Zurzeit wird bekanntermaßen in nahezu allen Medien das Thema “sexueller Missbrauch an Schulen” diskutiert. Vor allem werden Fälle sexueller Übergriffe durch Lehrer an kirchlichen (namentlich katholischen) Schulen problematisiert, was sich mit Debatten der ohnehin zutiefst makaberen Einstellung der katholischen Kirche gegenüber Sexualität verbindet.
Nach den Vorfällen an der Odenwaldschule (OSO) und jetzt auch in drei anthroposophischen Einrichtungen hat sich zusätzlich ein eigenartiger Streit darüber entwickelt, ob das jetzt “das Ende” der Reformpädagogik sei. Ich versuche in diesem Blogeintrag eher “collagen”artig, die wichtigsten Artikel zu den wichtigsten Ereignissen zusammenzutragen.
Auch AnthroposophInnen haben zu Sexualität im allgemeinen und besonderen bekanntlich ein eher schwieriges Verhältnis. Nach dem Thema Waldorf und Missbrauchsvorwürfe will ich auch das und seine Relevanz für die Waldorfschulen kurz thematisieren (wobei ich mir freilich bewusst bin, dass ich damit zwei sehr unterschiedliche Seiten von “Sexualität in der Schule” - von denen die eine, nämlich Missbrauch, nicht sein darf und die andere, d.h. Sexualkundeunterricht sein muss - auf für beide eigentlich unangemessene Weise verbinde).
“Pädagogik und Eros” – Beispiel I: Die Odenwaldschule
Die Missbrauchsvorwürfe (eine leider unvollständige Liste von publizierten Vorfällen hier) wurden vorwiegend gegen (großenteils ehemalige) Lehrer an kirchlichen (nicht nur katholischen, vgl. fr-online.de) Privatschulen erhoben. Als dann auch Vorfälle an der berühmten Odenwaldschule kritisiert wurden, war die erste reformpädagogische Schule dabei – mit der überdies überraschend viele bekannte ReformpädagogInnen irgendwie liiert waren und sind (zu inziwschen diskutierten Fällen an der Wiesbadener Helene Lange-Schule siehe ebenfalls fr-online). Schnell stellte sich die Frage, ob mensch das nicht irgendwie mit dem Wesen von Reformschulen verbinden könne:
“An der Odenwaldschule wurde nicht einmal Geheimhaltungsdruck ausgeübt, man gab den Kindern das Gefühl, einer verschworenen Gemeinschaft anzugehören und kultivierte eine ‘platonische’ Rechtfertigungsphilosophie in der Tradition des Stefan-George-Kreises. Aber auch ein ‘einvernehmlicher’ sexueller Missbrauch kann dem Opfer schwere Wunden zufügen. Pädaophile Täter behaupten gern, sie seien von den Kindern verführt worden.” (Henning Köhler: Pädagogik braucht Eros, in: Erziehungskunst 05/2010, S. 52 – ich bitte zu beachten, dass diese Sätze ausgerechnet in der Waldorfzeitschrift “Erziehungskunst” erscheinen, eindrucksvolle Beschreibungen dieser Ereignisse, ohne dabei das Konzept als Ganzes zu verdammen, lieferte die ehemalige OSO-Schülerin Amelie Fried: Die rettende Hölle)
Parallelen im Schulkonzept ließen sich wahrscheinlich schnell zusammenreimen. Eine der pädagogischen Innovationen der 1910 gegründeten Odenwaldschule war (neben der Abschaffung von Jahrgangsklassen oder der damals revolutionären Neuerung, dass LehrerInnen mit “Du” angesprochen wurden) etwa der Nacktsportsportunterricht, den erst die Nazis verboten. Gründer Geheeb, der sich wie Steiner auf Fichte und Goethe berief, sah in seinen sehr idealistischen Reden über Geist und Zielsetzung seiner Schule natürlich keinen institutionell verankerten Missbrauch vor (Geheeb: Die Odenwaldschule im Lichte der Erziehungsaufgaben der Gegenwart). Die diskutierten Missbrauchsvorfälle wurden vielmehr von den “schuldigen” LehrerInnen gemäß dem “aufklärerischen” Selbstverständnis der Schule zurechterklärt, wie die ehemalige Schülerin Fried berichtete:
