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Albert Steffen: Der Auszug aus Ägypten

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„Wo Deutsche sich auf eine Auseinandersetzung mit den Juden in humanem Geiste eingelassen haben, beruhte solche Auseinandersetzung stets, von Wilhelm von Humboldt bis zu George, auf der ausgesprochenen und unausgesprochenen Voraussetzung der Selbstaufgabe der Juden, auf der fortschreitenden Atomisierung der Juden als einer in Auflösung befindlichen Gemeinschaft, von der bestenfalls die Einzelnen, sei es als Träger reinen Menschentums, sei es selbst als Träger eines inzwischen geschichtlich gewordenen Erbes rezipiert werden konnten.“
– Gershom Scholem: Noch einmal: Das “deutsch-jüdische Gespräch”,
in: ders.: Judaica, II, Frankfurt a.M. 1970, 9.

Nicht alle Vorstudien und Recherchen im Zusammenhang mit der Hans Büchenbacher-Edition sind in das veröffentlichte Buch inhaltlich eingegangen. Unter anderem eine kurze Betrachtung zu Albert Steffens expressionistischem Drama “Der Auszug aus Ägypten”, 1916 veröffentlicht. Es geht um die entsprechende Bibelpassage: Die Auswanderung der Israeliten aus dem pharaonischen Ägypten unter Mose. Dieses Stück ist unter anderem interessant, weil Steffen, der Hitler nachweislich verachtete, aber nicht gegen Nazis in der Führungsebene der Anthroposophischen Gesellschaft vorging, sich entschieden gegen jeden Antisemitismus verwahrte. Wie sah – gute 30 Jahre vor Beginn der nationalsozialistischen Diktatur, Steffens Einschätzung des biblischen Judentums aus? Im “Auszug aus Ägypten” exerziert Steffen die (unbiblische und dem jüdischen Verständnis von Nation völlig entgegengesetzte) Völker- und Entwicklungsleiter der Anthroposophie durch. Die evolutionäre Ordnung wird an der Konfrontation von Israeliten und Ägyptern veranschaulicht – erstere gelten als höher entwickelt, aber nur als Vorbereiter Christi.

steffencover

Steffen, Nachfolger Steiners als Vorsitzender der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft, hat Hitler als dämonisch abgelehnt und von der gefährlichen Verführung des Nationalsozialismus gesprochen. [1]  Er beobachtete die Judenverfolgung mit Schrecken. Steffen, dessen dichterische Bekanntheit nach 1900 öfter verkannt wird, hat sich mit so manchem zeitgenössischen Denker und Schriftsteller (und diese mit ihm) auseinandergesetzt. Dazu gehörte Else Lasker-Schüler, die auch den „Sturz des Antichrist“ besuchte und möglicherweise Motive aus Steffens zahlreichen Arbeiten übernahm.[2] 1913 hörte er zum ersten Mal einen Vortrag Martin Bubers. „Ich fühlte zum eigentlich ersten Male im Leben das Judentum in mir“, schrieb er in sein Tagebuch.[3] In der Wohnung seines jüdischen Freundes Stanislas Stückgold, der Maler war und ihn 1919 portraitierte, wurde Steffen Buber zum ersten Mal vorgestellt. Retrospektiv war dies für ihn eine der „wertvollsten Menschenbegegnungen“.[4] Zwischen beiden hatten sich ein gelegentlicher Briefwechsel und weitere Vortragsbesuche angeschlossen. 1947 besuchte Buber Steffen in Dornach, sehr wohl mit Interesse, was auf seine Ablehnung der Anthroposophie keinen Einfluss ausübte (nach Steffens Ansicht: „er geht an Rudolf Steiners Werk vorüber.“[5]).[6] 1935 heiratete Steffen die inzwischen verwitwete, aber bereits länger mit ihm verbundene Elisabeth Stückgold. Die Adoption ihrer behinderten Tochter sah er, wie aus seinen Tagebüchern hervorgeht, auch als Protest gegen die Euthanasie im Nazistaat (vgl. 3.). Büchenbacher schildert Steffen als einen Verbündeten in Dornach, der nach 1933 zu keinem Zeitpunkt antijüdisch agitiert habe. Steffen war jedenfalls alles andere als ein überzeugter Antisemit, obwohl sich auch in seinem Denken hartnäckig die Betonung eines jüdischen „Blutsprinzips“ hielt, das Hitler sich gegen die Juden angeeignet habe[7] –gerade diese Konstellation macht seine dichterischen Überlegungen zum Auszug der Israeliten aus Ägypten äußerst aufschlussreich.

