âAus der vehementen Ablehnung der Anthroposophen durch Dietrich Eckart [einen Mentor Hitlers] können wir viel lernen. Wenn er so stark auf sie reagierte â und er war nicht der einzige völkische Denker, der das tat â, dann muss er sie sehr ernst genommen haben. Damit hatte er Recht, denn Deutschland schien bereit, jede mögliche Alternative zu seinem alten unglĂŒckseligen System auszuprobieren. Doch in gewisser Hinsicht stellte die völkische Reaktion das ZugestĂ€ndnis dar, dass beide Lager auf derselben Ebene operierten. Ein Teil der völkischen Wut wuchs aus der Erkenntnis, dass es hier eine andere Vision des Universums gab, die âgeistigâ zu sein beanspruchte. Hatten nicht die Propheten des âVolkesâ das Monopol auf die geistige Politik, waren nicht sie allein wirklich âgeistreichâ?â
â James Webb: Das Zeitalter des Irrationalen.
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Die jĂŒngst wieder ausgebrochene und auch auf diesem Blog gefĂŒhrte Debatte zum Thema Anthroposophie und Faschismus blubbert munter. ZufĂ€llig zum genau passenden Zeitpunkt ist nun weiteres Material verfĂŒgbar, das einen ganz anderen Aspekt hervorspielt: Anthroposophinnen und Anthroposophen im antifaschistischen Widerstand. Das fĂŒr April angekĂŒndigte Buch ââEs lebe die Freiheit!â Traute Lafrenz und die WeiĂe Roseâ (Peter Norman Waage) ist unerwartet frĂŒher erschienen. Ich nehme das zum Anlass, hier ein weiteres, weitgehend unbekanntes Kapitel der verzweigten und widersprĂŒchlichen Rezeptionsgeschichte der Anthroposophie zu schildern: Die EinflĂŒsse anthroposophischen Gedankenguts auf âdenâ Widerstand gegen den Nationalsozialismus.
Traute Lafrenz
So unbefleckt wie die namengebende BlĂŒte ist die Weste der Widerstandsgruppe âWeiĂe Roseâ wohl nicht gewesen: Der Historiker Sönke Zankel hat mit dem bundesdeutschen Mythos der lauteren demokratischen Studenten mit antinazistischen Ambitionen aufgerĂ€umt und zeigte etwa elitĂ€re SelbstverstĂ€ndnisse in der Widerstandsgruppe oder die antijĂŒdischen Ressentiments bei Hans Scholl auf. Respekt gebĂŒhrt der engagierten Gruppe nichtsdestominder. Die zeitweilige Freundin Scholls, Traute Lafrenz, hat es in einem SZ-Interview vom 3.05.2002 infolgedessen als âpeinlichâ bezeichnet, dass die FlugblĂ€tter der âWeiĂen Roseâ keine direktere Position zur âJudenfrageâ bezogen (vgl. Zankel: Mit FlugblĂ€ttern gegen Hitler, Köln u.a. 2008, 510 â das Buch wurde auch stark kritisiert). âInsgesamtâ, so Zankel, âkann fĂŒr Traute Lafrenz konstatiert werden, dass fĂŒr sie die Worte Inge Scholls noch am ehesten zutreffend sind: der âgroĂe Wettkampf um das Leben der Freundeâ.â (ebd., 448). âIhre AktivitĂ€ten waren von entscheidender Bedeutung, wurden von der Nachwelt jedoch wenig beachtet. Sie selbst zieht es vor, sich als Zeitzeugin zu bezeichnen. Sie weist konsequent jede Art von Ehrbezeugung ab, aus Respekt vor all denjenigen, die so viel mehr taten als sie.â (Waage: âEs lebe die Freiheit!â Traute Lafrenz und die WeiĂe Rose, Stuttgart 2012, 9 â das 2010 mit dem norwegischen Riksmalfortbundets litteraturpris ausgezeichnete Buch wurde vom anthroposophischen Urachausverlag ins deutsche ĂŒbersetzt).
Lafrenz ist vor allem als Verbindung zwischen der Hamburger und der MĂŒnchener Gruppe der WeiĂen Rose bekannt, sie sorgte fĂŒr die Weiterverbreitung von Informationen und FlugblĂ€ttern und bemĂŒhte sich nach der Verhaftung der Geschwister Scholl u.a. um die Vernichtung von Beweismaterial, wurde inhaftiert, frei gelassen, erneut inhaftiert â eine genaue Dokumentation bietet das Archiv der âWeiĂe Rose Stiftungâ (und eben das kĂŒrzlich erschienene Buch von Waage). Lafrenz wanderte nach dem Krieg in die USA aus, wo sie Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft und der âErsten Klasseâ der Dornacher âHochschule fĂŒr Geisteswissenschaftâ wurde. Bis 1992 war sie Leiterin der âEsperanza Schoolâ, einer heilpĂ€dagogischen Einrichtung auf anthroposophischer Grundlage. Heute hat Lafrenz vier Kinder und sieben Enkel und lebt in South Carolina. Als âWeiĂe Rose der Anthroposophieâ wurde sie in einem Newsletter der ortsansĂ€ssigen Anthroposophischen Gesellschaft bezeichnet, Ausstellungen widmen sich auch ihrer Person, 2009 erhielt sie die Herbert-Weichmann-Medaille von der jĂŒdischen Gemeinde Hamburg (vgl. Kathleene Wright (?): Anthroposophyâs âWhite Roseâ, in: Sophia Sun â Newsletter of the Anthroposophical Society in North Carolina, June 2008, I, 3, 30). Wie kam Traute Lafrenz zur Anthroposophie?
