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Neues Buch. Hans Büchenbacher: Erinnerungen 1933-1949

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“Die Goetheanumleitung wird sich doch immer mehr und mehr identisch erklären mit dem Nationalsozialismus … Der Dr. Rascher, der gute Beziehungen hat zu dieser Richtung, wird jetzt funktionieren als derjenige, der nun in Deutschland die Dinge zu tun hat … Da geht schon die Richtung der Machthaber in Deutschland und der Leitung hier in der gleichen Linie. Das sind schwerwiegende Dinge.“
– Ita Wegman an Fried Geuter und Michael Wilson, 14. Oktober 1933

Der Anthroposoph Hans Büchenbacher (1887-1977) hat an seinem Lebensabend “Erinnerungen” verfasst, die eine immer wieder hysterisch erwähnte, aber erst anfänglich aufgearbeitete Beziehungsgeschichte thematisieren: Die Beziehung von Anthroposophie und Nationalsozialismus. Mit großer Verbitterung beschrieb der promovierte Philosoph und glühende Steiner-Anhänger, was er als ideologischen (Selbst-)”Verrat” seiner geliebten Anthroposophischen Gesellschaft im nationalsozialistischen Deutschland erlebte. Der als “Halbjude” ab 1933 sukzessive aus dem Vorstand der deutschen Anthroposophen Gedrängte hatte ironischerweise bereits im Mai 1922 einen deutschnational motivierten Anschlag auf Rudolf vereiteln können.

Seine bewegte Biographie führt tief in den Untergrund des alternativkulturell-okkultistischen Labyrinths von Kaiserreich und Weimarer Republik – und in die abgründigen Positionen deutscher Anthroposophen im Hitler-Fieber, von denen manche gar das Verbot der Anthroposophischen Gesellschaft durch die Nazis 1935 begrüßten, so Büchenbacher: “Dass die Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland verboten worden sei, wäre ja schliesslich nicht schade, denn sie sei doch imgrunde nur ein Verein von alten Tanten gewesen. Aber jetzt würde eben eine richtige Anthroposophische Gesellschaft entstehen.” Aber Büchenbacher berichtet auch von antinazistischen Steiner-Schülern wie Johannes Hohlenberg, die sich, wie er selbst, 1933 oft nicht nur im Fadenkreuz des Judenhasses, sondern auch zunehmend im Konflikt mit ihren Glaubensgenossen wiederfanden. Schließlich warf Büchenbacher seinen Mitbrüdern Versagen vor dubiosen “okkulten Mächten” im Nazismus vor, die die kosmische Mission der Anthroposophischen Gesellschaft unheilbar aus der Bahn geworfen hätten. Die Erkenntnis sei nach 1945 Verdrängung gewichen – “Sie müssen das doch nicht mehr wissen”, hatte ihm 1946 Ernst Aisenprais offiziös verlauten lassen.

Hans Büchenbacher: Erinnerungen. Die ersten Auszüge wurden bereits 1999 in “Info3″ abgedruckt

Büchenbachers Anschuldigungen und esoterische Spekulationen fordern eine historische und ideologiekritische Klärung heraus. Im Frankfurter Info3-Verlag werden 2014 Büchenbachers “Erinnerungen 1933-1949″ veröffentlicht (hier zum Spendenaufruf). In fünf umfangreichen Anhängen habe ich die Ehre und das Vergnügen, eine weitere historische Einordnung vorzunehmen – zunächst wird das Buch auch eine erste Biographie dieses wendigen Denkers enthalten. Sein Weg führte vom freistudentischen Kreis um Philipp Berlin und Karl Korsch ins Zentrum der “Dreigliederungsbewegung”, vom scharfen binnenanthroposophischen Kritiker zum Vorsitzenden der Dornach-treuen Anthroposophen 1931, von der psychologischen Ästhetik Theodor Lipps’ zum Bemühen um eine philosophische Anthroposophie, die auch zu Schmuel Hugo Bergman, Herbert Witzenmann und Heinz Zimmermann ausstrahlte.

Büchenbachers Kontakte, etwa zu dem Mediziner und Nazi Hanns Rascher (Vater des berüchtigten KZ-Arztes Sigmund Rascher) werfen weiter die Frage nach Kontakt und Vernetzung zwischen anthroposophischen und völkisch-theosophischen Gruppen vor 1933 auf, die in einem weiteren Anhang angerissen werden. Anhang 3 und 4 gehen schließlich der anthroposophischen Geschichte in Deutschland und der Schweiz 1933-1945 nach. Büchenbachers Kommentare zu den sog. “nazistischen Sünden der Dornacher” erweisen sich dabei großenteils als belastbare Hinweise auf die Dynamiken der Anthroposophen im Schatten des Nationalsozialismus.

Hierzu liegen bereits fundierte Publikationen (vor allem Arfst Wagner 1991ff., Uwe Werner 1999, Peter Bierl 2005, Ida Oberman 2008 und Peter Staudenmaier 2010) vor. Diese scheinen aber zumindest in zweierlei grundsätzlicher Hinsicht ergänzt werden zu müssen: Im Hinblick auf die faktische Vielfalt der anthroposophischen Positionen zum deutschen Faschismus und unter Beachtung der personellen und Machtstrukturen, die sich 1933 in der Anthroposophie etablierten. Hierbei kommt dem erwähnten Rascher sowie Roman Boos (1889-1952), manischer Fan der “deutschen Erneuerung” in der Dornacher Zentrale, mehr als nur eine Schlüsselrolle im Herzen der organisierten Anthroposophie zu. Last but not least ist die Geschichte jüdischer Anthroposophen ungeschrieben: von kulturzionistischen Zirkeln und den kabbalistischen Interessen eines Albrecht Sellin, Adolf Arenson oder Ernst Müller (der im Sohar das “Geistige und Geistigste der Anthroposophie” sah) über zerrissene Figuren jüdischen Selbsthasses wie Ludwig Thieben, Norbert Glas oder Karl König zu Flucht, Emigration und Ermordung jüdischer Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft.

An und mit Büchenbacher lässt sich über ein halbes Jahrhundert anthroposophischer und eben auch: deutscher Geistesgeschichte schreiben. An Einzelbiographien und in der historischen Analyse zeigt sich, dass sicher geglaubte Fronten von rechts und links, von Wissenschaft und religiöser Inbrunst, von bürgerlicher Sicherheit und okkultistischer Avantgarde, Politik und Geisterseherei und schließlich von Mystik und Massenmord weit weniger aufrecht erhalten lassen, als uns das allen lieb wäre.

Helfen Sie mit, dieses Buchprojekts zu realisieren! Für die Drucklegung des Manuskripts bitten wir noch um Spenden.


Einsortiert unter:Anthroposophie und Nationalsozialismus, Hans Büchenbacher, Hartmut Traub, Literarisches

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