“Anfang der siebziger Jahre wurde bekanntlich die „sexuelle Befreiung“ ausgerufen, die Gegenbewegung zur repressiven Sexualmoral der fünfziger Jahre. So konnten diese Lehrer sich geradezu als Revolutionäre fühlen, sich vormachen, ihren Schülern etwas Gutes zu tun. Schließlich führten sie die Jugendlichen nur an eine unverklemmte, selbstbestimmte Sexualität heran – was sollte daran falsch sein? Ein gigantischer Selbstbetrug, mit dem die Täter ihr Verhalten verharmlosten und vor sich selbst rechtfertigten.” (Die rettende Hölle, siehe auch die “Erklärung aus aktuellem Anlass” der heutigen Direktorin Margarita Kaufmann)
Während die Schule sich heute bemüht, die Stimmen der Opfer zu hören und der Aufklärung der Fälle konstruktiv gegenübersteht (vgl. ebd.), wurden früher bekannte Missbrauchsfälle noch Ende der 90er recht beharrlich abgewiesen, ja die sich meldenden Opfer diffamiert:
“Es gab (…) Stimmen, die ihnen unterstellten, sie wollten den guten Ruf der OSO beschädigen. Groß war die Erleichterung im Vorstand des Trägervereins, als auch die Presse auf den Artikel der Frankfurter Rundschau nicht reagierte (…) Es wurde und wird auch versucht, die Missbrauchsopfer als „Nestbeschmutzer“ darzustellen, die mit ihrer „Kampagne“ nichts anderes im Sinn hätten, als die OSO zu zerstören – aus den Opfern sollen also Täter gemacht werden. (…) Nicht diejenigen haben der OSO geschadet, die den Missbrauch aufgedeckt haben, sondern diejenigen, die ihn begangen haben. Und die allermeisten von denen, die jetzt für eine rückhaltlose Aufklärung der Vorgänge und für eine Benennung der Schuldigen kämpfen, tun dies nicht, um die OSO zu zerstören, sondern um sie zu retten.” (Fried, a.a.O.)
Beispiel II: Missbrauchsfälle bei Waldorf
Derartige Ereignisse und ihre grauenvollen, tragischen Folgen und Nachwirkungen spielten (und sicher: spielen) sich – wenn auch in anderen Umfeldern und mit anderen Umständen – wie gesagt an zahlreichen Schulen ab, von denen einige, oft schon juristisch “verjährte” Fälle jetzt problematisiert wurden. Und das werden sie jetzt auch in drei anthroposophischen Einrichtungten, zu denen (wie bei Meldungen aller Art über anthroposophische Einrichtungen üblich) sofort allerlei Berichte und Spekulationen hochkochten.
Im Folgenden die nach meinem momentanen Kenntnissstand thematisierten Ereignisse (eine andere, etwas wirre Collage bei Werner: Missbrauch in Waldorfschule):
- Die “Lübecker Nachrichten” berichteten über einen
“schweren Missbrauchsvorwurf gegen einen Gruppenleiter an einer anthroposophischen Behinderten-Einrichtung in Köthel (Kreis Herzogtum Lauenburg): Der 44-jährige Mann steht unter dem dringenden Verdacht, sich über Jahre hinweg an Kindern sexuell vergangen zu haben. Sein eigener, minderjähriger Sohn, Freund eines mutmaßlichen Opfers, wandte sich verzweifelt ans Jugendamt.”
Laut Artikel sollen zwei geistig behinderte Schüler (heute 15 und 18) “betroffen” sein, über mutmaßliche Details ist noch nichts bekannt.
- Weitere Vorwürfe gab es gegen einen 61-jährigen Sportlehrer der Rudolf-Steiner-Schule Nürnberg, der dort wohl seit 1988 unterrichtete:
“Die Vorwürfe waren laut geworden, nachdem eine andere Frau erklärt hatte, der Sportlehrer habe sie im Jahr 1979 vergewaltigt. Ein weiteres Opfer hatte ihm sexuellen Missbrauch vorgeworfen. Die Nürnberger Waldorfschule hat den Lehrer seit den Osterferien suspendiert.” (Bayrischer Rundfunk)
Detaillierter berichteten die “Nürnberger Nachrichten” über das Prozedere. Laut dem Anwalt einer der beiden Frauen, der auch mehrere Opfer an der Odenwaldschule vertritt, ist von weiteren Missbrauchsopfern auszugehen.