In die Aktionen der âWeiĂen Roseâ war Traute Lafrenz nicht zufĂ€llig und nur durch den Kontakt zu den zentralen Figuren der WeiĂen Rose, Scholl,  Kucharsky und Schmorell, involviert. Eine wichtige Rolle fĂŒr die Motivation von Kucharsky und Lafrenz spielte die Lehrerin Erna Stahl (1900-1980). Sie hatte Deutsch, Geschichte und Kunstgeschichte in Wien studiert, bevor sie nach dem zweiten Staatsexamen eine Klasse in der reformpĂ€dagogischen Lichtwark-Schule ĂŒbernahm (Vgl. Zankel a.a.O., 531). In dieser Klasse war neben Kucharsky und Lafrenz auch Margareta Rothe, die ebenfalls im Kreis der âWeiĂen Roseâ tĂ€tig war und dafĂŒr hingerichtet wurde. Die Lichtwarkschule, deren von Alfred Lichtwark konzipiertes Programm ĂŒbrigens von Steiner nur ein einziges Mal, aber zustimmend zitiert wurde (Steiner: GA 298, 53), war mit der WaldorfpĂ€dagogik zumindest im Ă€sthetischen und ânaturnahenâ Anspruch vergleichbar (vgl. Zander: Anthroposophie in Deutschland, Göttingen 2007, 1388, 1422).
Erna Stahl
Peter Norman Waage zitiert die Erinnerungen von Lafrenz ĂŒber die spezifische PrĂ€gung von Erna Stahls Unterricht:
ââUnsere war ihre erste Klasseâ, berichtet Traute. âIch stieĂ im sechsten Schuljahr dazu. Die Lehrer konnten ihren Unterricht mehr oder weniger so gestalten, wie sie es selbst wollten. Erna Stahl war von der WaldorfpĂ€dagogik inspiriert. Sie hatte einen guten Freund, der Waldorflehrer war, und bediente sich einer ganzen Reihe entsprechender Methoden. Sie hatte offensichtlich auch Steiner gelesen, das begriff ich im Nachhinein. Ich bin die einzige unter ihren SchĂŒlern, die spĂ€ter mit der Anthroposophie weitergemacht hat; tatsĂ€chlich habe ich kurz nach Abschluss der Schule angefangen, âDie Philosophie der Freiheitâ [GA 4] zu lesen. Ich habe auch versucht, Hans [Scholl] dafĂŒr zu interessieren, aber das funktionierte ĂŒberhaupt nicht.â (Lafrenz zit. in: Waage a.a.O., 29)
âDie Literatur, die Hans zu dieser Zeit las, strahlte eine ethisch-moralische Kraft ausâ, erzĂ€hlt Traute. âEs waren einige sogenannte neokatholische Schriften, aber es handelt sich nicht nur um religiöse Literatur. In der ersten Zeit nach der MachtĂŒbernahme durch die Nationalsozialisten waren alle politisch Oppositionellen verhaftet worden. Die Opposition, die ĂŒbrig blieb, grĂŒndete sich auf Ethik und auf ein spirituelles Erleben der Welt [eine Perspektive, die scheinbar den kommunistischen Widerstand vollstĂ€ndig ausblendet â AM] ⊠Doch mein Interesse galt der Anthroposophie, die mir trotz allem nĂ€her stand als der Katholizismus. Ich traf mich in dieser Zeit auch mit anderen Leuten; wir lasen Rudolf Steiners âPhilosophie der Freiheitâ. Hans stand Steiner völlig fremd gegenĂŒber.â (zit. n. ebd., 58, vgl. auch Katrin Seybold: Katz und Maus).
âDabei fĂ€llt mir ein, dass das, was uns als Einzelne wĂ€hrend dieser Zeit am tiefsten anging, nĂ€mlich, wie jeder von uns ein aufrichtiges VerhĂ€ltnis zum Christentum zu bekommen anfing, selten oder nie besprochen wurde.â (Traute Lafrenz in: Inge Scholl: Die WeiĂe Rose (1982), Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1992, 170 â ihr Bericht wird als einer der zuverlĂ€ssigsten in der Literatur zur WeiĂen Rose gerechnet, vgl. Zankel a.a.O., 543)
Traute Lafrenz Erinnerungen an Stahls Unterricht werden aus anderen Quellen bestĂ€tigt. Verschiedene ehemalige SchĂŒler haben v.a. die Betonung der Werte âFreiheit und Gewissenâ auf Grundlage eines patriotischen Geschichtsbewusstseins als charakteristisch fĂŒr diesen Unterricht empfunden. Da war die Rede von einer âErziehung zum Menschen, der sich selbst erkennt und sich selbst ĂŒberwindet nach dem Vorbild des Georgsritters, der fĂŒr das Gute streitet und das Böse besiegtâ (Belege bei Zankel a.a.O., 533). Diese etwas pathetischen Erinnerungen wurzeln in Stahls wohl deutlich artikulierter Abneigung von Personenkult, Uniformierung und Militarisierung (ebd.) und zeigten sich konkret etwa darin, dass Stahl ihre SchĂŒler nach der MachtĂŒbernahme weiterhin mit âGuten Morgen, Herrschaftenâ (statt âHeil Hitlerâ) begrĂŒĂte. Auf eine Ausstellung der Nazis zur âEntarteten Kunstâ reagierte die Kunsthistorikerin, indem sie mit ihren SchĂŒlern die KĂŒnstler der âBrĂŒckeâ und des âBlauen Reitersâ behandelte. Als sie fĂŒr die Osterferien 1935 eine Klassenfahrt nach Berlin organisierte, um die Originalbilder dieser KĂŒnstler anzusehen, fĂŒhrte das zu ihrem Rausschmiss.
