Impfungen sind, wie alles, das irgendwie mit Technik zu tun hat, für Anthroposophen eher problematisch: Vielleicht stecken ja die “Geister der Finsternis” dahinter, die die Spiritualität (zer-)stören wollen? (vgl. Löffelchen voll Zucker) Im Gegensatz zu Impfungen sind medizinische Leiden jedoch hoch im Kurs. Im anthroposophischen Standardwerk “Kindersprechstunde”, verfasst von Wolfgang Goebel und Michaela Glöckler, erfährt man, dass Krankheiten (und deren triumphale Überwindung) ohnehin Werk des Schicksals sind, notwendige Zutaten der Freiheit, Wohltaten für das innere Wachstum. (vgl. etwa Goebel/Glöckler: Kindersprechstunde, Stuttgart 1984, 162f.) Dazu passend hört man mit ernüchternder Regelmäßigkeit von Masern-Ausbrüchen an Waldorfschulen. Bei der Waldorf-Verbandszeitschrift “Erziehungskunst”, die laut Plan an die Elternhäuser aller deutschen Waldorfschulen verteilt wird, wurde die Krankheit jüngst sogar regelrecht beworben: In der September-Ausgabe 2015 berichtet die dreifache Mutter Sara Koenen, wie sie die Infektion ihrer Kinder willentlich in Kauf genommen hat. Für Koenen, die Impfen mit Fernsehen vergleicht, war die Krankheit geradezu eine Familienidylle in schnelllebiger Zeit.
Die Einzelheiten des Berichts geben Einblicke in eine sonderbare Parallelwelt, in der die Krankheit von vielen Seiten als großes Vergnügen angesehen wird: Koenen liest etwa die “Kindersprechstunde” und erfährt Bestätigung aus einem Lesekreis, in dem man Steiners “Offenbarungen des Karma” liest. Am gruseligsten ist jedoch der behandelnde “Arzt”, den die Kinderkrankheit geradezu enthusiastisch zu stimmen scheint: “Masern durchmachen ist wie in die Berge gehen”, verkündet er. Sein Vertretungskollege beglückwünscht Koenens Töchter sogar, dass sie hohes Fieber haben. Die Metapher der Bergwanderung wird zum roten Faden des Artikels, alle Stadien der Krankheit erscheinen als glückliche Modi der Selbsterfahrung:
“Die Freundschaft zwischen Edda und Maya ist noch dicker geworden, sie sind jetzt »Masernschwestern«. Unsere Familien hat es richtig zusammengebracht. Wir feiern die gesunde Wiederkehr von der großen Masern-Bergtour mit einem gemeinsamen Ausflug zum Baggersee am Ende der Pfingstferien … Wir haben es geschafft. Es fühlt sich an, wie das Glück, wenn man eine mühsame Arbeit mit Erfolg abgeschlossen hat. … Jedenfalls bin ich meinen Kindern überaus dankbar für diese Masernzeit. Es war eine besondere, intensive Zeit. Und ein großes Innehalten. Zeit, die meine Kinder und mich, auch durch das pflegerische, wieder näher zueinander gebracht hat. Unsere Beziehung hat sich vertieft, in diesem für eine Weile von der Welt abgeschlossenen Zusammenseins, vergleichbar nur mit dem Wochenbett. Ich habe es wie einen Segen empfunden, der uns sicher durch die nächsten Jahre tragen wird”
Eine stilechte Abrundung dieser journalistischen Groteske bieten zwei Leserkommentare: “berührt und ermutigt” fühlt sich Kommentator “Ulrich”. “Malisabeth” bedankt sich herzlich: “Ich bin gespannt, ob und wie wir einmal in die ‘Masern-Berge’ steigen werden. Dieser Artikel hat mir gleichzeitig Respekt und Ehrfurcht vor dieser Krankheit – als auch Mut gegeben.” Die Kontextualisierung dieses Milieus liefert der Artikel praktischerweise gleich mit:
“Durch das Impfen haben wir heute die Möglichkeit, der Krankheit zu entkommen. Die Gesellschaft fordert uns geradezu auf, der Krankheit keinen Raum zu lassen. Mütter gehen arbeiten und Kinder in die Kita. Eine mehrwöchige Krankheit ist da nicht vorgesehen. Geimpft wird nach Plan, da muss ich mich als Eltern schon bewusst dagegen entscheiden. Noch habe ich die Freiheit, aber der Ruf nach einer Impfpflicht wird laut. Aber haben wir dadurch wirklich die Gesundheit? Ist es nicht so, dass etwas in uns bisweilen die Zeit und den Raum benötigt, sich wieder ganz in uns selbst zurückzuziehen, neu zu werden und mit frischer Kraft die nächsten Schritte zu tun?”
Die Flexibilisierung und Ökonomisierung menschlichen Lebens, der sich bis auf weiteres kein Individuum entziehen kann, wird hier durchaus richtig erkannt. Wie schlimm es um unsere Gesellschaft steht, offenbart der Umstand, dass eine Mutter die Erkrankung ihrer Kinder, die sie bewusst herbeigeführt hat, als geruhsames Innehalten und Stärkung der Familienbande erfährt: “Wir haben es geschafft”. Viel mehr Zeit und Raum scheint diese Familie für sich nicht zu haben. Zugleich zeigt sich an der Art, wie diese Situation erfahren und dargestellt wird, ein Charakteristikum esoterischer Ideologien: An ihrem Grunde liegt ein durchaus reales Dilemma, doch weil die reale Lösung ausbleibt wird das Zusammenbrechen am Wegesrand als Befreiung ausgegeben.
Die Metaphorik der “Bergtour” enthüllt den martialischen, sogar sozialdarwinistischen Charakter der dahinterstehenden Metaphysik (wie schon André Sebastiani festgestellt hat): Es hängt von einem selbst ab, ob man den Aufstieg schafft, ob man stark genug ist, ob man die Probe besteht. Deshalb kann Koenen die Infektion heroisch als besondere Leistung ihrer Familie verkaufen. Ironischerweise folgt sie gerade auf diesem Wege gnadenlos dem von ihr kritisierten Diktum der Leistungsgesellschaft, das allerdings verschärft und auf absurde Bereiche ausgedehnt wird. Das völlig sinn- und zwecklose Leiden an Krankheiten gilt als Privileg, als Herausforderung, aus der man seelisch-geistig gestärkt hervorgehe. Das ist nicht nur Unsinn, sondern auch eine sehr kaltherzige Form von Religiosität.
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