Die Nürnberger Rudolf-Steiner-Schule ist augenscheinlich um eine Klärung der Vorfälle bemüht hat nach Vorschrift des Kultusministeriums eine Liste mit schulinternen AnsprechpartnerInnen und externen Anlaufstellen veröffentlicht (Prävention bei Missbrauch oder Gewalt).

Rudolf-Steiner-Schule Nürnberg: Sonst noch "Umweltschule Europas" und anerkannte UNESCO-Projekt-Schule
- Anders lief es bei einem Fall ab, der an der Waldorfschule Überlingen stattfand und zu dem sich ein ehemaliger Schüler zu Wort meldete – hier sind die Parallelen zu Vorfällen an kirchlichen Privatschulen auffällig. Die “Schwäbische Zeitung” schrieb:
“Auch an der Freien Waldorfschule in Überlingen soll es Missbrauchsfälle gegeben haben. Das berichtet ein ehemaliger Schüler, der die Einrichtung Mitte der Neunziger Jahre besucht hat. Der Pädagoge soll entlassen worden sein.” (Vorwürfe gegen Waldorfpädagoge)
Auch besagter Schüler hat sich zu gewaltsamen Ausfällen des “Pädagogen” im Unterricht und einer zu mangelhaften Aufklärung der Vorfälle inzwischen geäußert (Schläge bestimmen die Grundschulzeit), während in einer Stellungnahme der Waldorfschule von zwei belegten Missbrauchsfällen 1993 die Rede ist. In der “Aufarbeitung” sei aber deutlich geworden, dass der Lehrer gegen mehrere SchülerInnen “tätlich” geworden sei und vor seiner Tätigkeit an der Schule in der Schweiz von einer Missbrauchsanzeige freigesprochen wurde. Auf Wunsch von SchülerInnen und Eltern sei damals keine Anzeige seitens der FWS Überlingen erstattet worden, es blieb bei einer Suspendierung (Waldorfschule nimmt Stellung). Der “Südkurier” berichtete ähnlich, aber als einzige Zeitung mit mehr Details zum Missbrauchsvorfall selber (Missbrauchsfälle auch an Waldorfschule - einen Ausschnitt auch auf der Seite der FWS Überlingen).
Wer sich mit den zuletzt 2008 recht breit diskutierten Vorfällen von körperlicher Gewalt an FWSen auseinandergesetzt hat (Steiner und die Prügelstrafe), wird sich vielleicht zunächst besorgt gefragt haben, wie der “Bund der Freien Waldorfschulen” bzw. die “Landesarbeitsgemeinschaften” der FWSen auf diese Vorwürfe und diejenigen reagieren, die sie äußern. Gegen die erwähnten Fälle von Gewalt an FWSen gingen diese Interessenvertretungen in meiner (und vieler anderer) Wahrnehmung nicht selten mit Klagen vor – und zwar Klagen gegen diejenigen, die die Fälle öffentlich machten. Ähnlich wie in den 90ern im Umfeld der Odenwaldschule (s.o.) wurde gelegentlich behauptet, es handle sich um Attacken von “unzufriedenen Ehemaligen” (ebd.).
“Das Ende der Reformpädagogik”?
Promt waren deshalb WaldorfgegnerInnen nach den Missbrauchsfällen natürlich auf dem Plan. Mit originellen Äußerungen wie dieser:
“Dass nun auch eine Waldorfschule betroffen sein soll, verwundert nicht, ganz im Gegenteil, man konnte eigentlich darauf warten und man kann auch davon ausgehen, dass es nicht bei einem Fall bleiben wird. (…) Bei Waldorf-Einrichtungen stellt sich dann auch noch die zusätzliche Frage, ob überhaupt ein Interesse besteht, generell Missbrauchsfälle intern zu ahnden. Dies darf gut und gerne bezweifelt werden, denn was wäre die Anthroposophie ohne Karmalehre. Somit liegt die Schuld immer beim Kind, wenn es missbraucht wird oder nicht?” (Esowatch: Sexueller Missbrauch in Waldorfschule?)