Die Lichtwarkschule, bei den Nazis als das ârote Mistbeet von Winterhudeâ bekannt (vgl. Maria Krebs, Michael Verhohen: Die WeiĂe Rose. Der Widerstand gegen Hitler, Frankfurt 1982, 63), wurde 1937 âgesĂ€ubertâ: Die Lehrer wurden entlassen und versetzt â Erna Stahl, wie erwĂ€hnt, schon zwei Jahre vorher â, die Schule selbst wurde aufgelöst. Stahl hielt aber Kontakt zu einigen ihrer ehemaligen SchĂŒler. Schon vor 1935, aber von da ab ĂŒber ein Jahr regelmĂ€Ăig, fanden bei ihr wöchentlich private Treffen statt, die die BeschĂ€ftigung mit den angedeuteten Personen und Werken fortsetzten und erweiterten.
âDort herrscht eine literarisch-philosophische AtmosphĂ€re mit stark religiösen Akzenten und anthroposophischem Hintergrund. So liest man Texte der Bibel, die Gralssage, Dantes âGöttliche Komödieâ, Dichtungen der Romantiker oder des Expressionismus. Man befasst sich zugleich mit den Malern, die inzwischen zur âentarteten Kunstâ gerechnet werden (Marc, Kandinsky).â (Krebs/Verhohen a.a.O., S. 64 â Hervorhebung AM)
Vielleicht waren die dominanten anthroposophischen Elemente z.T. der Anthroposophin Hilde Meyer-Froebe zu verdanken, die 1924/25 in Wien mit Stahl studiert hatte, sie nach dem 2. Weltkrieg unterstĂŒtzte und die Waldorfschule Rendsburg grĂŒndete. Stahl wurde aufgrund ihrer Verwicklungen mit den antinazistischen TĂ€tigkeiten der WeiĂen Rose am 4.12.1943 von der Gestapo verhaftet. Wegen Vorbereitung zum Hochverrat, FeindbegĂŒnstigung, Wehrkraftzersetzung, Rundfunkverbrechen und âplanmĂ€Ăiger Verseuchung der Jugendâ wurde ihr der Prozess gemacht. Im April 1945 wurde sie mit einer Mitangeklagten von amerikanischen Truppen befreit. Auch Lafrenz war im MĂ€rz 1943 verhaftet worden. âĂde gleichförmige Tage, lange NĂ€chte, jedes Klagen verbot sich von selber angesichts des Schicksals der sechs anderen.â (so Lafrenz im Erfahrungsbericht fĂŒr Inge Scholl: Die WeiĂe Rose, a.a.O., 176).
Stahls heute bekannteste Hinterlassenschaft ist allerdings die zusammen mit Meyer-Froebe und Hilde Ahlgrimm gegrĂŒndete Albert-Schweitzer-Schule Hamburg. Insbesondere im Rahmen dieses Blogs ist die Einrichtung bemerkenswert: Sie ist die einzige Schule, die explizit WaldorfpĂ€dagogik ohne Anthroposophie macht â und dadurch die einzige öffentliche Schule, die auf waldorfpĂ€dagogischen Grundlagen steht: Kein Sitzenbleiben bis Klasse 10, starke musisch-kreative Ausrichtung, Lernen mit âKopf, Herz und Handâ. Dass es eine solche Schule gibt, wird in den affirmativen wie kritischen Publikationen zur WaldorfpĂ€dagogik gern ĂŒbersehen. Waldorfkritiker, die sich das kritisierte Modell als ideologische Kaderschmiede imaginieren, halten WaldorfpĂ€dagogik ohne Anthroposophie fĂŒr ebenso unmöglich wie viele Anthroposophen sie fĂŒr karikiert und schĂ€dlich halten. In ihrer (unfreiwillig) prĂ€stabilisierten Harmonie haben diese einander so entgegengesetzten Diskutanten offenbar beide ihre Scheuklappen.
Karl Rössel-Majdan
Wie fĂŒr Erna Stahl (vgl. Zankel a.a.O., 533) war auch fĂŒr den österreichischen Anthroposophen in zweiter Generation, Karl Rössel-Majdan, das Motiv des Drachentöters St. Georg wichtig. Der Deckname Rössel-Majdans im politisch konservativen Widerstandskreis âGroĂösterreichische Freiheitsbewegungâ lautete Georg Michael, und unter diesem Pseudonym sollte er spĂ€ter Gedichte veröffentlichen. Im Hintergrund stand die anthroposophische Angelogie Rudolf Steiners, die den Erzengel Michael neben allerlei kosmologischen Spekulationen als Verteidiger des menschlichen âIchâ deutete: âWenn der Mensch die Freiheit sucht ohne Anwandlung zum Egoismus, wenn ihm Freiheit wird reine Liebe zur auszufĂŒhrenden Handlung, dann hat er die Möglichkeit, sich Michael zu nahenâŠâ (Steiner: GA 26, 117). Schon im Elternhaus kam der Sohn eines in der Ăsterreichischen Anthroposophischen Gesellschaft engagierten SĂ€ngers mit dem Steinerschen Gedankengut in BerĂŒhrung. In einem (im Ganzen kritischen) Bericht der Zeitschrift Profil fasste Hubertus Czernin zusammen:
âRössel war vom ersten Anschlusstag im Widerstand, er verweigerte den HitlergruĂ, beschĂ€digte eine Gedenktafel fĂŒr die DollfuĂ-Mörder, war dann in der legendĂ€ren Gruppe Dr. Kastelic aktiv, wurde verhaftet, vom Volksgerichtshof zu zehn Jahren verurteilt. Sein Bruder wurde von SSlern totgeprĂŒgelt. Er selbst floh im FrĂŒhjahr 1945, kurz vor dem Einzug der Roten Armee, aus dem Lager Lohau â und dennoch fĂ€llt etwa dem frĂŒheren Leiter des Dokumentationsarchivs des Widerstandes, Herbert Steiner, zu Rössel nicht mehr ein als: âEr war eine positive Figur im Widerstand.ââ (Profil 47/1985)
Dasselbe Dokumentationsarchiv stellt online drei sehr detaillierte autobiographische Berichte zu den eben zitierten TĂ€tigkeiten zur VerfĂŒgung, die ich hier aus PlatzgrĂŒnden nicht wiedergebe. Die idealistischen Motive Rössel-Majdans lassen sich dort (mit allen TĂŒcken autobiographischer Memoirenliteratur) gut nachlesen. Hier seien vor allem organisatorische Details aufgelistet: Die âGroĂösterreichische Friedensbewegungâ gruppierte sich um drei Personen: den christlichsozialen Jacob Kastelic, den sozialistischen Journalisten Hans Schwendenwein und eben den âparteilosen Schriftstellerâ Rössel-Majdan. An der UniversitĂ€t hatten sich âunabhĂ€ngige Studentenâ getroffen, es bildete sich eine Gruppe, die zu dem nach London emigrierten Juden âDr. Hechtâ Kontakt hielt, 1938 fand im Hietzinger CafĂ© Wunderer ein Treffen des eben aufgezĂ€hlten Trios statt. Decknamen wurden verabredet, Strukturen eingerichtet, in denen jeder Beteiligte nur zwei andere kennen durfte.