Den ersten Akt des Dramas bildet ein Streitgespräch zwischen Moses und Ramses II. Der Pharao erscheint dabei als kurzsichtiger, weil ethnozentrischer, aber auch ängstlicher Tyrann. Er wird immer verzweifelter, weil sich auch Sohn und Gattin zu Moses Prophetie bekennen. Auf seinen Vorwurf „Ägypten scheint Dir weniger als Kanaan“ antwortet Moses: „Wir ziehn nach Kanaan, auf dass ein Bild für jedes Gottessucherschicksal werde. Es lebt in uns der ungebaute Tempel, zu dessen Schwelle alle Völker wallen. Denn Israel, als priesterlichem Volk, ist diese Tat bestimmt, nicht nur für sich, nein zur Erneuerung der ganzen Welt.“[8] Das Theologumenon der Gottesebenbildlichkeit verknüpfte Steffens Moses mit einer (ontologisch in Jahve verwurzelten) Reinkarnationsgeschichte. „O sieh dich sterben, sieh dich wiederkommen, nicht als Ägypter, nicht als Israelite, als freier Mensch, der in der Gottheit wurzelt. Bis dahin werden viele Völker sinken. Der Einzelne, er lebt, wenn er sich will als Kind der Gottheit, deren Name ist: Ich, der Ich bin war und werde – Jahve“. [9] Ägypten erscheint als atavistischer Vergangenheitskult und Moses wie ein in die Antike versetzter Anthroposoph, der dem Pharao die „die Sphinx bezwingenden“ Kräfte des „Sonnengeistes“ vorhersagt. Erst bei letzterem Appell, nicht bei der Lobpreisung Jahves, wird der Pharao (zumindest vorübergehend) einsichtig, will sein „eng ägyptisch Wesen opfern“, weil er sieht, „dass einst der Sohn der Sonne niedersteigt, zu wohnen in dem Leibe eines Menschen, der einem starken Stamm entsprossen ist“. Moses blieb „Vorbereiter“ Christi.[10]

Das auserwählte Volk war jenes, das Christus sich zur Inkarnationsmaterie erkoren hatte. Auch die lineare anthroposophische Kulturevolution legte Steffen seinem Moses in den Mund. Nachdem der Pharao im zweiten Akt beschließt, Moses doch noch als Feind der Ägypter zu verfolgen, antwortet jener: „Das Feuer, das uns [die Israeliten, AM] nährt, verzehrt Ägypten … Wir leben schon die nächste Weltenstufe, wir leben sie, und wer nicht mit uns lebt, sinkt hin … und wer sich stemmen und abseits stellen will, zerstört sich selbst.“ Wenig befreiend wirkte da die Verheißung der Reinkarnation des Individuums auf verschiedenen Kulturstufen („dass jeder Mensch den ewigen Gang der Seele sehen muss“). Der unerbittliche Weltenplan, den Steffens Moses predigt, überzeugt den Pharao jedoch nicht („Ich feg dies Bild hinweg!“), er ruft sein Reich zusammen. Die Regieanweisung beschreibt eine „dumpfe Masse der Ägypter … langsam, mit verhaltener Roheit“. [11]

Die Ägypter stürzen sich zur Verzückung des Pharaos auf die Israeliten. Sein Sohn warnt: „Du lässt den Völkerteufel los in ihnen, den Israelitenhass, der lange schon den Augenblick erlauert hat, zu wüten.“[12] Dieses Bild erklärt den „Israeliten“- und das heißt wohl auch „Judenhass“ – zum dumpfen, rohen Antagonismus der Höherentwicklung, als „Völkerteufel“, der sich der kosmischen Vorsehung entgegenstellt. Der mordlustige Mob der Ägypter regrediert auf die Stufe der „Tierheit“.[13] „Die Lippen warten schon, um zu zerfleischen, sie sprechen nicht mehr Gottesworte aus … der Leib voll Gier, die wie die Schlange schleicht. Sieh doch die Schnauzen, Rüssel, Wackelköpfe.“[14]

Unterdessen wird der Pharaonengattin bzw. ihrer Seele, die in einer Pyramide als Sphinx mit Moses kommuniziert, mitgeteilt, dass ihr Sohn seinen mordlustigen Vater zur Rache erschlagen wolle. Die in der Pyramide offenbar zur Clairvoyance gekommene Gattin ruft ihrem Kind entsetzt zu: „Die dunklen Triebe von Ägypten sind von ihm zu dir gelangt.“[15] Daraufhin opfert sich der Sohn freiwillig stellvertretend für seinen Vater und die Sünden Ägyptens. Für den Pharao bleibt das folgenlos, der zu allem Überfluss gleich darauf auch noch von seiner Frau verlassen und von Dämonen in Besitz genommen wird. Er beschließt, die inzwischen hastig ausgewanderten Israeliten weiter zu verfolgen. Im dritten Akt, noch während er im Roten Meer versinkt, kündigt der diabolische Pharao seine schreckliche Rache aus dem Jenseits an, wo sich „die finstren Sterbekönige“ um ihn versammeln würden, um die Israeliten „zum schwarzen Abgrund nieder“ zu drücken: „Mein Arm wird lang, mein leibbefreiter Geist ersinnt ihm Waffen, die euch doch erreichen, den Tod der Menschheit über weite Meere und durch die fernste Zukunft tragende … so erfass ich euch.“[16]

