensch war es also, jene geistige Welt wiederzuentdecken, zu welcher wieder aufzusteigen uns Christus die Möglichkeit geschaffen hatte. In dieser Wiederverbindung mit der geistigen Welt begriff ich den Inhalt des Wortes ‘Religion’ in einem tatsächlich konfessionsfreien, überreligiösen Sinne – mit der Einschränkung, dass Christus und das ‘Mysterium von Golgatha’ nicht zur Diskussion standen. Ob einer daran glaubte oder nicht, war für die Mission des Christusereignisses nicht von Bedeutung. Es vollzog sich unabhängig von Religion. Ich machte so mit der Anthroposophie letztlich alle Menschen zu Christen, nur dass die einen davon wussten, die anderen aber nicht. Der diskriminierende Charakter eines solchen Begriffs des Christentums fiel mir nicht auf. Anthroposophie war für mich auch keine Religion, sondern Wissenschaft; eine Wissenschaft mit anderen Mitteln, aber eine Wissenschaft. Ich glaubte nicht an Reinkarnation, sondern ich wusste, dass es die Wahrheit ist und dass letztlich jeder Religion, soweit sie authentisch ist, diese Wahrheit irgendwie zugrunde lag. Und ich erkannte nicht die Überheblichkeit, die in meinem Glauben lag, über ein Erklärungssytem zu verfügen, das anderen Weltanschauungen übergeordnet war und diese in ihrer Beschränktheit erklären konnte. Ich glaubte, alle Weltanschauungen und Religionen in die Anthroposophie integrieren zu können und sah darin das größtmögliche Maß an Toleranz und Verständigung, das überhaupt möglich ist.

(S. 28-30)

 

Mit dem Michaelsschwert im Hörsaal

“Die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung”
- Immanuel Kant

Nach dem Abitur, dem Zivildienst und einer etwas ungezielten Suche nach einem geeigneten Studium landete ich schließlich in Berlin und studierte Philosophie, Lingusitik und Italienisch. Es hatte einige Zeit gebraucht, bis ich mich zur Philosophie durchringen konnte. Einerseits betrachtete ich sie als die Krönung aller akademischen Wissenschaften und demjenigen am nächsten stehend, was für mich die Faszination an der Anthroposophie ausmachte. Auf der anderen Seite hatte ich auch eine gewisse Ehrfurcht vor ihr. Mir war, als könne man sich dafür nicht einfach einschreiben, sondern müsste irgendwie dazu berufen werden.

Diese Ehrfurcht hatte durchaus auch mit meiner anthroposophischen Weltanschauung zu tun, weil ich mir unter Philosophie im wesentlichen das weltliche Pendant zur Anthroposophie vorstellte. Eine voranthroposophische Anthroposophie, die nur noch nicht das Glück hatte, Steiner und die geistig erweiterte Erkenntnismethode kennenzulernen. Und so fand ich mich also irgendwann in philosophischen Vorlesungen wieder udn beschäftigte mich mit den großen Autoren der Geistesgeschichte. Und ich begegnete darin erneut den Fragen, die ich schon aus meiner Beschäftigung mit der Anthroposophie kannte. Aber es blieb zunächst bei den Fragen. Die Antworten, soweit es diese in der Philosophie überhaupt gibt, waren ganz anders als meine. Ich hatte ja auf all diese Fragen bereits Antworten. Und so fundamentalistisch wie mein Weltbild war, so sicher war ich mir bei diesen Antworten. Ich wusste im Grunde alles besser als alle Philosophen von Platon bis Popper. Zwar hatte ich dieses Wissen im Einzelnen nicht unbedingt zur Verfügung, aber ich war im Besitz der Wunderwaffe jedes Fundamentalisten: Ich wusste, das im Falle einer Differenz zwischen einem bestimmten Philosophen und der Anthroposophie auf jeden Fall die Anthroposophie recht hatte. In Rudolf Steiner hatte ich einen virtuellen Gewährsmann, der jede Philosophie überstieg und daher aus einer übergeordneten Sicht alles, was Philosophen je geschrieben hatten und je schreiben würden, bereits eingeordnet und bewertet und es mit seiner übermenschlichen Fähigkeit zur Emphase durchdrungen, aufgehoben und in die richtige Form gebracht hatte. Mit dieser Haltung ging ich also in die ersten Semester.

Mas muss sich das einmal vorstellen! Natürlich trug ich das nicht offen aus, aber untergründig war es meine Überzeugung. Ich kam mir fast vor wie ein Agent der höheren Wahrheit, der dieser zurückgebliebenen Philosophie auf die Sprünge helfen wollte und der studierte, als ginge es darum, den Feind zu zersetzen.