âUm diesen gröĂeren Kreis bildete sich schon bald eine gröĂere Gruppe, der unter anderem der Schriftsteller GĂŒnther Loch und als militĂ€rischer Berater Oberst Buchinger und Oberstleutnant Dr. Hans Blumental angehörten. Ăber den Ottakringer Arbeiter Rudolf Zetsche, den Rössel-Majdan kannte, wird die Verbindung zum sozialistischen Kreis um den alten ArbeiterfĂŒhrer Sever hergestellt.â (Otto Molden: Der Ruf des Gewissens, MĂŒnchen 1958, 76)
Weitere AktivitĂ€ten folgten, vor allem aber begeisterte man sich fĂŒr Vorstellungen einer vermeintlichen politischen Reorganisation Ăsterreich-Ungarns nach dem Ende der Nazi-Diktatur. Im Sinne einer parlamentarischen Monarchie sollte der âVielvölkerstaat Habsburgâ reanimiert und nationalstaatliche Abgrenzung verschiedener âEthnienâ verhindert werden. Rössel-Majdan: âWir waren der Ansicht, dass der Donauraum wieder eine Familie werden muss.â (zit. in Erich Witzmann: Charakter zeigen (Salzburger Nachrichten, 26.10.1988), in: Anton Kimpfler (Hg.): Aufstand des Geistes gegen den Ungeist der Zeit. Zur Lebensarbeit von Karl Rössel-Majdan, Kiel 2002/3, 10). UnĂŒbersehbar waren die anthroposophischen EinflĂŒsse: âDas neue, nach sachlichen Gesichtspunkten gegliederte Parlament sollte anstelle der einzelnen Parteien aus einem Staatsrat, einem Wirtschaftsrat und einem Kulturrat bestehen.â (Witzmann ebd.), diese Entflechtung von Staat, Wirtschaft und Kultur ist der organisatorische Nucleus von Steiners Politentwurf fĂŒr eine âDreigliederung des Sozialen Organismusâ.
So romantisch-regressiv man diese Vorstellung von der Ăberwindung des Nationalstaats finden kann, so tollkĂŒhn war doch Rössel-Majdans Aktionismus: 1940 wurde er eingezogen und an die Westfront geschickt und landete, von einem Granatensplitter verwundet, im Lazarett. Dort schlich er sich nachts nach drauĂen, um Truppenbewegungen zu registrieren und Bekannten zu vermitteln. Die Briefe wurden abgefangen und Rössel-Majdan vom Lazarettbett weg von der Gestapo verhaftet. Das Leben retteten ihm seine Notizen von einem Treffen verschiedener Widerstandsgruppen in der Hietzinger Prinz-Eugen-StraĂe. âRössel-Majdan verzeichnete das Treffen in seinem Kalender, aber er schrieb bewusst das Gegenteil dessen auf, was tatsĂ€chlich gesprochen und verabredet wurde.â (ebd., 11). Dieses Treffen war bereits aufgedeckt worden und der Volksgerichtshof wertete seine Berichte als unglaubwĂŒrdig, was ihm die Todesstrafe ersparte.
