Vorwort von Ansgar Martins – Im Januar 2011 hat die Historikerin und Kulturjournalistin Miriam Gebhardt eine historisch-kritische Biographie zu Rudolf Steiner vorgelegt (Rezension hier). Eine knappe, aktuelle Einschätzung bietet Gebhardt auch zur heutigen Situation der Waldorfschulen, die ich hier gern zur Verfügung stellen möchte (vorangegangen ist in im Buch eine ausführliche Diskussion von Steiners Erziehungslehre). Der Deutschen Verlagsanstalt danke ich für die “Abdruck”- Genehmigung.
Waldorfpädagogik heute
(aus: “Rudolf Steiner. Ein moderner Prophet”, München 2011)
von Miriam Gebhardt
Im Lauf des 20. Jahrhunderts hat sich die Waldorfschule von einer krassen Außenseiterin des Reformdiskurses zur wichtigsten Reformschule in Deutschland entwickelt, und das, obwohl sie sich Jahrzehnte lang nicht an den allgemeinen pädagogischen Diskussionen (vor allem im akademischen Bereich) beteiligt hat, eine eigene kritische Aufarbeitung ihrer Desiderate und Defizite schuldig geblieben und als ein Reformkonzept aus dem frühen 20. Jahrhundert ihrerseits seither unreformiert geblieben ist. Wenn wir an alternative Schulformen denken, denken wir heute dennoch fast automatisch an Steinerschulen. Wie kommt das?
Rein organisatorisch war die Gründung eines eigenen anthroposophischen Schulverbandes, des “Bundes der Freien Waldorfschulen”, ein kluger Schachzug, dazu gab es keine Parallele. Auch die Erkenbarkeit bis hin zur Schrifttype und Baustil mochte hilfreich gewesen sein. Stärker als bei anderen Schulreformen scheint auch eine dezidierte Opposition zur öffentlichen Schule gerade in Zeiten hoch emotional geführter Diskussionen um angebliche Erziehungskatastrophen und Bildungsnotstände in diesem Lande vielen Menschen attraktiv erscheinen. Die größten Zuwachsraten erlebte die Waldorfpädagogik allerdings in den frühen achtziger und neunziger Jahren, also zu einem Zeitpunkt, als die um sich greifende marktliberale Ideologie das Individuum verstärkt aus sozialstaatlichen Bindungen lösen und einer zunehmend sowohl räumlichen als auch institutionell entgrenzten Wirtschaft zuführen wollte. Diese Entgrenzung des Individuums hat in den letzten Jahrzehnten dazu beigetragen, dass Mittelschichteltern immer stärker einen geradezu totalen Anspruch auf die Förderung der intellektuellen und psychosozialen Ressourcen ihrer Kinder erheben. Nichts darf und kann mehr dem Zufall überlassen werden, die Werte und Ziele, die das eigene Handeln der Erwachsenen bestimmen, sollen möglichst ungebrochen an den Nachwuchs weitergegeben werden. Dabei sind Privat-Kindergärten und -schulen wie die Waldorfschule (und Alternativen gibt es kaum) eine enorme Hilfe, denn sie gewährleisten von vorneherein eine große Homogenität der sozialen Beziehungen. Eltern und Lehrer teilen Haltungen und Lebensstile, und so darf darauf gehofft werden, dass auch die schulische peer group eine Verlängerung der familiären Lebenswelt darstellt. Auf diese Weise sollen die Kinder möglichst lange vom gesellschaftlichen Wertepluralismus ferngehalten werden, wobei die absolute Ablehnung des Mediengebrauchs das ihre dazu beiträgt.
Die gestiegene Beliebtheit der Waldorfschule ist daher weniger ein Indiz für anti-moderne, anti-wissenschaftliche Sehnsüchte im Bereich der Schule, auch wenn das für eine Minderheit der Familien eine gewisse Rolle spielen dürfte – sie ist in erster Linie ein Symptom für Abstiegsängste in den Mittelschichten und damit einhergehende totale Einwirkungsphantasien der Eltern bezüglich der Karriere ihrer Kinder. Mit der Auswahl der Schule wollen sie ihre Kinder möglichst lange und intensiv an das eigene Herkunfts- und Erziehungsmilieu binden, in der Hoffnung, auf diesem Weg der familiäre kulturelle Kapital zu pflegen. Waldorf heute ist eben nicht für alle da, sondern für einen bestimmten gesellschaftlichen Ausschnitt.