Glücklicherweise hat der “Bund der Freien Waldorfschulen” dieses mal erleichternd adäquat reagiert: mit der Einrichtung einer “telefonischen Anlaufstelle”, der Zusicherung, mit Staatsanwaltschaft und Schulaufsichtsbehörden zusammenzuarbeiten sowie mit der Einrichtung einer “Kommission aus Pädagogen und Juristen (…), die mit der Prüfung und Aufklärung aller Vorfälle beauftragt ist.” (so eine entsprechende Pressemeldung). Die “Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Waldorfschulen in Hessen” will sogar noch ein bisschen weiter gehen:
“Am Mittwoch, den 24. März vereinbarten die Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Waldorfschulen in Hessen mit Horst Cerny, dem Vorsitzenden des hessischen Landesverbands des WEISSEN RING, und Michael Zech vom Waldorflehrerseminar Kassel eine Kooperation mit dem Ziel, dieses Thema in die Waldorflehrerausbildung zu implementieren. Noch während dieses Sommersemesters werden sich die Kasseler Waldorflehrerstudenten in verschiedenen Veranstaltungen mit der Erkennung von sexuellem Missbrauch bei Schülern und den Möglichkeiten kompetenter Hilfe für Opfer von Mobbing, Misshandlung und Missbrauch auseinandersetzen. Entsprechende Fortbildungsveranstaltungen werden auch für die hessischen Waldorflehrer angeboten.” (Pressemitteilung)
Es wird interessant sein, zu beobachten, ob und in welcher Form dieses “Pilotprojekt” tatsächlich auf die Beine kommt. Der “Weiße Ring” und die kooptierte Psychologin Katharina Mauchner scheinen ziemlich glücklich zu sein:
“Als Partner sind die Waldorfschulen im Gespräch. (…) Gemeinsam mit dem Weißen Ring hat die Psychologin und Erziehungswissenschaftlerin ein Konzept erstellt. Nach ihren Erfahrungen herrscht noch viel Unwissen. Deshalb bildet Fortbildung einen der Schwerpunkte des 14 Punkte umfassenden “Maßnahmenpakets”. Personalverantwortliche müssten auf die geschickten Täuschungen Pädosexueller bei Bewerbungsgesprächen vorbereitet sein; Kinderärzte, Lehrer, Erzieher, Sozialarbeiter und Sozialpädagogen die von betroffenen Kindern meist ausgesendeten Signale zu deuten wissen. “In keiner der genannten Berufsgruppen gehört die Vermittlung von Wissen über sexuellen Missbrauch und seiner Signale zum Pflichtausbildungsinhalt.” (…) Hinzu kämen flächendeckende und kostenfreie Kurse, in denen Eltern lernten, wie sie das Selbstbewusstsein ihres Nachwuchs es stärken könnten.” (Rippegather: Pilotprojekt – Schutz vor Missbrauch)
Indessen haben so manche Kommentatoren der Missbrauchsvorfälle “nun auch an Reformschulen” noch sehr viel “intelligentere” Kommentare von sich gegeben als “Esowatch” zu Karma und Missbrauch bei Waldorf. Der taz-Autor Christian Füller hat in einem Artikel für Spiegel-online ein “Tribunal” an der Odenwaldschule gefordert (wenn die Fälle schon juristisch verjährt sind) und vorgeschlagen, auch gleich alle anderen ReformpädagogInnen “an den Pranger stellen” – neben sexuellem Missbrauch gebe es da immerhin Antisemitismus und Kooperation mit dem Faschismus zu beklagen:
“Man sollte das im Lichte der Odenwälder Enthüllungen diskutieren, um der Reformpädagogik endlich ihren Heiligenschein zu nehmen. Ist es nicht so, dass Wyneken ein bekennender Päderast war? Ist es etwa falsch, dass Lietz, Petersen und Steiner vor antisemitischen Äußerungen nicht zurückschreckten? Will jemand bestreiten, dass Maria Montessori viele Jahre lang eng mit dem faschistischen Regime Mussolinis kooperiert hat?” (Füller: Warum wir ein Odenwald-Tribunal brauchen - zur Frage, wie weit Waldorfpädagogik überhaupt zur Reformpädagogik gezählt werden kann sowie den vorhanden reformschulischen Konzexten von Steiners Pädagogik siehe Helmut Zander: Anthroposophie in Deutschland, II, Vandenhock & Ruprecht, Göttingen 2007, S. 1369-1373, 1383-1390)
Füllers Artikel ist jetzt wirklich beeindruckend unhilfreich. Ganz zu schweigen von den Ausmaßen, die ein solches, wie auch immer geartetes “Tribunal” haben müsste, um all diese Fälle adäquat und live aufzuarbeiten. Lieber sollte mensch sich überlegen, warum mensch die Werke der genannten ReformpädagogInnen bisher so wenig öffentlich problematisiert hat. Den Vogel hat aber ein Beitrag auf faz.net abgeschossen. Jürgen Kaube sah im üblichen Vokabular der ReformpädagogInnen schon strukturell verdächtiges:
“Die Vorgänge erhalten auch Fragen an reformpädagogische Vorstellungswelten (…) Stehen doch im Vokabular vieler Reformpädagogen Worte wie ‘der ganze Mensch’, ‘das ganze Kind’, ‘Leben’ und ‘Individualität’, ‘Gemeinschaft’ und ‘Liebe’ weit oben.” (Jürgen Kaube: Dein Lehrer liebt Dich)
- Reformpädagogische LehrerInnen-SchülerInnen-”Nähe”. Wegen “Missbrauchsgefahr” prinzipiell abzulehnen?
Wirklich erotische Terminologien… Und ganz zum Schluss:
“Wer sich darüber beschwert, dass Schule nur Stoff unterrichtet und gar ‘frontal’, mag es sich noch einmal überlegen.” (ebd.)
Was soll mensch dazu sagen? “Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen”? Es scheint ja nicht so, als hätte das an öffentlichen oder kirchlichen Schulen sonderlich viel an zu beklagenden Missbrauchsfällen verhindert.
“Anhang”:
Waldorf, Steiner, Sex und Liebe
Wie angekündigt noch ein paar Stichworte zum (gestörten) Verhältnis vieler AnthroposophInnen zu Sexualität und zum waldorfpädagogischen Konzept zu Sex und Sexualkunde (so vorhanden) – wobei ich nicht annehme, dass dieses irgendwelchen Einfluss auf die Missbrauchsvorfälle hat(te).
In einem, wenn nicht DEM anthroposophischen Standardwerk zur Kindermedizin wird beispielsweise zwar sexuelle Aufklärung von Kindern ausdrücklich begrüßt und als erforderlich für ein “Streben nach selbstbewussten Handeln” angesehen (Michaela Glöckler, Wolfgang Goebel: Kindersprechstunde – ein medizinisch-pädagogischer Ratgeber, Urachaus Verlag, Stuttgart 1988, S. 406). Es folgen aber sogleich die zu erwartenden Ausführungen über “Metamorphosen der Wachstumskräfte”, d.h. des “Ätherkörpers” im Kind (S. 407), über die Rolle von “Erkenntnis” und kollektivem wie individuellen “Sündenfall” oder über eine Mutter, die ihr 10jähriges Kind “aufklärte”, als es verstohlen “einen Zettel” zeigte, den es aus der Schule mitgebracht hatte und auf dem “eine obszöne Zeichnung und ein entsprechendes Gedicht” zu sehen war (S. 414). Anders als die Lehrerin des Kindes, die offenbar ausgerastet war, reagierte die Mutter waldorf-lieb und freundlich. Fest steht natürlich:
“Ein starker Triebdruck, der zur Fixierung des Bewusstseins auf die Vorgänge zwischen den Geschlechtern führt und dies überdimensional hochspielt, ist immer Folge einer Erziehung, die die seelisch-geistigen Interessen nicht genug fördert und berücksichtigt.” (S. 419 – die “geistigen” Interessen werden vorher als Interesse an Reisen, Sprachen, Musischem oder ”ökologischen Fragen” angegeben, ebd.)