Nach 1945 bemĂŒhte sich Rössel-Majdans Vater zusammen mit Julius Breitenstein um den Wiederaufbau einer Anthroposophischen Gesellschaft in Ăsterreich. Die Episode ist erwĂ€hnenswert, da ihm hier unerwartet HĂŒrden in den Weg gelegt wurden. Ehemalige Mitglieder der AG zeigten sich âĂ€ngstlichâ, und auch nachdem Rössel-Majdan junior vor der russischen Geheimpolizei vorgesprochen hatte, blieben sie der Anthroposophischen Gesellschaft fern. âSpĂ€ter erwies sich, dass manche von ihnen Mitglieder der NSDAP oder MitlĂ€ufer waren.â (Wolfgang Peter: Falsche oder echte Freunde, in Kimpfler a.a.O, 42). Bald darauf wurde in Graz (englische Besatzungszone) eine neue, vom Dornacher Anthroposophenvatikan anerkannte Anthroposophische Gesellschaft gegrĂŒndet, was zur Spaltung der österreichischen Anthroposophen fĂŒhrte. Rössel-Majdans AktivitĂ€ten wurden systematisch zurĂŒckgedrĂ€ngt, so dass er in der Anthroposophischen Geschichtsschreibung anscheinend einfach vergessen wurde â der Dornacher Archivar Uwe Werner soll sich noch zu Lebzeiten Rössel-Majdans bei diesem entschuldigt haben, dass er ihn in seiner Studie ĂŒber âAnthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismusâ (MĂŒnchen 1999) kein einziges Mal erwĂ€hnt hatte. Auch an anderer Stelle geriet Rössel-Majdan in Konflikt mit der organisierten Anthroposophie. So begleitete er die GrĂŒndung mehrerer Waldorfschulen in seiner Heimatregion und handelte sich deshalb juristische Streitigkeiten mit dem âBund der Freien Waldorfschulenâ ein, der die Namensrechte an âWaldorfâ innehat. Die Auseinandersetzung bezeichnete er ungnĂ€dig als âSektenkriegâ: âWir werden schauen, dass wir dieses Kartell auch in Deutschland abwĂŒrgen.â
Rössel-Majdans umfangreiche anthroposophische AktivitĂ€ten waren aber nur eine Seite seines politischen Engagements. Neben Reisen nach Israel und in die USA legte er insgesamt drei Dissertationen vor (Dr. jur. 1939, Dr. phil. 1949, Dr. rer. pol. 1951), arbeitete beim Rundfunk und wurde vor allem durch seine TĂ€tigkeit bei der âGewerkschaft fĂŒr Kunst, Medien und freie Berufeâ bekannt. Dort setzte er sich unter dem Motto âKultur als dritte Kraftâ (neben Wirtschaft und Politik) weiterhin fĂŒr die anthroposophische Dreigliederung ein. Wie Erna Stahl kommt Rössel-Majdan in der anthroposophischen Geschichtsschreibung praktisch nicht vor. Ob das auch daran liegt, dass sie eben nicht nur gegenĂŒber dem Nationalsozialismus, sondern auch der anthroposophischen Orthodoxie opponierten, bleibt eine Spekulation, aber eine naheliegende.
Valentin Tomberg
Bei Tomberg trifft diese Spekulation allerdings in Schwarze. WĂ€hrend zu dessen Fans etwa Hans Urs von Balthasar oder Robert Spaemann zĂ€hlen, rechnen ihn breite anthroposophische Kreise zu âjesuitischâ motivierten Feinden der Anthroposophie, denn Tomberg, aus der Anthroposophischen Gesellschaft herausgeekelt, wandte sich schlieĂlich der Katholischen Kirche zu. Im Alter von 25 Jahren und noch zu Lebzeiten Steiners war er Vorsitzender der Anthroposophischen Gesellschaft in Estland geworden. 1938, nach dem Verbot der deutschen Anthroposophischen Gesellschaft durch die Nazis, ĂŒbersiedelte Tomberg mit seiner Familie in die Niederlande. Dort kam es zum Konflikt mit der Anthroposophischen Zentrale in Dornach. Im chaotischen Zustand der anthroposophischen Szene nach Steiners Tod konnte es nicht ausbleiben, dass der in religiösen Fragen umtriebige und keinesfalls linientreu anthroposophische Tomberg
ââŠbei Anthroposophen alsbald den Eindruck einer zu groĂen geistigen SelbststĂ€ndigkeit erweckte. Dergleichen pflegt meist nicht ohne Spannungen und MissverstĂ€ndnisse abzugehen. Sollte dieser Mann spirituelle AnsprĂŒche erheben und damit das Tun der von Steiner selbst ernanten âesoterischenâ Vorstandsmitglieder [der Anthroposophischen Gesellschaft - AM] in den Schatten stellen wollen? âŠÂ FĂŒr einen aus eigener spiritueller Erfahrung Schöpfenden, fĂŒr einen (durchaus im Sinne Steiners) aktiven Selbstdenker schien in einer desolaten Anthroposophischen Gesellschaft kein Platz zu sein.â (Wehr: Spirituelle Meister, Kreuzlingen 2007, 242)
âIn Tomberg und seinem Werk war eine spirituelle AutoritĂ€t entstanden, die Steiners de facto monokratischen Geltungsanspruch als Hellseher in Frage stellte. Im Dezember 1933 wurde ihm im âGoetheanumâ die Kompetenz als authentischer Interpret Steiners abgesprochen, Marie Steiner blies 1936 zum âunvermeidlichen Kampfâ gegen den âwahnbefangenen okkulten Lehrerâ und betrieb seinen Ausschluss aus der Anthroposophischen Gesellschaft. Nach dem Zweiten Weltkrieg soll es, so Martin Kriele, ein Verbot gegeben haben, Tombergs BĂŒcher in den Zimmern der Studenten im Priesterseminar der Christengemeinschaft aufzubewahren, und noch 1995 wurde dem inzwischen Verstorbenen vorgehalten, er habe âSchmeichelei und Dolchstich mit jesuitischer Raffinesseâ gehandhabt und sei âin das Lager [der] unerbittlichsten Erzfeinde der Anthroposophie, also der katholischen Kirche, gewechselt, so dass sein Verhalten ânicht anders denn als geistiger Verrat bezeichnet werdenâ könne. Diese Position wird heute lĂ€ngst nicht mehr von allen Anthroposophen geteilt [Tombergs Werk steht zB in der Bibliothek am Goetheanum direkt bei den anthroposophischen Periodika, vor allem im ehemals Schaffhausener Novalis-Verlag werden viele "Tombergianer" vermutet - AM]. Aber diese Polemik legt das Konfliktpotential in dem Anspruch offen, Steiner gleich in die verborgene âĂŒbersinnlicheâ Welt einzutreten.â (Zander a.a.O., S. 727)