In ihrer sozialen Reichweite hat sich die Reformschule weit von ihren Ursprüngen als Einrichtung für Arbeiterkinder und Kinder bürgerlicher Haushalte entfernt. Während im Bundesdurchschnitt circa zwölf Prozent der Bevölkerung zur akademisch gebildeten Mittelschicht zählen, liegt der Anteil der entsprechenden Hintergründe bei Waldorfschülern bei über vierzig Prozent, mit einem besonderen Schwerpunkt bei (offenbar desillusionierten) staatlichen Lehrern. Die Hoffnungen der Eltern auf kulturelle Reproduktion schienen dabei durchaus berechtigt. Untersuchungen zeigen, dass Waldorfschüler stärker dazu neigen, wiederum Lehr- und Heilberufe zu ergreifen oder sich künstlerisch zu betätigen. Die Wahrscheinlichkeit für einen Waldorfianer, Lehrer zu werden, ist fünfmal so hoch wie für Abgänger anderer Schulen. Allerdings zeigt sich auch, dass die Neigung zu studieren leicht unterrepräsentiert ist. Der Erfolg der Waldorf-Pädagogik, der unbestreitbar ist, misst man die Abschlussquote im Vergleich zum öffentlichen Schulsystem, hängt in erster Linie von diesem sozialen Faktor ab.
Eine Bedingung für das Gelingen von anthroposophischen Schullaufbahnen ist, dass Elternhaus und Herkunftsmilieu sich auf die Weltanschauung der Steinerianer wenigstens in soweit einlassen, dass sie das romantische Kindheitsideal, eine gewisse Askese und Hochschätzung bildungsbürgerlicher Kulturwerte, einen typischen Mittelschicht-Lehrplan und eine gewisse lebensreformerische und antimaterialistische Weltsicht teilen können. Der zeitgenössischen Kindheits- und Jugendkultur sowie der Massenkultur eher abgeneigt, gelingt es Eltern von Waldorfschülern in der Regel, ihrem Kind grundlegende Konflikte zwischen Wertehaltungen in der Schule und im Elternhaus zu ersparen. Auch sind Eltern gehalten, der Forderung nach einer ganzheitlichen Formung des Kinder nachzukommen. Die Idee der in die Schule verlängerten Familie schließt natürlich auch mit ein, dass die Kinder sich einer geschlossenen Front aus Schule und Eltern gegenüber sehen und nicht, wenigstens von einer Partei, Rückenstärkung gegen die andere holen können. Die soziale und kulturelle Kontinuität bringt zwangsläufig einen verengten Horizont mit sich. Differenzierung und Pluralismus sind keine Tugenden der Waldorfschule, ebenso wenig die Symmetrie in den Lehrer-Schüler-Beziehungen. Ein basisdemokratisches Elternhaus sollte eigentlich mit der betont autoritativen Rolle, die Lehrer an der Waldorfschule spielen, in Widerspruch stehen [1].
Zentrale Aufgabe der anthroposophischen Schulausbildung ist die Entwicklungssorge und die Stärkung der persönlichen psychischen, künstlerischen und kognitiven Ressourcen sowie die Harmonisierung der individuellen Einseitigkeiten von Temperament und Konstitution. Die Pädagogik ist abgeleitet von Steiners anthroposophischem Weltbild, von analogem Denken, Ganzheitlichkeit, Lebenspraxis. Die Waldorflehrkraft versteht sich in den Anfangsjahren hauptsächlich als liebevolle Erzieherin und versteht ihre Aufgabe als Gärtner, Heilerin und Priester. Das hat Vor- und Nachteile, wie wir gesehen haben. Bestimmte soziale Fähigkeiten werden stärker ausgebildet: Unabhängigkeit und Teamfähigkeit, ganzheitliches Denken und kreative Problemlösung sehen ehemalige Waldorfschüler zumindest in ihrer eigenen Wahrnehmung als ihre besonderen Stärken an. Vor allem in ihrer Kreativität fühlen sich Waldorfschüler durch ihre Schulausbildung besonders gestärkt. Als nachteilig empfinden sie die geringe Betonung ihrer akademischen Leistungsfähigkeit und ihrer intellektuellen und allgemeinen Verbindung zur Außenwelt – im Licht der anthropologischen [sic] Lehren eine durchaus realistische Selbstwahrnehmung [2]. Darüber hinaus vermissen die Abgänger an sich tendenziell Durchsetzungswillen, Selbstdisziplin, Genauigkeit und Leistungsstreben, während sie sich andererseits für besonders interessiert, unabhängig, tolerant und selbstsicher halten. Als weiteren Vorteil empfinden die Absolventen, dass sie sich weniger stark von ökonomischen Motiven bei ihrer Berufswahl bestimmt fühlen als das allgemein der Fall ist, was aber auch mit ihrem sozialen Hintergrund zusammenhängen kann.