Steiner selbst hat Mann, Frau und beider körperliche, seelische und geistige Beziehungen im Kontext seiner Evolution der Erde zum “Göttlich-Geistigen” betrachtet. Für ihn stellten die Geschlechter eine vorübergehende körperliche und seelische Entwicklungsstufe auf dem Weg zur “Vergeistigung” dar, die “Fleisch- und Blutsliebe” werde dereinst – mit Hilfe “des Christus” durch eine allgemeine, menschheitsumspannende All-Liebe ersetzt, die er auch wirklich zutiefst poetisch zu schildern wusste. Dabei blieben diese “wahre Liebe” und Sex für ihn evolutionär nahezu antagonistische Prinzipien: An der gleichzeitigen Existenz bzw. “Erhaltung” von Liebe und Sex war ihm, der selbst zweifach verheiratet war und zu seinem Lebensende eine Affäre mit der anthroposophischen Ärztin Ita Wegmann hatte, offiziell nicht gelegen.

Manche nehmen all das heute mit "Humor" - wie diese Karikatur von Michael Eggert zu Anthros und Sex: Steiners Frau Marie Sivers (oben links), dem anthroposophischen Dichter Albert Steffen (oben rechts), der erwähnten Michaela Glöckler (unten links) und der anthroposophischen Uroberärztin Ita Wegmann (unten rechts)
Ein anthroposophiekritischer Journalist kommentierte:
“Der Doktor hat bis zu seinem Tode im März 1925 insgesamt 5965 Vorträge gehalten (…) Vorträge über nahezu alles außer Sex.” (Peter Brügge: Die Anthroposophen, Spiegel Verlag, Hamburg 1984, S. 22)
Steiners Distanz zu Sex und Körperlichkeit im Allgemeinen mag auch daran liegen, dass er sich Zeit seines Lebens immer von sexualmagischen Praktiken aus dem esoterischen Zeitgeist abgrenzte. Ebenso, wie er und andere AnthroposophInnen unliebsame Gruppierungen aber gerne mit dem Vorwurf der Sexualmagie belegten (Der Europäer, ganz unten im Abschnitt zu Karl Heise), behaupten die unseriöseren AnthroposophiekritikerInnen Verbindungen von Anthroposophie und Sexualmagie seit der Nazizeit (dokumentiert bei Uwe Werner: Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus, Oldenbourg Verlag, München 1999, S. 23ff.) ungebrochen bis heute (manchmal mutiert die angebliche Sexualmagie gar zu vermeintlichen “Kontakte[n] zu einem neosatanischen Orden”, so bei Michael Grandt: Schwarzbuch Waldorf, Gütersloher Verlagshaus 2008, S. 14, 213).
Das (gestörte) anthroposophische Verhältnis zu Sexualität und Geschlechtlichkeit hat auch dazu geführt, das vergangene WaldorfschülerInnengenerationen sich ziemlich kollektiv über das Fehlen von Sexualkundeunterricht an FWSen beschweren durften (Sylva Panyr: Was ehemalige Waldorfschüler über ihre Schule denken, in: Heiner Barz/Dirk Randoll (Hg.): Absolventen von Waldorfschulen, VS Verlag, Wiesbaden 2007, S. 275) oder teilweise gar darüber, dass sie “keine Tops anziehen” durften, weil das offenbar als liederlich oder zu freizügig galt (Barz/Randoll: Einleitung in ebd., S. 21). Erst in den letzten Jahren kippen diese Verhältnisse. Das Problem der fehlenden Sexualkunde wird zumindest breiter diskutiert (Herausforderung und Chance) und es werden “Sexualkundeepochen” durchgeführt (teilweise anstelle der in der 5. Klasse üblichen “Menschenkundeepoche”, vgl. zu anderem Rawson: Sexualkunde in der Waldorfschule) bzw. wenigstens Mal Besuche bei Organisationen wie ProFamilia.
So viel für dieses Mal. Es ist eben nichts schlimmer als die Wirklichkeit.
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