Bis zur deutschen Besatzung der Niederlande arbeitete Tomberg im estnischen Vize-Konsulat in Amsterdam, danach hielt er sich mit Sprachunterricht ĂŒber Wasser. Bekannt ist sein Austausch mit Ita Wegman und Elisabeth Vreede, zwei der wenigen Anthroposophinnen, deren unzweideutige Ablehnung des Nationalsozialismus leidlich sicher dokumentiert ist. Die genauen TĂ€tigkeiten Tombergs im Widerstand sind dagegen leider nur spĂ€rlich ĂŒberliefert, weder in der positiven noch ablehnenden Literatur sind Einzelheiten zu finden, wenn auch nirgendwo bestritten wird, dass es diese gab. Exemplarisch fĂŒr diese relativ vage Literatur sei Gerhard Wehr zitiert, ââŠdass er den Nationalsozialismus kompromisslos ablehnte und er dies wĂ€hrend der deutschen Besatzung in den Niederlanden auf der Seite des Widerstandes auch durch die Tat bewies.â (Wehr a.a.O., 242f.). Die einzige Ausnahme ist Wolfgang Garvelmann, selbst nicht unumstrittener Anthroposoph, der Tomberg 1944/45 kennenlernte. Nach Garvelmann half Tomberg, abgeschossene englische Flieger zu verstecken und zum Ărmelkanal zu schleusen  (Wolfgang Garvelmann: Valentin Tomberg â ein Versuch, ihm gerecht zu werden, in: info3, 5/1988, S. 6, vgl. Elisabeth Heckmann: Valentin Tomberg. Leben â Werk â Wirkung: Eine Biografie, Schaffhausen 2001, 380f., die ebenfalls Garvelmann zitiert).
SpĂ€rlich sind auch die Informationen ĂŒber den Einfluss von Tombergs im Widerstand geknĂŒpften Kontakten auf seine âinnereâ Biographie, seine weltanschauliche Entwicklung. Fest steht, dass es Freundschaften mit katholisch glĂ€ubigen WiderstĂ€ndlern gab, von denen einige mit dem Leben fĂŒr ihre TĂ€tigkeit bezahlten (Heckmann a.a.O., 377). Hatte Tomberg der Katholischen Kirche nach anthroposophischem Konsens anfangs sehr kritisch gegenĂŒber gestanden, Ă€uĂerte er sich 1942/43 fast kryptisch in seinem âVater-Unser-Kursâ, in dem er sich auch unmissverstĂ€ndlich gegen den Nationalsozialismus als verstandesvernebelnde âĂberschwemmungâ und Verlust humaner Werte geĂ€uĂert hatte, positiv ĂŒber die Rolle der Katholischen Kirche. Tomberg beschwor, die natioanlsozialistische âĂberschwemmungâ der âSeelenâ könne nur durch inneren, persönlichen Widerstand, ĂŒberstanden werden, durch
âdas Bauen einer Arche ⊠alle Kulturwerke und Wahrheiten im Extrakt sammeln und bewahren. Unausgelöschte Erinnerung an alles Wesentliche des Wahren und Guten. Das ist das Schwimmzeug, um nicht zu ertrinken.â (zit. n. ebd., 375),
In diesem Zusammenhang sprach Tomberg neben einem âesoterischenâ, âjohanneischenâ, verborgen wirkenden âinnerlichenâ Christentum anerkennend von der âin der Gegenwart gegen das Böse kĂ€mpfende[n] katholische[n] Kircheâ â wohinter sich weniger eine WertschĂ€tzung römischer Ideenpolitik als vielmehr sein Kontakt zu aufrichtig antinazistischen Katholiken spiegelt (ebd., 377). Nach seinem unsanften Rausschmiss aus der Anthroposophischen Gesellschaft trat er schlieĂlich 1942 nach sorgfĂ€ltiger Ăberlegung in die Katholische Kirche ein, von deren spiritueller Kraft er seit dieser Zeit ĂŒberzeugt war. Die Nachwirkungen seiner Rettungsversuche abgeschossener englischer Piloten zeigten sich erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs:
âAls auslĂ€ndischer Akademiker in Diensten der britischen StreitkrĂ€fte erhielt Tomberg den Rang eines Offiziers sowie eine entsprechende Uniform. Beides kennzeichnete ihn nach auĂen hin als EnglĂ€nder, auch wenn er eigentlich Este und nach der sowjetischen Annexion seines Heimatlandes staatenlos war. Von den MĂŒlheimern wurde er jedoch als britischer Offizier wahrgenommen und dementsprechend mit respektvoller Distanz behandelt ⊠Da Tomberg neben Russisch auch schon frĂŒh die deutsche Sprache erlernt hatte und diese hervorragend beherrschte, ĂŒbernahm er fĂŒr den stellvertretenden MĂŒlheimer Stadtkommandanten William (âBillyâ) Reynolds Dolmetscheraufgaben. Zudem sollte Tomberg auf Wunsch von Reynolds in die UmerziehungsmaĂnahmen der EnglĂ€nder, die sogenannte âreeducationâ, miteinbezogen werden. Diese MaĂnahmen zielten auf die demokratische Neuorientierung (âreorientationâ) der deutschen Bevölkerung und bezogen sich somit im Wesentlichen auf das Schul- und Bildungswesen ⊠Tombergs Wirken in MĂŒlheim machte ihn ĂŒber die Stadtgrenzen hinaus bekannt und brachte ihm zunehmend Vortragsanfragen aus anderen StĂ€dten ein. Die Rheinisch-WestfĂ€lische Technische Hochschule (RWTH) in Aachen bot ihm im Herbst 1946 sogar einen Lehrauftrag fĂŒr âEthik und Rechtâ an.â (Jens Roepstorf: Valentin Tomberg)
Deutschtum und Deutschtum
Tombergs Einbindung in Entnazifizierungskommissionen allein ist allerdings kein politischer Persilschein: Einer seiner Bekannten, der Anthroposoph Ernst von Hippel, widmete sich als Juraprofessor in der NaziĂ€ra leidenschaftlich der âEntjudungâ der UniversitĂ€ten (vgl. Peter Bierl: Wurzelrasen, Erzengel und Volksgeister (1999), Hamburg 2005, 186f., 198f., Peter Staudenmaier: Between occultism and fascism: Anthroposophy and the politics of race and nation in Germany and Italy, 1900-1945, Connell University 2010, 268ff.) auch wenn seine eigenen BĂŒcher teilweise auf den Verbotslisten der Nazis standen (Uwe Werner a.a.O., 249). SpĂ€ter gehörte Hippel ironischerweise zum Entnazifizierungsausschuss der UniversitĂ€t Köln (Bierl a.a.O., 198). Zu seinem 70. Geburtstag erhielt er das Bundesverdienstkreuz (ebd., 199). Genau wie der Jurist Rössel-Majdan beschuldigte Hippel vor allem den Rechtspositivismus und namentlich Hans Kelsen, durch seine âgeistloseâ Rechtsphilosophie dem Nationalsozialismus TĂŒr und Tor geöffnet zu haben. Der jĂŒdische Jurist Kelsen wurde von den Nazis natĂŒrlich in keiner Weise hofiert, 1934 in den âRuhestandâ versetzt und musste emigrieren.