Es bleibt zu erwähnen, dass Steiners Schulen – wie alles, was mit Pädagogik zu tun hat – in Deutschland immer wieder heftig umstritten waren. Das liegt sicherlich an der besonderen Brisanz, die allen erzieherischen Fragen hierzulande grundsätzlich anhaftet, nicht erst seit dem Nationalsozialismus und der deutschen Teilung. Der deutsche pädagogische Diskurs war in der Vergangenheit phasenweise vergleichsweise produktiv – man denke beispielsweise an die in Deutschland gegründete Kindergartenbewegung, die auch international viel Beachtung und Nachahmung fand – andererseits scheinen unterschiedliche Erziehungskonzepte hier schon seit dem 19. Jahrhundert mit besonderer Verbissenheit umkämpft zu sein. Im Fall der Waldorfpädagogik kommt die “Versteinerung” erschwerend hinzu – anders als im anglo-amerikanischen Ausland fehlte es den deutschen Anthroposophen an Reformwillen; Steiners Wort blieb bindend. Das musste sich besonders fatal dort auswirken, wo der Meister in völkerpsychologische, nationalistische oder gar rassistisches Fahrwasser geriet, und diese Quellentexte dann zur Unterrichtsgrundlage gemacht wurden. Zurecht wurde immer wieder der teilweise unkritische Umgang mit den Erblasten Steiners und der Steinerianer angeprangert.
Ein prominentes Beispiel ist der Fall Uehli. Der Waldorflehrer und enge Mitarbeiter des Gurus systematisierte in seinem Buch “Atlantis und die Rätsel der Eiszeitkunst” aus dem Jahr 1936 rassistische Auslegungen der anthroposophischen Kosmologie. Darin heißt es zum Beispiel, der arischen Rasse sei bereits in der atlantischen Zeit “der Keim zum Genie” in die Wiege gelegt worden. Im Sommer 2000 beantragte das Bundesfamilienministerium bei der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften, das 1980 unverändert neu aufgelegte Buch zu verbieten. Es erfülle zweifelsfrei den Sachverhalt der Rassendiskriminierung. Der Geschäftsführer des Waldorfschulbundes distanzierte sich daraufhin aufgrund des großen öffentlichen Echos von Uehlis Buch und versicherte, der Titel werde von der Liste der Waldorflektüre verschwinden. Nachdem auch der Verlag die Restauflage eingestampft hat, verzichtete die Bundesprüfstelle auf eine Indizierung.
Aufregung verursachen auch immer wieder rechtsradikale Lehrer an Waldorfschulen, die sich möglicherweise von Steiners Völkerpsychologie angezogen fühlen und die Arbeitsmöglichkeit abseits vom öffentlichen Dienst schätzen. Diese Fälle lassen sich jedoch nicht verallgemeinern. Da jede Waldorfschule ihre eigenen pädagogischen Richtlinien verabschiedet, muss die eigene Schule unter die Lupe nehmen, wer wissen will, ob das eigene Kind Literatur aus dem völkischen oder rassistischen Giftschrank vorgesetzt bekommt beziehungsweise Lehrer, die sich danach ausgebildet haben.
Über die aktuelle Waldorf-Situation resümiert Helmut Zander:
“Die Identität von Waldorfschulen scheint sich in einem komplexen Prozess auszumitteln, in dem eine selektive Beanspruchung von Steiners Werk, lokale Interessen von Schulen und Kollegien und die steuernde Gewalt des ‘Bundes der Freien Waldorfschulen’ in Stuttgart wichtige Positionen einnehmen.”[3]
Der kleinste gemeinsame Nenner bleibe aber doch immer Steiners umfangreicher Vortrags- und Schriftenkorpus.