Nun war das aber auch nur eine von mehreren Stimmen in mir. Es gab durchaus auch eine andere Stimme in mir, welche die Anthroposophie vergessen und sich ganz in der Bewunderung der Philosophie verlieren konnte. Und die Philosophie hat ja nun einen ganz außerordentlichen Vorteil: Sie zwingt zur Reflexion. Trotz meiners Bollwerks an Weltanschauung, das ich jeden Morgen mit ins Institut schleppte, brachte sie mich auch ins Grübeln. Zum einen beschäftigte mich natürlich schon die naheliegende Frage, ob es wirklich wahrscheinlich ist, dass ein einzelner Mensch den totalen Überblick hat, während eine ganze Hundertschaft an Philosophen, die erkennbar mit überdurchschnittlicher Intelligenz gesegnet waren, nur im Nebel herum tappen sollte? Als Anthroposoph beantwortet man sich diese Frage mit der Floskel “sie waren an etwas dran”, was bedeuten soll, dass sie im Rahmen dessen, was eben ohne Anthroposophie möglich ist, durchaus Beachtliches leisteten. Sie hatten eine Ahnung der Wahrheit, sie waren im Grunde auf dem richtigen Weg, und vieles, was sie schreiben, ist auch keineswegs falsch. Ihnen fehlt aber, quasi unverschuldet, die letzte Stufe, um wirkliche Erkenntnis zu haben: der Zugang zur Anthroposophie Rudolf Steiners. Aus diesem logischen Widerspruch konnte ich mich also mit der nötigen Portion hermetischer Argumentation, wie sie fundamentalistischen Überzeugungen eigen ist, durchaus noch herausschlängeln.

Doch es gab einen anderen Widerspruch, dem ich nach und nach begegnete und der letztlich so existenziell war, dass er die eigentliche Krise hervorrief, den eigentlichen Wendepunkt in meinem Weltbild. Dieser Widerspruch war keineswegs ein logischer, er war im Grunde sogar unlogisch. Er fand nicht auf der Ebene diskursiver Reflexion, sondern im Untergrund einer existenziellen und emotionalen Sinnkrise statt.

(S. 55ff.)

Lieber schizophren als ganz allein

Dieser Glaube, den Quell zu kennen, aus dem sich jede andere philosophische, wissenschaftliche, aber auch religiöse und künstlerische, ja überhaupt jede Betätigung des Menschen beurteilen ließ, lähmte jegliches Interesse an allem, was nicht unmittelbar mit diesem Quell in Verbindung stand. Ein Hegel, ein Kant, ein Platon, ein Aristoteles, Thomas und Fichte – sie mochten viele vernünftige Dinge geschrieben haben, die wohl immer auch als Vorbereitungen und Antizipationen der Anthroposophie werden, nie aber das große Tor zur “eigentlichen” Wahrheit aufstoßen konnten, wie es die Anthroposophie in meiner Vorstellung tat. Und noch viel weniger konnten das all jene Philosophen, die nach Steiner lebten und an ihm vorbeigegangen waren. Wie also sollte ich von diesen nur vorläufigen, von Steiners Anthroposophie immer schon übertroffenen Philosophen etwas erwarten, was mir mit der Anthroposophie nicht prinzipiell schon gegeben war? Wie konnte ich überhaupt noch etwas erwarten, wenn ich schon des Rätsels Lösung in Händen hielt?

Diese Erkenntnis verursachte einen nicht unerheblichen Schock bei mir, durch den mein anthroposophisches Weltbild zu erodieren begann. Denn Forschergeist und Idealismus, die romantische Suche nach der blauen Blume, wenn man so will, das war ein unbedingter und wesentlicher Bestandteil meiner Ideologie. Welcher Ernüchterung aber sah ich mich plötzlich gegenübergestellt, als ich erkannte, dass ich bereits im Besitz der blauen Blume sein sollte. Mein Erkenntnis-Idealismus war mit dieser Einsicht auf einen Schlag aller Kraft beraubt. Ich fiel in ein schwarzes Loch, als hätte man mir mein Todesurteil überbracht: Ich sollte am Ende der Suche sein. Es sollte nichts mehr zu entdecken geben. Die Welt: Das war sie! All die Euphorie, die mit dem Entdecken der Welt gerade für einen jungen Menschen verbunden ist, die Begeisterung, mit der man philosophische Richtungen prüfte, verfolgte und wieder verwarf, um nach besseren Anworten zu suchen, um sich und seinen Standpunkt in der Welt zu finden – die ganze existenzielle Fragehaltung eines wahrhaft Suchenden verpufft in der Gewissheit, dass Anthroposophie des Rätsels Lösung sei. Der Zauber der Zukunft und die Erwartung des Unbekannten, das Lebenselixier des jungen Menschen, gerann an meiner Anthroposophie zu einer schalen und wertlosen Brühe.

Und nun geschah etwas Verblüffendes. Ein Student der Philosophie, Wahrheitssucher von Steiners Gnaden, Systematiker und logisch-semantischer Korinthenkacker, einer, der dem Denken die absolute Priorität einräumte und der – so schwer das selbst für mich im Rückblick zu glauben ist – tatsächlich von der Unanzweifelbarkeit seiner Anthroposophie überzeugt war, sagte sich nun Folgendes: Selbst wenn ich mir sicher bin, in der Anthroposophie die letzte Wahrheit gefunden zu haben, so erscheint mir nach allem die Suche nach ihr erstrebenswerter als ihr Besitz. Und ich würde unter allen Umständen lieber auf die Anthroposophie verzichten, wenn mich dies in die Lage versetzte, wieder suchen zu können, Türen zu öffnen, Neues zu finden!

(S. 68-71)

Vgl. Übersinnliche Wellness pur, Endstation Dornach – das sechste Evangelium.


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