Tomberg selbst, vor allem an Steiners christologischen EntwĂŒrfen interessiert, entkam den antijudaistischen Implikationen der anthroposophischen Geschichtstheorie weitgehend und bezog sich etwa positiv auf die Idee des Volkes Israel.
âSie haben 7000000 Juden ermordet. Das Ergebnis? Ein neues Volk Israel ist entstanden. Das sind wir, wir alle â Sie und ich und unsere Kinder und Sasche Benckendorf und Popescu und Anghelatos und jene Polen mit abweisenden Gesichtern â wir alle sind ein einziges Volk. Unser Land ist unsichtbar und unser Weg ist ohne Wegweiser und ohne Spuren von MenschenfĂŒĂen, denn niemand ist uns voraus gegangen. ⊠Wir stehen Ă€uĂerlich unter dem zufĂ€lligen Gesetz dieses oder jenes Landes, aber unser wahres Gesetz ist, dass wir alle eins sind, ohne Worte, ohne VortrĂ€ge, ohne Konferenzen. Jeder allein fĂŒr sich â wir gehen durch die WĂŒste. Denn wir haben keine HeimatâŠâ (zit. n. Heckmann a.a.O., S. 312f.)
Und doch schlug das anthroposophische Rassedenken auch bei ihm zu: Die Mutter des in St. Petersburg geborenen Tomberg wurde in den Wirren der Oktoberrevolution 1918 erschossen, Tomberg ging daraufhin nach Estland. Eine Ă€hnliche Biographie hatte auch dem zeitweiligen Anthroposophen und nachherigen (bekennend nationalsozialistischen) Steinergegner Gregor Schwartz-Bostunitsch zum BefĂŒrworter antibolschewistischer Argumentationen gemacht (vgl. Goodrick-Clarke: Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus, Wiesbaden 2004, 149). Auch Tomberg war ĂŒberzeugt, im Kommunismus dĂ€monische KrĂ€fte zu erkennen. In mehreren AufsĂ€tzen aus dem Jahr 1931 wandte er sich in der Zeitschrift âAnthroposophieâ gegen böse geistige MĂ€chte, die in seiner Phantasie an der Unterwanderung Osteuropas durch antichristliche Gedanken aus Fernost arbeiteten (vgl. Tomberg: Das Chinesentum und der europĂ€ische Osten, in: Anthroposophie 2/1931, 49-51).