Neben der Frage des Unterrichts auf Grundlage menschlich und historisch inakzeptabler Positionen Steiners beschäftigt auch die Frage des christlichen Religionsunterrichts immer wieder die Waldorfpädagogik. Dass Protestanten und Katholiken durch entsprechende Schulstunden priveligiert werden, war ein Kompromiss, den Steinerschulen mit dem Staat schließen mussten. Religionslehrer sind aber heute nicht den anderen Waldorf-Lehrern im Kollegium gleichgestellt. Der Dreigliederungs-Idee der Anthroposophie widersprach die Staatsnähe der großen christlichen Kirchen, und so gab es immer wieder Anläufe, die enge Vermählung von Staat und Kirche infrage zu stellen. Seit den achziger Jahren versuchen Anthroposophen auch an öffentlichen Schulen dagegen vorzugehen.
“Die Anthroposophie verträgt sich nicht mit dem Staatschristentum und damit auch nicht mit der bayerischen Politik”,
heißt es auf der Homepage des Instituts für Dreigliederung, das die Klage des Grundschullehrers Ernst Seler gegen das Kruzifix in bayerischen Klassenzimmern unterstützte.
“Anthroposophie heißt eben auch soziale Dreigliederung, welche für den Einzelnen absolute Religionsfreiheit bedeutet. Der Staat darf von daher Kruzifixe in Schulen weder aufhängen noch abhängen lassen. Die soziale Dreigliederung bedeutet aber noch mehr, nämlich völlige pädagogische Freiheit des einzelnen Lehrers. Der Staat und seine Lehrpläne haben demnach in Schulen überhaupt nichts zu suchen. Inhalt der Schulerziehung ist Privatsache. Daraus ergeben sich ganz neue Gesichtspunkte zur Beurteilung der Kopftuch-Debatte.”[4]
Neben solchen mehr oder weniger ernsthaften Umtrieben im Zusammenhang mit der Waldorfbewegung muss allerdings auch auf eine entgegengesetzte Entwicklung hingewiesen werden: Durch das rasante Wachstum der Waldorf-Pädagogik ist es immer schwieriger geworden, in der Wolle gefärbte Anthroposophen als Lehrer zu finden. Hinzu kommt eine angeblich extrem hohe Fluktuation des Lehrpersonals aufgrund der hohen Arbeitsbelastung jedes Einzelnen. Das führt dazu, dass viele Lehrkräfte an Waldorfschulen inzwischen wenig oder so gut wie nichts über die Anthroposophie wissen und daher Entsprechendes auch nur sehr begrenzt weitergeben können. Wie stark anthroposophisch orientiert eine Waldorfschule am Ende ist, hängt vom Einzelfall ab. Eine verallgemeinernde Beurteilung ist deshalb nur begrenzt möglich. Am Ende muss man bei einer Bilanz der Waldorfpädagogik wohl unterrichtspraktische Vorteile und den vergleichsweise individuellen psychosozialen Schon- und Entfaltungsraum gegen die anthroposophische Entwicklungsmythologie mit ihren anti-intellektuellen Komponenten abwägen [5].
Textauszug aus: Miriam Gebhardt: Rudolf Steiner – Ein moderner Prophet, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2011, S. 297-304.
Ein weiterer Auszug ist hier online zu finden.
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- © Quirin Leppert
Miriam Gebhardt, geboren 1962, ist Historikerin und Journalistin.
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Fußnoten
[1] Till-Sebastian Idel: Waldorfschule und Schülerbiographie – Fallrekonstruktionen zur lebensgeschichtlichen Relevanz anthroposophischer Schulkultur, Wiesbaden 2007.
[2] Ebd., 193.
[3] Helmut Zander: Anthroposophie in Deutschland, Göttingen 2007, S. 1450.
[4] http://www.dreigliederung.de/news/01121800.html.
[5] Rüdiger Iwan: Die neue Waldorfschule. Ein Erfolgsmodell wird renoviert, Hamburg 2007.
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