Steffen stellte in der Nebenhandlung auch Rettung in Aussicht, die sich interessanterweise mit den zwei weiblichen Figuren verbindet: In der Pharaonengattin und in Moses Schwester Myriam. Die Pyramidenszene der ersten zeigt, wie deren sphinxgestaltige Seele durch Moses geläutert wird. Diese Katharsis weiblicher Intuition vollendet sich schließlich im Freudentanz der Miriam, hinter der die Sonne aufgeht, als würde sie selbst leuchten.[17] Um die Interpretation dieser Stelle eindeutig zu machen, steuert Steffens Moses auch gleich das anthroposophische Konzept dahinter bei: Miriams Tanz zeige dem (gerade im Meer ertrinkenden) Pharao „das Bild der Seele, die sich mit dem Geist durchdringt, der alles Dunkle, das im Meer verborgen ist und tückisch lauert, tilgt, … und uns hindurchträgt durch jedes Graun“. Er beschreibt Miriam als „Weib, das die Sonne trägt“, was auf die Schilderung der sonnenhaften Gottesmutter in der Johannesapokalypse hinweist.

Die mit neutestamentarischen Anspielungen gespickten Schlussseiten des Dramas zeigen, dass Steffen die eschatologische Erlösung von den Wunden der Geschichte, von Mord, „Israelitenhass“ und verrohten Massen, im Bekenntnis zu Christus sah. Die plakativen Bilder und Symbole des „Auszugs aus Ägypten“ demonstrieren die damals gängige anthroposophische Antisemitismuskritik: Der Hass auf die Juden wird als Rückfall in ethnozentrischen Blutrausch, in überwundene und inzwischen vom Bösen in Besitz genommene Schichten der seelisch-menschheitlichen Entwicklungsskala beschrieben. Zugleich aber erscheint das Judentum nicht an sich, sondern als Träger des Fortschritts und Vorstufe zum Christentum als positiver Faktor der spirituellen Geschichte. Was auf die Ägypter zutraf, würde hier nach dem Erscheinen Christi auch das Judentum treffen. So entfaltet Steffen zwar eine intentional wertschätzende Behandlung des Judentums aus anthroposophisch-evolutionärer Perspektive, in der aber zugleich jene Geschichtsteleologie mitschwingt, die bei anderen Autoren zum unverhohlenen Antisemitismus wurde. Es ist die Forderung nach steter Fungibilität, bereitwilliger Einordnung jedes Interesses unter den Steinerschen Evolutionsprozess, das anthroposophischen Antisemitismus ebenso durchdringt wie die auf die Antike beschränkte Steffen’sche Würdigung des Judentums.


Anmerkungen

[1] Vgl. dazu “Die nazistischen Sünden der Dornacher” (PDF)

[2] Vgl. Sigrid Bauschinger: Else Lasker-Schüler. Biographie, Göttingen 2004, S. 360f. Um 1900 hatte Lasker-Schüler auch mit Steiner zu tun, vgl. Helmut Zander: Rudolf Steiner, S. 110, 148.

[3] Steffen, Tagebucheintrag vom 6. März 1913, zit. n. Gerhard Wehr: „Was sollen uns, wenn es sie gibt, die oberen Welten?“ Martin Bubers Missverstehen der Anthroposophie – aus der Sicht Hugo Bergmans und Albert Steffens, in: Ralf Sonnenberg: Anthroposophie und Judentum, S. 135.

[4] Steffen, Tagebucheintrag vom 29. Mai 1962, zit. n. ebd.

[5] Steffen, Tagebucheintrag vom 26. März 1958, zit. n. ebd., S. 135.

[6] Bei dem Besuch 1947 sprachen beide auch über den Palästinakonflikt: „Die Gespräche drehten sich um die Möglichkeit eines neuen Krieges. Buber sah ihn gegen das Jahr 1960 kommen, wenn nicht neue Methoden kämen … Ich fragte ihn nach dem Verhältnis der Juden und Araber, das einer Katastrophe zutreibt … Er: Das Gute sei, dass jetzt Christen und Juden zusammen gingen.“, Tagebucheintrag vom 29. Juni 1947, in: Hinweise und Studien, 8/9, S. 44.

[7] Über Hitler notierte er am 14. Mai 1936 in sein Tagebuch: „Vor allem hat er die Lehre vom Blut, welche die Juden hatten, sich zu eigen gemacht. Nur das Deutsche hat er nicht.“, in: Hinweise und Studien, 4, S. 26.

[8] Albert Steffen: Der Auszug aus Ägypten/Die Manichäer. Zwei Dramen, Berlin 1916, S. 18.

[9] Ebd., S. 20f.

[10] Ebd., S. 30f.

[11] Ebd., S. 38f.

[12] Ebd., S. 40.

[13] Ebd., S. 49.

[14] Ebd., S. 59.

[15] Ebd., S. 50.

[16] Ebd., S. 70.

[17] Vgl. ebd., S. 72.


Einsortiert unter:Albert Steffen, Anthroposophie und Nationalsozialismus, Hans Büchenbacher, Literarisches

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