Aus dem Denken von Traute Lafrenz, Karl Rössel-Majdan und Erna Stahl sind mir solche völkerpsychologischen Abwertungen nicht bekannt. Bei den letzten beiden findet sich allerdings ein affirmativer Bezug auf Deutschland. So begrĂŒndete Erna Stahl ihre antinazistischen Ambitionen u.a.:
âHinzu kommt, dass ich zutiefst ĂŒberzeugt war von der verheerenden, nie wieder zu reparierenden, dĂ€monischen Vernichtung aller eigentlich menschlichen und besonders der Deutschen SeelenkrĂ€fte [im Nationalsozialismus - AM]. Ich machte mir zur Pflicht, in den Kreis, in den ich gestellt war, zu jeder Minute und mit allen mir zu Gebote stehenden Mitteln zu wirken, dass innere Gegengewichte in den SchĂŒlern gegen jene verheerenden Wirkungen entwickelt wĂŒrden.â (Erna Stahl zit. n. Zankel a.a.O., 532)
Und Rössel-Majdan berichtete:
âIm Gestapo-Verhör die Frage: âSie waren nicht Marxist, sie sind arisch, warum sind Sie gegen uns?â Meine Antwort kam prompt: âAus meinem Deutschtum, weil Goethe und Schiller und der deutsche Humanismus gerade das Gegenteil von dem ist, was Hitler vertritt.ââ (zit. n. Witzmann a.a.O., 8)
Diese ErzĂ€hlung mag stimmen oder nicht, sie entspricht recht exakt dem âDeutschtumâ, das in anthroposophischen Kreisen gern gegen das nationalsozialistische abgehoben wird:
âNicht jener gefĂ€hrliche Nationalstolz der Nazis war damit gemeint, der die Welt in Flammen gesetzt hatte, sondern das gerade Gegenteil, die geistige Wiege genialer Geister wie Schiller, Goethe und Fichte ⊠und nicht zuletzt Rudolf Steiners. Jedes Volk, und sei es noch so klein und politisch unbedeutend, hat seinen Beitrag zur Menschheitskultur zu leisten.â (Wolfgang Peter, ebd., 3)
In dieser Verflechtung von Völkerpsychologie und Universalismus liegt der SchlĂŒssel, um das Verhalten von Anthroposophen im Nationalsozialismus zu verstehen. An Steiners esoterische âMissionâ Deutschlands lieĂ sich sowohl im pronazistischen Sinne anknĂŒpfen als auch die BekĂ€mpfung des Faschismus fordern. In vielleicht noch stĂ€rkerer Weise war dies im italienischen Faschismus möglich, wo AnthroposophInnen lange Zeit unbehelligt blieben: Hier gediehen ĂŒble Rassismen und waren politische Anthroposophen an der Judenverfolgung beteiligt â und doch gleichzeitig Steiner im Widerstand prĂ€sent, wie Peter Staudenmaier enthĂŒllte:
âFascist anti-esoteric measures were a potential danger to anthroposophy, not least because several anthroposophists were involved in antifascist activities. Violet Gibson, the eccentric Anglo-Irish aristocrat who tried to assassinate Mussolini in 1926, traveled in theosophical and anthroposophical circles. Antifascist author and literary figure Armando Cavalli was an anthroposophist, and Eugenio Curiel, a prominent figure in the antifascist resistance, was for a time drawn to anthroposophy as well. Curiel (1912-1945), a physicist from a Jewish family in Trieste, played an important role in Resistance groups in the late 1930s and 1940s. He was murdered by Fascist soldiers in February 1945. In the early 1930s Curiel was deeply influenced by anthroposophical ideas. His commitment to anthroposophy, lasting approximately three years, was part of a turbulent ideological and political development ⊠Alongside Colonna di CesarĂČ, Curielâs ideological trajectory indicates the political volatility of anthroposophical engagement in the Fascist era ⊠Briamonte argues that Curielâs early dedication to Steiner left significant traces in his later thought. Though Curielâs adherence to anthroposophy was transitory, it was not an anomaly in antifascist circles; Briamonte, 126 quotes a 1944 correspondence between two young antifascists interested in anthroposophy.â (Staudenmaier: Between S. 417f.)
Mein Artikel beansprucht kein abschlieĂendes Urteil zu diesem Thema. Die Darstellung zu den AktivitĂ€ten der WeiĂen Rose ist beispielsweise unzulĂ€ssig verkĂŒrzt und Valentin Tombergs weltanschauliche Kehren wĂ€ren ein völlig eigenes Kapitel. Hier ging es darum, die bisher publizierten Fakten zum Thema zusammenzutragen und dabei hoffentlich Fragen aufzuwerfen. Welche Rolle spielte zum Beispiel die erwĂ€hnte Anthroposophin Hilde Meyer-Froebe fĂŒr Erna Stahl? Wie begrĂŒndete Stahl ihre Rezeption anthroposophischer Praxis bei gleichzeitiger Umgehung der ideologischen Grundlagen? In welchem Personenkreis las Traute Lafrenz Steiners âPhilosophie der Freiheitâ? Wie kam Valentin Tomberg in Kontakt mit dem Widerstand? Spielte Steiners Dreigliederungskonzept wirklich eine Rolle in der fĂŒr gewöhnlich katholisch eingestuften GroĂösterreichischen Friedensbewegung oder liebĂ€ugelte allein Rössel-Majdan damit? Warum sind die vier hier vorgestellten Personen in der anthroposophischen Literatur zum Thema fast durchweg unauffindbar?
Die Geschichte der Anthroposophie im Nationalsozialismus muss nicht umgeschrieben werden. In keinem Fall dĂŒrfen diese (wenigen) Figuren im Umfeld des Widerstands als Ablenkung vom Verhalten vieler profaschistischer Anthroposophen instrumentalisiert werden. Interessant sind sie vielleicht vor allem, um die betrĂ€chtlichen Differenzen im âDeutschlandâ-Bild esoterischer Strömungen des 20. Jahrhunderts aufzuzeigen, und auch den deutschen Pathos bei vielen WiderstĂ€ndlern (Stichwort: Stauffenberg). Die Steinersche Version davon machte viele Anthroposophen zu ânĂŒtzlichen Idiotenâ der NS-Ideologie, konnte sich aber auch zu einer Konkurrenz und Bedrohung derselben auswachsen, nicht nur im Falle der anthroposophisch motivierten WiderstĂ€ndler:
â[Steiner] hatte es bereits geschafft, sich bei den UnterstĂŒtzern eines organischen Nationalismus unbeliebt zu machen, indem er in der FrĂŒhzeit des Ersten Weltkrieges eine Lehre der âVolksseeleâ vorgetragen hatte. Die britische Volksseele sei â natĂŒrlich â ein Ausdruck des puren Materialismus, die deutsche allein kommuniziere unmittelbar mit dem Geist. Das war ein weiteres unbefugtes Eindringen in die geheiligten Gefilde der völkischen Orthodoxie. Eckart sah Steiner als Internationalisten und Kommunisten an â und daher als einen verschwörerischen Juden, der mit dem Hass der âErleuchtetenâ auf seine zurĂŒckgewiesenen Genossen ĂŒbergossen werden musste.â (James Webb: Das Zeitalter des Irrationalen (1976), Wiesbaden 2008, 340)
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